Die Walfängerbraut

Historischer Roman

Karla Weigand


ISBN: 978-3-95428-683-6
1. Auflage 2017
© 2017 Wellhöfer Verlag, Mannheim

Titelgestaltung: Uwe Schnieders, Fa. Pixelhall, Mühlhausen

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Der Roman ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und somit rein zufällig.

Inhalt

PROLOG

 

Es schneite schon seit Tagen. Trübsinnig starrte Birte Petersen aus dem kleinen Fenster ihrer Köögen auf die weiße Pracht, die sich in ungewöhnlich verschwenderischer Fülle über die Pfarrwarft und die gesamte Hallig Hooge breitete. Das schulterlange aschblonde Haar trug die schlanke junge Frau im Nacken zu einem dicken Knoten geschlungen.

Obwohl seit einigen Jahren Witwe, unterließ sie es häufig, ihre prächtige Haarflut zu verstecken. Das traditionelle Kopftuch oder gar die umfängliche Witwenhaube erschienen ihr als lästige Verkleidung; nur außerhalb ihres Heims oder zum Kirchgang überwand sie sich dazu, sie aus der Truhe hervorzukramen und umzubinden beziehungsweise aufzusetzen.

So weit Birtes Auge reichte, begruben Schneemassen das Land. Von den Warften der Nachbarn war nichts mehr zu erkennen; sämtliche Häuser schienen unter weißen Bettlaken begraben.

Ihr ins Weite schweifender Blick traf auf einen massiven Eispanzer, der das Meer, das ringsum die Hallig umgab, seit Wochen bedeckte. Er war mittlerweile so dick, dass kein Boot imstande war, das Festland, eine der anderen Halligen oder die nahe gelegenen nordfriesischen Inseln Föhr, Amrum oder Sylt zu erreichen.

Unaufhörlich rieselten aus dem düster grauen Himmel, der seit einem Monat jeden Sonnenstrahl verbannte, große weiße Flocken zu Boden; sie dämpften jedes Geräusch. Selbst das durchdringende Gekreisch der Möwen und die zornigen Schreie hungriger Raubvögel klangen seltsam weit entfernt – als hätte jemand eine große Schüssel über die Hallig gestülpt.

Die Stille von draußen setzte sich im Innern des Hauses fort, sodass Birte heftig zusammenfuhr, als sich plötzlich hinter ihr die Stimme einer Magd zu hören ließ: »Aal at guuds komt faan boowen!«

Die Hausherrin drehte sich um und warf der stämmigen grauhaarigen Frau, die sich ihr lautlos genähert hatte, einen fragenden Blick aus großen, faszinierend grünen Augen zu.

»Na, wenn du meinst, Gondel, dass alles Gute von oben kommt, dann muss es der Wettergott aber schon arg gut mit uns meinen! Ich finde, dass es allmählich reicht. An so viel Schnee zu Neujahr kann ich mich überhaupt nicht erinnern! Wenn das ein Omen fürs kommende Jahr 1709 werden soll, dann bedanke ich mich recht schön!«

»Bist ja auch noch jung, Frau!«, gab die ältere Magd zur Antwort und schmunzelte. »Grade mal fünfundzwanzig! Uns Älteren ist das schon mehrmals widerfahren, dass wir um die Jahreswende nur mit Schneeschuhen den kurzen Weg zur Kirche geschafft haben und uns der Seeweg zu den Nachbarinseln wochenlang durch Eisbrocken versperrt war!«

Beide Frauen starrten jetzt aus dem Fenster, hinüber zur kleinen Halligkirche, der Birtes Vater, Peter Knudtsen, schon seit Jahrzehnten als Pastor einer Gemeinde von etwa sechzig, siebzig Mitgliedern vorstand. Aus dieser geringen Entfernung sah das kleine Gotteshaus aus wie ein etwas höherer Erdhaufen, den man mit einer dicken Schicht aus feinem Mehl überstäubt hatte.

Einen Turm besaß das schlichte Kirchlein immer noch nicht und in seinem Inneren waren Teile anderer Gotteshäuser eingepasst worden, Überbleibsel der Großen Manndränke, einer verheerenden Sturmflut im Jahre 1634.

Bei der auch jetzt noch durch mündliche Tradition ganz deutlich in der Erinnerung friesischer Küstenbewohner verankerten Katastrophe waren weite Teile von Alt-Nordstrand untergegangen und Tausende Menschen hatten nicht nur Hab und Gut, sondern auch ihr Leben verloren. Die einstige große Insel wurde in mehrere Einzelteile zerrissen, die man nicht mehr einzudeichen vermochte.

Von den ehemals vierundzwanzig Kirchen waren achtzehn durch die gewaltige Flut unrettbar zerstört, worauf sich die Hoogener aus den Ruinen das Baumaterial für ein eigenes Gotteshaus geholt hatten.

Ihre winzige, uralte, noch aus der Missionierungszeit der heidnischen Friesen stammende Holzkirche war nämlich bereits im Jahre 1362 einer ähnlich schrecklichen Flutwelle zum Opfer gefallen. Seitdem waren die Halligbewohner darauf angewiesen gewesen, dass hin und wieder ein Geistlicher vom Festland oder von den Nachbarinseln sich blicken ließ, um im Pesel eines Wohnhauses oder einer Scheune die Gottesdienste mit den Gläubigen zu feiern.

Erst um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts war ein Geistlicher samt Familie eigens für die Halligleute dauerhaft nach Hooge versetzt worden. Seitdem bewohnten er und seine Nachfolger den Pastoratshof auf der Pfarrwarft.

Gondel, seit Jugendtagen Magd auf diesem Hof – einem von zweien auf der Pfarrwarft – bedachte ihre Herrin, eine bemerkenswert schöne Frau, mit einem wissenden Seitenblick.

»Ich weiß wohl, dass es dich drängt, von hier wegzukommen, Birte. Was wir auf dem Hof zwar alle zutiefst bedauern – wenn wir es auch irgendwie verstehen können«, sagte sie sehr leise, beinah flüsternd, obwohl niemand in der Stube war, der sie hätte belauschen können.

Ausgesprochen Übles war der hoch gewachsenen Hofherrin in jüngster Zeit widerfahren. Dabei hatte sich Birtes Lebensweg anfangs so vielversprechend angelassen.

 

Birte war das einzige Kind des Geistlichen Peter Knudtsen und seiner Frau Ingken, welche als Heilerin und Hebamme von den Halligbewohnern überaus geschätzt wurde. Dass Birte anders war als andere Kinder, zeigte sich bereits ansatzweise, als sie vier Jahre alt war.

Eines Tages führte die Kleine ihre Mutter Ingken in die Scheune, wo sie mit Nachbarskindern ein Nest aus Stroh gebaut hatte, um einen Welpen darin zu pflegen, der sich angeblich einen Vorderlauf gebrochen hatte, den sie jedoch geheilt habe.

Von einer ernsthaften Verletzung des jungen Hundes war für die Mutter nicht das Geringste zu erkennen. Nachdem Ingken probeweise das kleine Hundebein hin und her bewegt hatte, bezweifelte sie, dass es sich tatsächlich um einen Bruch gehandelt hatte. Jedoch um ihrer kleinen Tochter eine Freude zu machen, deren mitleidiges Wesen ihr gefiel, tat die Pfarrersfrau so, als glaubte sie ihr.

Später hatte Ingken ihre Tochter, bei der sich schon im zarten Alter von acht Jahren die Gabe des Zweiten Gesichts zeigte, in die Kunst des Heilens und nach einigen Jahren auch die der Geburtshilfe eingeweiht, was sich im Nachhinein als ungemein vorausschauend erwies.

Was jedoch Birtes Fähigkeit der Wahrsagerei anbetraf, waren ihre Eltern darüber alles andere als glücklich. Insgeheim war der Pastor entsetzt gewesen, als Birte kurz vor ihrem neunten Geburtstag ihren Eltern sowie den übrigen Halligleuten eine Kostprobe ihrer zweifelhaften Begabung geliefert hatte.

Es war im Spätsommer; die Hoogener saßen auf der Wiese rund um die Kirche in geselliger Runde beisammen, um den Geburtstag eines der Ältesten zu feiern, der zwar seit langer Zeit auf der Nachbarinsel Föhr lebte, aber eigentlich gebürtiger Hoogener war und immer wieder gerne an seinen Geburtsort zurückkehrte.

Jahrzehntelang hatte er sein Brot als Harpunier auf einem Walfänger verdient. Jetzt, als kinderlosen Witwer, hatte es ihn wieder nach Hause getrieben. Mit Schmaus, Musik und Tanz – und nicht gerade wenig Alkohol – beging man an diesem Tag seinen siebzigsten Geburtstag.

»Na, Haarke Haarksen«, frotzelte einer seiner auch nicht mehr ganz nüchternen Freunde gutmütig, »du bist ja noch en feksen an stram kiarel! Was hieltest du denn von einer nochmaligen Heirat? Ich wüsste dir da schon ein paar passende foomnen, die dir sicher gefallen würden!«

»Au ja!«, jubelten die Übrigen begeistert. »Dann hätten wir erneut Grund, noch mal so ein grandioses Fest zu feiern!«

Eine Weile flogen allerhand derbe Späße hin und her – alle dem doch recht fortgeschrittenen Alter des Bräutigams in spe und seinen ehelichen Fähigkeiten im Bett geschuldet – ehe der Pastor mit einem vernehmlichen Räuspern der leicht überschäumenden Ausgelassenheit einen Schlusspunkt setzte.

Die Feiernden sahen sich verlegen an – immerhin gehörten auch Kinder und Heranwachsende zur Gratulantengemeinde.

Stille trat ein. Ehe sie tatsächlich peinlich zu werden drohte, wurde sie unterbrochen durch einen Einwand, mit dem man nun gar nicht gerechnet hatte – und am allerwenigsten mit der Person, die ihn vorbrachte.

»Haarke Haarksen wird nicht mehr heiraten! Binnen einer Woche wird man ihn nämlich hier auf dem Kirchhof feierlich eingraben. Das ist dann das nächste große Fest!«, ertönte eine kindlich helle Stimme.

Totenstille war daraufhin eingetreten.

Später behaupteten einige der Anwesenden, die schlagartig nüchtern geworden waren, man habe nicht einmal mehr die ewig kreischenden Möwen gehört, die weiter draußen über der See Fangen spielten. Sogar das schrille Konzert der Heupferde hätte abrupt geendet.

Stattdessen waren jedermanns Blicke auf Birte gerichtet, die kleine Tochter des Pastors und der Halligheilerin, die die verhängnisvollen Sätze so altklug von sich gegeben hatte.

»Gott steh uns bei«, murmelte der Pastor nach einer Weile. Er zog das Mädchen energisch an sich und legte ihm die Hand unters Kinn, sodass Birte ihrem Vater in die Augen schauen musste.

»Sag so etwas Furchtbares nie wieder, hörst du?«, befahl er streng. »Mit solchen Dingen treibt man keinen Scherz! Deine Mutter und ich sind sehr traurig und unglücklich über die böswillige Dummheit, die du dir da erlaubt hast. Du wirst dich auf der Stelle bei Haarke entschuldigen! Dann gehst du ins Haus und legst dich sofort ins Bett. Für dich ist das Fest vorbei!«

Alle sahen, dass es Birte danach drängte, sich zu verteidigen.

Mutter Ingken und ihre Magd Gondel wechselten einen raschen Blick, der ihr Erschrecken zum Ausdruck brachte.

»Auf der Stelle, habe ich gesagt, bittest du Haarke Haarksen um Verzeihung! Und zwar kniefällig. Etwas anderes möchte ich für heute aus deinem Mund nicht mehr hören!«, drängte der Geistliche in scharfem Ton.

Das klang jetzt so zornig, dass Birte tatsächlich davon absah, irgendwelche Erklärungen vorzubringen.

Langsam trottete sie auf den Jubilar zu, kniete vor seinem Stuhl nieder, senkte den Kopf und murmelte: »Dee mi rocht iarig« – es tue ihr sehr leid. Sie wisse nicht, warum sie das gesagt hatte.

»Ist schon gut, miin Deern. Enskiljiging as uunkem.« Der alte Mann versuchte dem Ganzen einen Anstrich von Leichtigkeit zu geben, indem er versicherte, die Entschuldigung sei angekommen – obwohl ihm der Schrecken noch deutlich ins blasse Gesicht geschrieben stand. »Für dein junges Alter steh ich ja nun wirklich bereits mit einem Bein im Grab. Ich nehm dir das Gesagte nicht übel.«

Er versuchte laut zu lachen, was ihm allerdings nicht so recht gelingen wollte. »Spielt auf, Musikanten!«, rief er daher den drei Burschen zu, die etwas abseits von den Übrigen eine kleine Pause einlegten, um sich zu stärken. Beim Klang der Fiedel, des Dudelsacks und der schrill klingenden Flöte drehten sich und walzten die Gratulanten erneut über den Grashügel neben der Kirche und dem Pastoratshof. Aber der vorherige Frohsinn wollte sich nicht mehr einstellen.

Überflüssig zu sagen, dass Birtes Prophezeiung genau so eintraf. Sieben Tage nach seinem Geburtstag senkte man Haarkes Sarg in die sandige Erde der Hallig; Haarke Haarksen hatte beizeiten verfügt, am Ort seiner Geburt beigesetzt zu werden.

Der Pastor jedoch bemühte sich nach Kräften, die Worte seiner Tochter als törichtes kindliches Gestammel und puren Zufall hinzustellen. Ein Unterfangen, das natürlich zum Scheitern verurteilt war. Obwohl niemand mehr ein lautes Wort darüber verlor, flüsterten sich seitdem die Hoogener zu, die Pastorentochter habe das Zweite Gesicht.

Eine Eigenschaft, die man auch bei Ingken in ihrer Jugend festgestellt hatte. Erst seit sie den Pfarrer zum Mann genommen hatte, war Schluss mit der heidnischen Wahrsagerei gewesen.

So gut es ging, hielten Birtes Eltern alle jene von ihrer Tochter fern, die danach lechzten, einen Blick in die Zukunft zu tun, wobei es sich häufig um Fragen der Gesundheit, um Heiratschancen oder um wirtschaftlichen Erfolg drehte.

Trotzdem fanden die hartnäckig um Rat Suchenden immer wieder Mittel und Wege, das Mädchen zu bitten, eine Zukunftsprognose zu erstellen. Sie behaupteten steif und fest, Birte habe sich noch niemals geirrt.

Bald fanden auch Menschen von den anderen Halligen und Inseln den Weg zur Hoogener Kirchwarft – sehr zu Pastor Peter Knudtsens Missvergnügen, der künftig jeder seiner Sonntagspredigten die Mahnung anfügte, man möge sich doch um Christi Willen endlich abkehren von abergläubischem Gedankengut. Nachhaltigen Erfolg erzielte er damit allerdings nicht.

Nachdem es seiner Tochter im Alter von vierzehn Jahren gelungen war, einen Schäfer aus Amrum von einer äußerst schmerzhaften Gesichtsrose durch bloßes Handauflegen zu befreien, resignierte der Geistliche. Künftig tat er so, als bemerke er von Birtes zauberischem Wirken nichts; das hatte zumindest den Vorteil, dass er nicht mehr öffentlich zu intervenieren brauchte.

»Nur um eines bitte ich dich ganz dringend, Tochter«, hatte er von ihr verlangt, als sie anlässlich des Besuchs ihrer Patentante in Trance verkündet hatte, die noch junge Bäuerin werde das künftige Weihnachtsfest nicht mehr erleben. »Dass du nie mehr einen sogenannten Blick in die Zukunft tust.« Als er in ihre meergrünen Augen blickte, die ihn verständnislos ansahen, schwächte er ab: »Zumindest nicht laut darüber redest!« Wie sollte sie es denn anstellen, von ihren Gesichten nicht mehr heimgesucht zu werden?

»Du hast behauptet, Muhme Heike werde im Feuer umkommen. Ich sage dir, allein Gott, der Herr, weiß Bescheid, was auf seine Kinder zukommt. Dein Wissen über diese Dinge stammt unmöglich von ihm. Vermutlich ist es der Satan, der dich versucht, mein Kind, indem er dir vorgaukelt, du könntest Dinge sehen, die möglicherweise eintreffen.«

Nach peinlichem Schweigen waren damals auch die Erwachsenen über den angeblich kindlichen Unsinn mit mehr oder weniger verlegenem Lachen hinweggegangen. Birte hatte sich den scharfen Tadel beider Eltern zugezogen und eine Zeit lang Stubenarrest erhalten, ehe sie schwor, in Zukunft Aussagen über Künftiges zu unterlassen – vor allem, wenn die Prognose schlecht war.

Sie hatte sich an ihr Versprechen gehalten. Selbst wenn ihr Vater vergessen hatte zu erwähnen, dass ihre Vorhersagen immer eingetroffen waren. Auch die Patentante war einen Monat später zu Tode gekommen, als ihr reetgedecktes Häuschen eines Nachts in Flammen aufging.

Birte war erst fünfzehn, als Ingken überraschend starb. Ganz selbstverständlich war sie in die Fußstapfen ihrer klugen Mutter getreten, die zum Glück ihr Wissen rechtzeitig an die Tochter weitergegeben hatte.

Da Mutter und Tochter sich auffallend ähnlich gesehen hatten, fiel es den Menschen leicht, die junge Birte als Wehmutter und Heilerin anzunehmen. Fast schien es, als wäre Ingken in ihrer Tochter erneut auferstanden. Sogar nach Föhr und Amrum musste sie hin und wieder übersetzen, weil die Kunde über ihr erstaunliches Können auch die Inseln und sogar das Festland erreicht hatte.

Besonders schmerzlich traf es zu dieser Zeit die Föhringer, da ihre berühmteste Inselheilerin, Kerrin Rolufsen, bereits längere Zeit abwesend war und an allen Ecken und Enden von Heilungssuchenden schmerzlich vermisst wurde. Man erzählte, sie sei nach dem fernen Grönland aufgebrochen, um ihren dort verschollenen Vater, einen bekannten Walfängercommandeur, ausfindig zu machen.

So häuften sich auf Föhr sehr bald die Hilferufe nach der Heilerin von Hooge.

Früh – bereits mit siebzehn – heiratete Birte den Föhringer Heringsfischer Janne Ketelsen aus dem winzigen Dorf Wraxem, in den sie sich schon im zarten Alter von dreizehn Jahren unsterblich verliebt hatte. Janne, ein strohblonder stämmiger Fischer, zog mit ihr auf die Hallig Hooge und sie bekam mit ihm zwei gesunde Kinder, Jens und Catrina.

Als ihr Mann vor zwei Jahren in einem Sturm vor Helgoland samt seinem Heringskutter unterging, war sie erst dreiundzwanzig Jahre alt gewesen. Ab jetzt musste sie ihren Hof allein mit Hilfe einiger Mägde und jütischer Knechte bewirtschaften, um sich und ihre beiden Kinder zu ernähren.

Nach etlichen Wochen stiller Trauer hatte die junge Witwe sich gefangen und tapfer ihr Leben in die eigenen Hände genommen. Etwas, das ihr die allgemeine Hochachtung der Hoogener und der übrigen Inselfriesen eintrug. »Es wäre für sie doch so einfach gewesen, sich erneut unter das schützende Dach ihres Vaters zu flüchten und sich künftig von ihm aushalten zu lassen!«

Wie zuvor Ingkens war nun Birtes Rat nicht nur bei allerlei Krankheiten, sondern vor allem bei Geburten gefragt. Sogar auf andere Halligen und auf die Inseln Oomrem und Feer, sogar bis nach Sal ließ man sie mittlerweile holen, um Frauen in ihrer schwersten Stunde beizustehen.

Vor einem Jahr, 1708, hatte jedoch eine ebenso unerklärliche wie entsetzliche Pechsträhne ihren Anfang genommen.

Mit hysterischem Geschrei war eine Jungmagd in die Dörnsk des Büürenhüs gestürmt; vor Aufregung hatte sie anfangs kein vernünftiges Wort herausgebracht.

»Was ist denn los, Meike? Was regst du dich so schrecklich auf? Ist etwa Feuer unterm Dach ausgebrochen?«, hatte die Hofherrin sie mit leicht amüsiertem Lächeln gefragt. War Meike doch dafür bekannt, schon bei jeder Kleinigkeit den Kopf zu verlieren.

Aber dieses Mal schien es tatsächlich etwas Ernstes zu sein.

»Im Stall, Frau, im Stall«, stotterte das Mädchen. »Da ist a düüwel! Jawohl, das muss de apdaaget ualknecht sein!«

Oje, der Teufel sollte sich im Stall aufhalten? Das hörte sich wahrlich nicht gut an und entsprechend beeilte sich Birte, um selbst nach dem Rechten zu sehen. Der Weg zum Kuhstall war zum Glück nicht weit; wie in Nordfriesland üblich befanden sich Stall und Scheuer unter demselben Dach wie das Wohnhaus, lediglich getrennt durch einen schmalen Flur.

Was Birte auf dem Stroh vorfand, war in der Tat erschreckend: Eine ihrer vier Kühe hatte ein Kalb mit sechs Beinen zur Welt gebracht! Birte versuchte zwar noch, ihr Gesinde zum Stillschweigen zu verdonnern, aber die geschwätzigen Mägde verbreiteten die unerhörte Neuigkeit im Nu auf der gesamten Hallig.

Daraufhin verließen sämtliche Hoogener, die laufen konnten, ihre Häuser auf den Warften, um in Birte Petersens Stall ihren ganz persönlichen Blick auf das kleine Monstrum zu werfen. So etwas erlebte man schließlich nicht alle Tage!

Vor allem die Weiber gruselten sich ordentlich beim Anblick des armen Kälbchens, das nass und erschöpft neben der Mutterkuh lag, aber immerhin atmete und mit seinen vier ganz normalen Beinen eigentlich überhaupt nicht auffällig gewesen wäre – hätte da nicht ein Paar dünner und vollkommen überflüssiger Beinchen auf seinem Rücken gebaumelt.

Einige mutmaßten sofort, das sei ein böses Omen für jeden einzelnen Halligbewohner und es stelle sich doch die Frage, wer denn dafür die Schuld trage. Dass es einen Verantwortlichen für dieses Untier geben müsse, stand außer Frage.

»So was passiert nicht ohne Grund!«, meinten die Neunmalklugen; den Schuldigen müsse man finden und zur Rechenschaft ziehen. Die ersten begannen bereits, Birte als die Eigentümerin der Missgeburt schief anzuschauen.

Jetzt war der Pastor, Birtes Vater, dringend gefragt. Es war gar nicht leicht für ihn, die ängstlichen Gemüter zu beruhigen. Wie mit Engelszungen musste er auf seine Schäfchen einreden, damit sie sich endlich beruhigten. Immerhin gelang es ihm so halbwegs; der Aberglaube saß eben immer noch sehr tief bei den Leuten. Verspeisen würde das verhexte Kalb zwar niemand wollen – aber töten musste man es in jedem Fall.

Nachdem sich alle Knechte davor drückten, das ganz offenbar verfluchte Ungeheuer anzufassen – von den Mägden traute sich sowieso keine mehr in den Stall, solange das sechsbeinige Tier noch am Leben war – war es schließlich Birtes Vater, der sich erbarmte und das Kalb mit einem raschen Schnitt durch die Gurgel von seinem Dasein als Ausgeburt der Hölle erlöste.

Immerhin war Pastor Knudtsen nicht nur Geistlicher, sondern auch Bauer, der ganz selbstverständlich sein eigenes Vieh zu schlachten pflegte.

 

Nach wenigen Wochen bereits erfolgte der nächste Schlag. Dieses Mal war der Hof einer Kapitänsfrau namens Eycke und ihres Mannes Erik Ockensen betroffen. Sie stammte von der Insel Föhr und ihr Mann, der Hoogener Erik Ockensen, weilte derzeit auf hoher See. Eycke erwartete ihr erstes Kind und wurde ganz selbstverständlich von der gleichaltrigen Birte betreut.

Exakt zu dem Zeitpunkt, als Eycke sich seit Stunden in den Wehen quälte, gebar ein Schaf aus ihrer Herde ein Lamm mit zwei Köpfen. Das war eindeutig zu viel! Die Hallig geriet in ungeheuren Aufruhr. In Windeseile drang die Kunde davon in jedes einzelne Haus, in jede kleinste Hütte.

»Jetzt ist ja wohl offensichtlich, dass alles mit Birte, unserer Wehmutter, zu tun hat!«, schrieen einige, bar jeder Logik. Aber viele ließen sich von dem Unsinn anstecken: »Die Halligheilerin muss eine Hexe sein!«

Dieses Mal gelang es Birtes Vater nur sehr mühsam, seine Gläubigen davon zu überzeugen, alles sei einfach ein dummer Zufall, der leider hin und wieder vorkomme, jedoch absolut keinen Grund zur Besorgnis darstelle. Pastor Knudtsen musste am Ende sein gesamtes Ansehen als Geistlicher in die Waagschale werfen, bis auf Hooge, wenigstens nach außen hin, erneut Ruhe einkehrte.

Die lautesten Schreier, die in Birte die Ursache vermuteten, verstummten zwar, insgeheim aber gingen die bösen Gerüchte auf der Hallig weiter um. Nur oberflächlich schien alles in Ordnung zu sein.

Und auch nur für ganz kurze Zeit.

Die Geburt im Hause des Kapitäns verzögerte sich; die Wehen hatten seit dem Erscheinen des zweihäuptigen Schafböckleins schlagartig ausgesetzt. Eyckes Kind hatte es plötzlich gar nicht mehr eilig, geboren zu werden. Auch etwas, was bei den Hoogerinnen bedenkliches Stirnrunzeln hervorrief. »Bei Birtes Mutter Ingken ist das nie vorgekommen«, murrten sie hinter vorgehaltener Hand.

Birte war am Verzweifeln. Alles, was sie je gelernt hatte über Geburtshilfe, hatte sie bereits zur Anwendung gebracht, und dennoch steckte das Kind im Geburtskanal fest und bewegte sich um kein Jota – mochte Birte auch noch so viel angewärmte Schafsbutter auf den aufgetriebenen Leib der werdenden Mutter schmieren. Selbst das Abbrennen von Heidekraut und das Gemurmel altfriesischer heidnischer Zaubersprüche zeigten keinerlei Wirkung. Der Kopf des Kindes steckte im Becken der Mutter fest.

Nach drei Tagen unsäglichster Quälerei, die sie nah an den Rand ihres eigenen Todes führte, brachte Eycke endlich einen toten Sohn zur Welt.

Jetzt allerdings gerieten die Hoogener völlig außer Rand und Band. Die Wogen der Empörung reichten dieses Mal bis Feer und Sal, ja, sogar bis tu feesteeg, also aufs Festland hinüber: Es war doch sonnenklar, dass Birte bei der Entbindung grobe Fehler unterlaufen sein mussten – einige sprachen in diesem Zusammenhang gar das schlimme Wort Absicht aus.

Ganz blau sei der kleine Junge gewesen, verbreiteten die Klatschmäuler, so blau, wie man noch kein einziges Neugeborenes jemals gesehen habe. Eindeutig ein Zeichen für die Hexerei der Hebamme.

Dass sich schon vor Tagen die Nabelschnur um den Hals des Kindes gewickelt und ihm die Luftzufuhr abgeschnitten hatte – davon wollte niemand etwas hören.

Selbst Eyckes glaubhafte Versicherung, sie habe schon seit einem Tag keinerlei Kindsbewegungen mehr im Leib verspürt, fand kein Gehör. Alles, was zu Birtes Entlastung diente, ging regelrecht unter in einem Wust bösartiger Andeutungen, gemeiner Verdächtigungen und haltloser Vorwürfe. Dieses Mal stand das Urteil der Leute fest und niemand war bereit, dem Pastor noch einmal Gehör zu schenken.

Wütende Halligbewohner belagerten über mehrere Tage hinweg Birtes Hof. Wüste Beleidigungen wurden der jungen Heilerin zugerufen; sogar Steine flogen gegen ihr Haus. Zitternd stand die junge Frau in der Dörnsk und wagte sich nicht mehr vor die Tür.

»Komm heraus, du gottloses Hexenweib!« – »Prügel verdienst du für deine Schandtaten!« – »Aufhängen sollte man dich, verdammte Höllenbrut!« Weiber jeglichen Alters kreischten vorne am steinernen Friesenwall, der als Zaun das Grundstück zum Weg hin abgrenzte, während ihre Männer, soweit sie zu Hause waren, mit geballten Fäusten drohten und Anstalten machten, Birtes rotes Backsteinhaus zu stürmen.

Allein die Ehrfurcht gebietende Person ihres Pfarrers, der schützend vor dem Eingang stand, hielt die rachelüsterne Meute davon ab, ihren Worten die entsprechenden Taten folgen zu lassen.

In den kommenden Nächten hielten Birtes Knechte freiwillig Nachtwache, als Gerüchte herumschwirrten, einige besonders Aufgebrachte planten, Birte den roten Hahn aufs ohnehin feuergefährdete Reetdach zu setzen – ein Verdacht, den man durchaus ernst zu nehmen hatte.

Es verstand sich von selbst, dass man sie nie mehr zu einem Kranken rufen würde oder zu einer Frau, die ein Kind zur Welt bringen sollte. Nur vereinzelte unerschrockene und loyale Hoogener wagten es noch, zu ihr zu gehen und sich einen Heilkräutertee oder einen gesundheitlichen Rat zu holen.

Nie würde Birte vergessen, dass es kurz darauf eines Nachts am Fensterrahmen ihrer Schlafkammer pochte. Anfangs hatte sie Angst, es könnten Angreifer sein, die sie holen kamen, um sie für etwas büßen zu lassen, woran sie keine Schuld trug. Erst als sie die Stimme des nächtlichen Besuchers erkannte, getraute sie sich, das Fenster zu öffnen.

»Was willst du, Hauke?«, hatte sie sich zögernd erkundigt, worauf der Fischer sein Anliegen vorbrachte. Er habe sich das Kreuz verrenkt und leide unter starken Rückenschmerzen. »Ich kann nicht einmal mehr mein Boot rudern, geschweige denn das Netz auswerfen, um Fische zu fangen«, klagte er Birte sein Leid.

»Wovon sollen mein Weib und die Kinder leben, wenn du mir nicht hilfst?«, fragte er und stöhnte zum Gotterbarmen.

Für Birte war es selbstverständlich, dass sie den geplagten Mann einließ und ihm die Hand auf der schmerzenden Stelle auflegte. Nach einer Weile entließ sie ihn mit einem Tiegel Heilsalbe. Wie üblich verlangte sie nichts für ihre Behandlung – obwohl sie sich über Hauke geärgert hatte, weil er so hasenfüßig gewesen und sie nur im Schutz der Nacht aufgesucht hatte.

Nur noch ganz wenige folgten Haukes Beispiel und Birte musste wohl oder übel einsehen, dass die meisten Menschen eben keine Helden, sondern schlicht Feiglinge waren.

Dieses Mal dauerte es Monate, bis einigermaßen Ruhe auf Hooge eingekehrt war und der Sturm sich gelegt hatte.

 

Diese Ruhe sollte allerdings nicht von langer Dauer sein, das Schlimmste stand der jungen Frau erst noch bevor.

Im Herbst trafen für gewöhnlich die Seeleute, die auf Walfang gewesen waren, wieder zu Hause ein. Mit Bangen sah Birte dieses Mal der Ankunft Erik Ockensens entgegen. Wie würde der schwer enttäuschte Kapitän reagieren? Er und seine Frau hatten sich schon lange vergeblich ein Kind gewünscht. Würde jetzt auch er in den Chor ihrer Gegner einstimmen und ihr die Schuld am Tod seines Sohnes geben?

Richtiggehend krank fühlte sich Birte. Am einfachsten wäre es gewesen, Erik und seinem Zorn aus dem Weg zu gehen, indem sie die Hallig für eine Weile verließ und entfernte Verwandte auf dem Festland aufsuchte. Gondel, die um ihre junge Herrin bangte, riet ihr dringend dazu, aber trotz ihrer Angst weigerte sich Birte standhaft.

»Nein, Gondel! Mich feige davonzumachen, das werde ich schön bleiben lassen. Ich kann doch nicht mein Leben lang vor jeder Schwierigkeit weglaufen – auch wenn mir davor graut, Kapitän Ockensen zu begegnen. Der Augenblick, in dem ich ihm in die Augen schauen muss, wird der schlimmste meines ganzen Lebens sein.«

»Du bist überaus mutig, Herrin«, lobte die alte Magd den Entschluss ihrer über alles bewunderten Herrin. »Ich denke, Erik wird dich aufsuchen, um Genaueres über die Entbindung seiner Eycke zu erfahren. Aber du kannst versichert sein, Frau, sobald Ockensen sein Kommen ankündigt, werde ich im Nebenzimmer bereit sein. Und da so lange warten, bis er wieder verschwindet. Er soll ja nicht wagen, dich anzugreifen. Dich trifft an seinem und Eyckes Unglück wahrlich keine Schuld!«

Über den rührenden Eifer, der aus Gondels Worten sprach, musste die junge Heilerin sogar ein wenig schmunzeln, wenn sie darüber auch ziemlich erfreut war. Keiner ihrer Knechte hatte ihr ein vergleichbares Angebot gemacht, von den jüngeren Mägden ganz zu schweigen. Ockensen war nämlich ein sehr vermögender und nach dem Pastor der einflussreichste Mann auf der Hallig, bei dem es sich nicht empfahl, mit ihm in Streit zu geraten.

Als Ockensen kurz danach durch einen seiner Knechte tatsächlich anfragen ließ, ob sein Besuch bei Birte Petersen willkommen sei, verdrückte sich auf einmal ihr sämtliches Gesinde – mit Ausnahme der streitbaren Gondel.

Alle Bedenken sollten sich indes als überflüssig erweisen.

Als der Walfängercommandeur Erik Ockensen nach Hause gekommen war und anstatt einer überglücklichen Gattin und eines gesunden Sohnes nur eine niedergeschlagene, bitterlich weinende Frau und ein kleines Grab auf dem Hoogener Kirchhof vorgefunden hatte, war er anfangs vor Schmerz ganz außer sich.

Alsbald verbat er sich selbst die vermeintliche Schwäche und ging daran, sein armes Weib zu trösten, indem er Eycke seiner Liebe und unverbrüchlichen Treue versicherte und ihr glaubhaft die Hoffnung schenkte, beim nächsten Mal werde sie ganz bestimmt ein lebensfähiges Kind zur Welt bringen.

»Wir sind beide gesund und noch so jung, mein Schatz. Ich glaube fest daran, dass uns der Herr noch mit Nachkommen segnen wird!«

Als er erfuhr, wie man Birte der Totgeburt wegen das Leben schwer gemacht hatte, beschloss er spontan, sie auf der Kirchwarft aufzusuchen, um sie seines Mitgefühls und seines weiteren Vertrauens in ihre Fähigkeiten als Heilerin und Wehmutter zu versichern.

»Glaub mir, Birte«, sagte er, nachdem sie ihn in den Pesel gebeten hatte, »ich weiß genau um die Gefahren und Risiken einer Entbindung. Meine eigene Mutter hat dabei drei meiner Geschwister verloren und meine Schwester Frigge auf Sylt traf vor einem Jahr das Unglück, ein totes Mädchen zur Welt zu bringen. Ich und meine Eycke wissen bei Gott, wie sorgfältig und verantwortungsvoll du deiner Tätigkeit nachgehst. Weder sie noch ich haben auch nur einen Augenblick an dir gezweifelt. Allen, die dich beleidigt haben, werde ich meine Meinung dazu kundtun. Ungeheuerlich ist, was die Leute da aufgeführt haben!«

Erik tat noch ein Übriges: Er entschuldigte sich bei Birte – auch im Namen seiner Frau – für die Bosheit der Halligbewohner und dass sie Zweifel daran gehegt hätten, dass das Sterben seines Kindes allein der Wille Gottes gewesen sei. »Gleich am nächsten Sonntag werde ich ihnen in der Kirche noch vor der Predigt meine Ansicht der Dinge darlegen«, versprach er.

Seine schlichten Worte rührten Birte zu Tränen. Sie hatte mit den schlimmsten Vorwürfen, ja sogar mit einer Anklage bei den herzoglichen Beamten in Gottorf oder den dänischen Ratsmännern gerechnet, die auf Hooge und einem Teil der Inseln das Sagen hatten.

Zwar hatte sie Erik bisher schon als einen Mann gekannt, der nicht nur ein Herz, sondern auch einen scharfen Verstand besaß und diesen auch zur rechten Zeit gebrauchte. Wie er allerdings in einer Lage handeln würde, die wie ein Messer durch sein Gemüt als werdender Vater fahren musste – dessen war sie keineswegs sicher gewesen. Birte vermochte gar nicht mehr aufzuhören mit Schluchzen.

»Bitte, hör auf zu weinen, meine Liebe«, bat der Kapitän etwas verlegen. Wie die meisten Männer fühlte auch Erik sich unbeholfen und hilflos angesichts einer in Tränen aufgelösten Frau. Um zu beweisen, dass er ihr wirklich nichts nachtrug, sondern es mit dem Gesagten ernst gemeint hatte, trat er in der Guten Stube auf die junge Heilerin zu und nahm sie tröstend in die Arme.

»Na, na, na! Wer wird denn goor so skrekelk skrole? Aal wurd ham tu ’n guuden wään!« Wie einem kleinen Kind, das hingefallen war und sich wehgetan hatte, redete er Birte zu und streichelte ihr dabei sanft und beruhigend über den Rücken, der vor heftigen Schluchzern bebte. Wer werde denn so schrecklich weinen, alles werde sich zum Guten wenden.

Seine gut gemeinte Geste sollte sich alsbald als grober Fehler herausstellen.

Durch eine zufällig in den Pesel hereinplatzende Magd, die einer Auskunft der Hofherrin bedurfte und wieder einmal das Anklopfen vergessen hatte, wurde eine Lawine losgetreten, die ihresgleichen suchte.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich auf Hooge das Gerücht, Birte habe Eycke den Ehemann ausgespannt – etwas, das sie wohl seit Langem schon geplant habe. Jetzt glaubten auf einmal alle den wahren Sinn der jüngsten Tragödie zu verstehen: »Darum hat das arme Kind der Kapitänsfrau sterben müssen!«

Zum verabscheuungswürdigen Ehebruch gesellte sich jetzt auch noch der Vorwurf einer vorsätzlichen Mordtat an einem unschuldigen Säugling, der nicht einmal die Taufe hatte empfangen können.

Der Pastor war entsetzt. Natürlich glaubte er den böswilligen Verleumdern seiner Tochter kein Wort – aber das zählte in diesem Fall nicht viel. Als Vater der Mörderhexe galt er als Partei und sein Veto gegen Birtes Vorverurteilung war keinen Pfifferling wert.

Im Übrigen war die Magd bereit, auf die Bibel zu schwören, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie Erik Ockensen Birte an seine Brust gedrückt und zärtlich gehalten habe, sie gestreichelt und ihr versichert habe, alles werde sich zum Guten wenden.

Das einfältige Geschöpf log dabei keineswegs. In der Tat hatte sich ja alles genauso abgespielt – nur waren die Schlüsse, welche die Magd – und andere mit ihr – daraus zogen, die falschen.

»Was braucht’s noch mehr an Beweisen?«, kreischte eine ältere Bäuerin von der Backenswarft, die sich seit Langem einbildete, selbst eine begnadete Heilerin zu sein, und die meisten stimmten ihr zu.