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Titel

Impressum

Erster Abend

Zweiter Abend

Dritter Abend, erster Teil

Dritter Abend, zweiter Teil

Das Ende der Tafelrunde

Mehr von Raimund Karrie bei DeBehr

 

 

 

 

Raimund Karrie

 

 

 

 

 

Wer sich erhöht

Die schlimmste aller Todsünden

 

 

Kriminal-Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DeBehr

 

Copyright by: Raimund Karrie

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2021

ISBN: 9783957538888

Grafiken Copyright by AdobeStock by ©zef art

 

Erster Abend

 

Es sollte eine stürmische Nacht werden. In jeder Hinsicht. Mit brausendem Sturm draußen und aufwühlenden Gesprächen drinnen. In einem einsam gelegenen Alpengasthof, Meilen entfernt von der nächsten Ortschaft, eingebettet in ein gewaltiges Bergmassiv, 1800 Meter hoch in den Südtiroler Alpen.

 Dr. Jonas Johansen hatte einen runden Tisch ausgemacht und als Erster dort Platz genommen. Es war ihm gerade noch gelungen, heil das Gasthaus zu betreten. Nun saß er im Trockenen, doch war ihm nicht wohl zumute, als er an sein nagelneues Auto dachte, das da draußen im Gewittersturm herabfallenden Ästen und vielleicht auch Hagel ausgesetzt sein würde. Seine Gedanken wurden ausgebremst von einem älteren Herrn, der höflichst um Erlaubnis bat, sich dazusetzen zu dürfen, sich sogar vorstellte, wobei nur der Vorname Paul deutlich zu verstehen war. Kurz darauf waren die Herren zu dritt. Ein gewisser Roman Herzig hatte mit den Worten „Sie gestatten?!“, ohne eine Antwort abzuwarten, einfach Platz genommen. ´Ein seltsamer Kauz` mochten die beiden anderen Herren wohl gedacht haben. Jedenfalls zeigten das ihre Blicke, die sich mal kurz kreuzten. Allein das äußere Erscheinungsbild ließ einen solchen Schluss zu. Seine Jeans waren zerfetzt, die Jacke abgewetzt, die Haare zerzaust, der Bart ungepflegt. Vielleicht war das auch der Grund, warum man nicht ins Gespräch kam. Und als Speis und Trank serviert wurden, gab es erst recht keinen Grund mehr, ein Gespräch zu führen. Geräusche des Wohlbehagens und leicht unterdrücktes Aufstoßen seitens des seltsamen Kauzes unterbrachen gelegentlich die Ruhe an diesem Tisch.

 Ein junger Mann in Wanderermontur, mit Rucksack und Wanderstöcken bestückt, klitschnass und abgekämpft, trat nun an ihren Tisch. Sein fragender Blick veranlasste die Herren, ihn an ihren Tisch zu bitten. Er stellte sich als Swen vor. Während er aus allen Löchern tropfte und vor Kälte zitterte, erwähnte er ein schauriges Gewitter, das ihm mächtig zugesetzt habe. „Ein Gewitter, sagen Sie?“, meinte Johansen und die beiden anderen machten dazu erstaunte Gesichter. „Da wären wir ja nun gar nicht drauf gekommen, junger Mann.“ Dabei schauten sich alle drei an und brachen in ein fröhliches Gelächter aus. Nun hatte auch Swen die Situation erkannt und stimmte unverzüglich in das Gelächter ein. Damit war die Soiree in geselliger Runde eröffnet.

 „Herr? Wie war noch mal Ihr werter Name?“, sprach Paul den seltsamen Kauz an, „Ich glaube, ich habe Sie hier schon mal gesehen.“

 „Ach ja? Übrigens, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Roman Herzig. Ehemaliger Berater in allen Lebenslagen.“

 „Das klingt sehr interessant: Berater in allen Lebensarten. Was macht denn so ein Berater und wie wird man das?“, fragte Swen fast aufgeregt. „So etwas würde ich vielleicht auch gerne werden.“

 „Lebenslagen! Nicht Lebensarten, auch nicht Lebensfragen.“

 „Berater in Lebenslagen. Würde mich auch interessieren“, meinte Paul, wobei er dem ehemaligen Berater ermunternd zunickte.

 „Aber wieso ´ehemaliger`?, meldete sich jetzt auch der Arzt noch zu Wort.

 „Wollen Sie das alles wirklich wissen? Ist aber eine lange Geschichte.“

 „Wir haben alle Zeit der Welt, mein Lieber. Die Nacht ist noch lang. Bei dem Gewitter kann sowieso keiner schlafen. Herr Wirt, vier Bier, bitte! Oder möchten Sie lieber Wein. Der Südtiroler aus sonnenverwöhnten Trauben nahe Bozen und Meran ist nicht zu verachten.“

 Man entschied sich für den Wein. Wenngleich Swen zum Beispiel lieber ein Bier getrunken hätte, frisch vom Fass, auch ein köstliches Getränk hier in Südtirol. In Paul erblickte er einen Leidensgenossen. Dessen Gesicht verzog sich ein wenig, was wohl der Säure des Weins geschuldet war. ´Erstaunlich für eine sonnenverwöhnte Traube`, muss der wohl gedacht haben. Offensichtlich war er eher lieblichen Weinen zugetan. Man heuchelte Freude und stieß mit den anderen auf das Wohl des Spenders an.

 Dann endlich konnte der Erzähler beginnen.

„Der Erzähler Roman Herzig, der hier vor Ihnen sitzt, wurde von seinen Freunden liebevoll Herz genannt. Ich will Ihnen nicht verhehlen, dieser Herz war ein kompletter Loser. Und so galt er in der Schule als dumm, faul und desinteressiert, bei Lehrern wie bei Schülern. Aber als äußerst beliebt, denn er verfügte über ein Talent, das man landläufig mit Empathie bezeichnen kann, gepaart mit einer emotionalen Intelligenz, wie man sie auf Erden nur selten antreffen wird.“ Roman schaute kurz in die Runde und meinte noch: „Wollen Sie wirklich, dass ich weitererzähle?“

 Er wartete eine Antwort erst gar nicht ab, war er doch von seiner Geschichte am meisten angetan. Also fuhr er fort.

 „Hatte ein Junge oder Mädchen meiner Klasse mal ein Problem, wusste man sich vertrauensvoll an Roman zu wenden, diesen Menschen mit Herz. Als mal ein Mitschüler, um ein Beispiel zu nennen, in einer Klassenarbeit sein Ziel verfehlt und statt einer Eins nur eine Zwei hinbekommen hatte und sich ob dieser Verfehlung untröstlich zeigte, durfte er auf Hilfe hoffen. Herz wusste ihn aufzubauen und somit Schlimmstes zu verhüten. Er machte das so geschickt, dass besagter Schüler am Ende mit seiner Zwei glücklicher erschien als mit einer schnöden Eins. Seine Argumente wussten selbst dann zu fruchten, wenn sie auf den ersten Blick hin abwegig, ja, total absurd erschienen.

 ´Weißt du überhaupt, Kumpel, dass du bei uns Mitschülern mit deiner Zwei gewonnen hast, denn schon lange hat man dir deine Eins in Serie geneidet.`

 ´Und wenn die jetzt alle schadenfroh sind?`

 ´Aber nicht doch. Froh sind sie schon. Froh darüber, dass du jetzt langsam einer von uns bist. Und wenn du weiterhin nur Zweier schreibst und dich demnächst auch mal im Unterricht ein wenig mehr zurückhältst und deinen Finger mal unten lässt, damit wir anderen auch eine Chance haben, dann, mein Freund, dann sind die Kumpels noch froher. Dann gehörst du ganz zu uns. Bist kein Außenseiter mehr.`

 Die Ansprache hatte Wirkung gezeigt. Damit war er zwar die längste Zeit Klassenprimus gewesen, hatte aber, nunmehr aufgenommen in die Gemeinschaft der Dünnbrettbohrer, seinen sozialen Status gewaltig verbessert.

 Anneliese, eins der Mädchen in unserer Klasse, hatte mal Liebeskummer. Sie sprach zwar nicht darüber, doch für einige in der Klasse war der Fall klar. Dennoch sah sich keiner von ihnen in der Lage, dem Mädchen Trost zu spenden. Also wandte man sich an Herz mit der Bitte, doch mal tätig zu werden.

 In der Pause ergab sich dann auch die ideale Möglichkeit. Um mit ihrem Schmerz allein zu sein, hatte sich Anneliese von den anderen abgesondert. Auf einer kleinen Mauer am Rande des Schulhofs hatte ich sie ausgemacht und mich ihr vorsichtig genähert. Doch wie sollte ich sie ansprechen? Ich wusste, ich musste behutsam vorgehen. Und so besann ich mich kurzerhand eines Tricks.

 ´Hallo!`, hauchte ich ganz leise. ´Darf ich mich zu dir setzen?` Als das nicht verneint wurde, nahm ich neben ihr Platz. Nach einer Weile begann ich dann mit meiner Mission.

 ´Kann es sein, Anneliese, dass es dir geht wie mir? Ich habe furchtbaren Liebeskummer. Ich muss mal mit jemandem darüber sprechen.`

 Anneliese sah mich mit großen Augen an.

 ´Du sprichst doch sonst nicht mit mir, Roman. Und heute auf einmal …`

 ´Du hast ja sonst auch keinen Liebeskummer.`

 ´Und wer sagt dir, dass ich Liebeskummer habe?`

 ´Wenn nicht Liebeskummer, was ist es denn dann? Jedenfalls schaust du nicht recht glücklich drein.`

 ´Und du möchtest heute mal wieder dein Herzchen raushängen, möchtest den großen Tröster spielen.`

 ´Vielleicht habe ich ja diesmal selbst Trost gesucht. Aber wenn man nur sein eigenes Leid sieht, dann hat man keine Augen für den anderen. Wünsche noch schönen Tag. Tschüss!`  

 Mit diesen Worten hatte ich mich erhoben und den Marsch zurück ins Schulhaus angetreten. Irgendwie war ich stocksauer. Kann man doch verstehen, oder?“

 „Ja, ja, auf jeden Fall.“

Und „Klar doch. Hört sich doch alles gut an“.

„Nur zu! Erzählen Sie weiter!“ So und ähnlich riefen sie ihm zu. Hocherfreut fuhr er fort.

„Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Genau. Die Anneliese.

 ´He! Warte mal! Tut mir leid. Wie heißt denn dein Mädchen?`, so rief Anneliese auf einmal hinter mir her.

 Damit war ihrerseits der Dialog eröffnet, die Schulstunde geschwänzt und dem Mädchen geholfen. Meine Mitschüler kamen aus dem Staunen nicht heraus, als sie anschließend eine vollkommen veränderte Anneliese vorfanden. Die Liste meiner Erfolge würde allein ein Buch füllen. Doch ein Vorfall sollte noch erwähnt werden.

 Didi, so der Ökelname für unseren Deutschlehrer, der dem berühmten Komiker gleichen Namens glich, war ein Hektiker, ein oftmals aufbrausender Mensch, der sich über die kleinsten Dinge des Lebens aufregen konnte. Als er wieder einmal auszurasten drohte, es ging wohl um ein politisches Thema, kam ihm sein Schüler Herzig zu Hilfe.

 ´Aber, aber, Herr Dietermann, bleiben Sie doch ruhig! Denken Sie doch nur, welch schönen Beruf Sie haben. Sie sind Beamter, genießen eine Sicherheit, von denen andere nur träumen können. Denken Sie auch, welch nette Familie Sie haben. Und gesund Sind Sie auch. Wenn Sie das alles bedenken, sagen sie selbst, ist doch der Grund für Ihre Aufregung …`

 ´Du bist ein netter Kerl, Roman. Hast vollkommen recht. Was soll das ganze Geschimpfe! Sollen die Politiker doch machen, was sie wollen. Kann mir doch egal sein.`“

 Roman war nun nicht mehr zu bremsen. Und so musste noch ein weiteres Beispiel her. Stolz wusste er der Runde zu berichten, wie es ihm selbst gelungen war, mal einen Polizisten zu besänftigen, als der ihn spätabends angehalten hatte. Er hatte sich hierbei einer kleinen Lüge bedient, einer eher lässlichen Sünde im Umgang mit der Polizei.

 „Es ging hierbei um eine nächtliche Fahrradfahrt ohne Licht. Um meine Haut zu retten, fand ich goldene Worte: ´Ich kann Ihnen da nur recht geben, Herr Wachtmeister. Im Dunkeln ohne Licht fahren, ist für mich und die anderen Verkehrsteilnehmer gefährlich. Aber was soll ich machen? Mein Fahrrad hat nun mal keine Lampe. Deshalb fahre ich ja sonst auch nie im Dunkeln, immer nur bei Tageslicht. Aber heute, also das heute ist eine Ausnahme. Ich war bei meiner Freundin. Und da hatte ich die Zeit vergessen. Und da um diese Zeit kein Bus mehr fährt, hätte ich zehn Kilometer schieben müssen.`

 ´So, bei deiner Freundin warst du. Na ja, da kann man wirklich mal die Zeit vergessen. Dann will ich mal ein Auge zudrücken und nicht so sein.`

 Dann schnappte sich der nette Polizist das Rad, packte es hinten in sein Polizeiauto und fuhr den lieben Roman heim.

 Ich hatte übrigens einen lausigen Vater. Meist betrunken, erging dieser sich lautstark in Flüchen und Verwünschungen. Ich hatte es schon lange aufgegeben, diesen Unhold umzupolen, hatte es lediglich dabei belassen, meine Mutter zu beschützen, wenn mein Vater sich ihr gegenüber mal wieder aggressiv gebärdete. Die Mutter wusste sich zu bedanken, indem sie ihrem Sohn beistand, wann immer sein Vater auf seine Leistungen in der Schule zu sprechen kam. Wenn meine Mutter mal nicht zugegen war, gelang es mir, mich dem Strafgericht noch rechtzeitig durch Flucht zu entziehen.

 So kam es, dass meine Mutter dem Familienoberhaupt nie verraten hatte, dass ihr Sohn noch nicht einmal die Mittlere Reife auf seiner Realschule erreicht hatte. Stattdessen hatte sie mich damals in den Arm genommen, als ich des Trostes bedurfte.

 ´Roman, bitte sei nicht traurig. Wofür brauchst du denn die Mittlere Reife? Im Leben kommt es doch auf andere Dinge an. Du wirst es auch ohne Glanzleistungen und Schulabschlüsse zu etwas bringen. Glaub mir! Deine Mutter weiß das. Ich kenne doch meinen Sohn.`

 Ja, auf den ließ sie nichts kommen, auch wenn sie um seine notorische Faulheit wusste. Und eines hatte sie mir mitgegeben: Sanftmut und Güte. Doch kann man mit diesen Tugenden eines Tages eine Familie ernähren? Das hatte sich auch meine Mutter wiederholt gefragt. Ihr Sohn, das wusste sie, hatte eine Aversion gegen alles, was mit Lernen zu tun hatte. Nur mit Mühe hatte sie mir seinerzeit das Laufen auf zwei Beinen vermitteln können. Auch würde ich heute noch mit den Fingern essen, wenn sie in diesem Punkt nicht hart geblieben wäre, seltene Momente mütterlicher Strenge.

 Ich hätte ja wenigstens eine Lehre beginnen können. Doch da wäre wieder Lernen angesagt gewesen. Also zog ich eine Karriere als Hilfsarbeiter bei einer Baufirma vor. Und so konnte man mich Tag für Tag schwere Zementsäcke schleppen sehen, auch Schubkarren mit Speis schieben, Balken schultern und dergleichen. Ein Jahr hatte ich das ausgehalten. Dann suchte ich mir etwas anderes. Eine Fabrik hatte sich meiner erbarmt. Nun durfte ich Schrauben sortieren, das Werksgelände kehren, Abfälle heraustragen und unbezahlte Überstunden machen. Begeisterung kam auch hier nicht auf. Also versuchte ich es mal bei einer Reinigungsfirma. Als einziger Deutscher unter Syrern, Afghanen, Kongolesen rückte ich bereits in Kürze zum Vorarbeiter auf. Doch mit Güte und Sanftmut kam ich nicht sehr weit. ´Die Kerle brauchen Druck!`, so mein Chef. Weder konnte ich Druck ertragen noch weitergeben. Am Ende stand ich wieder auf der Straße.

 ´Nur Mut!`, lautete der gute Ratschlag meiner Mutter. ´Irgendwann wirst auch du deinen richtigen Beruf gefunden haben, mein Sohn. Denk doch mal nach, was dir gefallen könnte. Du hast doch deine Qualitäten.`

 Ich befolgte den guten Rat meiner Mutter. ´Wer seinem Kind das Laufen beibringen kann und es mit Messer und Gabel essen zu lehren weiß, der vermag auch seine Qualitäten einzuschätzen.` So sagte ich mir. Also versuchte ich, diese meine Qualitäten selber mal einzuschätzen und dementsprechend einzusetzen. Zu vermarkten, wie es so schön heißt. Ich stellte mir eine Aufgabe.

Die Anforderungen an meine zukünftigen Tätigkeiten sollten so lauten:

 1. Keine Schufterei mehr.

 2. Einsatzmöglichkeit meiner Talente, welcher auch immer.

 3. Selbstständigkeit. Kein Befehlsempfänger mehr sein.

 4. Sonstiges.

Kurz darauf befand sich neben dem Eingang unseres Hauses ein Schild, auf dem in großen Lettern geschrieben stand:

Roman Herzig

Berater in allen Lebenslagen

Nur nach telefonischer Absprache

Mein Vater war inzwischen verstorben. Somit reichte meiner Mutter der erste Stock. Mir stand der Parterrebereich zur Verfügung, unterteilt in Wohnbereich und Praxisräume. Letztere verfügten über ein Sprechzimmer, ein Wartezimmer und eine Toilette.

 Am ersten Tag nach der Renovierung war die Eröffnung der Praxis vorgesehen. Mit Sekt und belegten Brötchen. Ich saß neben dem Telefon und harrte der Anrufe. Um es kurz zu machen. Sekt und Brötchen landeten auf dem Tisch meiner Mutter, mir war der Appetit vergangen. Doch meine Mutter wusste auch diesmal wieder mit guten Ratschlägen aufzuwarten.

 ´Nur Mut, mein Sohn. Jeder Anfang ist schwer. Auch wenn noch niemand kommt, du bist jetzt wenigstens selbstständig, musst nicht mehr schuften und darfst endlich deine Talente einsetzen. Musst dir keine Sorgen machen. Notfalls reicht meine Rente auch für uns zwei.`

 ´Das sind ja schöne Aussichten. Das kann ja noch heiter werden`, ließ ich meine Mutter noch wissen, bevor ich mich in den Privatteil meiner Parterrewohnung begab und todmüde in mein Bett fiel nach einem anstrengenden ersten Arbeitstag in meinem neuen Beruf.

 Der zweite Tag kam und mit ihm der erste Patient, eigentlich Patientin. Ich traute meinen Augen nicht. Es war Anneliese, meine ehemalige Mitschülerin. Sie entsinnen sich. Die Begrüßung war entsprechend herzlich. Man kam dann auch gleich schon ins Gespräch.

 ´Na, Anneliese. Doch wohl nicht schon wieder Liebeskummer!`

 ´Doch. Ist wieder Liebeskummer. Es hat mich fast noch schlimmer erwischt als damals. Du erinnerst dich.`

 ´Erinnere mich an was? Dass du Liebeskummer hattest oder dass es dich damals noch nicht so schlimm erwischt hatte. Wie auch immer. Wer ist der Trottel, der ein so schönes Ding wie dich enttäuscht hat? Der hat dich doch gar nicht verdient.`

 ´Also ein Trottel ist der nicht. Damit du das nur weißt. Ist eigentlich ein toller Typ. Schielt halt immer nach anderen Frauen. Überhaupt fühle ich mich vernachlässigt.`

 ´Und belässt er es dabei oder …?`

 ´Er belässt es eben nicht dabei. Hatte neulich Lippenstift am Jackett.`

 ´Ha, ha! Der Klassiker. Lippenstift am Jackett. Und der soll von seiner Geliebten kommen?`

 ´Glaube ich zwar nicht. Könnte aber doch sein, oder?`

 ´Also, was nun? Musst dich schon entscheiden.`

 ´Ich glaube nicht, dass er mich betrügen könnte. Nee, wirklich nicht. Aber man weiß ja nie.`

 ´Gut, finde es raus. Und wenn, musst du ihn überführen. Um mit meiner Beratung beginnen zu können, brauche ich Beweise. Du verstehen?`

 ´Das ist aber nicht so einfach.`

 ´Du schaffst das. Wenn ich dich in der Angelegenheit nicht mehr sehe, hast du ihn entweder nicht überführen können, hättest also keinen Beweis für seine Untreue, oder der Lippenstift klärt sich von alleine auf. Könnte doch auch von dir selber stammen. Egal wie. Wenn du mal Lust hast, mich aus welchem Grund auch immer wiederzusehen, ich stehe dir gerne jederzeit zur Verfügung. Trinken ‘ne Tasse Kaffee zusammen, plaudern nett und was man sonst noch Nettes machen kann.`

 ´O. k. Und was schulde ich dir?`

 ´Nichts. Erste Sitzung bei mir ist umsonst. Nein, nicht umsonst. Ich meine natürlich gebührenfrei. In deinem speziellen Fall auch noch die zweite Sitzung.`

 ´Eine kleine Anzahlung muss aber sein.` Womit sie mich zart auf die Wange küsste. Ein Anfang war gemacht, selbst wenn alles noch ein wenig holprig vonstattengegangen war.

 Ein Anruf. In einer Stunde würde die Dame bei mir sein können. Also wartete ich noch aufgeregt bis zu meinem ersten wirklichen Auftritt. Ich hatte mich ja schon bei Anneliese ein wenig warmgelaufen. Doch jetzt wurde es ernst. Vor diesem ersten Mal dachte ich noch schnell an die vielen Jungfrauen, denen das erste Mal auch nicht erspart geblieben war. Worauf es mir gleich besser ging.“

 Die ´Tafelrunde` zeigte sich erheitert. Und einer Fortführung der Geschichte durchaus nicht abgeneigt. Jedenfalls hatte der Erzähler diesen Eindruck. Also berichtete er von seiner ´Entjungferung`.

„Sie war eine attraktive Patientin, schick gekleidet, dunkelblond, das Haar zu einem Bob geformt, schlank und groß gewachsen, circa Ende zwanzig, gut duftend. Berater und Patientin nahmen in der Polstergarnitur Platz. Saßen sich gegenüber. Auf dem Tisch befanden sich eine Kaffeekanne, Cola und Gebäck. Und natürlich zwei Tassen aus edlem Meißener Porzellan. Letzteres gestiftet von meiner Mutter. Ich trug ein hellgraues Jackett mit einem leichten Pulli darunter. Dazu Edeljeans in hellem Blau.

 Man stellte sich vor. Sie hieß Angelika Weißhaupt. Ich begann mit einer Standardfrage.

 ´Was führt Sie zu mir, Frau Weißhaupt. Was kann ich für Sie tun?`

 Ich war erstaunt, wie leicht mir diese Worte über meine Lippen kamen.

 ´Herr Herzig, ich habe Probleme.`

 ´Das hab ich erwartet. Wer hat die nicht! Probleme beleben den Alltag. Ohne Probleme keine Lösungen. Mal sehen, ob wir Ihre lösen können. Was ist es denn genau? Wo drückt der Schuh?`

 ´Ist mir irgendwie peinlich, darüber zu sprechen. Zumal Sie mir noch sehr jung erscheinen. Sie müssen wissen, ich habe noch nie einen Therapeuten aufgesucht. Ist das erste Mal, dass ich so etwas tue.`

 ´Ist auch für mich das erste Mal, müssen Sie wissen. Sie sind meine erste Patientin. Übrigens, ich bin kein Therapeut. Bin nur Berater.`

 ´Ach so. Hmm.` Sie machte eine kurze Pause und musterte ebenso kurz ihren Berater, kam dann zu dem Schluss, dass dieser Berater vielleicht doch nicht der richtige sei, weshalb sie meinte:

´Herr Herzig, nehmen Sie es mir nicht übel. Aber ich glaube, hier nicht richtig zu liegen. Ich sollte doch lieber einen Therapeuten aufsuchen.`

 ´Kein Problem. Ich bin ohnehin sehr überlaufen. Ich darf Sie noch zur Tür begleiten. Und viel Glück bei meinem Kollegen!`

 Danach stürzte ich in den ersten Stock.

 ´Du brauchst mir nichts zu sagen, Roman, ich sehe dir an, dass der Anfang wohl ein wenig missglückt ist. Wie ich schon sagte: Aller Anfang ist schwer. In ein paar Tagen schon wirst du darüber lachen. Aber vielleicht auch nicht. Woran lag es denn?`

 ´Weiß ich nicht. Ich glaube, ich war der zu jung. Oder ich hätte mich besser als Therapeut ausgeben sollen. Aber das bin ich ja nicht.`

 ´Das bist du weiß Gott nicht. Da fehlen Abitur und einige Semester auf der Uni, würde ich mal sagen. Das hättest du ja alles haben können. Meine Rente hätte auch noch für dein Studium ausgereicht. Aber du wolltest ja nicht. Hast wichtige Jahre mit Baustellen und Fabriken vergeudet. Nun ja, nun bist du Berater. Mal sehen, wer sich wohl so alles von dir beraten lässt. Da bin ich mal gespannt.`

 So enttäuscht hatte ich meine Mutter noch nie erlebt. Geradezu verbittert hatte sie geklungen. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, auf eigenen Beinen zu stehen, ganz allein auf mich gestellt. Und zum ersten Mal musste ich mich fragen, ob in meinem Leben nicht etwas schief, gewaltig schiefgelaufen war.

 Die Haustürglocke läutete. Ich öffnete. In der Tür stand Frau Weißhaupt.

 ´Na, so was! Sie hätte ich jetzt am wenigsten erwartet. Haben Glück, ich bin im Moment frei.`

 ´Ich will nicht stören. Kann auch ein anderes Mal wiederkommen.`

 ´Nun kommen Sie schon rein. Wenn Sie doch jetzt schon mal hier sind.`

 Wir saßen wieder in der Polsterecke. So, als hätten wir da da immer noch gesessen.

 ´Ja, also wo waren wir stehengeblieben, Frau Weißhaupt?`

 ´Nirgends. Wir hatten ja noch nicht angefangen.`

 ´Genau. Sie sagen es. Wir hatten ja noch nicht angefangen. Gut, dann holen wir das jetzt nach.`

 Ich lächelte ihr aufmunternd zu.

 ´Wie schon angedeutet, ich habe Probleme.`

 ´Ja, sagten Sie. Ich erinnere mich. Und peinlich sei Ihnen das auch, wenn ich mich auch da noch recht entsinne.`

 ´Also, wo soll ich anfangen?`

 ´Kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich werde es vielleicht heute noch erfahren.`

 ´Sind Sie in Eile? Wie schon gesagt, ich kann wirklich zu einem anderen Zeitpunkt wiederkommen.`

 ´In Eile? Wie kommen Sie darauf?`

 ´Na ja, ich hatte so den Eindruck.`

 ´Nein, nein, ansonsten hätte ich Sie ja nicht hereingebeten.`

 ´Also, ist ja auch schnell gesagt. Ich betrüge meinen Mann. Und die Ehefrau meines Geliebten hat etwas mitgekriegt. Und jetzt weiß ich nicht weiter.`

 ´Und wieso konnte die was mitkriegen? Sind Sie unvorsichtig, leichtsinnig gewesen? Sie wissen doch, Ehefrauen haben den siebten Sinn. Sind permanent eifersüchtig.`

 ´Na ja, im Eifer des Gefechtes ist da ein kleines Malheur passiert.`

 ´Verstehe. Gummi geplatzt und nun ist Holland in Not.`

 ´Nein, nein. Da verstehen Sie etwas falsch. So weit waren wir noch gar nicht. Es muss ganz einfach, also, als ich ihn heftig küsste, muss Lippenstift an sein Jackett gekommen sein.`

 ´Lippenstift am Jackett! Der alte Klassiker.` Ich dachte kurz nach. ´Sagen Sie, Frau Weißhaupt, heißt die Ehefrau zufällig Anneliese?`

 ´Ja, stimmt. Aber wie kommen Sie denn darauf?`

 ´Intuition. Gehört zu meinem Beruf. Über diese Gabe verfügen jedoch nur sehr wenige Berater. Leider.`

 ´Und Sie scheinen so einer zu sein.`

 ´Nicht ´scheinen`, Frau Weißhaupt! Ich bin so einer. So viel Glück widerfährt nicht vielen Patienten. Nur wenige Patienten haben das Glück, an so einen Berater zu gelangen. Jetzt wissen Sie auch den Unterschied zwischen einem Berater und einem Therapeuten. Letzterer muss sich alles erschließen. In langwierigen Sitzungen. Berater, also gute Berater, wissen es einfach. Und das von Anfang an. Wie gesagt: Intuition.`

 Die Patientin war sprachlos geworden. Schließlich fand sie die Sprache wieder und meinte nur: `Wow. Das ist ja’n Ding. Und was wissen Sie noch?`

 ´Lassen Sie hören. Anschließend sage ich Ihnen, ob ich das auch gewusst habe. Machen es so wie mit dem Lippenstift. Sie treten in Vorlage.`

 ´Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich liebe den Mann.`

 ´Dann werde ich Ihnen jetzt sagen, was Sie tun werden. Sie werden sich den Mann aus dem Kopf schlagen. Sie lieben doch noch Ihren Ehemann. Oder liege ich da diesmal falsch?`

 ´Ich liebe ihn schon.`

 ´Aber er vernachlässigt Sie.`

 ´Stimmt genau. Das tut er. Leider.`

 ´Und Sie haben das Problem noch nicht mit ihm erörtert, haben nicht ihn, sondern einen Berater damit konfrontiert. Stimmt doch, oder?`

 ´Ja, ja, stimmt. Aber was soll ich tun?`

 ´Ich sage ihnen einmal mehr, was Sie tun werden. Sie sprechen Ihren Mann auf Ihr Problem an und Sie werden sehen, alles ist wieder im Lot.`

 ´Ich kann das nicht tun. Ich kann doch nicht um Zärtlichkeiten betteln.`

 ´Das ist kein Betteln. Er verweigert Ihnen doch nur, was Ihnen zusteht. Nicht mehr und nicht weniger. Also gehen Sie es an! Ist Ihre Hausaufgabe fürs nächste Mal.`

 Das Wort ´Hausaufgabe` ist mir dann doch recht schwer über die Lippen gekommen. Ich hatte mich jedoch noch schnell an den weisen Spruch eines alten Freundes erinnert: Der Wegweiser geht nicht selbst den Weg, den er weist.

 Ich konnte es kaum abwarten, meiner Mutter von meinem ersten Erfolg zu berichten. Sie drückte daraufhin ihren Sohn, stolz auf diesen und voll des Lobes.

 ´Ich habe immer an dich geglaubt. Habe gewusst, dass aus dir noch etwas wird. Weiter so! Du wirst noch richtig berühmt. Und das schon in jungen Jahren. Ach, ich bin ja so stolz auf dich. Vielleicht lernst du bei der Gelegenheit auch mal eine nette Frau kennen. Wenn nicht – auch nicht schlimm. Du hast ja deine Mutter.`

 In der Folge kamen keine weiteren Patienten. Doch eines Tages meldete sich ein gewisser Peter Weißhaupt. Endlich mal wieder ein Fall.

 ´Was führt Sie zu mir? Was kann ich für Sie tun?`

 ´Ich glaube, meine Frau betrügt mich.`

 ´Heißt Ihre Frau zufällig Angelika?`

 Das Muster stand fest. Großes Erstaunen seitens des Patienten. Daraufhin die Lobeshymne des Beraters auf die wenigen Berater mit besonderen Talenten. Schließlich der gute Ratschlag.

 ´Kann es sein, Herr Weißhaupt, dass Sie zu sehr nach anderen Frauen gucken und dabei Ihre Frau vernachlässigen? Es muss ja einen Grund geben dafür, dass Sie ihre Frau betrügt.`

 ´Darauf wäre ich jetzt nicht gekommen. Aber ich glaube, Sie haben recht. Ich müsste mich mal wieder mehr um meine Frau kümmern.` Dann wurde noch die Hausaufgabe gestellt und der Mann war entlassen.

 Dieser Vorfall zog erneut einen Besuch im oberen Stock nach sich. Meine Mutter wurde immer stolzer und ihre Lobeshymnen fast schon peinlich.

 Es dauerte dann auch nicht mehr lange und weitere Patienten stellten sich ein. Und da ich mich bereits ein wenig eingearbeitet hatte mit Anneliese und den Weißhaupts, ging mir die Sache flott von der Hand.

 Bei der Menge von Patienten schien mir ein Besuch im oberen Stock einmal pro Woche voll ausreichend. Ich schwelgte in meinem Glück und klopfte mir immer wieder auf die Schulter. So etwas hatte ich von mir nicht erwartet.