Jürgen Todenhöfer
Du sollst nicht töten
Mein Traum vom Frieden
C. Bertelsmann
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1. Auflage
© 2013 by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: buxdesign, München
Die Fotos im Bildteil stammen, sofern nicht anders angegeben,
von Julia Leeb, Frédéric Todenhöfer
und Belal El-Mogaddedi.
Die Rechte liegen beim Autor.
Karten: Peter Palm, Berlin
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-12036-8
V002
www.cbertelsmann.de
Wir haben die Sklaverei, die Hexenverbrennung, den Kolonialismus, den Rassismus und die Apartheid überwunden. Wenn es uns gelingt, auch noch den Krieg zu ächten, hat die Menschheit einen großen Schritt nach vorne getan.
Jürgen Todenhöfer
Ist es dir nie rätselhaft vorgekommen, dass es boshaft ist, einen Menschen zu töten, aber ruhmreich, zehntausend zu töten?
Lewis Fry Richardson im sokratischen
Dialog mit Shakespeares Portia
Für
Abdul Latif
Über sieben Monate war ich 2011 bis 2013 im Mittleren Osten unterwegs. Da ich ahnte, dass es zu großen Umwälzungen kommen könnte, nahm ich stets Zeugen mit. Julia, Frédéric, Belal und Khaled. Manchmal waren wir zu zweit, manchmal zu viert.
Meine Begleiter führten jeden Tag Protokoll. Oft bis tief in die Nacht hinein. Und sie fotografierten, so viel sie konnten. Von manchen Reisen besitze ich drei Protokolle sowie meine persönlichen Notizen. Mir war wichtig, alles, was ich erlebte, belegen zu können. Eine innere Stimme sagte mir, dass vieles bestritten würde. Wie gut, dass ich auf sie gehört habe.
Beim Schreiben des Buches habe ich von den Niederschriften meiner Begleiter kräftig profitiert. Dafür danke ich meinen Weggefährten. Vor allem aber danke ich ihnen dafür, dass sie unendlich viel riskiert haben, um diese Beschreibung von Krieg, Bürgerkrieg und Revolution aus nächster Nähe zu ermöglichen. Abdul Latif hat dafür sein Leben gegeben.
Inhalt
Prolog
Die Fahrt nach Brega
Der Angriff
I.
Am Ende bleiben nur Tränen
Frühe Begegnungen mit dem Krieg
Die Zerstörung Hanaus
Abrechnung in Algier
Die Krise von Bizerta
Das Massaker von Wiriyamu
Die Sowjets in Afghanistan
Der Tod des Mudschahid
Die Krankenhäuser Pakistans
Spielzeugbomben
Die Kriege des George W. Bush
Terrorzuchtprogramme
Kriegslügen zu Afghanistan
Die Trauerfeier von Asisabad
Spoghmai und Esmatullah
Das Treffen mit den Taliban
Die Tat des Oberst Klein
Irrfahrt nach Bagdad
Manal
Marwa
Dschamal
Unsinnige Aktionen gegen unsinnige Kriege?
Die Kinder von Kunduz
Karsai und der Taliban-Führer
Das Haus der Hoffnung
II.
Droge Krieg
Kriegslust
Die Vergewaltigung der Sprache
Die Dämonisierung des Gegners
Feindbild Islam
Die edlen Vorwände
Kriegsruhm
Die Freude am Töten
Jack und das »schöne Töten«
Das Märchen vom anständigen Krieg
Gibt es »gerechte« Kriege?
Süßigkeiten statt Bomben
El-Alamein
III.
Der Aufbruchversuch
der arabischen Welt
Schicksalstage in Kairo
Revolutionäre Tage in Libyen
IV.
Sonderfall Syrien
Wo, bitte, geht es hier zur Revolution?
Daraa, die verbotene Stadt
Die Festnahme
Das Freitagsgebet in der Umayyaden-Moschee
Tanaya, das Straßenmädchen aus Bagdad
Hohn in Deutschland
Auf der Suche nach der Wahrheit
Staatsfeind
Demonstrationen für Assad?
Maaloula – ein aramäisches Märchen
Im Taxi nach Homs und Hama
Scheherazad
Die Gefangenen von Damaskus
Der Marxist Al-Khayyer
In Jeans zu Assad
Assads Feinde, Assads Freunde
Der Großmufti
Zur Freitagsdemo nach Homs
Die Toten von Al-Dschasira
Im Kreuzfeuer
Der Informations-GAU
Massaker-Marketing
»Osama im Laden«
Audiatur et altera pars
Die Zivilcourage eines jungen Journalisten
Gegen den Strom
E-Mails an Scheherazad
Die Schreibtischstrategen schlagen zurück
INTERMEZZO
ZWISCHEN ZWEI REISEN
Die Fahrt nach Gaza
Der Jahrestag der ägyptischen Revolution
V.
Die syrische Tragödie
Syrien mit Frédéric
Der Rebell von Baba Amr
Die Krankenhäuser von Damaskus
Der Patriarch
Sinan, der Rebell von Homs
Die Todesstraße nach Damaskus
»Gebt einander ein Zeichen des Friedens!«
Das Interview mit Assad
Der schroffe Empfang
Fußball-Europameisterschaft in Damaskus
Die Scharfschützen des Regimes
Wenn Demonstranten töten
Ahmad aus Hula
Vorgespräch mit Assad
Das Interview
Der Abend mit Al-Qaida
Skypen mit Rebellen aus Homs
Der syrische Knoten
Das Kidnapping einer Revolution
Die Gnadenlosigkeit beider Seiten
Die Unwahrheiten des Westens in einer Nussschale
Die Legende vom Kampf um Demokratie
Die Aufgabe der USA
Assad oder Al-Qaida
Der Siegeszug Al-Nusras
Verhandlungen mit den USA?
Gedanken zum Frieden …
… zum Tod
… und zum Rücktritt
VI.
Eine andere Sicht auf Iran
Iran, Israel und die Juden
Die Holocaust-Rede in Teheran
Bei den Ayatollahs von Ghom
Der nukleare Wahnsinn
Amerikanisch-iranische Sprachlosigkeit
Die Reise zum US-Geheimdienst
Die starken Nerven des Botschafters
Mein jüdischer Freund in Teheran
Im »Großen Basar«
Die Heimat Khomeinis
Traumstadt Isfahan
Will Iran die Bombe?
Schabbat in Teheran
Im Uralt-Reaktor von Teheran
Die Witwe des Atomforschers
Hochzeiten in Teheran
Epilog
Das libysche Drama
Die Flucht
Der Marsch durch die Wüste
Rettung?
Der Tag danach
Passlos in Kairo
Die Heimreise
Die Rückkehr zur Familie des Freundes
Der Bericht des Bruders
Die libysche Mama
Das Kriegsvideo des Gaddafi-Kämpfers
Intervenieren – ja oder nein?
Der Friedhof der Panzer
Die Gefangenen von Bengasi
Der kleine Held
Das Festmahl
Die Augen Abdul Latifs
Der Fall von Tripolis
Die Nacht mit Gaddafis Berater
Aimans Raserei
Endlich Tripolis
Die Plünderer von Bab Al-Aziziya
Gaddafis Luxus-Jet
Die Wüsten-Nonne
Die Blitzbefreiung
Die Freiheitsfeier
Die Verlierer der Revolution
Gaddafis Tod
Rückkehr ins Tal der Flammen
Orts- und Sachregister
Personenregister
BILDTEIL
Ägypten
Gaza
Syrien
Irak
Iran
Afghanistan
Libyen
Prolog
Die Fahrt nach Brega
Montag, 14. März 2011, 14 Uhr.
Auf einer Wüstenstraße fahren wir in unserem silbergrauen Hyundai Richtung Brega. Wir – das sind mein 54-jähriger libyscher Gastgeber Abdul Latif, der 21-jährige dunkelhäutige Libyer Yussuf, die 30-jährige deutsche Videojournalistin Julia Leeb und ich. Unser Ziel ist die kleine libysche Ölstadt Brega. Sie liegt rund 200 Kilometer südwestlich von Bengasi. In Bengasi hatte vor vier Wochen die Revolution begonnen. Drei Tage später hatten Gaddafis Truppen die Stadt verlassen und sich Richtung Brega zurückgezogen. Jetzt ist angeblich auch Brega befreit.
Die Farbe des Himmels hebt sich kaum vom Grau der Wüste ab. Immer wieder wirbelt der Wind die Sandkörner meterhoch auf und peitscht sie gegen die Windschutzscheibe. Die Landschaft wirkt unwirtlich, abweisend. Nirgendwo ein Zeichen von Leben.
Doch die Stimmung im Auto ist fast überschwänglich. Wo Abdul Latif ist, herrscht gute Laune. Seine Herzlichkeit verzaubert alle Menschen. Seit er vor drei Tagen im regnerischen Tobruk sein Haupt mit den wallend weißen Haaren lachend durch das Fenster unseres Autos steckte, nenne ich ihn »my smiling hero – meinen lächelnden Helden«. Ich hatte ganz vergessen, dass es so positive Menschen gibt.
Heute ist für Abdul Latif ein besonderer Tag. Er ist nicht nur berauscht vom Hochgefühl der arabischen Revolution. Er freut sich auch spitzbübisch, dass er den Rebellenführer der Region Adschdabiya/Brega, General Suleiman Mahmoud, überlistet hat. Der kahlköpfige Mann mit dem grauen Bismarck-Schnauzer hatte Julia und mir einen langen Vortrag über Clausewitz und Rommel gehalten. Als er erfuhr, dass ich Rommels Sohn mehrfach getroffen hatte, leuchteten seine Augen. Doch dann erklärte er umso entschiedener, eine Weiterfahrt nach Brega komme nicht infrage. Da sei gestern noch gekämpft worden. Menschen, die die Rommel-Familie persönlich kannten, seien für solche Abenteuer »viel zu wertvoll«. Er war stolz auf diese merkwürdige Begründung.
Für mich war die Fahrt nach Brega damit erledigt. Ernüchtert waren wir in Abdul Latifs Auto gestiegen und hatten von der Entscheidung des Clausewitz-Generals berichtet. Als Abdul Latif unsere Enttäuschung sah, blitzten seine Augen schalkhaft.
Er wusste längst, wie er uns nach Brega bringen würde. Während er auf uns gewartet hatte, hatte ihn Yussuf, ein junger Libyer, gefragt, ob er nach Brega mitkommen könne. Er habe dort Familie. Er wisse einen Schleichweg durch die Wüste. Sicherheitshalber hatte Yussuf auch noch bei seiner Familie angerufen. Sie hatte bestätigt, dass die Ölstadt frei sei. Das Gleiche hatte ein langes Telefonat Abdul Latifs mit einem seiner besten Freunde in Brega ergeben.
Die Truppen Gaddafis, die die Stadt tagelang besetzt hatten, waren demnach abgezogen. Wir würden die Möglichkeit erhalten, mit Libyern zu sprechen, die die Besetzung erlebt hatten. Die schildern konnten, ob die Berichte der Medien über Massenerschießungen und Massenvergewaltigungen zutrafen. Die darlegen konnten, was Dichtung und Wahrheit war. Abdul Latif weiß, dass es genau das ist, was ich herausfinden will.
»Sie wissen doch, uns hält niemand auf«, lacht er. Dann singt er mit seiner rauchigen Stimme nicht ganz notenrein: »Yes, with a little help from my friends.« »Beatles«, sage ich. »Nein, Joe Cocker«, schmunzelt er. Er liebt Joe Cocker, Pink Floyd und Tangerine Dream.
Ein Sandsturm kommt auf. Abdul Latif lehnt sich weit nach vorn, um die Piste nicht zu verfehlen. Trotzdem kommen wir immer wieder vom Weg ab und rattern durch holpriges Wüstengelände. Der Sturm legt sich, aber es bleibt düster. Yussuf fotografiert unablässig mit seinem Handy, obwohl kaum etwas zu sehen ist. Am liebsten macht er Aufnahmen von Julia.
Plötzlich tauchen wie aus dem Nichts in der Ferne drei dunkle Punkte auf. Flimmernd nähern sie sich, werden größer, bedrohlicher. Da sie aus dem Gegenlicht kommen, können wir nicht erkennen, ob es Schützenpanzer oder mit Artillerie ausgestattete Pritschenwagen sind. Langsam, ihre Scheinwerfer auf- und abblendend, kommen sie auf uns zu. Im Irakkrieg hatten entgegenkommende blinkende Fahrzeuge immer höchste Gefahr bedeutet. Ihr Signal hieß: »Sofort Weg freimachen!« Wer nicht schnell genug reagierte, wurde weggeschossen. In den Hauptkampfjahren 2004 bis 2007 waren die Autobahnen des Irak gesäumt von ausgebrannten Fahrzeugen, deren Fahrer das zu spät verstanden hatten.
Abdul Latif fährt sofort an den Rand der Piste und stellt den Motor ab. Atemlos warten wir ab. Selbst als die düsteren Fahrzeuge sich bis auf 50 Meter genähert haben, sehen wir nur, dass es sich um Pickups, um Pritschenwagen, handelt. Ob sie Gaddafi-Kämpfer oder Rebellen transportieren, können wir nicht feststellen. Ihre Geschütze sind auf uns gerichtet.
Yussuf ist grau um die Nase, die tapfer filmende Julia bleich. »Freund oder Feind?«, frage ich Abdul Latif leise. Auch er weiß es nicht. Soldaten und Aufständische sehen hier meist gleich aus. Doch plötzlich reißt Abdul Latif die Senussi-Flagge der Rebellen hoch und hält sie gegen die Windschutzscheibe. An irgendetwas muss er erkannt haben, dass es Rebellenfahrzeuge sind. Die Aufständischen veranlasst das nicht, die Richtung ihrer Geschütze zu ändern. Sie schauen uns finster an. Wenige Meter vor uns halten sie.
Abdul Latif greift zu seiner Geheimwaffe, meinem ins Arabische übersetzten Buch Warum tötest du, Zaid?. Es hat uns in den drei Tagen, die wir in Libyen sind, schon mehrere Türen geöffnet. Ein Deutscher, der ein Buch in arabischer Sprache veröffentlicht, kann kein Feind sein, dachten die meisten. Wenn uns jemand mit Misstrauen begegnete, hatte Abdul Latif blitzschnell das Buch hervorgezogen und daraus vorgelesen. Selbst Mustafa Abd Al-Dschalil, der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrats, war einer Lesung nicht entkommen. Zehn Minuten lang musste sich das frischgebackene Oberhaupt des freien Libyen in der Rebellenstadt Al-Baida Auszüge aus dem Zaid anhören. Vor allem jene, die Libyen betrafen.
Unsere Wüstenrebellen sehen allerdings wie eine Räuberbande aus, die nur selten Bücher in die Hand nimmt. Doch Abdul Latif kennt kein Erbarmen. Noch während sie ihm ihre Waffen vor die Nase halten, beginnt er seinen Vortrag. Dabei deutet er mehrfach fast theatralisch auf mich. Unerschrocken kämpft seine Stimme gegen den heulenden Wind an, der fast zum Orkan angeschwollen ist. Staunend schauen die Kämpfer zu, wie Abdul Latif, einem Wüstenprediger gleich, mit ausladenden Gesten aus meinem Buch vorliest. Die Szenerie ist skurril.
Abdul Latif ist von seinem Vortrag selbst so mitgerissen, dass er auf Englisch schließt: »Die Russen und die Amerikaner haben uns nicht aufgehalten. Ihr werdet das jetzt auch nicht tun.« Dann lacht er sein herzliches Lachen, dem noch niemand widerstanden hat.
Sein Vortrag mitten in der Wüste ist so spektakulär, dass einige der Rebellen Beifall klatschen. Einer will mir gleich seine Kalaschnikow schenken. Aber ich lehne dankend ab. Auch weil Julia filmt. »Meine Waffe ist die Feder«, sage ich und bin froh, dass der Wind die pathetischen Worte gleich wieder fortträgt. Eine Diskussion über die Revolution beginnt. Dann bekommen wir alle eine Dose Maracujasaft. Dankbar trinken wir das süße Zeug. Es ist das erste Getränk seit heute morgen.
In der Zwischenzeit werden wir von zwei weißen Pkws überholt. Seine Insassen, darunter ein Kleinkind, winken uns fröhlich zu. Sie haben Gepäck auf dem Dach und wollen offenbar auch nach Brega. Wir nehmen nun die Warnungen der Rebellen nicht mehr ganz so ernst. Wenn Familien mit Kindern durchkommen, schaffen wir das auch.
Nach herzlichen Umarmungen und dem unvermeidlichen Siegeszeichen geht es weiter. Die Rebellen hätten uns am liebsten eskortiert. Aber das haben wir überall abgelehnt. Auch in Brega wollen wir nicht mit bewaffneter Begleitung einfahren.
Abdul Latif gibt uns Datteln. Er selbst isst nur eine, weil er Diabetiker ist. Er erzählt uns, dass die Beduinen den Kern der letzten Dattel stets im Mund behalten. Er rege den Speichelfluss an und vermindere den Durst. In der Wüste könne das lebenswichtig sein.
Es gibt einen weiteren Grund, warum Abdul Latif heute so guter Stimmung ist. Er hatte frühmorgens einen Brief an Abd Al-Dschalil entworfen, in dem er aufzeigte, wie man eine NATO-Intervention noch vermeiden könne.
Wir haben über diese Frage in den letzten Tagen stundenlang diskutiert. Abdul Latif ist wie ich der Auffassung, dass eine Verhandlungslösung noch immer möglich ist. Die Alternative zur militärischen Intervention sei eine diplomatische Offensive. Ban Ki-moon, der sich bisher meist nur als Angsthase profiliert habe, müsse in Begleitung von Blauhelmen sofort nach Bengasi – als persönlicher Garant für die Sicherheit der Bevölkerung. Sarkozy und Berlusconi, die bekanntlich gute Freunde Gaddafis seien, müssten gleichzeitig zu Gesprächen nach Tripolis. Gaddafi werde sich diesen Verhandlungen nicht entziehen. Der persönliche Kontakt zu den Führern des Westens sei ihm stets wichtig gewesen.
Gleichzeitig sollten die arabischen Staaten demonstrativ die Lieferung einer eng begrenzten, symbolischen Zahl von Flugabwehrraketen an die Rebellen vorbereiten, um Gaddafi von Luftangriffen abzuschrecken. Parallel solle die UNO vor Bengasi und Tripolis Flottenverbände aufkreuzen lassen und eine wirksame Drohkulisse aufbauen.
Morgen will Abdul Latifs Sohn diesen Brief dem Revolutionsführer überbringen. Am Tag danach will Abdul Latif noch einmal zu ihm fahren. Gemeinsam mit mir. Er glaubt fest, dass wir ihn umstimmen können. Diplomatie und Abschreckung seien sinnvoller als Militärschläge der NATO.
Eine Befreiung Libyens durch die früheren Kolonialmächte hält er für absurd. Die Tunesier und Ägypter hätten ihre Revolutionen auch ohne die NATO geschafft. In Libyen sei bereits zu viel Blut geflossen. Auch die Soldaten Gaddafis seien Libyer. Die wenigsten seien Söldner aus Schwarzafrika, wie der Westen behaupte.
Abdul Latif beginnt zu erzählen. Wie sehr er den Westen bewundere, den er als Importeur von Arzneimitteln jedes Jahr bereist. Sogar die Italiener, die sein Land jahrzehntelang ausgebeutet hatten, mag er. Auch wenn er gern über ihre Eitelkeiten lacht. »Man muss verzeihen können«, meint er. »Das Leben ist zu kurz, um zu hassen.«
Dann spricht er über den Tod, den er als sufistisch geprägter Muslim nicht fürchtet. Wie alle Muslime wünsche er sich eine Erdbestattung. Als ich erkläre, dass ich für eine Feuerbestattung sei, schüttelt er lachend den Kopf. Das sei keine gute Idee. Darüber müssten wir noch mal sprechen. Außerdem würde ich noch gebraucht. Ich halte lachend dagegen, er werde viel mehr gebraucht. Von hinten kräht Julia aus Spaß dazwischen, das letzte Hemd habe offenbar viele Taschen. Wie meine Windjacke. Es ist ein ungewöhnlich heiteres Gespräch über den Tod.
Da wir uns nicht einigen können, wer mehr gebraucht werde, versprechen wir uns feierlich, in jedem Fall vorher noch gemeinsam in Tripolis die Befreiung Libyens zu feiern. Und anschließend ein paar Tage auf meiner Berghütte im Südtiroler Sulden zu verbringen. Um über Gott und die Welt zu diskutieren. Über den Sufismus und seine Philosophie der Freundschaft, Toleranz und Liebe.
Abdul Latif telefoniert zwischendurch mehrfach mit Freunden in Brega. Doch 30 Kilometer vor Brega, dort, wo die Sandpiste wieder in eine asphaltierte Straße übergeht, bricht der Empfang ab.
Plötzlich sehen wir, verteilt auf einer Strecke von etwa hundert Metern, sechs ausgebrannte Autos. Ich bitte Abdul Latif anzuhalten. »Why not?«, antwortet er wie üblich. Dann setzt er wegen des kalten Windes seine schwarze Zipfelmütze auf und steigt aus.
»Tal der Flammen« heiße der Ort hier, murmelt er. Julia beginnt zu filmen. Während wir zu den Autowracks gehen, ziehe ich meine Windjacke an. Die mit den vielen Taschen. Der Wind reißt sie mir fast aus der Hand.
Die Szenerie ist furchteinflößend. Die meisten der Pkws haben – als sie beschossen wurden – versucht, zu wenden und über die Wüste zu entkommen. Ohne Erfolg. Der unsichtbare Schütze hat sie zu bizarren Gebilden zusammengeschossen. Wahrscheinlich enthielten seine Raketen Phosphor oder Napalm. Die Plastikteile der Wagen sind zusammengeschmolzen oder verbrannt.
Auf der Straße liegen frische Baguettes, eine unversehrte Schachtel französischen Käses sowie zwei unbeschädigte orangefarbene Ölarbeiterhelme. Sie waren möglicherweise auf dem Dach eines der Autos verstaut und bei der Explosion weggeschleudert worden. Abdul Latif und Yussuf beginnen, die Straße von den zahlreichen Trümmern der Autos zu räumen.
Der Angriff
Beim Aussteigen hatte ich noch gedacht, die Fahrzeuge seien am frühen Morgen oder am Vorabend beschossen worden. Doch dann sehe ich unter den Rädern zweier Wagen züngelnde Flammen. Mit Julia gehe ich zu einem dieser Fahrzeuge, um nach den Insassen zu suchen. Doch ich sehe nur Asche. Abdul Latif und Yussuf, die mir gefolgt sind, wenden sich ab. Sie gehen zu unserem Wagen zurück.
Plötzlich schießt mir durch den Kopf, dass ich möglicherweise vor einem der Autos stehe, das uns vorhin überholt und dessen Insassen uns fröhlich zugewinkt hatten. Dass das bisschen Asche auf den zerschmolzenen Metallsitzen ihre Überreste sind. Dass wir uns auf einem Hinrichtungsplatz befinden, den noch niemand lebend verlassen hat. Egal, ob wir wenden, weiterfahren oder stehen bleiben.
Ich will Julia, die hinter mir steht, zurufen: »Das ist eine Todesfalle.« Doch im selben Moment zischt – meine Gedanken überholend – eine Boden-Boden-Rakete an uns vorbei. Mit flachem Knall trifft sie unser Auto. »Deckung«, brülle ich Julia zu. »Geh in Deckung!«
Ich denke in diesem Augenblick noch, wir könnten uns hinter eines der ausgebrannten Autowracks werfen. Doch schon beginnen um uns herum krachend Artilleriegeschosse einzuschlagen. Dazwischen bellt kehlig ein Maschinengewehr und bestreicht die Straße.
Julia und Yussuf rennen verzweifelt Richtung Wüste. Mit erhobenen Händen. Sie wollen den Schützen zeigen, dass sie unbewaffnet sind. Aber das haben die bestimmt längst gesehen. Sie jagen Julia und Yussuf wie Hasen. Prasselnd, zischend schlagen ihre Geschosse neben, hinter, vor ihnen ein. Auch dicht bei mir.
Wo ist Abdul Latif? Sein Auto ist ein riesiger rotgelber Feuerball, eingehüllt in eine sich aufwölbende tiefschwarze Rauchwolke. Ich will auf die Flammenkugel zugehen. Doch Yussuf schreit fast hysterisch von Weitem: »Go, go, Abdul Latif dead!« Ich rufe ihm ungläubig nach: »Wo ist Abdul Latif?« Keuchend brüllt Yussuf zurück: »Abdul Latif killed, come, come!« Dann entschwinden Yussuf und Julia Deckung suchend in die Wüste.
Es ist schwer, die Gefühle dieser Sekunden zu beschreiben. Die totale Verblüffung über den Überfall auf diesem harmlosen Stück Wüstenstraße. Das Wissen, in einer Falle zu stecken. Die dumpfe Ahnung, dass dies die letzten Augenblicke unseres Lebens sein könnten. Das erdrückende Gefühl, Verantwortung für unsere kleine Gruppe zu haben.
Ich kann und will nicht losrennen. Ich will nicht fort von der Straße, auf der ich vor wenigen Minuten noch mit Abdul Latif über seine Zipfelmütze gewitzelt habe. Fast magisch zieht es mich zu dem Feuerball hin, der sein Auto war. Julia erzählt später, ich hätte mich trotz des Eisenhagels kaum bewegt. Mehrfach hätte ich mich ungläubig umgedreht. Irgendwann habe sie nur noch nach vorne geblickt und nicht mehr zurückgeschaut. Auch aus Angst, mich das nächste Mal nicht mehr zu sehen.
Mir ist klar, dass ich von der Straße runter muss. Unentwegt schlagen hier surrend, rauschend Artilleriegeschosse und Maschinengewehrgarben ein. Jeden Augenblick kann der Raketenschütze eine weitere punktgenaue Boden-Boden-Rakete abfeuern. Ich muss weg. Doch wohin? Die Einschläge zerschellen nicht nur auf der Straße, sie wühlen auch die Wüste auf.
Wie in Trance folge ich Julia und Yussuf, die hinter einer Sanddüne verschwunden sind. Doch das wütende Artilleriefeuer, das Zischen, Pfeifen, Dröhnen gehen weiter. Es wirbelt den Sand auf, nimmt mir die Sicht.
Abdul Latif ist tot, und ich vielleicht bald auch. Ich spüre, dass alles entschieden ist, und gehe noch langsamer. Man kann seinem Schicksal nicht entkommen. Stets hatte ich geahnt, dass dieser Augenblick eines Tages kommen würde. Ich hatte mir vorgenommen, nicht davonzulaufen, sondern das letzte Stück des Weges mit Anstand zu Ende zu gehen. Außerdem bin ich gar nicht mehr in der Lage zu rennen. Meine Beine sind schwer wie Blei, während um mich herum der Tanz des Teufels weitergeht.
Julia und Yussuf liegen längst hinter einem zwei Meter hohen Sandhügel. Yussuf fragt, wo ich bleibe. Julia antwortet tonlos: »Der kommt nicht mehr.« Sie wagt nicht, über die Düne zu schauen. Aus Angst, entdeckt zu werden. Aber auch weil sie die Gewissheit fürchtet, dass ich nicht mehr kommen würde. Nur gelegentlich hält sie die Kamera hoch und drückt blind ab.
Doch auf einmal hat sie mich im Bild. Sie sieht auf ihrer Kamera, wie ich langsam auf den Dünenkamm zugehe. Kurz danach lasse ich mich neben ihr und Yussuf in den Sand fallen. Ich presse mein Gesicht in den Sand, um nicht zu zeigen, was ich fühle. Was um Himmels willen ist da in den letzten 15 Minuten geschehen? Alles ist völlig irreal. »Tod durch Gaddafi – in der libyschen Wüste ermordet«, das konnte doch nur ein Albtraum, ein schlechter Film sein. Irgendwann musste dieser Irrsinn zu Ende sein.
Aber er geht weiter. Die Schützen Gaddafis nehmen nun das Gelände rund um unsere Düne großflächig unter Beschuss. Die mörderischen Geräusche werden noch dumpfer, grollender. Mörser, Granaten, Raketen schlagen donnernd 50, 100 Meter von uns entfernt ein. Tief wühlen sie die Erde auf, schleudern Sandfontänen in die Luft. Dunkle Rauchschwaden steigen über 100 Meter hoch und verdüstern den Himmel. Alle paar Sekunden schlägt fauchend eines dieser schweren Geschosse ein. Jeder Einschlag ist wie ein Erdbeben.
»Wo ist Abdul Latif?«, frage ich mehrfach Julia und Yussuf. »Wir müssen ihn suchen.« Yussuf verdreht die Augen. Er hält mich für verrückt. »Tot«, raunt er. Er habe gesehen, wie er in sein Auto gestiegen sei. »Ich stand neben ihm. Er ist im Auto verbrannt.« Mit der rechten Hand macht er die Bewegung des Schlüsselumdrehens. »Ich gehe ihn suchen«, flüstere ich Julia zu. Doch jetzt wird Julia, die bisher kein Wort gesagt hat, zornig: »Das ist doch einfach nur verrückt«, zischt sie. »Dann bist erst du tot und danach wir. Wir sind doch hier nicht in einem James-Bond-Film. Abdul Latif ist tot.«
Ich liege völlig entmutigt zwischen Yussuf und Julia. Im Grunde möchte ich weinen. Um Mister Sonnenschein, um Mister »Why not«, um Abdul Latif. Doch ich weiß, dass ich Julia und Yussuf jetzt Kraft geben sollte, obwohl ich selber keine mehr habe. Um uns herum pflügen Gaddafis Truppen die Wüste um. Irgendwann werden auch wir untergepflügt. Wenn wir nur den geringsten Fehler machen.
Julia fragt, ob ich den Hemingway-Film Wem die Stunde schlägt gesehen hätte. Habe ich, aber ich will nicht darüber reden. Der Film geht ja schlecht aus. Doch Julia, der tausend Bilder durch den Kopf rasen, lässt nicht locker. Wenn wir uns schon nicht wehren können, möchte sie wenigstens darüber sprechen. Sie ist schließlich die engste Freundin meiner Tochter Valérie, fast ein Mitglied der Familie. »Was glaubst du, wie lange leben wir noch?«, fragt sie. Ich antworte: »Zwanzig Minuten, zwanzig Jahre, ich weiß es nicht.« Ich versuche, ihr Mut zu machen. »Wir kommen hier wieder raus. Irgendwie.« Aber Julia, die wenigstens noch einmal ihre Eltern in Bayern sehen möchte, ist sich da nicht mehr so sicher. Doch sie nickt tapfer.
Ich sage ihr nicht, dass unsere Chancen, hier rauszukommen, nicht viel größer sind als die der zu Asche verbrannten Fahrzeuginsassen im »Tal der Flammen«. Wir sitzen in einer Todesfalle. Gaddafis Schützen kreisen uns systematisch ein. Der Mörser-, Granaten- und Raketenring wird immer enger. Irgendwann werden sie vielleicht einen Jeep zu uns rüberschicken, um alles zu beenden. Das wäre auch billiger als das sinnlose Höllenfeuerwerk, das sie unaufhörlich abbrennen.
Julia kann offenbar Gedanken lesen. »Soll ich die Filme mit den Rebellen löschen für den Fall, dass sie einen Jeep schicken?«, fragt sie. »Das hilft uns dann auch nicht mehr«, antworte ich. An meiner Jacke trage ich das Abzeichen der Rebellen in den Farben des befreiten Libyen. »Sie werden mir den Kopf abschneiden, wenn sie das sehen«, denke ich. Aber das Zeichen bleibt am Revers.
Ich überlege, welches meiner drei Kinder wen anrufen wird, wenn uns eine dieser verdammten Granaten trifft. Ich weiß genau, wie jedes einzelne von ihnen reagieren wird. Aber wird man überhaupt erfahren, was hier geschehen ist?
Ein dicker, schwarzer Wüstenkäfer versucht, vom Kamm der Düne auf uns zuzukrabbeln. Auf halber Höhe überschlägt er sich. Vorsichtig setze ich ihn auf die Dünenkante zurück. Nach einer Weile rollt er wieder auf uns zu. Für Steilhänge unbegabt.
Plötzlich sehe ich zwischen Julia und mir einen leuchtend gelben Punkt. Die Lasermarkierung eines Scharfschützen? Für einen Augenblick stockt mir der Atem. Ich sehe mich nach allen Seiten um. Doch dann stellt sich die Lasermarkierung als schimmernde Wüstenspinne heraus. Ich lege sie unter die Zweige eines Kreuzdorns, der einzigen Buschart, die hier wächst.
Alle haben Durst und Hunger. Seit dem kargen Frühstück in Bengasi hat es außer Maracujasaft und einer Dattel nichts mehr gegeben. Julia denkt an Abdul Latifs Dattelkernstrategie. Da sie keine Dattel hat, nimmt sie einen Stein in den Mund, um ihren Durst zu vergessen.
Das Raketen- und Granatfeuer lässt nicht nach. Dumpf rumpelnd schlagen die Geschosse ein. Neben und vor uns tanzen die Sandkörner auf der bebenden Erde. »Die verballern ein Vermögen«, sagt Julia. »Wir scheinen ihnen viel wert zu sein.« Ein Ende des Beschusses ist nicht abzusehen. Alle paar Minuten schlagen Granaten ein. Unablässig.
Der Angriff im »Tal der Flammen« fand um 15.30 Uhr statt. Jetzt sind etwa zwei Stunden vorbei. Erst um 19 Uhr wird es dunkel. Bis dahin sind wir entweder von Granaten zermalmt oder erfroren. Es wird kälter. Auch der Wind wird stärker.
Ich sehe, dass Yussuf an seinem alten Handy herumspielt. Ich nehme es ihm aus der Hand und entferne SIM-Karte und Batterie. Allzu leicht sollten wir es den Schützen nicht machen, uns zu orten. Ich will nicht im Wüstensand sterben.
Noch vor wenigen Monaten hatte ich in meinem Buch Teile dein Glück beschrieben, wie sehr ich die Schmetterlinge von Salvador da Bahia bewunderte. Nach einem in der Gluthitze Brasiliens durchtanzten Sommer setzen sie sich im Frühherbst abends an den Strand. Dort warten sie, bis eine Welle sie auf das türkisblaue Meer hinausträgt. Ich hatte unvorsichtigerweise geschrieben, dass sich der Tod trotz vieler gefährlicher Situationen nie für mich interessiert habe. So etwas sollte man nicht schreiben. Man darf das Schicksal nicht herausfordern.
Unsere Lage ist nicht nur bedrohlich, sie ist auch absurd. In München besitzt einer der Söhne Gaddafis, Saif Al-Arab, 70 Meter von meiner Wohnung entfernt ein großes Haus. Jeden Tag bin ich an dem schneeweißen Bungalow vorbeigegangen und habe gedacht, wie klein doch die Welt ist. Jetzt werde ich, statt ihm in meiner Straße zu begegnen, im libyschen Wüstensand von den Truppen seines Vaters mit Granaten eingedeckt.
Über all das würde ich gern mit Abdul Latif diskutieren, einem der wenigen Menschen, mit dem ich über alles sprechen konnte. Doch es gibt ihn nicht mehr. Ich hatte es mir zur Lebensaufgabe gemacht, diskriminierten Muslimen eine Stimme zu geben. Jetzt war ich mitschuld am Tod eines der großartigsten Muslime, die mir begegnet sind.
Yussuf will nicht mehr liegen bleiben. Abwechselnd deutet er zum Himmel und auf die dunkle Sonnenbrille, die er sich demonstrativ aufgesetzt hat. »Bang, bang«, flüstert er. Er will uns klarmachen, dass es in wenigen Stunden dunkel werde und die libysche Luftwache dann die Wüste mit Nachtsichtgeräten absuchen werde. Er will weg, solange es noch hell ist. Ein Wahnsinn!
Ich versuche ihm zu erklären, dass er bei Tageslicht noch leichter zu entdecken sei. Vor allem, wenn er jetzt losrenne. Dann wüssten die Schützen endlich genau, wo wir sind. Bisher hätten sie davon offenbar nur eine vage Vorstellung. Aber Yussuf hat panische Angst vor Nachtsichtgeräten. Er hält sie für diabolische Wundermaschinen. Julia ist von dem Gedanken, hier wegzukommen, ebenfalls beeindruckt. Ich habe Schwierigkeiten, den beiden beizubringen, dass man mit Nachtsichtgeräten nicht besser sehen kann als mit Tagessichtgeräten. Julia kann ich gerade noch überzeugen, Yussuf nicht. Er ist auf dem Sprung. Immer wieder deutet er auf seine Brille und auf den Himmel. Erst als ich ihn heftig anfahre, hört er auf, auf Julia einzureden.
Doch den Gedanken an Flucht hat er noch lange nicht aufgegeben. Auch Julia schwankt. Ich überlege, ob ich die beiden notfalls mit Gewalt daran hindern muss, in den sicheren Tod zu laufen. Aber wie? Genau in diesem Augenblick schlägt mit donnerndem Krachen wenige Meter vor unserem Sandhügel eine Rakete ein. Der ohrenbetäubende Einschlag ist so nah, dass sich die Düne zu heben scheint und die Erde sekundenlang schwankt. Wir versuchen, uns am Boden festzukrallen. Sand rieselt auf uns herunter. Die Pranke des Tigers hätte uns um ein Haar getroffen. Zwei Meter weiter, und alles wäre vorbei gewesen. Plötzlich denkt niemand mehr an Flucht. Mein Mund ist voller Sand.
Unsere einzige Überlebenschance scheint zu sein, uns ganz dicht an die Düne zu pressen. Sie als Schutzschild zu benutzen. Selbst wenn noch tausend Schwarzkäfer und Wüstenspinnen auf uns herunterpurzeln. Der Tod ist jetzt ganz nah. Vielleicht denke ich gerade meine letzten Gedanken.
I.
Am Ende bleiben nur Tränen