Der Engländer Stephen Baxter, geboren 1957, zählt zu den weltweit bedeutendsten Science-Fiction-Autoren. Aufgewachsen in Liverpool, studierte er Mathematik und Astronomie und widmete sich dann ganz dem Schreiben. Baxter lebt und arbeitet in Buckinghamshire. Zuletzt sind im Wilhelm Heyne Verlag erschienen: Evolution, Der Orden, Sternenkinder und Transzendenz.
Es gab ein Durcheinander, ein erwartungsvolles Raunen. Die Menge teilte sich und machte Platz.
Der König schritt den Mittelgang der Abteikirche entlang. Erzbischof Ealdred ging vor ihm her, prachtvoll anzusehen in seinen reich verzierten Seidengewändern und dem Purpurmantel; er trug die neue Krone Englands, einen goldenen, juwelenbesetzten Reif. Orm schloss aus dem schweren Gang des Königs, dass er unter seinem goldenen Umhang ein Kettenhemd trug. Selbst hier fürchtete er sich vor Attentätern.
Mit seinen schleppenden Schritten und der steifen Haltung wirkte der König nach seinem Kriegsjahr erschöpft. Aber auf dem Weg zum Altar schaute er mit funkelndem Blick nach links und rechts. Keiner der Adligen wagte es, ihm in die Augen zu sehen.
»Ich wünschte, deine Zukunft wäre wahr geworden, glaube ich«, sagte Orm aus einem Impuls heraus. »Ich wünschte, ich würde ein Langschiff bereit machen, um im Frühjahr nach Vinland zu fahren, mit Godgifu an meiner Seite und meinem Kind in ihrem Bauch.«
»Ja«, murmelte Sihtric. »Das wäre mir auch lieber. Das hier ist falsch. Wir sind in der falschen Zukunft, mein Freund. Und nun werden wir sie nicht mehr los.«
»Hätte es denn anders kommen können?«
Sihtric schnaubte. »Du warst doch dabei, Wikinger. Du weißt, wie wenig gefehlt hat. Wenn Harold Tostig eliminiert hätte, wie ich es ihm nachdrücklich geraten habe – wenn Harold und Hardrada gemeinsame Sache gemacht hätten – wenn der Wind nur früher gedreht und William im Mittsommer gelandet wäre, als Harold mit einem frischen Heer auf ihn gewartet hat – und in der Schlacht, wenn William nach seinem Sturz vom Pferd liegen geblieben wäre – wenn dieser Pfeil nicht gewesen wäre, der Harold niedergestreckt hat, wenn der Schildwall nur noch eine Stunde standgehalten hätte … Es gibt so viele Wege, wie es hätte geschehen können. Und wir würden jetzt Harolds Weihnachtsfest beiwohnen.«
»Und wenn eines dieser Wenns eingetroffen wäre? Was dann?«
Sihtric zog die Lippe zwischen die Zähne. »Nun, wenn Hardrada tot und William gefallen wäre, hätte sich England für eine Generation keiner ernsthaften äußeren Bedrohung gegenübergesehen. Und dann ist da natürlich die Frage der Thronfolge. Knifflige Angelegenheit. Wenn Harold lange genug gelebt hätte, hätte er seinen Sohn mit der Schwester der nördlichen Earls vermählen und ihn so in Edwards Familie einheiraten lassen können. Damit wäre es ihm gelungen, in seinem Enkelsohn das Blut der Godwines, die nördlichen Earls und die Linie Alfreds und der Cerdicinger, der ältesten königlichen Dynastie in Europa, zu vereinen. Wer könnte dessen Anrecht auf den Thron anfechten?«
»Das will ich dir sagen«, erwiderte Orm. »Harolds Kinder aus seiner Ehe mit Edith Schwanenhals.«
»Mag sein, mag sein«, sagte Sihtric. »Aber dazu wird es nun eh nicht mehr kommen.«
Denn statt künftige Könige großzuziehen, hatte Edith den schrecklich zugerichteten Leichnam ihres Gemahls auf seinem letzten Schlachtfeld identifizieren müssen.
»Aber wie wäre es weitergegangen?«, fragte Orm, unwillkürlich fasziniert von dieser irrealen Geschichte. »Wenn Harold gesiegt hätte, wenn seine Kinder Edelinge wären und keine Flüchtlinge – was dann?«
Dann, sagte der Priester, hätte sich England, nachdem seine südlichen Nachbarn geschlagen und in Auflösung geraten seien, dem Norden zugewandt.
»Stell es dir vor«, sagte Sihtric wehmütig. »Langschiffe voller englischer Waren würden ostwärts nach Konstantinopel und ins Innerste Asiens fahren, und im Westen würden sie jene unbekannten Kontinente erreichen, wo die Wikinger Vinland gegründet haben. England ist jetzt schon reicher als jedes der kleinen Königreiche Frankens, Germaniens oder Italiens; mit der Zeit hätte dieses Bündnis des Nordens den elenden Süden überwältigt. Englands letzte Bande an die Ruinen des Römischen Reiches würden zerschnitten. Und diese ehrgeizigen, brutalen Soldaten-Christen wie William, deren Pläne in England vereitelt worden wären, hätten ihre Träume von mörderischen Kreuzzügen nach al-Andalus und ins Heilige Land vielleicht begraben müssen.«
»Und deine Prophezeiung wäre erfüllt«, sagte Orm. »Ein Reich im Norden.«
»Ja. Oder eine Republik.«
Orm runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?«
»Du hast mir doch erzählt, dass die Wikinger draußen im Meer eine neuartige Gesellschaft begründet haben, in der sich die Landbesitzer und die Reichen versammeln, um gemeinsame Entscheidungen über die Zukunft zu treffen.«
»Die althings.«
»Uns Nordleuten liegt die Freiheit im Blut. Wir Germanen sind ohne Könige nach Britannien gekommen. Die Dänen auch. Vielleicht wäre es uns bestimmt gewesen, kein Reich, sondern eine Republik zu errichten, so wie die ersten Römer, mit Jorvik als Hauptstadt, versorgt von einem endlosen Neuland im Westen. Freiheit, Orm, Freiheit in einer neuen Welt. Aber es sollte nicht sein. Stattdessen haben wir Engländer unsere Freiheiten an diese normannischen Rohlinge verloren, und es wird tausend Jahre dauern, sie ihnen wieder zu entreißen.«
»All dies hing von der Schlacht bei Haestingaceaster ab. Die ganze Welt wäre für immer anders, wenn …«
»Ja. Aber die Gelegenheit ist vertan, und damit hat sich’s«, sagte Sihtric energisch, beinahe geschäftsmäßig. »Das arische Reich ist verloren. So wie das Leben mit Godgifu, das dir vielleicht vergönnt gewesen wäre.«
Orm erstarrte. »Sihtric — deine Schwester …«
Sihtric winkte ab. »Sie hätte nicht im Wall kämpfen sollen. Mach dir keine Vorwürfe. Und ihr auch nicht. Gib die Schuld den ehrgeizigen Männern, die uns in den Krieg geführt haben. Oder dem Teufel, oder den Kriegsgöttern der Heiden. Gib Mars die Schuld – ja, genau.« Er sah Orm aufmerksam an. »Du musst dir ein neues Leben aufbauen«, sagte er. »Ohne sie. So gut du kannst. So wie ich auch.«
Orm nickte. Das Sprechen fiel ihm schwer. »Du vergibst mir. Vielleicht wird doch noch ein guter Priester aus dir, Sihtric.«
Sihtric lachte. »Welch ein Lob.«
Aber Orm sah ein Schimmern in seinem Auge, eine Spur seines alten berechnenden Wesens. »Du hast einen Plan. Nicht wahr, Priester?«
Er zwinkerte Orm zu. »Ich denke daran, auf Reisen zu gehen.«
»Wohin?«
»Nach al-Andalus. Mein Freund Ibn Sharaf wird mich bei sich aufnehmen, in einem Land der Bibliotheken und der Bildung. Und vielleicht werden wir über Aethelmaers seltsame Entwürfe sprechen.«
»Du hast immer einen Plan in der Hinterhand, nicht wahr, Sihtric? Nun, vielleicht wirst du dort in Sicherheit sein.«
Sihtric sah ihn scharf an. »Was soll das heißen? Bin ich in Gefahr?«
»Sihtric – das Menologium. Auf der Überfahrt von der Normandie ist Odo zu mir gekommen …« Er erzählte dem Priester, wie Odo ihm Anweisung gegeben hatte, die Prophezeiung und Sihtric selbst zu beseitigen. »Er war wohl der Ansicht, sie könnte seine Macht untergraben.«
Sihtric schnaubte. »Der Mann hat wirklich ein Auge fürs Detail. Nun, er kann sie haben.« Er zog eine Schriftrolle aus seinem Gewand. »Mein einziges Exemplar. Was nützt eine Prophezeiung, deren Zukunft nicht Wirklichkeit geworden ist? Aber da ist noch etwas …« Er zögerte, dann entrollte er die Schriftrolle. »Eine Seltsamkeit, die mir erst kürzlich aufgefallen ist, erst nach der Schlacht. Da ist ein Akrostichon.«
»Ein was?«
»Ein Wort oder ein Satz, gebildet aus den ersten Buchstaben jeder Zeile. Wie ein Rätsel. Beda hat mit ähnlichen Tricks gearbeitet. Schau, im Epilog kann man es deutlich erkennen. AMEN.«
Orm zuckte die Achseln. Buchstabenrätsel interessierten ihn nicht. »Ich sehe hier keine anderen Worte.«
»Nein, aber schau – sieh dir die Strophen an, ohne den Prolog und die jeweils erste und letzte Zeile über die Großen Jahre zu beachten. Schau dir nur die Zeilen mit Inhalt an. Siehst du es jetzt?«
Orm pickte die Buchstaben heraus. »E-I-N-S … Sieht deutsch aus.«
»Ich glaube, das ist ein Name. Vielleicht sind es auch mehrere Namen. Ich weiß nicht, was sie bedeuten. Sie hätten sowieso nichts geändert. Gib Odo das Ding. Soll er sich den Kopf darüber zerbrechen. Ich bin damit fertig.«
Eine Bewegung ging durch die Thegns. William stand am Altar. Der alte Krönungsritus der englischen Könige wurde auf Englisch und Fränkisch verlesen. Jetzt wurden die Adligen gefragt, ob sie William als König akzeptierten. Sie akklamierten alle mit lauter Stimme. »Ja! Ja! …«
Ein Krachen ertönte. Soldaten in langen Kettenpanzern stürmten mit gezogenen Schwertern und lautem Gebrüll zur Kirchentür herein. Sie hatten die Beifallsrufe fälschlicherweise als Bedrohung für William aufgefasst und waren hereingekommen, um die Gefahr zu beseitigen. Die Gefolgsleute der Adligen stellten sich ihnen entgegen und hoben ebenfalls ihre Waffen. Ein Kampf brach aus.
Und durch die offenen Türen quoll Rauch herein. Wie es ihrer üblichen Vorgehensweise in kritischen Situationen entsprach, steckten die normannischen Truppen die Gebäude von Westmynster in Brand.
»Welch eine Posse«, sagte Sihtric leise. »Gewalt, bemäntelt von Frömmigkeit und zweifelhafter Legitimität. Welch blutige Posse.«
Während der Gestank des Brandes die Kirche erfüllte und die Kämpfe inmitten von Zorn- und Angstschreien weitergingen, salbte der Erzbischof die Stirn des Bastards mit geweihtem Öl und setzte ihm die englische Krone auf.
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STEPHEN BAXTER
NAVIGATOR
Die Zeit-Verschwörung
Dritter Roman
Ich bin Adam Roberts zutiefst dankbar für seine fachkundige Hilfe bei der Übersetzung des Menologiums der Isolde; außerdem hat er mir durch die Lektüre des Buches im Manuskriptstadium einen unschätzbaren Dienst erwiesen.
Der Halleysche Komet erreichte seine Perihelien – die sonnennächsten Punkte seiner Bahn – an den im Text angegebenen Daten. Die Zeitabstände sind unregelmäßig, unter anderem wegen der Beeinflussung der Umlaufbahn des Kometen durch die Planeten. Von der Erde aus gesehen, waren einige seiner Besuche auffälliger als andere.
Zu den lesbaren Primärquellen über die Periode vom Ende des römischen Britannien bis 1066 gehören Bedas Ecclesiastical History of the English People (übersetzt von Leo Sherley-Price, Penguin, 1990 [deutsche Ausgabe: Beda der Ehrwürdige, Kirchengeschichte des Englischen Volkes, übersetzt von Günter Spitzbart, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, 1982]), und The Anglo-Saxon Chronicles (übersetzt von Anne Savage, Tiger Books, 1995). Als allgemeiner Überblick über diese Periode ist Frank Stentons umfassendes Anglo-Saxon England (third edition, Oxford, 1971) zwar unvermeidlich veraltet, aber kaum zu schlagen, und eine unvergleichliche Einführung in den Geist der damaligen Zeit bietet das Epos Beowulf, inbesondere in Seamus Heaneys Übersetzung (Faber and Faber, 1999 [mehrere deutsche Ausgaben, z.B. Beowulf, übersetzt und herausgegeben von Martin Lehnert, Reclam, Stuttgart 2004]).
Ken Darks Britain and the End of the Roman Empire (Tempus, 2000) ist ein jüngeres, faszinierendes Werk über die Übergangsjahrhunderte, die auf das offizielle Ende des römischen Britannien im Jahr 410 n. Chr. folgten. Die kurze Darstellung von Arthurs Lebensweg im vorliegenden Roman basiert auf den verfügbaren fragmentarischen Quellen (siehe etwa Celt and Saxon von Peter Berresford Ellis (Constable, 1993)) und ist natürlich spekulativ, wie alle derartigen Berichte.
Einen Überblick über aktuelle Arbeiten zu Bamburgh bietet Bamburgh Castle: The Archaeology of the Fortress of Bamburgh, AD 500 to AD 1500, herausgebracht vom Bamburgh Research Project im Jahr 2003. Ein neueres Werk über Lindisfarne ist Lindisfarne: Holy Island von Deirdre O’Sullivan und Robert Young (English Heritage, 1995).
Zwei nützliche Werke über die Zeit Alfreds und der Wikinger sind Douglas Woodruffs The Life and Times of Alfred the Great (Weidenfield and Nicolson, 1993) und Julian D. Richards’ Viking Age England (Tempus, 2000).
Zu den Biographien der Hauptprotagonisten von 1066 gehören David Bates’ William the Conqueror (Tempus, 2004) und Ian Walkers Harold: The Last Anglo-Saxon King (Sutton, 1997). Es gibt viele, aber auch widersprüchliche Quellen über die Schlacht von Hastings. Ein wertvolles Kompendium ist Stephen Morillos The Battle of Hastings: Sources and Interpretations (Boydell & Brewer, 1996), und M. K. Lawson gibt in The Battle of Hastings 1066 (Tempus, 2003) einen neuen Überblick über diese Quellen und die mit ihnen verbundenen Probleme. Die vorliegende Schilderung der Ereignisse ist wissenschaftlich fundierte Fiktion. 1066 von Franklin Hamilton alias SF-Autor Robert Silverberg (Dial Press, 1964) enthält ebenso wie Cecelia Hollands Essay in More What If (hg. von Robert Cowley, Pan, 2002) kontrafaktische Spekulationen über das Resultat.
Der »fliegende Mönch« Aethelmaer ist eine historische Figur, erwähnt in William of Malmesburys Geschichte des zwölften Jahrhunderts, Gesta Regum Anglorum (The History of the English Kings). Der Mönch Aethelred ist jedoch meine Erfindung.
Ein Problem war der Umgang mit Personen- und Ortsnamen. Die Schreibweise von Namen, die aus einer prä-alphabetischen Gesellschaft hervorgegangen sind, ist unvermeidlich variabel, und die Namen, unter denen wir die Völker dieser Periode kennen, entsprechen nicht unbedingt den Bezeichnungen, die sie sich selbst gegeben hätten. Beda zufolge haben die Briten ihre »angelsächsischen« Invasoren als »Germanen« tituliert, und ich habe diese Bezeichnung in relevanten Abschnitten übernommen. Zu Alfreds Zeit nannten die »Angelsachsen« sich »Engländer«. In Bezug auf Namen und Schreibweisen habe ich mich hauptsächlich an Stenton orientiert. Aber dies ist ein Roman, und mir lag in erster Linie redaktionelle Klarheit am Herzen.
Beachten Sie bitte, dass alle hier angegebenen Daten dem Kalender vor der im Mittelalter erfolgten Korrektur um elf Tage entsprechen. Die Schlacht von Hastings, die am 14. Oktober 1066 ausgetragen wurde, fand an »unserem« 25. Oktober statt, also eher noch später im Herbst. Jedoch lag diese Periode in der Mitte des »Mittelalterlichen Klimaoptimums« (900–1300 n. Chr.) – einer Warmzeit, die es den Wikingern ermöglichte, Grönland und Vinland zu besiedeln –, und der späte Oktober war in der Regel sicher wärmer, als wir es heutzutage erwarten würden.
Was bestimmte Orte betrifft: Zu den bemerkenswerten Stätten, die ich im Verlauf dieses Projekts besucht habe, gehören Bamburgh, Pevensey, Jarrow, Lindisfarne, Yeavering Bell und York. Im Oktober 2005 erlebte ich ein Reenactment der Schlacht von Hastings bei Battle in Sussex mit, veranstaltet von English Heritage und der Viking Society. Und wie ich schon im ersten Band dieser Reihe angemerkt habe, ist ein Besuch dieser wundervollen Orte durch nichts zu ersetzen.
Für alle Fehler und Ungenauigkeiten bin ausschließlich ich allein verantwortlich.
Stephen Baxter
Northumberland
August 2006
Es bereitete Wuffa großes Vergnügen, in der toten Stadt Fenster einzuwerfen.
Er ging durch die leeren Straßen nach Norden, die Steinschleuder in der Hand, mehrere Messer im Gürtel, und pfiff ein trauriges Lagerfeuerlied über die Kürze des Lebens vor sich hin. Es war später Nachmittag, und in der tief stehenden Sonne im Süden warfen die Trümmerhaufen lange Schatten. Es würde noch eine ganze Weile dauern, bis die Dunkelheit hereinbrach, aber der haarige Stern war schon jetzt zu sehen; sein langer Schweif zog sich wie ein Banner über den blassen Frühlingshimmel. Er erschreckte Kaninchen, Ratten, Mäuse und ein paar Vögel, die in kahlen Ruinen nach Futter pickten. Die Stadt war so alt, dass sie nicht einmal mehr einen Geruch besaß, abgesehen von dem Grünzeug, dem Unkraut und Gras, das sich seinen Weg zwischen den Pflastersteinen hindurchbahnte.
Der Komet – der haarige Stern – beunruhigte viele Menschen. Die Sachsen hatten sich stets von den alten Steinstädten fern gehalten. Hier hatten sie am Ufer des Flusses westlich der Stadtmauern eine neue Handelssiedlung errichtet. Wuffas Brüder würden es gewiss nicht riskieren, zu einer solchen Zeit Wodens Auge auf sich zu lenken, indem sie allein in den von Geistern heimgesuchten Ruinen einer uralten Stadt herumliefen. Aber Wuffa dachte pragmatisch. Die Welt war groß, und Woden würde Wichtigeres zu tun haben, als sich um einen einsamen Jungen zu kümmern, der ein bisschen Spaß haben wollte.
Wie sich herausstellte, war das ein Irrtum. Wuffas Leben sollte sich an diesem Tag von Grund auf verändern. Später fragte er sich immer wieder, ob er die Götter der Stadt oder des Himmels nicht doch verärgert hatte; vielleicht war aber auch der kalte Blick des Webers auf ihn gefallen, der Menschenleben wie Fäden auf seinem eisernen Webstuhl verwob.
Dort. Eine hohe Mauer, die nach Süden zum Fluss zeigte – der einzige Überrest eines eingestürzten Gebäudes, ein merkwürdiges Relikt, das irgendwie dem Wetter trotzte. Und im Licht der tief stehenden Sonne zeichnete sich ein goldenes Quadrat ab, ein Fenster mit einer noch unversehrten Glasscheibe, hoch oben, aber nicht außerhalb seiner Reichweite. Genau das Richtige.
Er wählte einen losen Pflasterstein und nahm seine Lederschlinge. Dann trat er vor die gezackte Mauer, schaute mit zusammengekniffenen Augen nach oben und schleuderte den Stein. Der schlug vielleicht eine halbe Armeslänge unter dem Fenster gegen die Mauer. Vögel flatterten von freiliegendem Gebälk auf. Wuffa hob einen weiteren Stein auf und versuchte es erneut. Diesmal zersplitterte das Glas mit einem leisen Klirren, das von den Mauerresten widerhallte.
Zufrieden hielt er Ausschau nach einem neuen Ziel.
Natürlich hätte er bei der Arbeit sein sollen. An diesem Tag war viel zu tun gewesen, denn eine ganze Flotte von Nordmännerschiffen war den großen Fluss heraufgefahren gekommen und hatte angelegt, um entladen zu werden. Wuffas Vater Coenred arbeitete für Aethelberht, den Oberkönig von Kent, dem die Stadt gehörte; er überwachte den spärlichen Handelsverkehr, der über die riesigen alten Gussgesteinkais am Fluss abgewickelt wurde. Von dem zwanzigjährigen Wuffa, dem zweiten Sohn von Coenreds dritter Frau, wurde erwartet, dass er das Seine dazu beitrug. Aber das Handelsgewerbe langweilte ihn. Am meisten verabscheute er den trostlosen Gestank der Sklavenpferche. Kürzlich hatten Hunderte von Sklaven verschifft werden müssen, römische Briten, die den germanischen Königen bei ihren Feldzügen im Westen und Norden in die Hände gefallen waren.
Und er brannte darauf, sich in den Kampf zu stürzen. Die Ringkämpfe mit seinen Brüdern genügten ihm nicht mehr. Es gab keinen Frieden in Britannien; da würde es nicht schwer sein, ein geeignetes Heer und einen aussichtsreichen Krieg zu finden und ein Vermögen zu machen, obwohl er dafür von zu Hause weggehen musste.
Einstweilen wollte er jedoch nur ein weiteres Fenster zerschlagen. Er bückte sich, um einen neuen Stein aufzuheben.
Dabei sah er eine Bewegung. Auf der anderen Straßenseite, hinter einer niedrigen Mauer: groß, schwer, ein Aufblitzen goldener Haare. Ohne nachzudenken, wirbelte Wuffa herum, schleuderte den Stein und hörte, wie er mit einem befriedigenden dumpfen Laut auf Fleisch klatschte.
»Au!« Der Getroffene richtete sich auf. Er trug einen Lederkittel und eine Hose und hatte einen zottigen Schopf blonder Haare. In der einen Hand hielt er einen Spaten, mit der anderen umklammerte er seine Hoden. Er sah Wuffa wütend an und kam mit großen Schritten zu ihm herüber, ein Riese mit Muskeln, die seine Ärmel spannten. Er spie Beschimpfungen in einer nordischen Sprache aus, von denen Wuffa nur zwei Worte verstand: »Blödes Arschloch!«
Wuffa war ein sächsischer Krieger, der Sohn von Coenred, und er wich keinen Fußbreit zurück. Seine Hand schwebte über dem Heft seines Sax, seines Messers mit dem Knochengriff.
Der große Nordmann blieb keine Armeslänge von Wuffa entfernt stehen. Er war ungefähr in Wuffas Alter, um die Zwanzig, und sie waren beide blond und hellhäutig und trugen ähnliche Kleidung, Lederkittel und Hose. Aber Wuffa trug sein Haar auf sächsische Art, an der Stirn kurz geschoren und lang im Nacken, während die gelbe Mähne des Nordmanns lose und zottig herabhing.
Wuffa erkannte den Mann. »Ich kenne dich«, sagte er in seiner eigenen Sprache. »Du bist von der Flotte am Kai.«
Der Nordmann spie ihm weitere Beleidigungen entgegen.
Wuffa versuchte es erneut, auf Lateinisch. »Ich kenne dich.«
Zumindest unterbrach er damit den Strom der Schimpfwörter. »Na und, Arschloch?«
Britannien war eine Insel, die von römischen Briten, Germanen und Iren bevölkert war, und vom Kontinent kamen ständig Händler herüber. Die meisten Erwachsenen konnten ein wenig Lateinisch, ein Relikt des Imperiums, die einzige gemeinsame Sprache. Dieser junge Nordmann war keine Ausnahme. Obwohl er offensichtlich das lateinische Wort für »Arschloch« nicht kannte.
»Ich bin Coenreds Sohn. Wir entladen eure Boote …«
Der Nordmann kickte einen losen Stein weg. »Und so begrüßt ihr eure Handelspartner, mit einem Steinwurf in die Eier?«
Wuffa hielt seinem Blick stand. Sie wussten beide, dass sie die Wahl hatten; sie konnten die Sache entweder im Kampf austragen oder ihre Differenzen beilegen. »Ich müsste eigentlich bei der Arbeit sein«, sagte Wuffa. »Selbst wenn du mich nicht umbringst, wird es mein Vater für dich erledigen.«
Der Nordmann lachte. Aber er warnte: »Du musst es aussprechen.«
»Na schön. Ich entschuldige mich.«
Der Nordmann grunzte. »In Ordnung. Dein mädchenhafter Wurf hat mir sowieso nicht wehgetan.«
Damit war die Sache erledigt.
»Ich bin Wuffa, Sohn von Coenred.«
Der Nordmann nickte. »Ulf, Sohn von Ulf.« Er spähte mit zusammengekniffenen Augen zu der Mauer hinauf. »Was machst du, wenn du nicht gerade auf der Jagd nach den Eiern von Nordmännern bist?«
»Fenster einwerfen«, sagte Wuffa ein wenig beschämt. Er hob seine Schleuder. »Um meine Zielgenauigkeit zu verbessern.«
»Natürlich.«
»Und du?«
Ulf zeigte ihm seinen Spaten. »Nach Münzen suchen. Manchmal vergraben die Briten ihre Schätze, weil sie hoffen, dass sie eines Tages zurückkehren werden.«
»Das tun sie aber nie.«
»Und wenn, wären sie enttäuscht, denn Ulf der Schatzsucher war schon vor ihnen da. Also, Arschloch. Willst du weiter Steine werfen wie ein Kleinkind, oder wirst du mir beim Graben helfen?«
Er hatte es mit einem Geistesverwandten zu tun, dachte Wuffa und steckte seine Schleuder ein. »Graben wir. Aber hör auf, mich ›Arschloch‹ zu nennen. Woher weißt du, wo du suchen musst? …«
Ulf hob die Hand. »Pst. Hörst du das?«
Es war Gesang, Stimmen, die sich zu einer Melodie vereinigten; hoch und klar wie der Himmel, wehte sie auf der Nachmittagsbrise herbei.
Die jungen Männer wechselten einen Blick. Sie verschoben die Schatzsuche auf später und machten sich auf den Weg durch die zerstörte Stadt, neugierig, ehrgeizig, unbeeindruckt von den monumentalen Ruinen um sie herum, in ihrer eigenen Gegenwart lebend.
Sie gingen durch die Stadt zu den Ruinen der Festung in der südöstlichen Ecke der umlaufenden Stadtmauer. Der Gesang drang aus einem massiven Steinbau mit rotem Schindeldach unweit der Mauer. Seine riesigen Holztüren standen weit offen, und das Licht der untergehenden Sonne fiel tief in die langen Gänge.
Vor den offenen Türen hatte sich eine Gruppe von Menschen versammelt, Männer, Frauen und Kinder; es mussten vier-, fünfhundert Leute sein, dachte Wuffa. Sie hatten sich zu einer lockeren Kolonne aufgereiht und gingen langsam die Straße zum Hafen hinunter. Ein Mann in farbenprächtigen Gewändern führte sie an; er trug einen spitzen Hut und hielt eine Art Hirtenstab in der Hand. Die Kolonne wurde von Gruppen von Sachsen flankiert – Krieger, offenbar zum Schutz der Pilger angeheuert. Die Sachsen unterhielten sich miteinander, kauten auf Wurzelstücken herum und musterten die hübscheren Frauen.
Die Pilger waren Briten; Wuffa erkannte es an ihrer Kleidung und ihrer Haartracht. Die Männer trugen das Haar alle kurz und waren sauber rasiert. Die Frauen hatten ihr Haar zu ordentlichen Zöpfen und Knoten geflochten. Sowohl die Männer als auch die Frauen trugen Umhänge mit ärmellosen Kitteln darunter und waren mit Armbändern, Armreifen und Halsketten geschmückt. Ein oder zwei Männer hatten sogar eine Toga angelegt, lange Stoffbahnen, die über den staubigen Boden schleiften. Aber die meisten waren reisefertig gekleidet und mit Gepäck beladen. Selbst kleine Kinder, die schon laufen konnten, trugen Bündel auf Rücken und Kopf. Sie sahen abgespannt, unglücklich, furchtsam und unsicher aus.
Höchstwahrscheinlich waren sie alle Christen. Unter ihnen befanden sich Geistliche mit Tonsuren im britischen Stil, wobei die vordere Hälfte des Kopfes von einem Ohr zum anderen kahl geschoren war, während das Haar hinten lang herabhing. Der Mann, der sie anführte, trug jedoch eine römische Tonsur mit kreisrund geschorenem Scheitel. Und auf ihrem Weg sangen die Pilger und erzeugten eine durchdringende, unirdische Musik, die zum Himmel emporstieg, wo der haarige Stern noch heller leuchtete.
Ulf beäugte das alles mit offenem Mund. »Was ist dieses große Gebäude? Ein Lagerhaus?«
»Nein, eine Kirche. Eine Kathedrale, wie sie es nennen.« Die Kathedrale war jünger als die Stadt. Man hatte sie aus wiederverwendeten Steinen erbaut; wo der Blendstein fehlte, sah man Stücke von Säulen und Statuen, die zerbrochen und als Füllung benutzt worden waren. Aber die wiederverwendeten Dachziegel waren geborsten, das Glas in den Fenstern war zerschlagen. Nichts hier war neu, dachte Wuffa; es gab nur verschiedene Altersstufen.
»Hat euer Großkönig diese Kirche erbaut?«, fragte Ulf.
»Nein, Aethelberhts Kirche ist dort.« Wuffa zeigte nach Norden.
»Wozu braucht ihr zwei Kirchen?«
»Der König ist ein Anhänger des römischen Christentums. Augustins Bischöfe haben ihn bekehrt. Diese Kirche ist von britischen Christen errichtet worden.«
Ulf dachte darüber nach. »Das verwirrt mich noch mehr.«
»Die Fußgänger sind alle britische Christen. Glaube ich. Ihr Anführer ist ein Römer, ein Bischof.«
»Und warum folgen sie ihm, wenn er keiner der Ihren ist?«
»Ich …« Wuffa breitete die Hände aus. Er wusste so gut wie nichts über die Christen. Er beobachtete ihr Verhalten nur von außen, als wären sie exotische Vögel. »Sie gehen endgültig weg. So was passiert ständig. Schau.« Wuffa zeigte hin. »Siehst du den Schmuck? Sie tragen ihre Reichtümer am Körper. Das sind die Leute, die deine Münzschätze vergraben. Ihre Kirche organisiert die Flucht.«
»Wohin wollen sie?«
»Vielleicht nach Westen, oder übers Meer nach Gallien.«
»Weg von euch Sachsen.«
Wuffa grinste. »Weg von uns, ja.«
»Wenn sie all diese Reichtümer so offen zur Schau tragen, sind sie leichte Beute.«
Sie wechselten einen weiteren Blick. Aber dann wandten sie sich ab, ohne den Gedanken zu Ende zu führen. Offenbar war keiner von ihnen ein geborener Dieb, dachte Wuffa.
Mitten auf der Straße brannte ein Feuer, und die Hymnensänger mussten ausweichen, um daran vorbeizukommen. Zwei Sachsen plünderten gerade ein verlassenes Haus; sie waren von gröberem Schlag als die angeheuerten Krieger, welche die Flüchtlinge begleiteten. Die Plünderer hatten offenkundig nicht viel Glück. Sie warfen alte Kleider und zerbrochene Möbelstücke aus dem Haus und ins Feuer – und Bücher, aufgerollte Pergamentrollen, abgeschabtes Leder und Haufen hölzerner Täfelchen, die sich kräuselten und knackten, während sie schwarz wurden. Die meisten Pilger gingen mit abgewandtem Blick an dieser Szenerie vorbei.
Doch ein alter Mann, dem die Toga um den knochigen Körper flatterte, löste sich aus der Kolonne und versuchte, den Sachsen die Bücher abzunehmen. Sein Geschrei war eine holprige Mischung aus Britisch und Latein: »Oh, ihr heidnischen Rohlinge, ihr analphabetischen Barbaren, müsst ihr auch noch unsere Bücher vernichten?« Eine junge Frau rief ihn zurück, aber Freunde hielten sie fest.
Die beiden Plünderer sahen den zeternden Alten verdutzt an. Dann beschlossen sie, sich einen kleinen Spaß zu gönnen. Sie schubsten den Alten, sodass er auf den staubigen Boden fiel, hoben ihn dann an seinen dürren Armen und Beinen hoch und streckten ihn wie ein Schwein am Spieß. Die schmutzige Toga fiel in Stoffschlingen vom Körper des alten Mannes und gab den Blick auf einen schmuddeligen Kittel und eine Art Lendenschurz frei.
Die junge Frau brüllte die angeheuerten Krieger an, etwas zu unternehmen, aber die zuckten nur die Achseln. Der Alte hatte die Plünderer provoziert; es war seine eigene Sache. Selbst der Bischof marschierte weiter, aus voller Kehle seine Hymnen singend, als wäre nichts geschehen.
Jetzt hoben die Plünderer den Alten hoch und hielten ihn übers Feuer. Die Flammen der brennenden Bücher züngelten zu dem losen Togastoff hinauf, und die Schreie des alten Mannes verwandelten sich in schmerzerfülltes Gewimmer.
Wuffa warf Ulf einen Blick zu. »Sie werden ihn töten.«
»Das geht uns nichts an«, sagte Ulf.
»Du hast recht.«
»Ich nehme den linken. Wenn du dir den Alten greifen kannst …«
»Auf geht’s.«
Die beiden stürmten auf die Plünderer los. Ulf senkte seine massigen Schultern und rannte in den Mann zur Linken hinein. Der Alte wäre in die Flammen gefallen, aber Wuffa sprang übers Feuer, fing ihn mit beiden Armen auf und ließ ihn zu Boden gleiten. Wuffa wusste, dass der zweite Plünderer im Nu über ihm sein würde, darum ballte er die Faust und schwang sie noch in der Drehung herum. Knöchel krachten mit einem dumpfen Schlag, bei dem Wuffas ganzer Arm schmerzte, gegen Schädelknochen, und der Mann stürzte der Länge nach hin.
Wuffa setzte sich auf ihn, zog ein Messer aus seinem Gürtel und drückte es dem Sachsen an den Hals. Der benommene, wütende Plünderer war schwerer und stärker als er. Doch als Wuffa ihm den Hals mit der Klinge ritzte, ergab er sich und sank keuchend wieder zu Boden.
Wuffa schaute zu Ulf hinüber. Der große Nordmann hatte seinen Gegner mit dem Gesicht zu Boden gedrückt und schlug ihm mit der Faust immer wieder auf den Hinterkopf.
»Ich glaube, du hast deinen Standpunkt klar gemacht«, rief Wuffa.
Ulf hielt schwer atmend inne; seine Faust blieb in der Luft stehen. »Na schön.«
Mit einer geschmeidigen Bewegung rollte sich Wuffa vom Oberkörper des Plünderers herab und kam auf die Beine. Der offenkundig benommene Mann rappelte sich auf, ging zu seinem Gefährten hinüber und schleifte ihn weg. Wuffa wischte das Blut des Sachsen von seinem Messer und steckte es wieder in den Gürtel. Sein Herz pumpte; in solchen Augenblicken fühlte er sich so lebendig wie nie.
Inmitten dieser Aufwallung von Blut und Triumph begegnete er Sulpicia zum ersten Mal.
»Oh, Vater, du hättest getötet werden können!«
Der alte Mann atmete schwer, war jedoch nicht ernsthaft verletzt. Er versuchte sich aufzusetzen, während seine Tochter die Falten der Toga um seine dünnen Beine zurechtzog.
Nachdem der Kampf nun vorbei war und keine Gefahr mehr bestand, kam der Bischof mit seinem hohen Hut und seinen leuchtenden Gewändern herbei. »Orosius! Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja, Ammanius. Aber ich komme mir vor wie ein Narr, wie ein richtiger Narr.«
Der Bischof – Ammanius – legte seinen Hirtenstab weg und half dem Alten, sich aufzusetzen. »Ich würde dich nie einen Narren schimpfen, tapferer Orosius. Doch es gibt viele Bücher in Armorica und nur einen wie dich, alter Freund.«
»Aber ich konnte einfach nicht mit ansehen, wie diese heidnischen Rohlinge die Bibliothek derart verwüsteten.«
»Sie werden nie wissen, was sie vernichtet haben«, sagte Ammanius. »Wir sollten sie bemitleiden, nicht verachten.«
Ammanius warf Wuffa und Ulf einen raschen Blick zu. Wuffa sah, wie der Blick des Bischofs über Ulfs muskulöse Beine wanderte. Ammanius war vielleicht vierzig Jahre alt. Sauber rasiert wie seine britischen Schützlinge, besaß er ein volles, wohlgenährtes Gesicht, eine so glatte Haut, dass sie geölt wirkte, und Augenbrauen, die möglicherweise ausgezupft waren. Sein Latein hatte einen starken Akzent. Vielleicht kam er vom Kontinent.
»Und es scheint«, sagte Ammanius zu Orosius, »dass du zwei anderen ›heidnischen Rohlingen‹ dein Leben verdankst.«
»Ja, ich danke euch beiden«, sagte die Tochter atemlos.
Ihre Augen waren groß. Sie mochte etwa zwanzig Jahre alt sein; ihr Gesicht war von Sorgen gezeichnet, aber sie war auf eine dunkle, britische Art hübsch, fand Wuffa.
»Beherrscht ihr die lateinische Sprache?«, fragte Ammanius.
»Wir sprechen sie«, sagte Ulf wachsam.
»Dann versteht ihr, was man zu euch sagt. Der alte Orosius ist dankbar, dass ihr euch eingemischt habt …«
Der alte Mann hustete und ergriff das Wort. »Leg mir keine Worte in den Mund, Bischof.« Er musterte die jungen Männer von oben bis unten. »Innerhalb der Stadtmauern trägt man keine Waffen. Das ist ein Stadtgesetz.«
Wuffa runzelte die Stirn. »Nicht unter König Aethelberht.«
»Die Autorität eines heidnischen Königs erkenne ich nicht an.«
Die Tochter seufzte.
»Nehmt es ihm nicht übel«, versuchte Ammanius Wuffa zu besänftigen. »Es ist ein schwerer Tag für Orosius. Diese Leute verlassen ihre Heimat – die Stadt, die ihre Vorfahren vor Jahrhunderten erbaut haben. Aber ihr interessiert euch wenig für Geschichte, ihr Sachsen, nicht wahr?«
»Ich bin Sachse«, sagte Wuffa. »Er ist Nordmann, ein Däne. Sein Name ist Ulf. Ich bin Wuffa.«
Das Mädchen sah ihn an. Ihre braunen Augen waren klar. »Und ich bin Sulpicia.«
»In meiner Sprache bedeutet mein Name ›Wolf‹.« Wuffa grinste und zeigte seine Zähne.
Kühl erwiderte sie seinen Blick. Dann beugte sie sich über ihren Vater. »Bischof Ammanius, diese beiden, Ulf und Wuffa, haben meinen Vater gerettet. Während wir weggeschaut haben. Aber sie sind Heiden. Ist das nicht ein Beweis dafür, dass alle Seelen durch Jesu Licht erlöst werden können?«
Ammanius schaute Wuffa in die Augen. »Hast du wirklich Güte in dir, mein Junge? Und dein nordischer Freund auch?«
Wuffa trat einen Schritt zurück und hob die Hände. »Ich bin nicht darauf aus, zu eurem toten Gott bekehrt zu werden, Bischof.«
»Nein? Aber viele von deiner Sorte kommen zu Christus. Deshalb hat Augustin uns hierher geführt. Ihr Sachsen seid leicht zu bekehren, ihr seid so ein trübsinniger Haufen! Eure Lieder sind eine endlose Leier des Verlusts. Du weißt es nicht, aber deine germanische Seele sehnt sich nach dem Licht der Ewigkeit, Wuffa.«
Ulf lachte. »Die Ewigkeit kann warten.«
»Heiden hin oder her«, sagte Sulpicia, »diese beiden haben sich heute als erheblich nützlicher erwiesen als die Söldner, die wir zu unserem Schutz angeheuert haben.«
»Nun ja, das stimmt.« Der Bischof strich sich über die lange Nase. »Vielleicht sind sie zu gebrauchen.«
Ulf und Wuffa wechselten einen Blick. Womöglich bot sich ihnen hier eine Gelegenheit. »Was soll das heißen?« , fragte Ulf.
Ammanius deutete auf seine Pilgerschar. »Ist euch klar, was hier geschieht? Ich führe diese Leute zu Schiffen, die sie flussabwärts zum Hafen von Rutupiae bringen – bei euch heißt der Ort Reptacaestir, vielleicht kennt ihr ihn. Von dort fahren sie übers Meer nach Armorica. Aber ich werde sie nicht begleiten. Mein Erzbischof hat mir einen anderen Auftrag erteilt. Ich muss in den hohen Norden dieser heruntergekommenen Insel. Dort soll ich eine Prophezeiung suchen, die angeblich viele hundert Jahre alt ist und von einer gewissen Isolde stammt …«
Die römische Kirche versuchte, ihr britisches Gegenstück zu assimilieren. Ein Element ihrer Strategie bestand darin, alle bewahrenswerten britischen Heiligen, Reliquien und mit religiöser Bedeutung aufgeladenen Dinge zu übernehmen. Zu den Kandidaten gehörte auch eine seltsame Prophezeiung der fernen Zukunft, die diese »Isolde« angeblich vor Jahrhunderten von sich gegeben hatte.
»Sie wird von jemandem bewacht, den man den ›letzten Römer‹ nennt«, sagte Ammanius. Dieser Ausdruck faszinierte Wuffa. »Es wird eine lange und gefährliche Reise werden. Da brauche ich Begleiter, auf die ich mich verlassen kann. Ihr beiden habt eine heidnische Seele, und dennoch habt ihr heute aus freien Stücken das Leben eines alten Mannes gerettet, den ihr noch nie gesehen habt. Vielleicht besitzt ihr die Eigenschaften, die ich suche. Was meint ihr – wollt ihr mit mir kommen? Natürlich bezahle ich euch dafür.«
Wuffa würde mit seinem Vater sprechen müssen. Aber Ulf grinste ihn an. Solch ein exotisches Abenteuer konnte man sich kaum entgehen lassen.
Ammanius hob seinen Stab auf. »Wenn ihr Interesse habt, treffen wir uns in sieben Tagen in Reptacaestir.«
Sulpicia half ihrem grummelnden Vater auf die Beine. »Welch ein Abenteuer«, sagte sie sehnsüchtig. »Ich wünschte, ich könnte euch begleiten!«
Ulf ergriff die Gelegenheit beim Schopf. »Dann komm doch mit.«
Das schien sie durcheinanderzubringen. »Ich kann nicht. Mein Vater …«
»Tu etwas für dich, nicht für ihn«, sagte Ulf. »Du wirst uns schon finden.« Und er drehte sich zu Wuffa um, ohne ihr weitere Einwände zu gestatten.
»Das wird vielleicht eine Reise werden«, meinte Wuffa. »Banditen auf der Straße, der Bischof, der hinter unserer Seele her ist …«
»Und die reizende Sulpicia, die dir an den Hintern fasst! Ich habe gesehen, wie sie dich angeschaut hat, Wolfsjunge.«
Der alte Mann, Orosius, rief ihnen nach: »Wisst ihr überhaupt, wie die Stadt heißt, die eure Leute ausplündern, ihr Barbaren? Wisst ihr, wo ihr hier seid?«
Wuffa schaute sich um. »Dies ist Lunden. Na und? Wen interessiert’s?«
Der alte Brite, den sie gerettet hatten, schimpfte laut weiter, aber die jungen Männer gingen davon.
Am letzten Tag vor Wuffas Aufbruch nach Reptacaestir kam ein Skop, ein wandernder Dichter, in sein Heimatdorf. Coenred hieß den abgerissenen Wanderer willkommen, bewirtete ihn mit Fleisch und Bier und befahl dem kostbaren einzigen Sklaven des Dorfes, für sein Wohlergehen zu sorgen.
Das Dorf selbst war heimelig, ein dicht gedrängter Haufen von Pfostenhäusern, aus deren Strohdächern Rauch emporstieg. Zum Fauchen des Blasebalgs aus der Schmiede gingen die Leute ihren täglichen Aufgaben nach, unterhielten sich in ernstem Ton über geschäftliche Angelegenheiten und liefen hinter Kindern und Hühnern her. Die massiveren Häuser besaßen mit Schnitzereien verzierte Türpfosten, die aus dem alten Land übers Meer hierher gebracht worden waren, eine Erinnerung an die Heimat. Um die Hallen herum standen primitivere Hütten mit tiefer liegenden Böden, Werkstätten, in denen Tuch gewoben, Eisen bearbeitet oder Zimmermannstätigkeiten ausgeführt wurden, und dahinter lagen die Pferche für die Hühner, Schafe und Schweine. Es gab keine Straßenplanung, wie Wuffa sie in den Ruinen von Lunden gesehen hatte; die Häuser wuchsen, wo sie wollten, wie Pilze.
Das Dorf von Coenred und seiner Sippe war eine von Hunderten solcher Ansiedlungen, die sich in einen großen Gürtel um Lundens Mauern zogen. Durch die alten Hafenanlagen und den neuen Handelsbezirk namens Lundenwic strömten immer noch genug Reichtümer herein, um Lunden für Aethelberht und seine Unterkönige wertvoll zu machen. Dazu kam das Ansehen, den riesigen Kadaver der ehemals wertvollsten Stadt in Britannien zu besitzen. Lunden zog die Menschen an; sie wollten hier leben und arbeiten.
Als der Abend nahte, füllte sich die größte Halle des Dorfes. Ein Feuer loderte im Kamin, und die Menschen versammelten sich auf Bänken und aufgeschüttetem Stroh; im Feuerschein glänzten ihre Gesichter wie römische Münzen. Viele hatten sich anlässlich des Skop-Besuchs besonders herausgeputzt und trugen saubere, bunte, mit Fibeln verzierte Kleider, dazu Halsketten aus Bernstein und Stücken alten römischen Glases sowie silberne Fingerringe. Die Männer hatten ihre Saxe an der Hüfte, jene Messer mit dem Knochengriff, die dem Volk seinen Namen gaben. Viele der Älteren bogen und streckten arthritische Finger und Gelenke. Mit seinen vierundvierzig Jahren war Coenred einer der ältesten.
Wuffa war mit fast jedem der Anwesenden verwandt; dies war seine Familie.
Das Bier kreiste, und die Stimmung heiterte sich auf; hier und dort war Gelächter zu vernehmen. Schließlich erhob sich der Skop mit seiner traditionellen Aufforderung: »Hört mich an!« Er wirkte ein bisschen unsicher auf den Beinen, doch als er sprach, war seine Stimme kräftig und klangvoll. »Hört mich an, ihr Götter! Sehnsucht und Reue drücken mich nieder. Ich erwache in nebelschwangerer Luft und bestelle den Boden eines trostlosen Landes. Denn ich bin meinem Herrn übers Meer gefolgt, und meine Heimat ist weit entfernt. Die Felder meiner Väter versinken im Meer. Meine Kinder verkümmern in trübem Dunkel. Denn ich bin meinem Herrn übers Meer gefolgt, und meine Heimat ist weit entfernt …« Während er sich in sein Thema hineinsteigerte, ein typisch sächsisches Klagelied von Verlust und Reue, stimmten die Erwachsenen, die sanft zu den Rhythmen seiner Rede schunkelten, in den Kehrreim ein.
Dieser Bischof hatte recht, dachte Wuffa. Die Sachsen waren ein trübsinniger Haufen. Dann begann das Bier auch bei ihm seine Wirkung zu tun, und seine Gedanken wurden milder. Er ließ sich von der tröstlichen, düsteren Stimmung in der Halle erfassen, murmelte zusammen mit den anderen Männern den traurigen Kehrreim des Skops und träumte von den blassen Schenkeln des britischen Mädchens, Sulpicia.
Als die Nacht hereinbrach, kam das unheimliche Weiß des Kometen zum Vorschein wie Gebein nach dem Verwesen des Fleisches, und sein unirdisches Licht drang in die Wärme der Halle.