Der Mann aus dem Süden
1
Dwight Aberdeens Weg war lang. Er war viele Wochen unterwegs. Doch er legte Meile um Meile dieses Weges mit Geduld zurück. Denn er wusste von Anfang an, dass er am Ziel jenen Mann finden würde, nach dem er mehr als drei Jahre forschen ließ. Dwight Aberdeen konnte sich auf seinem Wege vom Missouri nach Oregon Zeit lassen.
Nun ist er dicht vor dem Ziel. In wenigen Stunden wird er jenen Mann zu Gesicht bekommen, der ihm alles nahm – alles!
Seit zwei Tagen folgt er dem Lauf des Owyhee River, dessen Bett sich hier in den Cedar Mountains tief in den Boden gefressen hat. Es gibt nirgendwo in der Nähe eine Furt oder einen Übergang. Der Wagenweg vom Missouri zur Westküste muss hier einen großen Umweg zur nächsten Furt machen.
An dieser Furt liegt Rivertown. Das weiß Dwight Aberdeen. Einer seiner vielen für diese Aufgabe angeworbenen und gut bezahlten Männer hat ihm einen genauen Bericht gesandt.
Ja, nun ist er bald am Ziel.
Ganz plötzlich vernimmt Dwight Aberdeen das wilde Brüllen eines Stieres und einiger Weiderinder. Er hört bald darauf den Hufschlag des Rinderrudels, und er hält an und späht zu der Hügellücke hinüber. Es sind sanfte Hügel. Sie sind um diese Jahreszeit sehr trocken. Sie liegen zu hoch über dem Fluss.
Dann sieht er auch schon die Rinder. Es ist eine kleine Herde von kaum fünfzig Tieren. Sie brechen aus den Hügeln hervor und bilden eine kompakte Masse, die aus gehörnten Köpfen und knochigen Rücken besteht, über denen Rinderschwänze wie Schlangen tanzen.
Obwohl Dwight Aberdeen die letzten Jahre seines Lebens am Spieltisch verbrachte, auf Vergnügungsschiffen des Mississippi, in wilden Städten und überall da, wo das Leben hektisch pulsiert und der Dollar rollt, und obwohl der einstige Captain Dwight Aberdeen der ehemaligen Südstaatenarmee vor dem Bürgerkrieg bestimmt kein Rinderzüchter war, weiß er dennoch sofort Bescheid.
Diese kleine Rinderherde und ihr wilder Pascha, ein Stier, befinden sich in Stampede. Und die Ursache dieser Stampede dürfte die Witterung von Wasser sein. Doch hier am Fluss gibt es keinen Weg zum Wasser. Ein Mann könnte zwar zu Fuß mühelos hinunterkommen, aber jedes Pferd und erst recht jedes Rind würde über das Steilufer stürzen und könnte sich nicht halten.
Dwight Aberdeen weiß das.
Wenn die Rinder nicht aufgehalten werden, stürzen sie in ihrer blinden Gier nach Wasser über den Rand des Steilufers in den Fluss und sind sicherlich verloren.
Dwight Aberdeen braucht keine drei Sekunden, um sich darüber klar zu werden. Er zieht sein Gewehr aus dem Sattelschuh, entsichert es und lädt durch.
Dann beginnt er zu schießen. Und schon nach dem ersten Schuss überschlägt sich der wilde Stier an der Spitze des Rudels und kracht dann schwer auf dem Boden auf. Einige Kühe stürzen über ihn und bilden bald darauf ein wildes Durcheinander. Das ganze Rinderrudel löst sich etwas auf. Dwight Aberdeen stößt nun wilde Schreie aus. Er reitet auf die Rinder zu und schießt immer wieder.
Es gelingt ihm, sie erst einmal anzuhalten. Aber sie wirken nicht lange unentschlossen. Es sind halbwilde Weiderinder. Sie sind staubig und sehr durstig. Sie wittern das Wasser, und sie begreifen nun auch, dass nur ein einziger Reiter zwischen ihnen und dem Wasser ist.
Bald darauf versuchen sie es wieder, und nun kommen sie nicht mehr als dicht geschlossenes Rudel, sondern lösen sich zu einer breiten Kette auf, die sich jedoch sehr schnell formiert hat.
Dwight Aberdeen schießt seine Kugeln dicht vor ihnen in den Boden. Er stößt immer wieder scharfe und gellende Schreie aus. Als sein Gewehr leer ist, erscheint wie durch Zauberei ein Colt in seiner Hand. Nun ist er entschlossen, noch einige Tiere zu töten. Er glaubt, dass er sie sonst nicht vom Steilufer fernhalten kann.
Doch dann kommt plötzlich Hilfe. Einige Reiter jagen nun auf der Fährte der Rinder heran. Sie biegen rechts und links aus, umreiten die Rinder und vereinen sich mit Dwight Aberdeen. Sie bilden nun eine breite Front, bekommen die Rinder bald unter Kontrolle, drängen sie zu einem dichten Rudel zusammen und treiben sie zurück auf dem Weg, den sie mit ihrem Stier gekommen waren.
Nur der tote Stier bleibt zurück. Zwei Reiter ebenfalls. Einer dieser beiden ist eine Frau. Dwight Aberdeen erkennt es erst jetzt, denn die Frau ist wie ein Mann gekleidet, trägt Hosen und sitzt auch wie ein Mann im Sattel. Sie trägt auch einen Waffengurt mit einem Revolver in der Halfter, hat ein Lasso am Sattelhorn und eine Bullpeitsche am Handgelenk baumeln.
»Puh!«, macht sie erleichtert. »Das war haarscharf und knapp! Diese gehörnten Dummköpfe wären in den Fluss gestürzt!«
Sie schiebt den Hut nach hinten, so dass er von der Windschnur gehalten, auf ihrem Rücken hängt. Ihr Haar ist dicht und so gelb wie reifer Weizen. Sie hat ein eigenwilliges Gesicht, mit einer kleinen Nase, hohen Wangenknochen und einen etwas zu breiten Mund. Doch dieser Mund ist sehr voll und besitzt jenen Schwung, den ein Mann gerne hat. Sie ist schlank und für eine Frau ziemlich groß. Sie sitzt geschmeidig im Sattel, und die Männerkleidung kann ihre Formen nicht ganz verbergen. Dwight Aberdeen schätzt sie auf etwa dreißig Jahre.
Er blickt in ihre blauen Augen und greift an seine Hutkrempe.
»Ich konnte nicht lange überlegen«, sagt er. »Hoffentlich war es nicht falsch, dass ich den Stier tötete. Doch ich erkannte keine andere Chance, um die Rinder aufzuhalten.«
Er spricht mit einer dunklen und sehr ruhigen Stimme. An seiner Sprechweise erkennt man den Mann aus den Südstaaten. Er ist dunkelhaarig, sehr breit in den Schultern, langbeinig und groß. Er sitzt auf einem großen Rappen, der seine hundertneunzig Pfund den ganzen Tag zu tragen vermag. Er ist kein hübscher Mann, denn in seinem etwas unregelmäßigen Gesicht sind harte Linien. Seine Nase ist klein und etwas schief. Sie wurde irgendwann einmal gebrochen und bekam nicht wieder ihre frühere Form. Er hat etwas abstehende Ohren und einen breiten und festen Mund. Sein Kinn ist kantig. Und auf seinem kräftigen Hals und den breiten Schultern wirkt sein Kopf eine Idee zu klein. Der Blick seiner grauen Augen ist sehr fest, beharrlich und prüfend. Ja, er wirkt wie ein harter Mann. Doch es geht keine böse Härte, sondern nur Stärke von ihm aus, Selbstbewusstsein und Männlichkeit. Die blonde Reiterin lächelt ihn an und schüttelt den Kopf.
»Ein toter Stier ist das kleinere Übel«, sagt sie. »Ich hätte alle Rinder verloren. Danke, Mister.«
»Yeah«, sagt ihr Begleiter, »Sie haben diese verrückten Biester auf die einzig mögliche Art aufgehalten.«
Dwight Aberdeen betrachtet diesen Mann. Dieser ist groß, sehnig, blond und hart. So sehen Vormänner aus, die auf großen Rinderranches hartbeinige Mannschaften leiten und diese fest unter Kontrolle halten. Mit solchen Männern hat Dwight Aberdeen überall an den Spieltischen gesessen, in Dodge City, Abilene und Hays City.
Der Mann betrachtet ihn fest und prüfend. Dass er soeben anerkennende Worte sprach, hat gewiss nichts zu bedeuten. Er ist ein harter, prüfender und gewiss manchmal auch sehr unduldsamer Mann.
Und nun fragt er auch schon: »Sie sind fremd hier im Lande? Sie kommen aus dem Süden? Geschäfte hier? Oder …«
»Mein Name ist Aberdeen, Dwight Jeffrey Aberdeen«, murmelt dieser ruhig. »Yeah, vielleicht mache ich einige Geschäfte hier.«
Er greift an die Hutkrempe, verbeugt sich leicht im Sattel vor der Frau und will seinen Weg fortsetzen. Aber diese hält ihn mit einer leichten Handbewegung auf.
»Wir sind Ihnen zu Dank verpflichtet«, sagt sie. »Ich bin June Ferris und leite die F-im-Viereck-Ranch. Dies ist mein Vormann Bill Hillderee. Mister Aberdeen, wenn Sie mal in die Nähe der
F-im-Viereck kommen sollten, dann reiten Sie nicht vorbei.«
Dwight Aberdeen nickt. »Vielleicht«, sagt er sanft. Er blickt zu den Hügeln hinüber. »Das Land ist wohl sehr trocken dort? Laufen oft Rinder zum Fluss?«
»Yeah, und dabei wäre dies hier eine prächtige Weide. Nur Wasser müsste man aus dem Fluss nach oben schaffen können.«
»Das müsste man«, nickt Dwight Aberdeen.
»Aber es geht nicht«, sagt der Vormann nun scharf. »Der Fluss hat sich zu tief in den Boden gefressen. Niemand kann genügend Wasser für zehntausend Rinder aus dem Fluss nach oben bringen. Wenn es jemand schaffen könnte, hätte er Weide für zehntausend Rinder. So aber ist das Land wertlos.«
»Und wem gehört dieses wertlose Land?«
»Mir«, sagt June Ferris. »Aber ich halte unsere Rinder jenseits der Hügel. Wir haben alle Passagen durch die Hügel abgesperrt. Doch in der letzten Nacht hat jemand einen der Zäune niedergerissen. Deshalb konnte die kleine Herde auf diese Seite kommen. Und als sie den Fluss witterten, begannen sie zu laufen.«
»Sie haben Feinde?«, fragt Dwight Aberdeen ruhig.
June Ferris blickt ihn fest an. »Es geht Sie nichts an, Fremder«, sagt sie herbe. Und dann reitet sie ohne ein weiteres Wort davon.
Ihr Vormann bleibt noch einige Sekunden zurück und betrachtet und studiert Dwight Aberdeen immer noch.
»Ich werde aus Ihnen nicht richtig schlau, Aberdeen«, sagt er plötzlich. »Sie sind kein Rindermann. Das erkenne ich. Sie kommen aus dem Süden und wirken ziemlich hart. Wollen Sie vielleicht zu Britt Hackett? Braucht Hackett noch mehr Revolvermänner?«
»Es geht Sie nichts an, Hillderee«, erwidert Dwight ruhig und reitet davon. Der Vormann der F-im-Viereck starrt ihm einige Sekunden nach. Dann verzieht er grimmig die harten Lippen und presst sie gegen die kräftigen Zähne, bis ein Lächeln daraus wird, ein bitteres Lächeln, aber zugleich auch ein böses.
»Schon wieder einer dieser Revolverschwinger«, sagt er grimmig. »Immer wieder kommen welche in dieses Land. Und wenn man sie zum zweiten Mal trifft, dann stehen sie bereits auf Britt Hacketts Lohnliste. Zum Teufel mit Hackett! Ich werde ihn töten, wenn er noch einmal …«
Bill Hillderee, der Vormann der F-im-Viereck, bricht mitten im Satz ab. Er hat ein kaltes und entschlossenes Funkeln in den Augen, als er sein Pferd herumzieht und seiner Rancherin folgt.
***
Dwight Aberdeen aber reitet weiter am Fluss entlang. Manchmal hält er inne und betrachtet alles, was er sieht, genau und sorgfältig. Ja, dieses Flusstal ist so trocken, dass es sich nach Regen sehnt, wie ein Mann in der Wüste, der seine Wasserflasche leer hat. Die Hügel sind braun, denn das Gras ist verdorrt und von der Sonne verbrannt. Dornenbüsche und Krüppelkiefern wirken trostlos. Bei jedem Schritt des Pferdes wirbelt Staub auf.
Und doch gibt es Wasser genug. Der Fluss rauscht und plätschert. Sein Bett hat sich jedoch zu tief in den Boden eingefressen. Das Wasser ist für alle Dinge hier oben unerreichbar. Der Grundwasserspiegel in diesem Land liegt zu tief.
Das ist es!
Über dieses Problem denkt Dwight Aberdeen immer wieder nach. Und er schüttelt manchmal den Kopf. Einmal hält er an einer Stelle der staubigen Wagenstraße an und späht hinüber zum anderen Ufer. Die Steilufer des Flusses treten, hier besonders eng zusammen. Man könnte ohne viel Anstrengung einen Stein auf die andere Seite werfen. Ein kleiner Junge könnte das vollbringen.
Dwight Aberdeen blickt lange hinüber. Dann sitzt er ab und tritt dicht an den Rand des Steilufers. Er blickt lange hinunter, und es sieht so aus, als prüfte und rechnete er sorgfältig.
»Diese Dummköpfe«, sagt er schließlich, kehrt zu seinem Pferd zurück, sitzt auf und reitet weiter.
Wenig später holt er einen Frachtwagenzug ein, der sich mühsam und schwerfällig dahinbewegt. Er biegt weit aus, um nicht im Staub reiten zu müssen, überholt einen Wagen nach dem anderen und kehrt erst in Höhe des ersten Wagens wieder zur Wagenstraße zurück.
Der Fahrer und sein Gehilfe blicken ernst auf den Reiter nieder. Dwight Aberdeen nickt ihnen zu.
»Ist es noch weit bis Rivertown?«, fragt er.
»Noch fünfzehn Meilen«, sagt der Frachtfuhrmann. »Dort liegt Rivertown. Dieser verdammte Fluss konnte sich dort keine tiefe Rinne graben. Die Furt ist gut. Aber es ist ein Umweg von mehr als dreißig Meilen, denn wir müssen drüben den ganzen Weg wieder zurück. Der Pass über die Berge liegt dort!«
Er deutet nach Westen, und Dwight kann die Kerbe des Westpasses gut erkennen. Ja, er begreift, dass jeder Verkehr nach dem Westen einen Umweg von mehr als dreißig Meilen machen muss.
Dwight nickt den Männern noch einmal zu und reitet schneller. Sein Pferd trottelt leicht und mühelos wie ein Wolf. Der Wagenzug bleibt schnell zurück.
Der Tag geht schon seinem Ende zu, als Dwight Aberdeen die Stadt zu Gesicht bekommt. Über den Bergen im Westen liegt noch das letzte Glühen der Sonne. Der Himmel dort hat sich blutrot gefärbt. In der Stadt werden die ersten Lampen angezündet. Reiter und Pferd sind nun doch müde und sehnen sich nach dem Ende des Rittes. Der Rappwallach wittert sicherlich schon einen guten Stall mit Futter und allen Dingen, die ein Pferd nötig hat. Und der Mann aus dem Süden denkt an ein gutes Bett in einem Hotel, an eine Badewanne und ein gutes Essen.
Das alles wartet dort drüben auf sie. Ja, sie haben das Ende ihres langen Rittes erreicht.
Für Dwight Aberdeen ist die Stadt dort drüben das Ende einer langen Fährte.
Denn in Rivertown lebt der Mann Britt Hackett. Und er lebt nicht nur dort wie ein normaler Mann, nein, Britt Hackett soll dort der größte, mächtigste und einflussreichste Mann sein. Genauer gesagt: Britt Hackett ist der Boss von Rivertown und des ganzen Landes. Das weiß Dwight Aberdeen von seinem Agenten, von einem jener vielen Agenten, die er seit Jahren überall nach Hackett suchen ließ.
Dwight Aberdeen lenkt seinen Rappwallach in das Wasser der hier sehr flachen Furt. Es reicht dem Tier kaum bis zu den Knöcheln. Dafür ist der Fluss hier sehr breit.
Dwight Aberdeen reitet hinüber, um einen Mann zu vernichten, der ihm vor einigen Jahren alles nahm und alles zerstörte, was er besaß.
Er hat Britt Hackett noch nie gesehen, denn damals, als es geschah, war Krieg, und Dwight Aberdeen kämpfte mit seinem Kommando irgendwo gegen die Armee der Nordstaaten. Er war damals nicht daheim, als die wilde Horde über alles herfiel, was er besaß, was er liebte und was ihm gehörte.
Dwight Aberdeen, der Mann aus dem Süden, aus dem Staate Mississippi, reitet also hinüber.
2
Zehn Minuten später versorgt er im Mietstall sein Pferd, und er versorgt es gut und mit aller Sorgfalt.
Der alte Stallmann sieht ihm zu und schiebt manchmal seinen Priem von einer Backentasche in die andere. Einmal sagt er sanft: »Dieser Bursche wird auch neue Eisen bekommen müssen. Das war ein weiter Ritt, nicht wahr?«
»Ziemlich weit«, erwidert Dwight Aberdeen ruhig. »Ich werde Blackjack morgen zum Schmied bringen.«
»Es ist ein guter Schmied, Fremder«, murmelt der Stallmann. »Und wenn Sie ein Hotel mit einer Badewanne suchen, dann müssen Sie ins Rivertown Hotel gehen.«
»Wem gehört es?«, fragt Dwight zurück und klatscht seinem Pferd noch einmal abschiednehmend gegen Brust und Hals.
»Hier gehört alles Mister Britt Hackett«, murmelt der Stallmann.
»Auch dieser Mietstall?«
»Auch, Mister!« Die Stimme des Stallmanns klingt scharf und bitter. Er blickt Dwight mit scharfen Falkenaugen prüfend an. Er ist ein alter Mann, dem man ansieht, dass er einst über die Weide ritt und das Lasso schwang.
»Haben Sie Geschäfte hier zu erledigen?«, fragt er schließlich.
»Vielleicht«, erwidert Dwight und nimmt sein Bündel auf. Er klemmt es sich unter den Arm. »Mein Name ist Aberdeen, Dwight Jeffrey Aberdeen«, sagt er ruhig und geht hinaus.
Bald darauf wandert er den Plankengehsteig entlang. Er kommt an Geschäften, Saloons und am Stadthaus vorbei. Vor dem Marshal’s Office steht ein Mann. Ein Stern blinkt matt im Lampenlicht. Der Mann raucht eine Zigarre. Er ist kaum mittelgroß, aber sehr breit. Er trägt einen lächerlich klein wirkenden Hut, eine so genannte Melone. Als Dwight bei ihm angelangt ist, sagt der Mann sanft: »Ich sah Sie kommen, Fremder. Bleiben Sie länger in dieser Stadt?«
»Vielleicht«, sagt Dwight auch hier wieder. Im Schein der Lampe, die über dem Eingang hängt, betrachten sie sich. Der Marshal von Rivertown wirkt sehr hart, unversöhnlich und – einsam.
»Nun gut, Fremder«, murmelt er. »Wie nennen Sie sich hier?«
»Aberdeen, Dwight Jeffrey Aberdeen.«
»Warum nicht«, brummt der Marshal trocken. »Jeder Name ist so gut wie sein Besitzer. Ich bin Luke O’Mahon. Die Badewanne finden Sie hundert Schritte weiter, dort schräg auf der anderen Seite der Fahrbahn. Sie tragen den Colt im Schulterhalfter unter der Jacke. Das mag ich nicht. Hier werden die Waffen offen getragen.«
»Ist das ein Befehl, O’Mahon?«
»Wir werden sehen, es hat noch etwas Zeit«, erwidert der Marshal sanft. Er wirft den Zigarrenrest auf die Fahrbahn nieder und wendet sich ab. Langsam und fast schwerfällig verschwindet er in seinem Büro, zu dem auch der Gefängnisraum gehört. Dwight Aberdeen lässt sich durch die sehr schwerfällige Art des Marshals nicht täuschen. Er kann einen Mann beurteilen, wenn er ihn sieht. Und dieser Marshal heißt Luke O’Mahon. Dwight hat diesen Namen schon einmal vor vielen Jahren in Zusammenhang mit einigen Legenden gehört. Nun weiß er, dass er einen Mann getroffen hat, der alt und vergessen wurde und vielleicht nur noch ein Schatten seiner früheren Größe ist.
Er glaubt nicht an eine zufällige Namensgleichheit. Dieser alte und einsame Marshal von Rivertown muss jener einst so berühmte und gefürchtete Verbrecherjäger und Städtebändiger Red Luke O’Mahon sein. Doch das ist schon lange her. Das war lange vor dem Krieg, und Dwight war damals noch ein Junge. Er schwärmte damals für berühmte Revolverkämpfer und las alle Berichte in den Zeitungen über diese Männer.
Er ist alt geworden, denkt er. Er blieb am Leben. Niemand konnte ihn mit dem Revolver schlagen. Und nun bekleidet er hier sein letztes Amt in einem einsamen und abgelegenen County und in einer kleinen Stadt. Wenn er eines Tages auch für diesen Posten zu alt und verbraucht sein wird, muss er sich als Stallmann oder Saloonausfeger seinen Unterhalt verdienen. Aber vielleicht hat er einige Ersparnisse für die allerletzten Jahre. Das sind Dwight Aberdeens Gedanken, und irgendwie verspürt er ein Bedauern und fast ein Mitleid mit einem alt gewordenen Kämpfer. Er überquert langsam die Fahrbahn, erreicht den Eingang des Rivertown Hotel, hält an und blickt sich noch einmal um.
Auf der Hauptstraße ist nicht viel Bewegung. Da und dort stehen Sattelpferde vor den Saloons an den Haltestangen. Einige Siedler- und Farmwagen sind abgestellt. Die Abendpostkutsche aus dem Land hinter den Bergen im Westen kommt hereingesaust und hält mit kreischenden Bremsen vor der Posthalterei.
Dwight Aberdeen entdeckt auch einige Männer, die da und dort an den Ecken oder im Schatten der überdachten Gehsteige stehen.
Plötzlich erblickt er die laufende Gestalt eines Mannes. Dieser Mann kommt aus einer Gasse. Er taucht ganz plötzlich auf und läuft über die Fahrbahn auf die Postkutsche zu, deren müdes Gespann soeben ausgeschirrt wird und für die man ein frisches Sechsergespann aus dem Hof der Posthalterei herbeiführt.
Der laufende Mann hat die Postkutsche fast erreicht, als aus der Gasse zwei schnelle Schüsse fallen. Die Kugeln holen den laufenden Mann ein, stoßen ihm von den Beinen und werfen ihn mit dem Gesicht in den tiefen Staub.
Dann wird es still. Nichts bewegt sich.
Dwight Aberdeen lässt sein Bündel fallen und verlässt den Gehsteig. Er läuft auf die leblose Gestalt zu, die dort dicht bei der Kutsche im Staub liegt. Die Stallhelfer der Postagentur haben noch mit den erschrockenen Pferden zu tun. Doch ein anderer Mann kommt um die Kutsche herumgelaufen und krächzt bitter: »Haben sie ihn doch erwischt!«
Dieser Mann und Dwight erreichen zugleich den Getroffenen. Sie knien nieder und drehen den leblosen Körper auf den Rücken. Ein dritter Mann kommt schnaufend und keuchend herbeigelaufen, hält an und stößt hervor: »Woher kamen die Schüsse?«
Dwight blickt zu diesem Mann empor. Er erkennt den alten Marshal. Er deutet auf die Gasse und sagt trocken: »Dort, aus der Gasse, Marshal.«
Luke O’Mahon stößt ein scharfes Knurren aus. Dann läuft er auf die Gasse zu und verschwindet bald in ihr. Der andere Mann hat inzwischen den Getroffenen untersucht.
Er richtet sich jetzt auf und ruft: »Er lebt noch! Sein Herz schlägt noch! Sie haben ihn schlecht getroffen. Wollen Sie mir helfen, Mister?«
Er starrt Dwight Aberdeen zweifelnd an.
»Sicher helfe ich«, sagt dieser.
»Dann packen Sie mit an«, sagt der Mann. »Schaffen wir ihn in meine Posthalterei. He, Jerry, verdammt, Jerry! Lass die Pferde sein und hol den Doc!«
»Yeah, ich hole den Doc«, erwidert eine stur und gleichgültig klingende Stimme.
Dwight hilft indes, den Verletzten ins Haus zu schaffen. Sie tragen den blutenden Mann durch zwei Räume und gelangen in die Schlafkammer des Postmeisters. Hier legen sie die Last auf ein Bett.
»Danke«, sagt der Posthalter und blickt Dwight an.
»Was ist hier los?«, fragt dieser sanft.
»Dies ist Clay Roberts«, brummt der Posthalter. »Jemand hat ihn erschießen wollen. Danke für die Hilfe, Fremder!«
Er beugt sich wieder über den Verwundeten. Dwight fragt wieder: »Warum sollte dieser Mann getötet werden?«
Doch er bekommt keine Antwort. Dafür kommt der Marshal schnaufend herein. »Ich kam natürlich zu spät«, sagt er keuchend. »Der Mörder hatte ein Pferd. Niemand kann zu Fuß ein Pferd einholen. Was ist mit Clay? Ist er …?«
»Er lebt noch«, sagt der Postmeister. »Aber wenn der Doc nicht bald kommt, verblutet er uns.«
»Ich bin schon da«, sagt eine Stimme. Dwight wendet sich um. Ein kleiner, hagerer und faltiger Mann kommt herein.
Er trägt eine schwarze Tasche und zwinkert hinter einem Kneifer mit den geröteten Augen.
Dwight geht langsam hinaus. Draußen auf der Straße haben sich nun doch einige Menschengruppen angesammelt. Aber es sind regungslose und sehr schweigsame Gruppen.
Als Dwight Aberdeen langsam über die Fahrbahn zu seinem Bündel geht, welches er vor dem Hotel auf den Boden fallen ließ, weiß er so einigermaßen Bescheid.
Ein unklares Bild, das er sich schon auf Grund der Berichte seines Agenten gebildet hat, wurde soeben etwas deutlicher. Und dieses Bild sieht etwa so aus:
Rivertown ist eine feige und nun sehr erschrockene Stadt. Sie fürchtet sich davor, Anteilnahme zu zeigen. Denn was soeben geschehen ist, wurde vielleicht erwartet. Es fand irgendeine Machtprobe statt. Irgendwelche Dinge, die drohend in der Luft lagen, erwiesen sich als kein Bluff, sondern als harte Tatsachen. Darüber ist die Stadt sehr erschrocken.
Vor dem Hoteleingang stehen drei Männer. Als Dwight sein Bündel aufhebt und sich wieder aufrichtet, blickt er diese drei Männer an. Denn sie versperren ihm den Zutritt ins Hotel. Und von diesen drei Männern geht etwas aus, was fast körperlich spürbar ist: irgendeine Stärke, eine Unduldsamkeit und Härte und drohendes Abwarten.
Es sind drei sehr verschiedene Männer, aber zwei davon sind ganz gewiss Revolverkämpfer. Sie stehen rechts und links neben Britt Hackett. Denn der dritte Mann ist Britt Hackett. Als Dwight Aberdeen ihn im Lampenlicht betrachtet, da weiß er, dass er Britt Hackett sieht.
Die Beschreibung stimmt haargenau. Es gibt gewiss keinen zweiten Mann von dieser Größe, Breite und mit einer Säbelnarbe auf der linken Wange.
Ja, Dwight Aberdeen sieht nun zum ersten Mal den Mann, den er töten und vernichten will.
Aber Dwight Aberdeens Stimme klingt ganz höflich und sanft, als er nun fragt: »Darf ich vielleicht hinein, Gentlemen?«
Er spürt die drei scharfen und prüfenden Blicke der Männer. Dann murmelt Britt Hackett: »Sicher, Fremder, dies ist ja ein Hotel. Hier darf jeder Gast hinein. Sie haben geholfen, Clay Roberts ins Haus zu tragen.«
»Yeah«, sagt Dwight gedehnt. »Ich bin fremd hier. Ich brauche ein Bad, ein Essen und ein Bett.«
»Lebt dieser Clay Roberts noch?«
»Er lebt«, erwidert Dwight. Dann machen ihm die Männer den Weg durch die Tür frei. Er geht in die Hotelhalle. Ein Mann steht lauschend hinter dem Anmeldepult. Dieser Mann ist voller Neugierde, doch er getraute sich nicht, ebenfalls auf die Straße zu laufen.
»Ein gutes Bett und ein Bad«, sagt Dwight knapp. Er dreht das Anmeldebuch herum und trägt seinen Namen ein.
Dwight Jeffrey Aberdeen, Dodge City, Kansas.
So steht es im Buch zu lesen, aber die wilde Treibherdenstadt Dodge City war nur ein Haltepunkt auf Dwight Aberdeens Wege.
Der Mann hinter dem Pult betrachtet ihn scharf. Dann gibt er ihm den Schlüssel und sagt: »Der Hausneger hat das heiße Bad in zwanzig Minuten fertig. Das Badezimmer liegt Ihrem Zimmer gegenüber.«
Dwight geht langsam die Treppe hinauf. Auf dem Treppenabsatz blickt er noch einmal zurück. Einer von Britt Hacketts Revolverhelden ist in die Halle gekommen und blickt zu ihm empor. Der Mann ist dunkelhaarig, geschmeidig wie ein Panter und noch jung. Aber gerade diese wilden und jungen Burschen sind oft schlimmer als die erfahrenen Hartgesottenen. Denn sie überschätzen sich, sind unberechenbar aus diesem Grunde, und deshalb besonders gefährlich.
***
Eine Stunde später ist Dwight Aberdeen gebadet, gewaschen und rasiert. Er trägt ein frisches Hemd und spürt einen gewaltigen Hunger. Als er den Speiseraum betritt, ist es schon ziemlich spät für ein Abendessen. Die Tische sind schon wieder leer. Ein ältliches Mädchen trägt gerade den Rest des Geschirrs in die Küche zurück.
In einer etwas abgeteilten Nische, die deutlich einen privateren Charakter hat, sitzt Britt Hackett beim Abendbrot. Er winkt mit der Gabel und sagt: »Hallo, Aberdeen! Ich hörte; dass Sie aus Kansas kommen. Ich bin Britt Hackett. Mir gehört dieses Hotel. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann setzen Sie sich zu mir. Und wenn Sie mir erzählen, was sich alles in Kansas tut, dann sind Sie sogar mein Gast!«
Er sagt es mit einer großspurigen Biederkeit. Dwight Aberdeen zögert etwas. Er möchte gerne seinen Colt ziehen und diesen Mann erschießen. Doch er weiß, dass dies vorerst eine riesengroße Dummheit wäre. Er müsste dann flüchten, und die Steckbriefe würden ihm überallhin verfolgen. Nein, auf diese Art will er Britt Hackett nun doch nicht erledigen, nicht für den Preis, dadurch ein vom Gesetz Verfolgter und Gejagter zu werden.
Er betritt langsam die Nische, zieht sich einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzt sich.
»Sie leben gut, Hackett«, sagt er gedehnt und betrachtet, was alles aufgetischt ist.
Hackett kaut mit vollen Backen. »Ich lebe gut«, sagt er undeutlich. »Ich habe gehört, dass Marshal Wyatt Earp jetzt die wilde Stadt Dodge City zu bändigen beginnt. Ich denke, Sie sind ein Spieler, Aberdeen. Hat Wyatt Earp auch Sie aus der Stadt gejagt? Oder warum sind Sie sonst einen so weiten Weg geritten?«
»Sie fragen mächtig viel, Hackett«, erwidert Dwight ruhig und betrachtet einen goldenen Siegelring an Hacketts Finger. Diesen Ring kennt er. Denn es ist der Siegelring der Aberdeens. Und zusammen mit vielem anderen Schmuck befand sich dieser Ring in einer Kassette in Dwight Aberdeens Heim.
Dwight langt sich von einem kleinen Anrichtetischchen einen Teller und füllt ihn aus den Schüsseln, die auf dem Tisch stehen.
»Sie sind ein harter und kaltschnäuziger Bursche«, brummt Britt Hackett kauend. »Wollen Sie in dieser Stadt eine Weile bleiben?«
Dwight Aberdeen versucht einen Putenschenkel. Er findet ihn köstlich.
»Vielleicht«, sagt er. »Ich weiß es noch nicht.«
Britt Hacketts Blick betrachtet ihn kalt und prüfend. Aber dann gleitet sein Blick zur Seite. Er lächelt und erhebt sich. Dwight hört einen leichten und schnellen Schritt. Er blickt über die Schulter. Und da erblickt er June Ferris zum zweiten Male an diesem Tag. Auch sie erkennt ihn. Doch sie blickt ihn nur einen kurzen Moment an, mit zornigen und funkelnden Augen.
»Also doch«, sagt sie verächtlich, und ihre zwei Worte haben eine bestimmte Bedeutung, über die Dwight Aberdeen sich sofort klar ist.
June Ferris tritt dicht an den Tisch heran. Sie beachtet Dwight Aberdeen nicht mehr. Dafür blickt sie Britt Hackett fest an.
»Darf ich Sie zu einem Abendbrot einladen, June?«, fragt dieser. »Und wenn Sie der Mann hier stört, dann schicke ich ihn fort! Setzen Sie sich, June!«
Er sagt es mit selbstbewusster Bestimmtheit und rückt einen Stuhl für sie zurecht. Dabei sagt er zur Seite und an Dwight Aberdeen gewandt: »Sie stören jetzt hier, Aberdeen! Nehmen Sie Ihren Teller und setzen Sie sich an einen anderen Tisch. Ich will hier mit einer Lady zu Abend essen!«
Er sagt es mit einer lässigen Kälte, und nun ist es ganz klar, dass er ein Mann ist, der hier in diesem Land mit allen Männern auf diese Art umspringt. Nun ist es ganz klar, dass er sich für einen besonderen Mann hält, nach dessen Kommando alle anderen Burschen hier tanzen. Er ist unduldsam, hart und fühlt sich als Boss. Er ist von seiner eigenen Größe und von sich selbst so sehr überzeugt, dass er mit anderen Männern umspringt wie mit dummen Jungen.
Dwight Aberdeen, der sich nicht erhoben hat, lehnt sich zurück. Er betrachtet Britt Hackett ausdruckslos. Dieser hat June Ferris’ Arm ergriffen und will sie mit sanftem Nachdruck dazu bringen, Platz zu nehmen. Doch sie macht sich los und tritt einen Schritt zurück. »Ihr neuer Revolvermann gehorcht Ihnen nicht, Hackett«, sagt sie.
Dann wendet sie sich an Dwight Aberdeen. »Er hat Sie fortgeschickt! Haben Sie das nicht begriffen, Mister aus dem Süden? Er hat Sie soeben von seinem Tisch gejagt wie einen lästigen Strolch. Also gehen Sie schon, Mister. Er will mit mir allein sein, und einen Mann wie Sie, der einem Mann wie Britt Hackett dienen will, der darf keinen Stolz haben.«
Ihre Stimme klirrt vor Bitterkeit und Verachtung. Sie erwartet jedoch offensichtlich keine Antwort, denn sie richtet ihren festen Blick sofort wieder auf Hackett und sagt herbe: »Hackett, Sie wissen ganz genau, dass ich an Ihrem Tisch und in Ihrer Gesellschaft niemals einen Bissen essen könnte. Ich bin hergekommen, um Sie zum letzten Male zu warnen. Ihre Handlanger haben gestern wieder einmal meinen Zaun zerstört. Wieder einmal sind Rinder zum Fluss durchgebrochen und wären fast das Steilufer heruntergestürzt. Hackett, so bekommen Sie mich nicht klein, so nicht! Ich warne Sie! Wenn Sie jetzt nicht damit aufhören, mich unter Druck zu setzen, dann kann ich meine Mannschaft nicht mehr halten. Dann kommen die Reiter der F-im-Viereck zu Ihnen. Und dann bekommen Sie hier in dieser jämmerlichen Stadt einen Kampf geliefert. Denn Sie sind der verdammte Drahtzieher! Nur Sie!«
Nach diesen zornigen Worten muss sie nach Luft schnappen, und sie wirkt in ihrer Erregung sehr temperamentvoll und impulsiv. Jetzt gefällt sie Dwight Aberdeen noch besser als am Nachmittag. Er wird sich darüber klar, dass sie dennoch nur eine schwache Frau ist. Sie fühlt sich in Not, hart bedrängt und fürchtet sich vor irgendwelchen Dingen. Und sie wusste sich keinen anderen Rat, als herzukommen und zu drohen.
Wie wenig ihre Warnung und Drohung wirken, zeigt Britt Hackett mit seinem Lächeln.
»June«, sagt er samtweich, »es schmerzt mich, Sie so sprechen zu hören. Ich achte und verehre Sie viel zu sehr, als dass ich Sie selbst dann bedrängen würde, wenn ich wirklich ein Schuft wäre. Sie tun mir Unrecht, June. Geben Sie mir doch mal eine Chance, dass ich mich in Ihren Augen als guter Freund und Verehrer erweisen kann. Kommen Sie, setzen Sie sich! Speisen wir gemeinsam. Wir werden uns über alle Dinge in Ruhe unterhalten. Ich bin doch …«
Er bricht ab. Sein Kopf zuckt herum. Er starrt Dwight Aberdeen an und grollt: »Zum Teufel, Sie sind ja immer noch hier! Aberdeen, ich gebe Ihnen drei Sekunden! Dann …«
»Sie brauchen ihn nicht wegzujagen«, unterbricht ihn June Ferris. »Denn es lohnt sich nicht! Ich gehe! Ich reite heim! Ich bin nur hergekommen, um Sie zu warnen. Hackett, wenn Ihre Nachtreiter nicht von meiner Weide bleiben, dann verschwendet meine Mannschaft keine Zeit damit, Ihre Söldlinge zu jagen. Dann kommen meine Reiter gleich zu Ihnen. Mit uns können Sie nicht so umspringen wie mit all den anderen Menschen in diesem Land! Ich habe Sie gewarnt, Hackett!«
Nach diesen Worten schlägt sie heftig mit ihrer Reitpeitsche auf den Tisch. Dann wendet sie sich ab und geht hinaus. Sie hat einen leichten Schritt und ist sehr langbeinig. Ihre Sporen klirren melodisch, und obwohl sie eine Deminhose trägt, wirkt sie wie eine Dame. Sicherlich ist June Ferris die einzige Frau auf fünfhundert Meilen in der Runde, die Hosen trägt.
Hackett wendet langsam den Kopf und betrachtet Dwight Aberdeen. Er starrt ihn an, als wäre er ein Riese und Aberdeen ein lächerlicher Zwerg, oder als starrte ein Löwe eine Maus an und überlegte dabei, ob es sich lohnte, sie mit der Tatze in den Boden zu treiben.
Britt Hackett kommt zu der Erkenntnis oder zu der Auffassung, dass es sich lohnt. Denn sein Zorn ist groß. Er ist ein Mann, der nun die Gelegenheit sucht, sich abzureagieren.
»Du verdammter Sattelstrolch«, sagt er grollend. »Ich habe dich fortgeschickt! Als die Lady kam; störte deine Anwesenheit! Ich sagte dir, du solltest den Tisch verlassen. Und wenn ich, Britt Hackett, in Rivertown oder sonst wo in diesem Land, etwas sage, dann wird es gemacht. He!«
Er kommt langsam um den Tisch herum. Er ist ein großer und schwerer Mann. Er ist so groß wie Dwight Aberdeen, aber massiger, breiter und gewichtiger, mit einer gewölbten Brust, einem Bauchansatz und stämmigen Beinen, die etwas zu kurz für seinen Oberkörper sind.
Sein Anzug ist aus bestem Tuch und beste Maßarbeit. Er trägt ein blütenweißes Hemd mit einer Samtschleife. Unter seiner offenen Jacke ist eine bestickte Weste sichtbar. Ja, er ist schon rein äußerlich ein Mann, von dem Stärke und Unduldsamkeit ausgehen. Da sein Gesicht tiefrot vor Zorn ist, wirkt die Säbelnarbe auf seiner Wange blass und fast weiß. Sein Haar ist etwas licht und rotblond. Sein Schnurrbart ist feuerrot.
»Ich habe nicht gewusst, welch ein großer und wichtiger Mann Sie sind«, murmelt Dwight Aberdeen wie entschuldigend. »Sie sagten mir nur, dass Ihnen dieses Hotel gehört. Hätten Sie mir gesagt, dass Sie der große Bursche im Land sind, der einen Schatten wirft wie ein Berg, dann hätte ich Bescheid gewusst.«
Britt Hackett grollt wieder. Dwight Aberdeens Worte haben ihn nicht besänftigt.
Er hebt seine Hand und schlägt Dwights linke Jackenhälfte auf.
»Ein Mann mit ’nem Schulterhalfter«, brummt er. Dann tippt er Dwight Aberdeen auf die Brust bei jedem Wort, das er nun zu ihm redet.
Und er sagt kalt und hart: »Vielleicht hätte ich dich in dieser Stadt oder in diesem Lande geduldet. Vielleicht hätte ich dich sogar gebrauchen können. Aber jetzt ist es anders! Jetzt werde ich dir klar machen, dass hier alles gemacht wird, was ich haben will. Dir gebe ich eine Stunde Zeit. Dann verlässt du die Stadt! Und morgen bist du nicht mehr im Land. Ich will dich nicht mehr sehen, Sattelstrolch!«
Dwight Aberdeen tritt langsam zurück, und er begreift, dass dieser Mann sehr eitel auf seine Machtposition ist. Dwight hat sich ihm widersetzt, als er ihm sagte, dass er den Tisch verlassen solle. Nun soll er dafür die Stadt und das Land verlassen.
Er blickt Britt Hackett fest an. Dieser grinst. »Ich weiß schon, du bist eine harte Nummer, stolz und selbstbewusst. Aber man trotzt einem Britt Hackett nicht ungestraft. Wenn du in einer Stunde noch zu sehen bist, wirst du eine Menge Verdruss mit einigen harten Jungens bekommen.«
»Yeah«, sagt Dwight Aberdeen. Mehr sagt er nicht. Er wendet sich ab und geht davon. Durch einen Gang gelangt er vom Restaurant in die Hotelhalle. Von dem Portier, der hinter dem Anmeldepult eine Zeitung liest, kauft er sich einige Zigarren.
Dann geht er nach oben. In seinem Zimmer schiebt er den Riegel vor, stellt noch einen Stuhl unter die Türklinke und kleidet sich dann aus. Als er im Bett liegt, ist es klar, dass er Britt Hacketts Befehlen zum zweiten Male keine Folge leisten wird.
Und dann …? Was wird dann sein? Was wird morgen sein? Er glaubt nicht, dass Hackett ihn hier aus dem Zimmer holen lassen wird. Aber er glaubt daran, dass er morgen Verdruss bekommt.
Doch er ist ja hergekommen, um einen Verdruss zu beginnen.
Er ist den weiten Weg heraufgeritten, um Britt Hackett zu erledigen.
»Also gut«, murmelt Dwight, »morgen geht es los! Es ist schnell in Gang gekommen, noch schneller, als ich dachte. Britt Hackett geht schon morgen auf mich los. Diesen Spaß kann er haben.«
Nach diesen Worten schläft er ein.
Und er träumt von June Ferris, nicht von Britt Hackett und dem zu erwartenden Verdruss.
3
Als er sich am nächsten Morgen rasiert, gewaschen und angekleidet hat, betrachtet er sich noch eine Weile prüfend im Spiegel. Er blickt sich in die Augen, und er ist zufrieden. Als er die Tür öffnet, steht ein Mann draußen. Es ist der Marshal Luke O’Mahon.
»Ich möchte eine Minute mit Ihnen sprechen, Aberdeen«, sagt der Marshal sanft, kommt ins Zimmer herein und blickt sich um. Dann setzt er sich auf einen Stuhl und seufzt dabei bekümmert. Er blickt Dwight prüfend an.
Der hat die Tür wieder geschlossen und lehnt mit dem Rücken dagegen. Auch er betrachtet den Marshal fest.
Luke O’Mahon nickt bedächtig.
»Jemand hat mir erzählt«, sagt er, »dass Sie gestern mächtig stolz waren, Aberdeen. Britt Hackett hat Ihnen gesagt, dass Sie zum Teufel gehen sollen. Und Sie sind immer noch hier.«
»Yeah«, sagt Dwight gedehnt, und dann wartet er wieder. Der alte Marshal holt eine Blechbüchse aus der Tasche und entnimmt dieser einen Zigarrenstummel. Er betrachtet ihn prüfend, zögert einige Sekunden und steckt ihn dann wieder fort.
»Das ist es«, sagt er. »Diese Stadt zahlt mir im Monat siebzig Dollar. Und weil ich davon noch was sparen muss, kann ich pro Tag nur eine einzige Zigarre rauchen. Ich bin sehr froh, noch einen Siebzig-Dollar-Job zu haben. Ich habe früher nie daran geglaubt, dass ich alt würde. Immer habe ich in all den wilden Städten und Camps damit gerechnet, dass mich mal einer von den wilden Jungens erwischen würde. Deshalb hatte ich nie gespart.«
»Warum erzählen Sie mir das, O’Mahon?«, fragt Dwight gedehnt.
»Ich bin alt geworden und habe siebenhundertzwanzig Dollar gespart«, erwidert Luke O’Mahon. »Im nächsten Jahr muss ich meinen Stern abgeben. Vielleicht habe ich dann tausend Dollar. Das ist verdammt wenig. Ich muss also danach trachten, dass mich diese Stadt noch nach Ablauf des Vertrages als Marshal behält. Ich möchte erreichen, dass ich nochmals einen Zweijahres-Vertrag bekomme. Dann könnte ich vielleicht zweitausend Dollar sparen und wäre meinem Lebensende einige Jahre näher. Und weil in dieser Stadt Mister Britt Hackett sagt, was gemacht wird, so darf ich ihn mir nicht zum Feinde machen. Auf der anderen Seite aber wieder könnte ich nicht tatenlos zusehen, wie Hacketts raue Burschen an Ihnen ein Exempel statuieren. Ich habe immer meine Pflicht getan. Aberdeen, ich bin gekommen, um Sie zu bitten. Ihr Pferd steht hinter dem Hotel. Sie können das Haus durch die Hintertür verlassen, in den Sattel steigen und aus der Stadt reiten. Ich möchte hier keinen Verdruss. Außerhalb der Stadtgrenzen enden meine Befugnisse als Marshal. Wir haben hier keinen Sheriff. Haben Sie mich verstanden, Mister Aberdeen?«
Dwight nickt. »Genau«, sagt er. »Das Küchenpersonal hat gestern gelauscht, als Britt Hackett mir den Befehl erteilte. Sie haben Freunde und wurden in Kenntnis gesetzt. Nun gut, Marshal, jetzt wollen Sie, dass ich verschwinde, damit Sie nicht in den Verdruss hineingezogen werden. Zum Teufel, Mann, was sind Sie für ein Marshal? Sie tragen einen Stern! Sie fürchten sich davor, jemandem auf die Zehen treten zu müssen, weil dies Ihre Pflicht erfordern könnte. Was kann ich dafür, dass Sie alt geworden sind und kaum was erspart haben? Ich habe das Recht, als freier Bürger unserer Nation, in dieser Stadt zu bleiben, solange es mir passt. Ich kann selbst für mich sorgen!«
»Solche Worte habe ich früher auch geredet«, murmelt O’Mahon. »Aber werden Sie erst einmal sechzig Jahre alt, mein Junge. Dann denken Sie nur noch daran …«
Er spricht nicht weiter, sondern bricht seufzend ab. »Wenn Britt Hacketts Burschen auf Sie losgehen, Aberdeen, dann muss ich eingreifen. Überlegen Sie sich, was Sie mir damit antun. Was würde es ausmachen, wenn Sie dieser Sache aus dem Weg gingen und hundert Meilen hinter sich brächten? Nichts! Aber …«
Dwight Aberdeen hört nun nicht länger zu. Er wendet sich ab, öffnet die Tür und geht hinaus. Ruhig geht er die Treppe hinunter. Und da er gehört hat, dass sein Pferd hinter dem Hotel stehen soll, überlegt er, ob er es nicht noch vor dem Frühstück zum Schmied bringen sollte. Der Rappe braucht sehr nötig neue Eisen. Und vielleicht muss Dwight sehr bald schnell und hart reiten. Er entschließt sich also, zuerst für neue Hufeisen zu sorgen, wendet sich am Fuße der Treppe nach links und geht den Gang entlang, der zur Hintertür führt.
Als er auf den Hof tritt, sieht er sein Pferd stehen. Es ist drüben zwischen einem Geräteschuppen und einem Lagergebäude angebunden. Langsam geht er auf das Tier zu. Er wirkt sehr lässig, aber er ist innerlich sehr angespannt und wachsam. Als er es erreicht hat und losbinden will, da sagt eine tiefe Stimme: »Zu spät, Bruder, viel zu spät!«
Dwight Aberdeen wendet sich schnell um, so dass er mit dem Rücken zum Pferd steht. Was er nun sieht, das sagt ihm klar und deutlich, wie sehr er eingekeilt ist.
Es sind drei Männer. Einer kam hinter ihm aus der Hintertür des Hotels. Dieser Mann ist jener noch junge, geschmeidige und sicherlich verwegene Bursche, den er bei Britt Hackett sah und der gestern dann in die Hotelhalle kam und ihm nachblickte. Dieser noch junge Revolverschwinger lehnt jetzt neben der Hintertür an der Hauswand und streichelt mit den Fingerspitzen seine Revolverkolben. Dabei starrt er zu Dwight Aberdeen herüber und grinst erwartungsvoll.
Die beiden anderen Männer nähern sich von rechts und links. Sie kamen um die Ecken der Gebäude. Einen davon kennt er ebenfalls schon, denn er sah ihn gestern vor dem Hotel bei Britt Hackett und dem jungen Revolverhelden.
Dieser Mann hatte die Worte gesprochen: »Zu spät, Bruder, viel zu spät!« Er ist ein großer, breiter und starkknochiger Mann, in dessen Gesicht die Zeichen vieler Saloonkämpfe und gewalttätiger Auseinandersetzungen zu erkennen sind.
Er spricht jetzt wieder und sagt mit seiner tiefen Stimme: »Du hast deinen Befehl erhalten, nicht wahr, Rebell aus dem Süden? Du wusstest genau Bescheid? Man trotzt einem Britt Hackett nicht. Das ist nun einmal so. Nun müssen wir dich verprügeln, mein Junge. Es macht uns keinen Spaß, das glaube mir. Aber Mister Hackett will es so, weil du ihm zweimal getrotzt hast. Wenn du dich nicht zur Wehr setzt und uns nicht zornig machst, dann wird es nicht ganz so schlimm für dich. Also komm, mein Junge! Hole dir deine Lektion!«
Er zeigt Dwight die geballten Fäuste.
Dwight wendet den Kopf und betrachtet den dritten Mann. Der war früher sicherlich einmal ein Preiskämpfer. Dieser dritte Mann ist ungeheuer breit und wirkt schon rein äußerlich bullenstark und stur. Dieser gedrungene Bursche wiegt sicherlich mehr als zweihundertzwanzig Pfund. Er hat keinen Hals, einen kleinen Kopf, der kahl ist, und kaum eine Stirn. Seine stämmigen Beine sind gekrümmt, und er grinst jetzt gierig und schnauft durch eine kleine Knollennase.
»Yeah, fangen wir an«, sagt er jetzt. Es klingt fast gemütlich, so, als wäre es die Aufforderung zu einer Partie Halma oder einem ähnlichen harmlosen Spiel.
»Ihr habt mich mächtig in der Klemme«, sagt Dwight langsam.
»Richtig«, nickt der Mann mit der tiefen Stimme. »Du wirst die Prügel schlucken müssen. Mister Hackett hat sich über dich geärgert. Komm schon, Langer, komm! Hol dir die bittere Medizin! Aber versuche es nicht mit dem Revolver! Der da, das ist Vance Scott! Der ist bestimmt schneller als du. Der passt gut auf, dass du nicht den Revolver in die Hand bekommst, Versuche es nicht! Vance Scott ist so schnell wie der Blitz.«
Dwight blickt kurz zu Vance Scott hinüber, der immer noch neben der Hintertür an der Hauswand lehnt. Und er glaubt, dass dieser junge Revolverheld mächtig schnell den Colt ziehen kann.
»Tändelt mit ihm nicht so lange herum«, sagt Vance Scott nun, »Ich habe noch nicht gefrühstückt. Fangt endlich an.«
Aber es ist Dwight Aberdeen, der nun den Anfang macht.
Denn er hat das Unvermeidliche erkannt. Er hatte lange genug Zeit zum Nachdenken. Es wurde ihm klar, dass diese Sache nach dem alten und rauen Stil vonstattengehen soll, und er kennt diesen Stil gut. Männer wie Britt Hackett gibt es überall, und wo es die Verhältnisse zulassen, dort sind sie mächtig rau. Sie verschaffen sich Macht und Einfluss, werden größer und größer, werfen gewaltige Schatten und werden schlimmer und schlimmer, je weiter sie kommen. Dwight Aberdeen begegnete solchen Männern schon überall, in wilden und rauen Städten, in abgelegenen Countys ohne Gesetz und in wilden Camps. Er begegnete solchen Männern auf dem Missouri und dem Mississippi und überall dort, wo sie stärker waren als das Gesetz. Sie halten sich für sehr große Männer, für eine Art Halbgötter, und sie dulden nicht, dass sich ihnen jemand selbst in Kleinigkeiten widersetzt. Dann sorgen sie sofort für die Erhaltung ihres Prestiges und die Unverletzbarkeit ihrer angemaßten Machtstellung.
So ist es auch hier.
Bisher war Dwight Aberdeen solchen Männern stets ausgewichen. Er hatte nie mit ihnen Verdruss gesucht. Lieber war er ein Stück weitergeritten und hatte sich einen neuen Platz gesucht.
Doch hier ist es anders. Dwight Aberdeen kam her, um Britt Hackett zu vernichten. Er kam her, um Britt Hackett alles zu nehmen, was dieser besitzt. Er kam her, um Britt Hackett am Boden liegen zu sehen.
Das ist sein Ziel! Wenn er es erreichen will, muss er jetzt kämpfen und sich behaupten. Wenn er das nicht kann, dann ist er einfach nicht groß genug für Britt Hackett.
Deshalb kämpft er jetzt. Er wartet nicht. Er greift an. Von einer Sekunde zur anderen ist er entschlossen. Furcht kennt er nicht, und er denkt auch nicht an eigene Sicherheit, an Schonung und an all die vielen Beweggründe, die einen Mann oft davon abhalten, sich in Gefahr zu begeben.
Dwight Aberdeen greift an, und zwar den stärksten Mann. Dies ist der schwergewichtige Expreiskämpfer, der so stur und dumm wirkt.