Gefördert durch die Stiftungs- und Förderungsgesellschaft, den Fachbereich Kommunikationswissenschaft und den UNESCO-Lehrstuhl „Kulturelles Erbe und Tourismus“ (alle Universität Salzburg), durch Salzburg Tourismus GmbH, die Fachhochschule Salzburg sowie die Akademie Schloss Urstein Privatstiftung.

Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

Erscheinungsjahr: 2015

Umschlag: Graphik von Jörg Hoffmann (nach einer Vorlage von Paul Kirnig für die Österreichische Verkehrswerbung, 1936).

Satz und Gestaltung: Roman Egger, Amra Sabanovic, Nicole Wiggert, Lorenzoni PR und FMK&T.

Fotos: Kurt Luger

Die Fotos in den Texten stammen jeweils von den Autoren, falls nicht anders angeführt.

ISBN 978-3-7386-8593-0

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Inhalt

Einleitung der Herausgeber

Hat die Spaßgesellschaft ausgelacht und hat die Krise der Wirtschaft und der Werte sämtliche Lebensstrukturen durchdrungen, sodass schon aus psychohygienischen Gründen eine permanente Ablenkung erforderlich wird, um das Leben durchzustehen? Oder haben sich die Gewichte einfach so verschoben, dass Arbeit oder besser sinnstiftende Arbeit ihren Stellenwert zurückbekommen hat und sich in den Arbeitsprozessen heutzutage mehr Entfaltungsmöglichkeiten bieten, sich Arbeit und Freizeit also nicht mehr als Antipoden einander gegenüberstehen, sondern eher ineinander greifen? Sind Urlaubs- und Ferienzeiten einfach dadurch geprägt, dass man sich von Routinen befreit bewegen kann und das möglichst weit weg? Reist man an solche Orte, die der Anmutung von Paradiesen entsprechen, Heterotope mit Glückseligkeitsversprechen, wohl wissend, dass es sich nur um ein zeitweiliges Abtauchen in solche Glücksräume handeln kann? Oder suchen wir nur nach Phasen der Ruhe, weil der kinetische Overkill zu einer Überhitzung des Systems Mensch führt, Kopf- wie Atemlosigkeit die Sinne benebeln und das Kontrastprogramm in einem demonstrativen Stillstand besteht, in Zeiträumen, in der Zeit keine dominierende Rolle spielt? Es sich leisten können, sich im Lotussitz niederzulassen und die Augen auf die Ewigkeit zu richten – wäre das eine Alternative zu den Millionen Stunden verlorener Zeit an Nicht-Orten, in den Wartehallen der Flughäfen und im Stau auf Autobahnen?

Die dramatischen Veränderungen in unseren Gesellschaften – in den industriewirtschaftlich dominierten Systemen wie in jenen, wo die Menschen zwar noch in agrarwirtschaftlichen Zyklen leben, aber zusehends von den Dynamiken der Globalisierung erfasst werden – haben Arbeit und Freizeit entgrenzt und entkoppelt, eigene und doch ineinander verzahnte Bereiche geschaffen. Wie und was hat sich in den vergangenen Jahren verändert bzw. zu diesen Veränderungen geführt, welche Aussichten ergeben sich auf die immer größer werdende Kulturindustrie, die längst zu einem Konglomerat von weitgehend standardisierten Unterhaltungsangeboten geworden ist, in dem jeder Habitus etwas für sich passendes findet? Die Freizeitindustrie verwebt ambulante Einrichtungen wie Kinos und Shoppingcenters, bietet Heimbetreuung via Bildschirmmedien, schafft Begleitungsangebote durch Hostessenmedien wie digitale Tonträger und verschickt reiselustige Konsumenten, egal ob Reisebürokunden oder Onlinebucher, an die entferntesten Orte der Welt, bezaubert sie mit Premium Resorts oder billigem Badevergnügen, mit gebauten Fantasiewelten oder inszenierten Schönheiten der Natur. Natürlich stellt sich dem kritischen Beobachter dieser Entwicklung die Frage nach der ökologischen Belastung, dem Ressourcenverbrauch, dem individuellen wie sozialen Nutzen all dieser Annehmlichkeiten.

Im gesellschaftlichen Diskurs über die Reisegewohnheiten und das touristische Geschehen allgemein dominieren aber zumeist andere Fragen – wie dies oder jenes zum Lebensstil passt, ob Status durch ein erworbenes Produkt oder eine Ferienreise erworben werden kann, ob die Betten der Resorts gefüllt werden konnten und ob die Buchungslage für das kommende Jahr zufriedenstellend ist. Die Sinnhaftigkeit des gesamten Systems wird aber sehr selten in Frage gestellt, sie wird vielmehr als gegeben vorausgesetzt: Die Logik wird gespeist aus der Kontinuität des Handelns.

Diese Themen und Entwicklungen wurden diskutiert am 12. Salzburger Tourismusforum, organisiert von der Universität Salzburg, der Fachhochschule Salzburg und dem Institut für Interdisziplinäre Tourismusforschung (INIT). Das vorliegende Buch dokumentiert diese Auseinandersetzung und führt noch weiter, inkludiert weitere Beiträge von Autoren, um ein noch breiteres Bild zu gewährleisten und Fragen zu klären, die auf dem Forum nicht gestellt oder nicht ausreichend diskutiert wurden. Zu Wort kommen Wissenschaftler verschiedener Disziplinen wie auch Personen, die von Berufs wegen von diesen Veränderungen betroffen sind. Zur Diskussion stehen nicht nur gegenwärtige Erscheinungen und Trends, sondern auch zukünftige Herausforderungen wie der globale Klimawandel, demographische Verschiebungen und deren Auswirkungen sowie Fragen der Ausbildung für den Tourismus- und Freizeitmarkt der Zukunft.

Die Anordnung der Beiträge im Buch folgt in etwa der Gruppierung auf der Konferenz, die von drei Eröffnungssprechern eingeleitet wurde: Klaus Kufeld widmet sich der Reise als utopisches Experiment, als Weg des Wissens und der interkulturellen Selbsterfahrung. Roman Egger beschreibt Metamorphosen touristischer Räume, ausgelöst durch die uns zur Verfügung stehenden kommunikationstechnologischen Möglichkeiten und Josef Peterleitner befasst sich mit den Erwartungen und Reaktionen aus der Sicht der Tourismuspraxis. Diese antizipiert und integriert Trends und sozialen Wandel in ihre Angebote, in der die Zukunft längst begonnen hat. In diesem ersten Kapitel geht es um die Vorstellungen der mobilen Welt von Morgen, auch der sozialen Mobilität, der Verbindungslinien von Freizeit und Arbeitszeit, der Lebensstile, des Reiseverhaltens und der Verkehrsmittelwahl.

Das Kapitel zwei handelt von den Zeitstrukturen und der zusehenden Mediatisierung der Lebensformen. Die Rede ist von der Beschleunigungsgesellschaft, die im digitalen Zeitalter ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht und tendenziell das menschliche Maß verliert. Der Tourismus ist Nutznießer dieser Entwicklung aber auch Reparaturbetrieb für die vom Zeitdiktat getriebenen Menschen. Insofern bietet er auch eine Entschleunigungstherapie für jene Teile der Gesellschaft, die sich diesem Tempo widersetzen, naturnahe Räume aufsuchen oder sich etwa im Sinne von Zeitreisen aus ihrem heutigen high-speed Umfeld ausklinken wollen. Im Kontext des Erinnerungs-, Heritageoder ganz allgemein des Kulturtourismus gibt es ein großes Potenzial auszuschöpfen, wobei auch hier auf technische Innovation nicht verzichtet werden muss, sich diese vielmehr zur Optimierung von Kontexten und Wahrnehmungsweisen anbieten.

Im Kapitel drei geht es um die Raumnutzung, um Destinationsentwicklung, um die Gestaltung wie emotionale Aneignung von Räumen, die aufgrund ihrer Touristifizierung zu Orten des Glücks werden können. Dazu gehört die Naherholung, das kurzzeitige „aus dem Feld gehen“ ebenso wie die intensive Erkundung einer Stadt anhand von Romanen als imaginierten Reiseführern, wodurch die literarischen Schauplätze auf ganz individuelle Weise erlebt werden können. Die Qualität der Wahrnehmung hängt auch von der Zahl der Besucher ab, sodass die Lenkung von Besucherströmen oder die Limitierung der Besucher für stark besuchte Attraktionen wie etwa Welterbestätten eine wachsende Bedeutung erhält.

Das vierte Kapitel handelt von den Herausforderungen, die sich durch den Klimawandel merkbar ankündigen und nicht nur den Tourismus vor große Probleme stellen. Insbesondere der Wintertourismus muss schnell über Anpassungsstrategien nachdenken, um seine Position einigermaßen halten zu können. Langfristig muss auch im Tourismus der Ressourcenverbrauch drastisch gesenkt werden, sind postfossile Alternativen und neue Formen der verkehrstechnischen Erschließungen zu entwickeln. Konzepte der Nachhaltigkeit werden in den nächsten Dekaden eine größere Bedeutung erlangen wie auch ein naturnaher Tourismus, der mit Natur und Kultur verantwortungsvoll umgeht.

Das Kapitel fünf wirft dann konkret die Frage auf, welche Angebote die Zukunft bestimmen werden, wie der Tourismus auf die Krise der Wachstumsgesellschaft reagiert und wie die gesamte Branche mit den Herausforderungen umgeht, die durch die ständige Veränderung der Parameter und der darauf folgenden Innovationen in der Gesellschaft entstehen. Langsame und intensive Reise- und Urlaubsformen sind hier ebenso gemeint wie die Innovationsbereitschaft der Tourismusunternehmen, die sich zwar gegen kurzfristige Wetterunbillen versichern können, sich aber letztlich fragen müssen, wie sie zur Ausgestaltung der Lebenswelt ihrer Kunden beitragen und welchen positiven Beitrag sie zur Leistungs- und Konsumgesellschaft liefern können, deren gegenwärtige Erscheinungsformen zurecht in die Kritik geraten sind. Auch im Tourismus ist daher der Übergang zu einer Lebensweise der Nachhaltigkeit zu diskutieren und dies nicht zuletzt deshalb, weil er in alle Sektoren des gesellschaftlichen Lebens irgendwie eingreift bzw. mit diesen verbunden ist und von ihm auch Vorschläge für das richtige Leben ausgehen.

Roman Egger, Kurt Luger

Sommer-Herbst 2014

Freizeit, Arbeitswelt, Utopie

Vom Verlassen der Paradiese

Des unüberholbaren Romantikers philosophische Perspektive auf das Reisen, auch das touristische

Klaus Kufeld

Abstract

Tourism is an industry like any other and therefore follows the law of the market. The ancient motive was travelling, but today more value is generally placed in ‘holidays’ and not travel as such. Those who still want to travel today have to re-invent the concept and the challenge of discovery. Finding a way out of this ‘tourist dilemma’ will require an understanding of travelling from a philosophical perspective and establishing new ways of using Ethics under the global conditions of today. Here we can build up cultural values found in earlier prototypes of travel dating some 2500 years back in time to Herodotus, then on to Christopher Columbus, Johann Gottfried Seume, and Hermann Graf Keyserling and in modern times to Bruce Chatwin and Ryszard Kapuscinski. All these views sprang from the essential conflict between ‘travel bid’ and ‘travel ban’, which Platon described his utopian travel philosophy. Dealing with the strange and new, in conservation and in a cosmopolitan ethic, entails a codex of values. Now that all the ‘paradises’ of this world have been entered, we must abandon them – in order to protect them. The Earth has become subjected to the rule of man, a dictatorship of the cultural treasures and even nature itself. It may be possible to reconcile travel and tourism, if we can find the Aristotelian Golden Mean: a middle way between curiosity, self-enlightenment and asceticism. Therefore, travelling and remaining can become one.

Keywords: travel philosophy, future of travelling and tourism

1 EINLEITUNG

Wie hat der Tourismus angefangen? Nein, nicht erst vor über zweihundert Jahren. Der Tourismus hat angefangen, seit wir wissen, dass die Erde eine Kugel ist. „Verläßt man auf einer Erdkugel einen Punkt, so heißt das, dass man sich ihm schon wieder nähert! Die Kugel ist monoton.“ (Segalen 1983, 75)

Bezogen auf die Geschichte des Reisens bedeutet das, der Mensch macht auf der Strecke zwischen seiner Sesshaftigkeit und seiner eingegrenzten Mobilität die fatale Erfahrung, dass er tendenziell nichts mehr erleben kann und nichts mehr zu erzählen hat. Stimmt diese Vision von Hamilton-Patersen (2007, 16), Mitglied der Royal Geographical Society, ist das Reisen auf einem anthropologisch bedenklichen Weg. Zugespitzt gesagt: der Tourismus, Vorläufer der Globalisierung und Industrie des Reisens, ist das Ende vom Reisen (vgl. Schütze 1995, 58). Die Räume gestaucht, die Zeit pressiert, präsentiert sich die totalmobile Welt um das Unterwegs entleert und dem Interesse der Ankunft geopfert. Die Raum- und Zeitinsel Urlaub (etymologisch: die Erlaubnis fortzugehen), für Paul Theroux (2000b) das Gegenteil vom Reisen, koppelt den Menschen nicht nur von der Arbeitswelt ab, sondern auch von der Erlebenswelt. So bedeutet der Tourismus, der nichts anderes und nichts besser organisiert als die perfekte Ankunft, in the long run den Abschied von seinem Urmotiv – dem Reisen. Und mit ihm verschwinden auch die Konturen der sensiblen Sphären der Entdeckung, der Erfahrung und des Erkennens der Welt mit der Folge, dass die Menschen allein mit ihrer Sehnsucht nach dem Paradies zurückbleiben. Mit der Geburt des Tourismus als der Erfahrung der Monotonie der Erdkugel beginnt eine neue, vollkommen inszenierte und formatierte Reisepolitik. Auf dem Zenit dieser Entwicklung sucht der Mensch fortan das Weite in der Beschleunigung. Derartiger Fortschritt, der dem reiselustigen Menschen tendenziell nichts zu bieten hat und letztlich Marktgesetzen gehorcht, zwingt dazu, die Welt zu konsumieren, immer höher hinaus und weiter weg, immer schneller und luxuriöser, bis wir fast nichts mehr zu tun haben. Um in seinem Finish vor den Ergebnissen kapitalistischer Gewinnmaximierung zu stehen: überlaufene Kulturdenkmäler, Raubbau an der Natur, Eingemeindung fremder Kulturen ins globale Dorf, Reisen verkauft als Geschäft. Entdeckung wird der Routine, Erholung der Erschlaffung geopfert.

Die World Tourism Organization (UNWTO) hat das im wahrsten Sinne flächendeckende Problem erkannt und den „Global Code of Ethics“ entwickelt, aber zu mehr als einer appellativen Fünf-vor-zwölf-Politik kommt es kaum. Mehr denn je wirkt die Eigendynamik des Tourismus, denn dieser gewinnt den Hase-und-Igel-Wettlauf gegen das Reisen schier immer: Das touristische Angebot ist immer schon da und notfalls werden wir – totalentlastet – zum Reiseziel hingetragen und hingesteuert.

Hier überrascht nun aber die Beobachtung, dass wir ausgerechnet an dem Punkt, wo der Tourismus alle Paradiese erreichbar gemacht hat, wieder etwas vermissen: Das Erleben, das Erzählen, das fremde Neue, eben die Glücksmomente des Reisens. Der neuralgische Verlust schlägt auch beim Tourismus zu Buche: es genügt nicht mehr, aus den Träumen der Menschen Kapital zu schlagen, indem er ihnen ihre Sehnsucht erfindet und dann als Sensation wieder verkauft; es gilt nun, Verantwortung zu übernehmen und dem Reisen seinen Wertegehalt zurückzugeben. Sustainable Tourism, World Heritage und Sentimental Journey sind die Stichworte, wenn es darum geht, die Eigendynamik der touristischen und mobilen Freizeitentwicklung zu durchbrechen. Dafür braucht es einerseits den unaufgeregten Blick für die kalte Wirklichkeit der globalen, total beschleunigten sowie inzwischen auch weitgehend digitalen und durchformatierten und im Übrigen Marktgesetzen gehorchenden Welt. Andererseits braucht es ein sensibles Bewusstsein, sehenden Auges durch die Welt zu gehen, um unsere Genusssucht mit der Verletzlichkeit dieser unserer einen Welt abzugleichen.

Das will ich in vier Schritten bewältigen:

In einem ersten Schritt bleibe ich auf dem Boden der Fakten und skizziere im historischen Streifzug, wie der Wirtschaftsfaktor Tourismus das Reisen überholt hat.

In einem zweiten Schritt befinden wir uns im Transitraum der Widersprüche: wie können wir in der Welt, die sich ausdehnt und gleichzeitig zusammenzieht, überhaupt noch Reisende bleiben? In einem dritten Schritt machen wir den philosophischen Abflug und nehmen den wolkenfreien Himmel der Werte ins Visier. Was ist unser Reisemotiv und wie ist der moderne Prototyp eingestellt? In einem vierten Schritt versuchen wir eine utopische Landung in einer Landschaft, wo das Reisen neu erfunden wird und Reisen und Bleiben eins werden. Dort begreift sich der Reisende als Gast der Welt.

2 DER REISENDE AUF DEM BODEN

Machen wir uns nichts vor: Unsere globalisierte Welt folgt dem Diktat der Beschleunigung. Dem Tourismus ist es gleichgültig, ob und warum wir in Urlaub fliegen oder auf Geschäftsreise gehen – und eigentlich ist es uns selbst sogar gleichgültig: „Wir sind eben lieber Touristen als Reisende. Wir gehen weg, um dem Alltag zu entfliehen, aber wir wollen nicht der Reise wegen unterwegs sein und dabei Verzicht üben müssen an dem, was wir bereits kennen und schätzen. Das Ziel ist die Ankunft, und das bitte rasch“ (Spillmann 2013). Niemand, und auch nicht der vollkommen ethisch aufgestellte Reisende, kann heute ohne den Tourismus auskommen. Selbst der Präsident von „Atmosfair“ musste einst die Erfahrung machen, dass der Verzicht aufs Flugzeug, um zu einem Klima-Gipfel nach Manila zu gelangen, ihn zwei Wochen Reisezeit und damit Arbeitszeit (wenn nicht gar Lebenszeit) kostete. Der Tourismus lässt auf seinem globalisierenden Siegeszug unweigerlich alle einsteigen – oder er lässt sie zurück. Alle nämlich wollen schnellstmöglich an ihr Ziel und vergessen das Unterwegs.

Die „touristische Wende“, also der Beginn der Serienorganisation des Reisens, ist noch vor 1800 anzusetzen und die Entwicklung des Tourismus ist in zweierlei Hinsicht eine Erfolgsgeschichte: Erstens steht der Tourismus in seiner Entwicklung für die Demokratisierung des Reisens, die auch das Ende der soziokulturellen Isolation und Frauenausgrenzung einläutet (vgl. z.B. Pelz 1993, Stiegler 2010, 41ff.). Zweitens steht der Tourismus für die drittgrößte Wirtschaftsbranche der Welt, denn „weder in der Pharma-Produktion noch in der Chemie- oder Computer-Industrie (werden) so große Umsätze erzielt und so viele Personen beschäftigt wie im Tourismussektor“ (Hennig 1999, 9), mit steigenden Zahlen. Und das nüchterne Gesetz heißt: Markt und Wachstum. Die UNWTO’s „Tourism 2020 Vision“ prognostiziert für 2020 fast 1,6 Milliarden internationale Flüge; das bedeutet allein bei 378 Millionen Fernreisen einen CO2-Ausstoß von unglaublichen 1,5 Milliarden Tonnen pro Jahr. Ob Dienstreise oder Urlaubsreise, in allen Bereichen außerhalb der „Kfz-Reichweiten“ haben sich die Krakenfänge des (Flug-)Tourismus bereits festgesaugt und bestimmen Art und Preis des globalen Verkehrs. Der Zukunftsfaktor Tourismus ist die unaufhaltsame, praktische Globalisierung. Damit hat der Tourismus alle Trümpfe der mobilen Welt in der Hand, auch weil er sich immer wieder neu erfindet, vom gepflegten Agriturismo bis hin zum Ein-Euro-Fliegen. So ist aus der Kutsche der Jet, aus der Demokratisierung die Pauschalierung hervorgegangen, und der Slogan „Now everyone can fly!“ (Air Asia) klingt wie das perfekte touristische Rezept.

Um angesichts des Trends auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, halte ich es auch heute noch gerne mit Hans Magnus Enzensbergers Theorie des Tourismus (1958 verfasst). Diese klarsichtigste Wesensbestimmung der touristischen Entwicklung nimmt den Wirtschaftsfaktor Tourismus nicht einseitig aufs Korn, sondern als notwendig und gegeben hin. „Der Fortschritt des Tourismus (…) lässt sich an drei Errungenschaften darstellen, deren jede für die Entwicklung einer Industrie großen Stils unentbehrlich ist: Normung, Montage, Serienfertigung.“ (Enzensberger 1971, 196)

Damit vollzieht sich zunächst eine „Revolution“ der bürgerlichen Erkundung der Welt, die tendenziell nahezu alle Bedürfnisse nach Mobilität befriedigen kann. Das Reisen als soziales Privileg der Bildungsbürger entwickelte sich sodann mit seinen Pionieren Murray (Red Book), Thomas Cook und Baedeker hin zu einer Emanzipationsbewegung (zum Beispiel im Recht auf Urlaub), aber auch zu einer mit pauschalierenden Vorzeichen (Reisen für alle). Für Burghart Schmidt ist der „Kategorische Voluntativ“ hervorgebracht, „ein besichtigendes Nachhecheln dem, was einem die Reiseführer versprechen“ (Schmidt 2014, 12). Trotz dieser Eskalation der Mobilität (und Reisefreiheit) gäbe es allerdings keinen Grund, so Enzensberger, den Tourismus historisch zu isolieren (ebd., 185) und so zu tun, als wäre er eine Fehlentwicklung, weil die Menschen seit je reisen und immer auch bedient werden wollen. Wichtiger sei anzuerkennen, dass aus einem exklusiven Privileg eine inklusive Bewegung werden konnte. Mit anderen Worten: Die genormte und serielle Ausbreitung des Reisens im Tourismus ist im Grunde nichts anderes als die zum Industrieformat raffinierte Weltneugier des Menschen.

Das faustische Fahrtmotiv, „tätig weites Erfahrenwollen übers Bekannte und Gewesene hinaus“ (Bloch 1970, 64), ist sozusagen der Garant, denn es siegt über das Zuhause-Bleiben immer, zumindest statistisch. Die Konsequenz Enzensbergers gilt nicht pauschal dem Tourismus, sondern dem pauschalen Kritiker am Tourismus und letztlich der Diskrepanz zwischen Genuss und Selbstbetrug, zwischen Normung und Freiheit (vgl. ebd., 185; Kufeld 2010, 101). Das ist schon ziemlich philosophisch gedacht.

3 DER REISENDE IM TRANSIT

Mit diesen Einsichten befinden wir uns im Transit zwischen den Welten und beginnen aber gleichzeitig zu zweifeln. Wir wollen etwas erleben und wollen schnell weg, aber wir spüren eine Grenze, die uns nicht sorglos abheben lässt. Denn die Endlosspirale der Wachstumsraten und der Beschleunigung trifft auf ein gewaltiges Veto der aufgeklärten Welt: Die Natur rebelliert, die fremden Kulturen rebellieren, die Stresshormone rebellieren – und alle gebieten sie Einhalt, aber alle machen weiter. Der Tourismus ist Realität, ebenso der „rasende Stillstand“ (Rosa 2013). Und es steht nichts weniger auf dem Spiel als das Reisen. Ob wir nun in Angkor in Kambodscha, im Vallée de Mai auf den Seychellen oder in Machu Picchu in Peru sind, allzu viele waren irgendwie sichtbar schon einmal da. Trampelpfade, Müllberge, übervölkerte Küsten: das sind die Spuren der Besichtigungs-, Besteigungs- und Bevölkerungstouristen, einst mit ihrer Sehnsucht nach dem Neuen im Gepäck, heute desensibilisiert in Sachen Weltkultur, Völkerstolz und Naturwürde.

Der „Homo Everestus Touristus“, der heute mit einem katastrophalen Müllverhalten in Verbindung gebracht wird, ist nur ein Beispiel dafür (vgl. Posch 2014). Eigentlich ist die Massengenusssucht eine Massenerlahmung, denn weder im Großen noch im Kleinen gibt es ein wirkliches Bewusstsein einer Täterschaft. Wo keine Tat, da kein Bewusstsein, frei nach Marx gedacht. Die „kleinen Täter“, die wir einzeln alle sind, wenn wir nicht „grün“ reisen oder gar daheim bleiben, schieben die Schuld auf die „großen“ Täter, die von Weltklimakonferenz zu Weltklimakonferenz hetzen. Die „großen“ Täter reagieren mit Verbotspolitik, die nur die „kleinen“ Täter treffen und im Großen verpuffen. Immerhin beruhigen wir unser Gewissen, wenn wir uns Ethik-Codes ausdenken und – nostalgisch gesagt – „empfindsam“ reisen (vgl. Sterne 1972), aber vielleicht schon dann nicht mehr, wenn wir uns von George Monbiot, Journalist der Londoner Tageszeitung „The Guardian“, durchschaut fühlen, der da sagte: „Wenn wir verhindern wollen, dass der Planet weiterkocht, müssen wir ganz einfach darauf verzichten, so schnell zu reisen, wie dies Flugzeuge erlauben. Die moralische Dissonanz ist ohrenbetäubend.“ Wir begreifen sofort, um was es geht, und doch: Begreifen wir überhaupt, dass es um das Überleben des Planeten geht? Muss der Tourismus auf die Hebebühne der Verkehrstauglichkeit? Und wie viel Mitschuld haben seine Nutzer?

Von derlei Zweifeln geplagt rumort unser Gewissen. Wo die ungleichzeitigen Welten kollidieren und unsere Sinne überfordern, leiden wir nämlich schon unter dem Jetlag der Epoche. Mit dem Sinnbild des dauernden Unterwegs von Transitraum zu Transitraum wird für Durs Grünbein das „Reisen ein Vorgeschmack auf die Hölle“, wo „dem Körper Zeit gestohlen ist, den Augen Ruhe. Das genaue Wort verliert seinen Ort“ (Grünbein 2009, 7). Derlei Gedanken schwirren dem Reisenden durch den Kopf und genau dagegen will er wirken, nämlich das Horrorszenario, den Zustand unaufhörlicher emotionaler Stressbildung zu überwinden. Im Transitraum kämpfen wir an zwei Fronten. Die eine Front ist die besagte sich ausbreitende Lethargie in der entdeckten Welt, wo wir uns in einen Hedonismus hineinsteigern, um einmal Ruhe zu haben und Muße zu tun. Wir nennen das Urlaub. Die andere Front ist der eigentlich nicht mehr zu ignorierende Zielkonflikt zwischen Tourismus und Reisen und berührt die Frage nach dem objektiven Zustand unserer Erde und unsere (Mit-)Verantwortung darin. Der Stress, unser „touristisches Dilemma“ (Kufeld 2010, 97 ff.) dabei ist, dass wir als Nutzer und zugleich Kritiker gefangen und befangen sind.

Andererseits ist der Transit nicht nur Wartehalle und Stau, sondern auch Übergang und Chance, also durchaus die Suche nach der rechten Balance zwischen Verbot und Gebot. Manches Internet-Reisebüro wie lastminute.de bittet bei der Flugbuchung um freiwillige Entrichtung eines Umweltobulus (in diesem Fall an atmosfair.de), um mit dem Geld zum Ausgleich für den CO2-Ausstoß kompensatorisch Reyclingprojekte zu unterstützen. Atmosfair rechnet vor, dass man mit einer einzigen Flugreise in die Karibik mit einem CO2-Ausstoß von 4000kg bereits deutlich über dem klimaverträglichen Jahresbudget eines Menschen von 3000kg CO2 liege. Mit dem Obulus würde zwar nicht das Fliegen legitimiert und der entstandene Umweltschaden nicht ungeschehen gemacht, aber eine solche Abgabe sei ein Reparaturversuch und besser, als die Folgen zu ignorieren. Das klingt salomonisch, denn es ist gut fürs Gewissen, tut etwas für die Umwelt, aber die Atmosphäre wird nicht minder geschädigt. Mit jedem Flugticket tut sich eine neue, bisher nicht dem Tourismus verantwortete Rechnung auf. Den wahren Preis zahlen nicht die Fluggesellschaften, sondern – per Kostenumlage – wir Fluggäste und wir als Gesellschaft. Diese muss mit der geschädigten Umwelt und im Übrigen auch mit den sozialen Folgen, die aus der Kluft zwischen Arm und Reich resultieren, fertig werden. Mit Appellen ist es nicht getan, das wissen wir seit Kyoto, Rio und Warschau bestens. Wahrscheinlicher ist eine weitere globale Panikreaktion: Die Prognosen der UNWTO oder der BAT-Umfrageforschung zeigen uns – statistisch – schon heute den absoluten Overdrive. Außerdem ist es fraglich, ob die Prognosen hinreichend sind, denn sind allein die Tourismuspotenziale Chinas oder Indiens realistisch hochzurechnen? Sicher ist, dass die Chinesen ein äußerst reisefreudiges Volk sind (die Japaner lassen grüßen!), die sich zu Hunderten von Millionen vor den Toren der Welt drängeln und auf den Startschuss der wirklichen Öffnung Chinas warten, dem sich die Globalmacht nicht mehr lange wird verschließen können. Der Biergarten am Chinesischen Turm im Münchner Englischen Garten könnte sich allmählich für den Ansturm seiner originären Kundschaft rüsten. Das Ferne wird so nah rücken, dass das Wort des Jahrhunderts einmal heißen könnte: Globale Klaustrophobie. Genau hier, wo die Welt sich ausdehnt und sich gleichzeitig zusammen zieht (Theroux 2000a), stoßen wir an Grenzen und es stellen sich Wertefragen und sogar existentielle Fragen. Denn: Sind diese hemmungslosen, menschlichen Bedürfnissen folgenden Genussmaximierungen auch gut? Wie steht es mit dem kulturellen Respekt, der Umweltverantwortung und dem globalen Konsens? Und hier, spätestens hier befinden wir uns mitten im Terrain der Philosophie. Auf diesem Gebiet wollen wir aufrichtig und unbestechlich sein und wollen uns nicht mehr herausreden: „Alle reisen, doch niemand möchte Tourist sein. Touristen, das sind die anderen.“ (Hennig 1999, 13)

4 DER REISENDE BEIM ABFLUG

Paradiese zu verlassen setzt voraus sie betreten zu haben (vgl. Kufeld 2005). Die Frage ist, ob es mit Columbus, Cook, gar Humboldt einen Sündenfall gab, ein Vergehen an ihnen. Mit anderen Worten: Ist das eingelöste Flugticket der verbotene Apfel und die auferlegte Schuld? Es könnte ja immerhin sein, dass wir das Paradies naiv für einen Urlaubsort – die Heterotrophie schlechthin (Foucault 2005) – gehalten haben, dessen wir uns bedienten und uns an ihm bereicherten zum eigenen Genuss, achtlos und ohne die Demut, ohne die kein Paradies ein Paradies bleiben kann. Paradiesische Orte mit dieser Verwechslungsgefahr sind die Alpen, ist der Himalaya, ist der – so genannte – Traumstrand, ist das Natur-Idyll an einem einsamen See; Orte also, die unsere Erwartungen an die Natur und Neugier auf fremde Kulturen befriedigen, ohne an die Verletzungsgefahr zu denken. Diese Arglosigkeit – der Mensch ohne Kopf – entschuldigt uns aber nicht. Im Gegenteil, was hier vonnöten wäre, ist Achtsamkeit – der Mensch mit Kopf.

4.1 Motive

Die englische Sprache kompromittiert – unfreiwillig – diesen immanenten Konflikt, der das „touristische Dilemma“ zum Ausdruck bringt: ein Land bereisen heißt, „to cover a country“, und es zu entdecken „discover“. Im selben Augenblick, da ich ein Land entdecke, bedecke ich es, mit meinen Bedürfnissen – aber lasse ich ihm dann, als Eindringling, als Fremder, auch seine Eigenheit, seinen Charme, seinen Stolz? Allein schon dieses Paradox, Entdecker und Bedecker zugleich zu sein, wirft in einem philosophischen Sinn die Frage nach dem normativen Reisemotiv auf. Ein philosophisches Reisemotiv allerdings bleibt nicht am subjektiven, gar egoistischen Motiv haften, sondern es klärt das Interesse – und bezieht den Anderen ausdrücklich mit ein. Die praktisch-philosophische Ambivalenz zwischen Eigen- und dem Fremdinteresse formuliert immerhin schon Platon, als er zwischen Reisegebot und Reiseverbot unterscheidet und damit die ganze dialektische Spannung im Thema aufmacht (vgl. Schmidt 1997). Platon bringt eine Fürsprache im „Siebten Brief“ zum Ausdruck, die sich als „Reisegebot“ lesen lässt. „(…) trotz allen Schwankens, ob ich die Reise antreten und dem Rufe folgen sollte oder wie, siegte doch die Überzeugung von der Notwendigkeit der Sache. (…) Erfüllt von solchen Gedanken segelte ich in gutem Vertrauen von der Heimat ab (…). Vor allen bestimmte mich dabei die Achtung vor mir selbst: ich wollte vor mir selbst nicht so schlechthin als ein bloßer Vertreter der Theorie erscheinen, der sich aus freien Stücken niemals an die Tat heranwage; sodann wollte ich den Verdacht vermeiden, zum Verräter zu werden an der Gastfreundschaft“ (Platon 1993, Siebter Brief, 51). Zum „Reiseverbot“ heißt es im „Elften Brief“: „(…) bin ich auch körperlich infolge meines Alters nicht imstande in der Welt herumzureisen und mich den möglichen Gefahren zu Wasser und zu Lande auszusetzen, zumal jetzt für Reisende alles voll von Gefahren ist“ (Platon 1993, Elfter Brief, 100). Mit Platon manifestiert sich erstmals ein fundamentalphilosophisches Interesse am Reisemotiv. Einerseits als dem „Absegeln von der Heimat“ und der Hinwendung zur Welt, um sich von „bloßer Theorie“ abzuheben und sich der Welt in eigener Anschauung zu vergewissern. Andererseits als dem Vorstellen von Gefahren und Risiken, für den Reisenden selbst wie für die Welt. Pascal hat später diesen Konflikt am radikalsten zugespitzt, nämlich zu reisen oder daheim zu bleiben, weil „das ganze Unglück der Menschen aus einem einzigen Umstand herrühre, nämlich, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer bleiben können“ (Pascal 1988, 69).

Die Frage nach dem Reiseinteresse zu stellen bedeutet demnach, sein Motiv normativ zu klären. Am Motiv bemisst sich schließlich der Ertrag: bleiben wir, wie wir sind (wie im Urlaub), oder lassen wir uns belehren (wie beim Reisen). An dieser Stelle ahnen wir, dass es ein Aktivum der Reise ebenso gibt wie ein Passivum der Reise (vgl. Kufeld 2010, 221): Der Reisende macht die Reise in der bewussten Erfahrung der Welt im buchstäblichen Sinn, die Reise macht aber auch ihn – und manchmal sogar kaputt (vgl. Bouvier 2001, 8).

4.2 Der ideale Reisende

Die Frage ist, wie ich souverän und Herr der Sache bleibe. Als Tourist bin ich das nämlich längst nicht mehr, weil Normung, Montage und Serienfertigung mich total abhängig gemacht haben. Wir finden hier in der Geschichte des Reisens eine Reihe prototypischer Dispositionen auf die Welt zuzugehen, um von der Erfahrung an ihr nicht vereinnahmt zu werden. Für das Reisemotiv charakteristische ethische Haltungen finden sich – sogar losgelöst vom zeitgeschichtlichen Kontext – in den unterschiedlichsten Prototypen seit 2000 Jahren, von Herodot über Columbus bis Chatwin. Ich greife hier exemplarisch einige wenige heraus und beschränke mich mit Seumes „Selbstaufklärung“, Keyserlings „Empathie“ und Chatwins „Zivilisationskritik“ auf die klassisch-modernen Prototypen, weil wir an ihrem Beispiel auch schon die Kontrastierung zum Tourismus mitdenken können (vgl. Kufeld 2010, 46 ff. und 173). Bei Johann Gottfried Seume gibt es den zentralen Begriff des kosmischen Sehens. Er sagt: „Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr als wer fährt.“ (Seume 2001, 8)

Seume grenzt sich schon von Goethes Kutsche ab, weil erst das Gehen (Seume nannte es „Fußwandeln“), die unmittelbare Nähe des ihn unmittelbar umgebenden Kosmos ihn zum Menschen macht: „Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft.“ (Ebd., 10)

Im Spazierengehen – in seinem Fall von Leipzig bis Syrakus – hat er sich als Mensch noch selbst fest in der Hand. Dieser Typus des Reisenden ist ein Seher und ein im weitesten Sinne politischer, souveräner, unabhängiger und sich selbst aufklärender Mensch.

Einen zweiten Prototyp finden wir in Graf Hermann Keyserling mit seinem Credo der Empathie. Keyserling, der vielleicht erste wirkliche Reisephilosoph, sah sich als eine Art „Ich-Forscher“, der zur Erkenntnis aber erst gelangt, wenn er sich in die Koordinaten der Welt zu verorten vermag. Von ihm lernen wir, dass der Umweg der wahre Weg ist im doppelten Sinne: Weg als Wagenspur und Weg als Art und Weise (vgl. Schütze 1995, 195). Ganz im Sinne komparativer Sichtweisen „erweist eine Europäerseele sich am dienlichsten zur äußeren Gestaltung des Lebens, eine indische zur Realisierung in der psychischen Sphäre, eine chinesische zur Konkretisierung der Idee, eine japanische zum ästhetischen Naturverständnis“ (Keyserling 1932, 745). Keyserling war in der Tat einer der ersten Reisenden, die östliches Denken in empirischer Tiefe in das europäische Denken eingebracht haben (ebd., 388, vgl. auch Kufeld 2010, 63). Keyserling übt das, was Rilke später „völlige Eingelassenheit“ nennt (vgl. Rilke 1966, 522 ff.).

Schließlich ist da Bruce Chatwin, dessen Reiseprosa einen zutiefst zivilisationskritischen Hintergrund hat, mal in literarischer Reiseprosa wie den Traumpfaden (Chatwin 2006; Chatwin & Theroux, 2004), mal im sozialkritischen Essay. Chatwins Antrieb ist die Spurensuche, um gerade in den entferntesten Weltgegenden (und aus deren Perspektive) große Werteverluste der modernen Zivilisation zu konstatieren, wo „die Welt ein globales Dorf geworden sei“ (Chatwin 1998, 109), wo „ein großer Teil der Weltbevölkerung mehr denn je unterwegs ist: Touristen, Geschäftsleute, Wanderarbeiter, Aussteiger, politische Aktivisten usw. (…). Doch dieser neue Internationalismus hat einen neuen Lokalpatriotismus hervorgebracht. Separatismus greift um sich“ (ebd., 110). Chatwin thematisiert die „Sehnsucht zivilisierter Menschen nach einem einfachen Leben, das mit dem Leben von Nomaden und anderen ‚primitiven‘ Völkern gleichgesetzt wird“ (ebd., 105). Er plant ein Buch mit dem Titel „Heimweg nach dem Paradies“, das er nie schreibt.

5 DER REISENDE BEI DER LANDUNG

Nun, voller kritischer Gedanken und guter Vorsätze, die uns die Urgroßväter der Touristen mit auf den Weg gaben, setzen wir zur Landung an und bereiten uns philosophisch darauf vor. Kann es den Aufgeklärten gelingen, das Reisen neu zu erfinden? Vielleicht heißt das ja, dass wir das Bleiben lernen müssen? Wir wollen genießen (was ja verweilen, bleiben heißt), gleichzeitig wollen wir Neues erfahren (was ja fortschreiten, verändern heißt). Wir sind uns aber auch der Gefahren bewusst. Wir fragen uns, wie wir das Platonsche Reiseverbot und Reisegebot austarieren können, um dem Transit des Zweifels endlich eine moralisch verträgliche Richtung zu geben. Ein Dilemma im Gepäck zu haben, bedeutet noch lange nicht, sich etwas verbieten zu lassen oder gar sich selbst etwas zu verbieten. Der Philosoph denkt grundsätzlich nicht in Verboten, denn seine Ethik ist eine Gebotskultur, die bei aller Gelassenheit schon auch eine Zumutung sein darf. Umso mehr denkt der Philosoph gerne an das Golden-Mittige, wenn es gilt, Extreme auszutarieren. Schon Aristoteles‘ Tugendbegriff steuert eine „Mitte zwischen den beiden falschen Weisen, die durch Übermaß und Unzulänglichkeit charakterisiert sind“, an (Aristoteles 1969).

In der heutigen Sprache der Ethik – und mit Georg Simmels Worten – entspricht die „Mitte“ dem „griechischen Ideal der Sophrosyne, der schönen Selbstbeschränkung, jenes inneren Maßhaltens, das gleichmäßig vom Zuviel und vom Zuwenig absteht“ (Simmel 1989, 91). In diesem Sinne könnten wir auch sagen, der (Pauschal-) Tourismus ist das „übertrieben Gute“, der Überfluss, die Maßlosigkeit vielleicht, die eher hedonistischen und ökonomischen als Gesetzen „sittlichen Handelns“ folgt. „Mitte“ meint aber nicht einfach einen „Ort“ zwischen „aktivem Reisen“ und „kreativer Muße“, auch nicht schon das „gute“ Reisen selbst. Mitte ist sozusagen der „philosophische Ort“ des Anzustrebenden, was wir mit ethischen Handlungen zu füllen und dem wir „sittlichen Geist“ erst noch einzuhauchen haben. Erholung wird nicht als „Endziel“, quasi als “Erfüllung“, begriffen, „denn man gönnt sie sich um der Tätigkeit willen“ (Aristoteles 1969, 287). Die ethische Maxime könnte dann lauten: Nimm an der Welt teil und lass es dir dabei gut gehen, achte aber darauf, dass du auch zu ihrem und nicht nur deinem Nutzen beiträgst. So ringen wir heute auch um die Ermöglichung globaler Kommunikation ebenso sehr wie um den Stolz der Kulturen, um den Naturgenuss ebenso sehr wie um die Würde der Natur.

An allem ist der Tourismus mit seinem Angebot für Entdeckungen ebenso sehr beteiligt wie bei seinen Flügen und Luxusresorts. Heute ist die Welt total entdeckt und wir können alles wissen. Wir wissen sogar, dass es bald ungemütlich werden könnte auf dem Planeten, wenn wir nichts tun. Die Natur hat längst begonnen zu rebellieren und erschüttert katalytisch unser Bewusstsein (vgl. Luger & Wöhler 2008; Luger 2014; Pfaller & Kufeld 2014). Überließen wir unser „Reiseschicksal“ allein dem Marktmechanismus des Tourismus, wird aus dem Zusammenrücken ein Zwang, denn es wird enger – auch für die Privilegien. Andererseits gibt es auch ein wachsendes Naturbewusstsein, ja vielleicht sogar eine neue Demut. Denn immerhin konstatieren wir auch die kompensatorischen und verlangsamenden Gegenbewegungen, wie sie beispielsweise in den remythisierten Formen des Reisens wie dem „Urlaub auf dem Bauernhof“, dem „Agriturismo“ in Italien, der Bäder- und Spa-Kultur, dem „peregrinischen“ Kult-Pilgern (nach Santiago de Compostela, nach Machu Picchu oder sonst wohin) und generell dem so genannten „Nah-Reisen“ zum Ausdruck kommen. (Vgl. Kufeld 2010, 175 ff.; Stiegler 2010)

Diese Trends, die mit einem Bewusstsein der Nachhaltigkeit einhergehen, sind zweifellos die Chance für den Tourismus. Hier ist das Terrain, wo das Reisen wieder neu zu erfinden ist.

5.1 Gast der Welt

Je mehr wir uns von der Beschleunigung der Welt mental distanzieren, desto größer die Chance für eine Reiseethik, die die Utopie nicht aus den Augen verliert und erkennt, dass „Bleiben und Reisen eins sind“ (Groys 2002). Der Gedanke nämlich, an einem bereisten Ort auch bleiben zu können, lässt mich den Ort mit größerer Achtsamkeit behandeln, so als würde ich ihn gar nicht wieder verlassen. Das bezieht sich auf meinen respektvollen Zugang ebenso wie auf meine hinterlassene Zahnpasta-Tube, also auf die Frage, sich auf den Ort einzulassen, anstatt ihn zu konsumieren. Ich will dies mit einer Metapher zeigen, die in nahezu jeder Reise wirksam wird und die zwischen der Entfremdung von und der Annäherung an die Welt vermitteln kann: es die Metapher des Gasts. Mit Bloch wissen wir, dass in der Fremde nicht der Fremde der Fremde ist, sondern dass ich selbst der Exot bin (vgl. Bloch 1959, 434). Die Frage der Perspektiven, wie wir auf das Fremde zugehen, ist eine Gratwanderung zwischen Verstehen und Missverstehen. Im Lateinischen bedeuten sowohl hospes als auch hostis „Fremder, Ausländer“. Interessant nun, dass sich hospes zur Bedeutung „Gast, Gastgeber“ entwickelt (hospitality), während hostis zum „Feind“ wird (hostility). Freundschaft und Feindschaft haben also eine gemeinsame Sprachwurzel. „Es sieht also danach aus, als sei der Fremde ein potentieller Feind.“ (Waldenfels 2006, 12)

Das grundsätzliche Gastsein des Reisenden bedeutet demnach, auf einer Schwelle zu sein und weder völlig drinnen, noch völlig draußen. Er ist eine Art Zwischenwelt-mensch. Die Ambiguität wird zur normativen Herausforderung, da beide Seiten gefragt sind, was zu tun ist. Keiner von beiden kann nur „bei sich“ bleiben, wenn er am Gast- bzw. Gastgeberstatus nicht exklusiv festhalten will (vgl. Kufeld 2010, 125). Der Reisende bleibt „radikal fremd“ (Waldenfels 2006, 7), wenn er nicht versucht, sich nicht nur vorübergehend, sondern grundsätzlich, tendenziell dauerhaft, mit dem Fremden zu arrangieren und sich entsprechend mental einzustellen.

Georg Simmel bietet in diesem Spannungsbogen hier einen auch für eine Reiseethik relevanten Handlungsansatz an. In seinem „Exkurs über den Fremden“ (Simmel 1992) vermittelt er im normativen Konflikt zwischen (Gast-)Freundschaft und Feindschaft. Er „entschärft“ den Konflikt dahingehend, dass er Fremdsein einerseits und als Gast einer Gruppe zuzugehören andererseits nicht trennt. Simmel definiert den Fremden nicht als „Wandernden, der heute kommt und morgen geht, sondern als den, der heute kommt und morgen bleibt“ (ebd., 764). Der Status der „Zugehörigkeit in der Nichtzugehörigkeit“ ergibt sich für Simmel aus der „Einheit von Nähe und Entferntheit (…): die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, dass der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, dass der Ferne nah ist. Denn das Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform.“ (Ebd., 765)

Damit wissen wir schon genauer, was es mit dem Fremden- bzw. Gaststatus auf sich hat. Wichtig ist, dass wir uns des grundsätzlichen Konflikts, also des Gefahrenpotenzials, bewusst sind und sozusagen eine „Meta-Gast-Rolle“ einnehmen. Aus dieser Warte treten Gastgeber und Gast in ein offenes Kommunikationsverhältnis, in dem sich die Gast- bzw. Gastgeberrolle etabliert oder in dem Feindschaft dominiert. Der Simmel’sche „Fremden“-Begriff schlägt die Brücke zwischen Toleranz (Goethe: „Dulden heißt beleidigen“) und Anerkennung und ermöglicht eine objektivierte soziologische bzw. moralische Gemengelage. Eben diese Objektivität bedeutet für Simmel Freiheit (vgl. ebd., 767), das heißt eine „Exaggerierung der spezifischen Rolle des Fremden“, in der er „der Freiere ist, praktisch und theoretisch, er übersieht die Verhältnisse vorurteilsloser, misst sie an allgemeineren, objektiveren Idealen (…)“ (ebd.). Der freie Gast nimmt keinen festen „Standpunkt“ (Jaspers) ein, lässt kulturarrogantes Denken gar nicht aufkommen. Erst diese Offenheit kann ein kosmopolitisches Ethos begründen. Legen wir an dieser Stelle – wie zur Probe – die Folie Tourismus auf die fremde Kultur beziehungsweise Landschaft. Wir machen dann die interessante Beobachtung, dass der geschäftstüchtige Tourismus bereits in die Rolle des Gastgebers geschlüpft ist, bevor der Fremdenstatus geklärt ist, wenn er nämlich via Angebot (Flug, Urlaubsresort) eigenmächtig seine Rolle im fremden Land besetzt beziehungsweise getauscht hat. Entsprechend „verdrehen Touristen das Gastrecht. Sie behandeln die Welt als eine, die ihnen selbstverständlich zu Diensten ist“ (Schütze 1995, 61).

Die Vollkasko-Mentalität „genießt“ das All-Inclusive-Angebot. Damit wären Primärfakten geschaffen, die den Wertekonflikt zum Nebenkriegsschauplatz machen. Erst das Geschäft, dann die Werte. Und eben diese Folie können wir mühelos auf die Landkarte Natur legen. Auch unser Bezug zur Natur, die schließlich unser Tourismusbzw. Reiseumfeld ist, ist von unserem Fremden- bzw. Gaststatus her zu denken. Auch hier kommunizieren wir, sensibilisieren wir uns und haben Widersprüche zu lösen im Kontext der Interessen (vgl. Kufeld, Luger 2014).

Konrad Ott fordert gerade vor dem Hintergrund der weltweit voranschreitenden Politik der Nachhaltigkeit einen Gestaltwandel, der für den Tourismus sogar unter wirtschaftlichen Prämissen von Interesse sein könnte. Ott meint, dass „der Tourismus an einem gedeihlichen Miteinander mit den Nationalparken ein stärkeres Interesse haben wird als an Dauerkonflikten. Der Tourismus sollte jenseits des „Win-win“-Geschwafels einsehen, dass er von einem kollektiven Schutzgut profitiert, dem ein hoher Rang zukommt und das aus Steuergeldern unterhalten beziehungsweise verwaltet wird. Der Tourismus wäre zu verpflichten, in der Umgebung von Nationalparken und wohl auch von Biosphärenreservaten einen Gestaltwandel hin zu einem Naturtourismus vorzunehmen, anstatt die Denkschablonen des Massentourismus auf geschützte Landschaften zu übertragen. Ein partnerschaftliches Verhältnis zum Naturschutz setzt einen Gestaltwandel des Tourismus voraus – nicht umgekehrt!“ (Ott 2014, 59 f.)

4.2 Parthenogenesis