ISBN: 978-3-95573-628-6
1. Auflage 2017, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2017 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de
Titelbild: Unter Verwendung eines Bildes von shutterstock.
Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
»Sieht aus wie ’n selbst gestrickter Pullover.« Mürrisch wies Manfred Ostermann mit dem Kopf auf den Leuchtturm von Pilsum. Das Bauwerk mit seinen roten und gelben Querstreifen strahlte dem Urlauberpaar aus Duisburg-Ruhrort, das den Weg hinter dem Deich entlangmarschierte, an diesem sonnigen Junimorgen entgegen wie ein Mahnmal maritimer Lebensfreude.
Birgit schnaubte verächtlich. »Immer hast du was zu meckern. Dabei warst du derjenige, der nach Ostfriesland wollte, nicht ich.«
»Meckern? Ich? Wer hat denn heute Morgen schon wieder an allem was auszusetzen gehabt? Der Kaffee war zu dünn, das Ei zu hart, und der Wind war natürlich mal wieder zu frisch, um auf der Hotelterrasse zu frühstücken. Und das bei der Luft, die wir hier haben! Endlich könnte ich mal den Büromief aus den Lungen kriegen, aber nein ...«
Birgit schwieg verdrossen.
Manfred beschleunigte das Tempo. Bereits um sechs Uhr früh hatte seine Frau ihm die Laune verdorben. Es gab Gründe genug, im Bett zu stöhnen. Das Klingeln des Weckers gehörte doch wohl nicht dazu. Bei ihrem Teilzeitjob konnte Birgit das ganze Jahr über ausschlafen. Warum musste das auch noch im Urlaub sein? Er hasste halb abgegessene Frühstücksbüfetts, das wusste seine Frau genau.
Birgit versuchte, mit ihrem Mann Schritt zu halten. »Letztes Jahr auf Gran Canaria ...«
»Muss es denn immer Gran Canaria sein?«, herrschte er sie an. »Nur weil die Kastenbergs jedes Jahr dahin fliegen, müssen wir das noch lange nicht tun.«
Birgit blieb stehen. »Egal. Ich muss jetzt jedenfalls mal für kleine Mädchen.« Sie drehte sich hektisch um. »Wo kann ich denn mal? Hier hat man ja auf hundert Kilometer freien Blick.«
Die Panik im Gesicht seiner Frau verriet Manfred, dass die Angelegenheit keinen Aufschub mehr duldete. »Hab ich dir nicht gesagt: Trink nicht so viel Kaffee, das Land ist flach, und es gibt keine Bäume, hinter denen du verschwinden kannst?«
Sie erreichten die Treppe, die den Deich hinauf zum Sockel des Pilsumer Wahrzeichens führte. Birgit zeigte nach oben. »Dann versteck ich mich eben hinter dem selbst gestrickten Pullover. Geh du schon mal voraus.«
»Wenn du meinst, dass du mich einholen kannst«, sagte Manfred ungerührt und setzte seinen Weg fort. Er verstand Birgits Quengelei nicht. Noch waren weit und breit weder Spaziergänger noch Radfahrer zu entdecken, und die Möwen waren bestimmt Schlimmeres gewohnt als den nackten Hintern seiner Frau. Seinetwegen hätte Birgit mitten auf dem Weg die Hose runterlassen können. Aber sie musste ja immer aus allem ein Problem machen. Fehlte nur noch ...
Ein lang gezogener, gellender Schrei fuhr Manfred durch Mark und Bein. Ruckartig blieb er stehen und horchte. Dann ging er weiter. Es war nur die Stimme seiner Frau.
Sicher war Birgit am Örtchen ihrer Wahl von einer Spinne mit dicken, behaarten Beinen begrüßt worden. Manfred kannte die Signale: Ein Schrei dieser Art bedeutete eine Spinne an der Wand. Zwei Schreie hintereinander, von einer kurzen Pause unterbrochen, die sie zum erneuten Luftholen brauchte, wiesen auf eine tote Maus hin.
Er hatte es geahnt: Auf den ersten folgte ein zweiter Schrei. Also eine tote Maus.
»Manniiiii!«
Manfred rollte mit den Augen. Wie oft hatte er Birgit schon gesagt, sie solle ihn nicht ›Manni‹ rufen! Er blieb stehen und wandte sich um. »Was ’n los?«
Birgit stand kreischend am Fuß des Leuchtturms.
Er war einiges von ihr gewohnt, aber das hier ging nun doch zu weit. »Verdammt noch mal, was hast du denn?«
Hektisch winkte sie ihn zu sich heran.
Er seufzte. Also gut. Wenn er Birgits Fund gebührend gewürdigt haben würde, sollte es aber endlich weitergehen nach Greetsiel. Er wollte nicht erst am Abend dort ankommen. Sie hatten geplant, am Hafen zu Mittag zu essen.
Manfred kraxelte die Treppe zum Sockel des Turms hinauf und folgte seiner Frau halb um das Gemäuer herum.
Da lag sie, die tote Maus.
Sie war ungefähr so groß wie Birgit und schlank. Attraktiv wirkte sie mit diesen durchtrainierten Beinen in den schwarzen Leggings und den Joggingschuhen. Sie lag auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht. Manfred fiel die lange blonde Mähne auf. Eine zerbrochene rot-goldene Haarspange lag ein Stückchen weiter auf dem Boden.
Manfred schluckte.
Das Mittagessen in Greetsiel konnte er vergessen.
***
Fenna Stern blinzelte angestrengt auf ihren Monitor.
»Blendet das Licht?«, fragte Tammo Anders.
»’N büschen.« Die Kommissarin schickte sich an, aufzustehen.
»Bleib sitzen, ich mach das schon.« Tammo sprang auf und ließ die Jalousien herunter.
Seit Fenna und er kürzlich aus den beiden Einzelbüros weiter unten am Gang in diesen gemeinsamen Raum gezogen waren, spielte er gelegentlich den Kavalier. Eine Rolle, zu der Onkel Frido ihn antrieb, die er aber vor den Kollegen am liebsten verbarg. Noch immer ärgerte er sich über die Frotzeleien der Leute aus seinem Team am Tag des Umzugs. ›Wenn aus unserem frischgebackenen Ermittlerpaar nicht innerhalb eines Jahres ein trautes Ehepaar wird, fress ich ’nen Besen‹, hatte ein Wachtmeister in der Teeküche getönt, ohne zu ahnen, dass Tammo hinter ihm stand. ›Kannst dich ja schon mal um den Posten des Trauzeugen bewerben‹, hatte der Kommissar ihm mit jovialem Schulterklopfen vorgeschlagen und sich ein Lächeln abgerungen.
Tammo drehte an der Stange, die zum Justieren der Lamellen diente. »So in Ordnung?«
Fennas Augenpartie entspannte sich. »Ja, danke.«
Kaum hatte der Kommissar sich wieder hingesetzt, schrillte das Telefon. Er nahm das Gespräch entgegen, lauschte eine Weile gebannt und fasste sich an die Kehle. »Verstanden, wir kommen sofort«, presste er hervor und warf den Hörer auf die Gabel.
»Männlich oder weiblich?«, fragte Fenna besorgt. An Tammos Stimme und seinem Gesicht hatte sie wohl erraten, worum es bei dem Anruf ging.
»Platinblond«, erwiderte er geistesabwesend, schob den Stuhl zurück und lief zur Tür. Er hielt sich mit einer Hand an der Zarge fest und beugte den Oberkörper vor. »Leichenfund am Pilsumer Leuchtturm!«, rief er über den Gang der Wache. Dann wandte er sich wieder seiner Kollegin zu. »Äh, weiblich, wollte ich sagen.«
Fenna zog eine Augenbraue hoch.
Tammo klaubte Notizblock und Stift zusammen.
»Wie ist die Frau zu Tode gekommen?«, fragte die Kommissarin. »Hast du darüber schon was erfahren?«
»Nein, nichts. Auf den ersten Blick sind wohl keine Spuren einer Gewaltanwendung zu erkennen. Zumindest nicht für einen Laien«, schob er hinterher, während er den Zugang zu seinem Computer sperrte. »Vermutlich handelt es sich um eine Joggerin. Sie liegt neben dem Leuchtturm und atmet offensichtlich nicht mehr.«
Fenna zog die Stirn in Falten. »Wie kommt eine tote Joggerin zum Leuchtturm? Die Frau wird kaum vorgehabt haben, drum herum zu sprinten.«
»Lass uns hinfahren, dann sind wir schlauer.«
Wachtmeister und Hundeführer Benno Pötzschke und drei weitere Kollegen der uniformierten Polizei betraten das Büro der Ermittler. »Dann mal los«, sagte Benno und drückte Tammo einen Autoschlüssel und Fahrzeugpapiere in die Hand. »Die Gerichtsmedizinerin und die Kollegen von der Spurensicherung in Aurich machen sich auch gleich auf den Weg.«
Auf der Strecke zum Leuchtturm war weit und breit niemand zu sehen, dem sie einen Einsatz hätten signalisieren müssen. Dennoch fuhren die Polizisten vorsichtshalber mit Blaulicht.
»Wer hat die Tote gefunden?«, fragte Fenna in die Gleichtönigkeit des Motorgeräusches hinein.
»Wie? Äh, zwei Leute aus dem Ruhrgebiet. Herr und Frau Ostermann. Sie machen gerade Urlaub in Pilsum.«
»Na toll! Diesen Urlaub werden sie garantiert nicht mehr vergessen.«
Tammo verlangsamte das ohnehin beschauliche Tempo und hielt in Höhe des Leuchtturms an. Die Kollegen um Benno Pötzschke parkten hinter ihnen und blieben am Wagen stehen.
Die Kommissare gingen auf das Urlauberpaar zu, das am Fuß der Treppe kauerte. Das Gesicht der Frau war erschreckend blass, auf der Stirn standen Schweißperlen. Beim Anblick der Beamten begann sie, hysterisch zu lachen, um kurz darauf urplötzlich mit beiden Fäusten wie wild auf ihren Mann einzuschlagen. Er wehrte sie ab und stand auf. Sie versuchte ebenfalls, sich zu erheben, doch ihr brachen die Beine weg; sie hielt sich mit einer Hand am Geländer fest und fiel auf die Stufen zurück.
»Ostermann«, sagte Manfred und verbeugte sich leicht. »Das ist meine Frau Birgit.«
»Ihre Frau hat einen Schock, sehen Sie das nicht?«, blaffte Fenna den Mann an. Sie zog ihr Handy hervor, orderte einen Rettungswagen und bat die uniformierten Kollegen, sich um Birgit zu kümmern, bis der Notarzt eintreffen würde.
»Wo liegt die Tote?«, fragte Tammo.
Ostermann zeigte auf den Sockel des Leuchtturms.
Mit dem mulmigen Gefühl, das ihn immer überkam, wenn er nicht wusste, was ihn erwartete, stieg Tammo die Treppe hinauf, Fenna an seiner Seite.
Manfred Ostermann folgte ihnen, blieb aber in gebührendem Abstand zu der Toten stehen.
Die Frau lag da wie jemand, der sich zum Schlafen hingelegt hatte. Die Beine waren ausgestreckt, der linke Arm nach oben angewinkelt, die halb geöffnete Faust lag neben dem Kopf. Die andere Hand ruhte auf der Brust. Das volle blonde Haar, eine wahre Pracht, bedeckte das abgewandte Gesicht, den Hals und das Dekolleté. Das wies auf das Einwirken einer anderen Person hin. Unwahrscheinlich, dass die Frau sich die Haare selbst so zurechtgelegt hatte, um dann in dieser Haltung zu sterben.
Tammo hätte sich gerne das Gesicht der Toten angesehen, aber er musste warten, bis die Kollegen von der Spurensicherung eingetroffen waren und die Position der Leiche dokumentiert hatten.
Er wandte sich Manfred Ostermann zu. Der hatte sich am Rand der Plattform, auf der der Leuchtturm stand, positioniert wie auf einer Bühne. Er machte ein Gesicht, als erwartete er jeden Moment ein Fernsehteam, das ein Live-Interview zu dem Sensationsfund mit ihm führte. »Sie haben die Leiche entdeckt?«, vergewisserte Tammo sich.
»Ja. Genauer gesagt, meine Birgit. Aber das kommt aufs Gleiche raus.«
»Was hat Ihre Frau hinter dem Leuchtturm gesucht?«
Der Mann stieß ein spöttisches Lachen aus. »›Gesucht‹ ist gut. Sie hat ’ne schwache Blase, konnte heute Morgen aber mal wieder nicht genug Kaffee in sich reinkippen. Die immer mit ihrem niedrigen Blutdruck. Dabei hab ich ihr noch gesagt ...«
»Schon gut«, unterbrach Fenna ihn. »Was hat Sie beide hier entlang geführt?«
Manfred trat einen Schritt näher an Fenna heran. »Ist doch nicht schwer zu erraten, oder?«
»Wenn Sie es uns bitte trotzdem sagen würden?«
Tammo bewunderte Fennas Geduld. So etwas lernte man wohl, wenn man Kinder großgezogen hatte.
»Wir wollten zu Fuß nach Greetsiel.« Manfred wies mit dem Daumen in die Richtung, in der das Dorf lag. »Glauben Sie, dass die Frau umgebracht wurde?« Die Sensationsgier sprang ihm aus den Augen.
»Vermutungen nützen wenig«, tat Fenna die Frage sachlich ab.
»War noch jemand anderes in der Nähe, als Sie die Leiche gefunden haben?«, fragte Tammo. »Ein Spaziergänger oder Radfahrer?«
»Sie meinen, ob wir gesehen haben, wie der Täter abgehauen ist?«
»Darauf könnte es hinauslaufen.«
Manfred Ostermann schüttelte den Kopf. »Nee. Steht ja kaum jemand in dieser Gegend so früh auf wie wir. Alles Schlafmützen. Bis auf die da.« Er zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Tote.
Tammo hockte sich neben die Leiche und versuchte, durch den platinblonden Schleier hindurch einen Blick auf das Gesicht zu erhaschen. Er legte zwei Finger an die halb geöffnete Faust, die aussah wie die eines schlafenden Kindes. »Sie hat noch minimal Körpertemperatur«, sagte er mit leiser Stimme, als hätte er Angst, die Frau könnte ihn hören und sich über seine Worte erschrecken.
»Sag ich doch«, bellte Ostermann besserwisserisch. »Ich hab zu meiner Birgit gesagt: Die sieht eigentlich noch ganz lebendig aus. Wenn sie nur mal atmen würde.«
Der Notarzt traf zeitgleich mit einem weiteren Polizeiwagen ein, dem Gerichtsmedizinerin Doktor Gerhild Linnenbrügger und das Team der Spurensicherung entstiegen. Während der Arzt sich um Birgit Ostermann kümmerte, besprach Tammo sich kurz mit den Kollegen. Dann überließ er ihnen den Fundort der Leiche und geleitete Manfred Ostermann zu den uniformierten Polizisten.
»Nimmst du die Personalien auf?«, bat er Pötzschke.
»Und dann?«, fragte Ostermann.
»Dann können Sie gehen«, klärte Fenna ihn auf. »Mein Kollege notiert auch Ihre Urlaubsanschrift und Ihre Handynummer. Wenn wir Sie noch mal brauchen, melden wir uns.«
»Ich würde aber lieber hierbleiben«, sagte er bestimmt. »So was sieht man nicht alle Tage. Wenn wir nach Hause kommen ... Unsere Nachbarn werden staunen, wenn ich erzähle, was ich erlebt habe.«
»Wir können Sie hier nicht mehr gebrauchen, Herr Ostermann«, sagte Fenna in unmissverständlichem Ton. »Begleiten Sie Ihre Frau ins Krankenhaus. Die braucht Sie jetzt. Oder gehen Sie nach Greetsiel. Das hatten Sie doch ursprünglich vor.«
Tammo zog Fenna mit sich fort und setzte sich mit ihr zu Gerhild Linnenbrügger auf die Stufen vorm Leuchtturm. Sie unterhielten sich halblaut, bis die Spurensicherung ihnen signalisierte, dass die Gerichtsmedizinerin mit ihrer Arbeit beginnen konnte.
Gerhild beugte sich über die Tote und schob deren Haare vorsichtig zur Seite, sodass die rechte Seite des Gesichts und der Hals zu sehen waren. Bei dem Anblick, der sich ihnen nun bot, wichen alle drei, Tammo, Fenna und Gerhild, erschrocken zurück.
Fenna hielt sich entsetzt die Hände vor den Mund.
»Erdrosselt«, sagte Tammo kaum hörbar, als er seine Sprache halbwegs wiedergefunden hatte. »Mit einem Gürtel bestialisch erdrosselt.«
Fenna gab sich einen Ruck. Tammo sah, wie viel Kraft es sie kostete, ihre Fassung wiederzuerlangen und so zu tun, als handle es sich um einen Fall wie unzählige andere. »Der Gürtel gehört aber nicht zu den Leggings. Der Mörder muss ihn selbst getragen haben. Mit Glück finden wir seine DNA daran.«
»Er muss ihn nicht an seiner Kleidung getragen haben«, widersprach Tammo. »Möglicherweise hat er ihn auf andere Weise mit sich geführt. Zusammengerollt in der Jackentasche zum Beispiel.«
Fenna nickte. »Stimmt auch wieder.«
Gerhild Linnenbrügger kniete sich neben die Leiche. »Kennt ihr die Frau? Scheint noch relativ jung zu sein. Mitte dreißig, schätze ich.«
Tammo deutete ein Kopfschütteln an. »Nie gesehen. Glaub nicht, dass sie aus der näheren Umgebung stammt.«
»Eine Gürteltasche, wie Jogger sie oft nutzen, trug sie nicht bei sich«, berichtete Jan Peters, der Leiter der Spurensicherung, der sich zu ihnen stellte. »Wir haben die Kleidung abgetastet. Offenbar hat sie auch keinen Schlüssel dabei und nicht mal einen Personalausweis oder Führerschein. Nichts zu finden. Nachher, wenn die Leiche im Institut ist, gucken wir uns jedes einzelne Kleidungsstück ganz genau an. Vielleicht trägt sie ihren Ausweis näher am Körper.«
»Okay. Sag am besten telefonisch Bescheid, wenn ihr was findet. Die Frau hat sicher Angehörige. Ich möchte die Familie so bald wie möglich benachrichtigen.«
Die Gerichtsmedizinerin setzte ihre Untersuchungen fort. Die Kommissare und Jan Peters gingen zu den Polizeiwagen zurück.
»Ob der Mörder ihr hier aufgelauert hat?«, fragte Fenna. Sie drehte sich nach allen Seiten um.
Tammo folgte ihren Blicken. Wenn man in dieser Landschaft jemanden heimtückisch abpassen wollte, gab es nur wenige Möglichkeiten, sich zu verbergen. Wie sagte Onkel Frido immer: ›Bei uns in Ostfriesland sieht man morgens schon, wer mittags zu Besuch kommt.‹
»Nach einem Sexualdelikt sieht es jedenfalls nicht aus, so wie die Tote bekleidet ist.« Mehr vermochte Tammo im Moment nicht zu sagen. Alles war Spekulation.
»Vielleicht hatte der Mörder eine Vergewaltigung geplant«, überlegte Fenna, »und ist gestört worden, bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Du weißt ja, manche sind so pervers, die bringen ihre Opfer erst um und dann ...«
»Fenna, Tammo, kommt noch mal her«, hörten sie Gerhild Linnenbrügger rufen. »Auch die Spusi, bitte! Wir brauchen noch mal ein Foto.«
Zu dritt spurteten sie die Treppe zum Leuchtturm hinauf.
»Seht euch an, was der Mörder hinterlassen hat.«
Die Gerichtsmedizinerin hatte den Kopf des Opfers so gedreht, dass das Gesicht dem Himmel zugewandt war, und die dichten langen Ponyfransen von der Stirn geschoben.
Trotz der gebrochenen Augen schien die Tote die Umstehenden mit schreiendem Blick um Hilfe anzuflehen.
»Was muss diese Frau gelitten haben!«, brach es aus Fenna hervor.
Gerhild wies mit dem Zeigefinger auf die Stirn der Ermordeten. Auf der makellosen Haut, aus der alles Leben gewichen war, prangte ein dunkelroter, sinnlich wirkender Kussmund.
»Der wurde mit einem Lippenstift aufgemalt«, meinte Gerhild. »Und zwar mit aller Sorgfalt. Wenn ihr mich fragt: Da hat jemand lange geübt, damit es auch gut gelingt.«
Fenna erschauderte.
Tammos Kiefer mahlten. Wenn er den in die Finger bekäme ...!