Inhalt

Theo Neteler: Rainer Maria Rilke auf Gut Böckel

Die auf Gut Böckel geschriebenen Briefe

Erläuterungen und Anmerkungen

Aus den Gedichten An die Nacht Für Frau Hertha / Böckel, im August 1917

Editorische Notiz

Die Adressaten der Briefe

Verzeichnis der zitierten Briefausgaben und anderen Fundstellen

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

Personenregister

Rilke im Park von Gut Böckel

Aufnahme Hertha Koenig

(„Rilke setzte sich auf einen großen Stein und blinzelte geduldig in die Sonne“ H.K.)

Rainer Maria Rilke

Briefe von Gut Böckel

„Ich wohne hier in stiller Gastfreundschaft …“

24. Juli – 2. Oktober 1917

Herausgegeben und mit einer
Einleitung von Theo Neteler

Wir danken für die Förderung dieses Projektes:

Hertha Koenig-Gesellschaft e.V., Rödinghausen

Originalausgabe

Veröffentlicht im Pendragon Verlag

Günther Butkus, Bielefeld 2011

© Copyright by Pendragon Verlag 2011

Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Uta Zeißler, Bielefeld

Umschlag: deteringdesign, Bielefeld

Lektorat: Vanessa Vogt

eISBN: 978-3-86532-310-1

Theo Neteler
Rainer Maria Rilke auf Gut Böckel

Rainer Maria Rilke (1875–1926) und Hertha Koenig (1884–1976) lernten sich im Februar 1910 bei dem Verleger S. Fischer in Berlin kennen. Rilke hatte gerade als Gast des Insel-Verlegers Anton Kippenberg die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge in dessen Leipziger Wohnhaus diktiert, Hertha Koenig veröffentlichte in diesem Jahr ihr erstes Buch, den Gedichtband Sonnenuhr. Die ostwestfälische Schriftstellerin war die Enkelin des „Zuckerkönigs“ Leopold Koenig (1821–1903), der es durch den Anbau von Zuckerrüben in Russland zu großem Reichtum gebracht hatte und 1874 das Gut Böckel bei Bünde in Westfalen erwarb, dessen Leitung Hertha Koenig später übernahm.

Es dauerte ein paar Jahre, bis sich Rilke und Hertha Koenig wieder begegneten. Einer der Gründe für diese Wiedersehenspause war, dass Rilke vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – abgesehen von Reisen – vorwiegend in Paris lebte. Sein Hauptaufenthaltsort wurde während des Krieges München, bis er Mitte 1919 in die Schweiz ging. Hertha Koenig wohnte in diesen Jahren ebenfalls in München; im Sommer hielt sie sich in der Regel auf Gut Böckel auf.

Hertha Koenig und Rainer Maria Rilke

In den Jahren des Ersten Weltkriegs gab es zwischen Hertha Koenig und Rainer Maria Rilke neben einem relativ intensiven Briefwechsel1 auch regelmäßige Kontakte; es entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis. Rilke unterstützte die ostwestfälische Schriftstellerin, deren erster Roman 1913 bei S. Fischer erschien. So vermittelte er zwei ihrer Lyrikbände an den renommierten Insel-Verlag. Sie teilten im Hinblick auf Kunst, Theater und Literatur gemeinsame Interessen. Hertha Koenig wurde für Rilke eine fürsorgliche Mäzenatin, neben finanziellen Zuwendungen half sie ihm wegen der schwierigen Versorgungslage während des Ersten Weltkriegs mit Gaben von Lebensmitteln, lieh und schenkte ihm Möbel usw. Im Sommer und Herbst 1915 (14. Juni bis 11. Oktober) stellte Hertha Koenig Rilke sogar ihre hochherrschaftliche Wohnung in der Widenmayerstraße in München zur Verfügung, während sie sich auf ihrem Gut Böckel aufhielt.

Für Rilke waren die Jahre nach der Vollendung des Malte Laurids Brigge (1910) und nach dem Schreiben der ersten Duineser Elegien (1912) eine Zeit der als äußerst schwierig erlebten Schaffenskrise. Hertha Koenig leistete ihm in dieser Zeit seiner weitgehenden Unfähigkeit zur literarischen Produktion auch seelischen Beistand.

Der Ausbruch des Krieges und die von ihm als furchtbar empfundene Militärzeit im ersten Halbjahr des Jahres 1916 bedeuteten in Rilkes Leben einen Tiefpunkt. Militärische Zwänge waren ihm seit seiner Jugend und dem Aufenthalt in der Militärschule zutiefst verhasst2; sie überforderten ihn derart, dass er am 15. Januar 1916 während seiner Grundausbildung ohnmächtig im Dienst zusammenbrach. Stefan Zweig, der zu dieser Zeit im Wiener Kriegsarchiv arbeitete, an das Rilke kurze Zeit später ebenfalls überstellt wurde, hielt am Tag darauf in seinem Tagebuch fest: „Er ist ganz vernichtet durch den Dienst. Er kann kaum sprechen.“3 Rilkes Verstörung konnte auch durch die vorzeitige Beendigung der Militärzeit, die auf Fürsprache von Freunden erreicht wurde, nicht überwunden werden.

Rückblickend schrieb Rilke der Malerin Ottilie Reyländer, die er aus Worpswede kannte, 1921 aus der Schweiz nach Mexiko, wo die Malerin sich aufhielt: „Die letzten Jahre …! Lassen Sie mich schweigen von ihnen. Sie können verstehen, was sie für einen Menschen gewesen sind, der zu so vielen Ländern fruchtbare und dankbare Beziehungen unterhielt und der von vornherein entschlossen war, nichts davon, um eines Wahnsinns willen, aufzugeben. […] Sie haben keine Vorstellung, wie wirr Europa noch aussieht und wie leichtsinnig und unglaubwürdig alle Pläne aussehen vor diesem zerstörten Hintergrund.“ Und: „Dass meine Arbeit während der fürchterlichen Ereignisse ganz erstarrt und tief unterbrochen war, können Sie gewiss begreifen; ich muss mich jetzt erst langsam wieder arglos machen und irgendwie vertrauend-froh: ohne diese Voraussetzung hat es nie eine Hervorbringung für mich gegeben.“4

Diese Jahre waren Jahre des Suchens nach den Bedingungen dafür, Inspiration und Schreiben wieder zu ermöglichen. Sie brachten im Laufe der Zeit einen immer fassbarer werdenden Erkenntnisprozess, wonach er zu suchen hatte. Das umreißt er in einem Brief aus Locarno an Dorothea von Ledebur, die er auf Gut Böckel kennen- und schätzen gelernt hatte: „Mir wird immer klarer, was ich haben müsste, um die ungeheuere, grausame Unterbrechung in mir zu überwinden und um meine künftige Arbeit wirklich an jene schmerzlichen Bruchstellen des Jahres Vierzehn so genau anzuhalten, dass sie dort anheilte: dazu bedürfte es mindestens ein halbes Jahr der geschütztesten Einsamkeit, zusägliche Verhältnisse, die gleichmäßigsten und gesündesten, mit einem Wort, außerordentlich viel. Und keine Menschen diese ganze Zeit, nicht einen, – nicht aus Abwehr und Menschenscheu, sondern eben, damit die innere Besinnung vollkommen sei, ohne Riss und Bruch –, nur die Arbeit täglich und den Einfluss der Natur nur, wie’s in Soglio [Dorf im Bergell, Graubünden, d.V.] war, im nächsten Umkreis ein paar alte Dinge, die allen Verkehr ersetzen können durch ihr vieles Nichtwissen an jenem Leid und jener Freude, die nun einmal menschlich sind, ohne eigentlich persönlich zu sein. Danach sehn ich mich und darauf wart ich, wie man, nun eben – wie man auf das Wunder wartet.“5 Dieses „Wunder“ wurde Mitte des Jahres 1921 mit dem Einzug in das Château de Muzot Wirklichkeit.

Eine Zwischenstation auf der Suche nach dem Ort der Abgeschiedenheit, der Ruhe und Geborgenheit war der Aufenthalt Rilkes auf Hertha Koenigs Gut Böckel vom 24. Juli bis 2. Oktober 1917.6 Dass Hertha Koenig das Gut Böckel als „Zufluchtsstätte“ anbot, war nichts Ungewöhnliches. Nicht lange vor dem Aufenthalt Rilkes hatte Hertha Koenig einem anderen Schriftsteller einschließlich dessen Familie Unterkunft gewährt. Salomo Friedländer (Pseudonym: Mynona) schrieb darüber an Alfred Kubin: „Die Rittergutsbesitzerin Frau Hertha Koenig (welche übrigens bei S. Fischer Romane erscheinen läßt) bot uns 5 Monate lang eine Zuflucht in ihrem Landhaus. Da ich arm bin, war es, bes. für Frau & Kind, eine Art Lebensrettung.“7 Solch ein Angebot Hertha Koenigs muss man sicher auch sehen auf dem Hintergrund der außerordentlich schlechten Versorgungslage in Deutschland während der Kriegsjahre. Die heute nur schwer vorstellbare Notsituation schildert anschaulich Hedwig Pringsheim, Schwiegermutter Thomas Manns, in verschiedenen Briefen: „Kein Zucker, keine Butter, kein Kaffee, kein Spiritus, keine Wurst […] ebenso Schinken, keine Konserven.“ Oder: „Wir haben fast kein Fleisch und garkeine [!] Butter; wenig anderes, was die Fleischna[h]rung ersetzen könnte: keinen Reis; Gries, Gerste, Hülsenfrüchte etc. […] Ich vermute, diese ganz fettlose Kost ist für Greise, wie ich einer bin [sie wurde bald nach dieser Äußerung 61 Jahre alt, d.V.], von Übel. Ich habe tatsächlich in vier Tagen 2 Pfund abgenommen.“8

Das Ende des Ersten Weltkriegs erlebten Hertha Koenig und Rilke in München. Sie sahen sich dort häufiger. Im März 1919 schrieb Rilke aus München: „Ob Sie’s fühlen, wie oft ich im Stillen Ihnen Dank zudenke und Sie segne dafür, dass ich ohne Sorge bestehen kann in dieser Zeit, sogar imstande bin, mir Bücher, die mich freuen, unbedenklich anzuschaffen und anderes mehr. Es ist gar nicht zu beschreiben, wie viel diese äußere Sicherung zum Wiedergewinn innerer Sicherheit, nach der ich ringe, wird beigetragen haben.“9 Auch nach Rilkes Abreise in die Schweiz blieb der Kontakt zwischen Rilke und Hertha Koenig erhalten. Erst im Laufe des Schweizer Aufenthaltes wurde der Briefwechsel zwischen beiden sporadischer und riss dann Mitte 1921 ganz ab.

Der Verlauf von Rilkes Aufenthalt auf Gut Böckel

Neben zahlreichen kurzen Schilderungen und Hinweisen in den Briefen, die Rilke auf Gut Böckel schrieb, gibt es einen umfangreichen Bericht über Rilkes Aufenthalt, den Hertha Koenig fast 50 Jahre nach diesem Ereignis niederschrieb, der aber nicht ganz frei von Erinnerungsfehlern ist. Hieraus zunächst ein Auszug:

„Sommer 1917 kam er für einige Wochen nach Böckel. Im eigentlichen Wohnhaus, dem neueren Flügel der achtziger Jahre, in Zimmern von beliebiger Höhe und Ausmaß, ohne Obwalten der inneren bestimmenden Gesetze, schien er mir nicht denkbar. Darum richtete ich ihm drei Zimmer im alten Turmgebäude ein. Im eigentlichen Turm10 das kleine Schlafzimmer. Dass man dort zu später Stunde gelegentlich die Eulen fauchen hört, würde ihn nicht stören. Auch nicht, wenn man den Atem anhält, oben, dicht unter dem Turmhelm, wie Schritte das Hin- und-Hergehen der alten Turmuhr. Das etwas größere Zimmer daneben für Frühstück und Mittagsruhe, und daneben das große mit den tiefen Fensternischen zum Auf-und-Abschreiten bei der Arbeit. Unser einstiger Taufaltar wurde zum Stehpult umgewandelt. Der alte Gärtner hatte zum Glück Heliotrop gezogen, die ich in Töpfe gepflanzt an die beiden Fenster stellte – diese eigenförmigen dunkellila Sammetrosetten mit dem fast betäubenden Vanilleduft nannte Rilke seine Lieblingsblumen.

Ob der unendlich Zarte, Empfindsame sich behaglich fühlen würde auf unserem niedergelegenen Gutshof mit seinem schwerfälligen Dasein, zumal in der besonderen Verdunkelung jenes vorletzten Kriegsjahres?

Als er kam, schwanden solche Bedenken: als sein Ernst, wie auch seine brüderliche Heiterkeit sich ausbreitete und er freundlich ausdauernd seine Wohnung nahm. Eine Art klösterliche Ordnung und Weihe griff absichtslos um sich und adelte jedes alltägliche Erleben des kleinen Kreises. Zum Mittagessen holte ich ihn in seinem Arbeitszimmer ab. Er saß am Schreibtisch oder beugte sich blätternd über das Stehpult. Er bat dann, noch einen Augenblick in der Wohnecke zu verweilen. ‚Ich habe einen Brief geschrieben – wollen Sie hören.‘ Ich folgte mit geschlossenen Augen dem Klang seiner Stimme. Besonders eindrucksvoll blieb mir der Brief an Herrn von Kühlmann zum Antritt seines Postens als Außenminister. Wie flehend und fordernd Rilke an sein Herz fasste, er solle helfen, die beispiellose Verwirrung zu lösen, die Menschen und Völker vernichtete. Unvergesslich bleibt der beschwörende Ton der sonst so verhaltenen Stimme. (Leider wurde dieser Brief später in einem Bombenangriff mit vernichtet.) [s. im Folgenden: Brief Nr. 9]

Nachmittags gingen wir bei gutem Wetter über Land. Einmal sahen wir nahe am Osterberg, wie Sonne und Wolken in ihrem Lichtkampf ein auffälliges Gleichnis an den Himmel warfen und, verbunden durch eine silbern leuchtende Nebelbrücke, fatamorganahaft das Spiegelbild auf dem äußersten Osthimmel aufleuchten ließen. Rilke war betroffen; geneigt, ein schicksalhaftes Eingreifen der stummen Natur zu deuten.

Er schrieb mit der Genauigkeit seines Wortes die Beobachtungen dem ihm befreundeten Astronomen Baron Aretin11 nach München [s. Br. Nr. 28], der das Seltene der optischen Erscheinung bestätigte.

Nach dem Abendessen las Rilke vor, in kleinem oder bisweilen größerem Kreis. Aus seiner Augustinus-Übersetzung, an der er damals arbeitete, oder von den noch ungedruckten Gedichten. Öfters auch ein skandinavisches Volkslied, das ihm tiefen Eindruck gemacht hatte: ‚Klein Kerstin‘.

Einmal, als wir allein waren, nahm er mir Hamsuns Pan aus der Hand –: ‚Ein herrliches Buch! Ich werde es Ihnen zu Ende vorlesen.‘ Wir saßen draußen unter der alten Linde bei schwindendem Abendschein und Windlicht. Er las mit der ehrfürchtig-demütigen Bewunderung, die ihn für jede echte Kunst erfüllte. Mitten in den letzten Seiten musste ich ihn unterbrechen. Denn das hätte er längst gerne einmal gesehen, wie da eine Eule mit ausgebreiteten Schwingen aus ihrer Turmbehausung abflog – lautlos über die alten Bäume und Rasenflächen hin dem Walde zu. Seine Freude galt dem glücklichen Einklang des milden Sommerabends, des Pan und der ‚Uhlenflucht‘. In solchen Augenblicken liebte er auch unser westfälisches Land mit seiner dunklen Schwere. –“12

In der Anfangszeit seines Aufenthaltes arbeitet Rilke täglich viele Stunden an seinem Stehpult. Neben den Briefen beginnt er „einiges Zurückgestellte“ aufzuarbeiten. Dazu gehört das Abschreiben von Gedichten aus seinen Tagebüchern, um diese handschriftlichen Seiten Freunden und Bekannten zu schenken. Ein Beispiel dafür ist das Konvolut „Aus den Gedichten An die Nacht“, das Rilke Hertha Koenig im August überreicht. Darüber hinaus beschäftigt sich Rilke weiter mit seiner Übertragung von Gedichten Michelangelos. Den größten Teil des Vormittags verbringt er in seinen Räumen, am Nachmittag begibt er sich, wenn das Wetter es zulässt, mit Büchern auf einen Liegestuhl in den Park, abends geht er früh schlafen. „Ich konnte zunächst nichts thun, als mich anpassen, – das ist nun hoffentlich überstanden und ich fange an, mich wieder etwas lebhafter und thätiger umzusehen,“ schreibt er am 30.7.1917 an Alexander Fürst von Dietrichstein-Mensdorf (s. Br. Nr. 4).

Die Schreibaktivität und die Dauer des Aufenthaltes in seinen Räumen – sie „sind ihm lieb“ – wird auch dadurch beeinflusst, welche Aktivitäten Hertha Koenig vorschlägt und von Rilke akzeptiert werden, z.B. Besuche bei Nachbarn. Weiterhin ist seine Arbeit auch abhängig davon, welche Gäste sich auf Gut Böckel aufhalten. Anfangs war nur „Tante Hanna“ als „Anstandsdame“13 auf Böckel eingeladen. Sie war eine Freundin der Mutter Hertha Koenigs, eine Pastorentochter aus dem nahegelegenen Petershagen, die problemlos diese Rolle akzeptierte. Rilke und sie verstanden sich gut und gingen manchmal abends gemeinsam über die Wiesen, um Champignons zu suchen.14 Besuche der Nachbargüter fanden nur sehr eingeschränkt statt. Rilke selbst schreibt dazu an Grete Lichtenstein: „[…] wir vernachlässigen alle umliegenden Nachbarschaften, außer einer, die in jeder Weise behaglich ist; für die Absage des übrigen Verkehrs ist der Pferde- und Wagenmangel hinreichend entschuldigend.“ (s. Br. Nr. 49) Dennoch berichtet Hertha Koenig von einem Ausflug: „Eines Sonntags Nachmittag fuhren wir, obgleich der Himmel drohend sich zusammenzog, im offenen Jagdwagen mit Ackerpferden – ein anderes Gespann hatte uns der Krieg nicht gelassen [ – ] mit einem Knecht über Land.“15 Sie wurden in dem ca. 7 km entfernten Dorf Holthausen von einem Gewitter überrascht und mussten in einem Bauerngehöft Schutz suchen.

Eine besondere Rolle – die von Rilke erwähnte Ausnahme – spielte die Gutsnachbarin Freifrau Dorothea von Ledebur geb. Prinzessin zu Solms-Hohensolms-Lich. Über sie schreibt Rilke: „Auf den Nachbargütern sitzen meistens Geschwister einer zahlreichen Generation Ledebur, deren ich einige Schwestern von früher kenne, und von denen der eine Bruder mit einer Prinzeß Solms, einer Schwester der Großherzogin von Hessen, verheiratet ist. Diese ist eigentlich unsere nächste Nachbarin, eine liebe, kluge Frau, die ich gerne sehe.“16 Dorothea hatte sechs Geschwister; sie war die jüngste Schwester von Eleonore, die mit Ernst Ludwig Großherzog von Hessen und bei Rhein verheiratet war.

Dorothea von Ledebur ist während Rilkes Aufenthalt mehrere Tage auf Gut Böckel zu Gast, Gegenbesuche in Obernfelde finden nach den Erwähnungen in den Briefen mindestens zweimal statt, Ende August und Ende September. Aber es kommen auch andere Besucher, z.B. die Malerin Marie von Ledebur, Schwägerin Dorotheas, und für einen längeren Zeitraum im September die mit Hertha Koenig befreundete Sängerin Augusta Hartmann, die von Rilke sehr geschätzt wurde.17 Hertha Koenig schrieb darüber: „Später kam Augusta Hartmann in unsere Runde. ‚Sie ist keine Sängerin‘, sagte Karl Wolfskehl, ‚sondern eine Singende.‘ […] Sie sang viele, in Bibliotheken selbst ausgegrabene alte Lieder; sang sie ganz vom innersten Wort aus. Auch alte weltliche Lieder. Ein Barocklied, das Rilke liebte: Wenn die Bettelleute tanzen […]

Er liebte es, wenn wir uns gelegentlich feierlich anzogen. Dann trug die Sängerin ein schwarzes Taftkleid und ich ‚das aus der grünen metallenen Seide‘. Wenn es kalt war, hatte ich ein spanisches Tuch mit langen Fransen über die Schultern gelegt.“18

„Wenn er während unseres Musizierens in den Raum kam, trat er so leise ein, dass man es nicht gemerkt hätte; aber sein Zuhören war so stark, dass man es augenblicks spürte, ohne ihn zu sehen. So bescheiden wie leise ging er zwischen den Menschen einher, ohne jedes Merkmal seiner hohen Berufung.“19

Neben dem Musizieren und den Gesprächen fanden sich, wie schon erwähnt, für Rilke immer wieder Anlässe, Hertha Koenig oder dem kleinen Kreis der Anwesenden vorzulesen.

Eine Episode, die in den Briefen Rilkes keinen Niederschlag findet, erwähnt Hertha Koenig in ihren Erinnerungen: Rilke als „Fotoobjekt“. „Unter diese Gelegenheitsbeschäftigungen im Krieg [sie sprang u.a. ein paarmal als Organistin ein, obwohl sie das Pedal nicht bedienen konnte, d.V.] fällt das Photographieren. Ich hatte nie einen Apparat in der Hand gehabt. Jetzt gerade wurde mir ein billiger als wahre Rarität angeboten. Es gab ja so etwas nicht mehr. Ich nahm ihn. Und nachmittags, nachdem wir unter der Linde Tee getrunken hatten, sagte ich, was eigentlich eine Dreistigkeit war: ‚Jetzt müssen Sie herhalten zum Ausprobieren des Apparates.‘ Rilke setzte sich auf einen großen Stein und blinzelte geduldig in die Sonne. Dann schlug er vor, in den Gemüsegarten zu gehen: er stellte sich unter einen jungen Apfelbaum und griff nach der Frucht. Als die Abzüge kamen, war Rilke unzufrieden, weil auf jedem Bild ein schmaler Streifen Lichtes quer durch ihn hindurchging. Ich legte die Bilder fort. Nach seinem Tod kamen sie mir in die Hände. Ich dachte, dass es eigentlich gute Bilder von ihm wären. Eine Berufsphotographin entfernte die Lichtstreifen.“20

Die Dauer von Rilkes Aufenthalt auf Gut Böckel war zu Beginn offen. Er selbst schrieb: „Wie lange ich hier bleibe, ist im ersten Augenblick schwer zu sagen, zwei, drei, vier Wochen.“ (s. Br. Nr. 1) Doch dann wurde die Abreise immer wieder verschoben. Dabei spielte das langsame Eingewöhnen in die neuen Verhältnisse, das sich erst spät bessernde Wetter und das sich allmählich einstellende Wohlfühlen eine große Rolle. Am 20. September stellt er seufzend fest: „Nach allen meinen früheren Berechnungen, hätte ich schon von hier fort sein müssen, aber immer wieder, als ob ich mir einen höchst fraglichen Winter dadurch forthalten könnte, gebe ich eine Woche zu –, wie lang wird das noch so weiter gehen? Nicht mehr lange.“ (s. Br. Nr. 49)

Die Briefe: ihre Adressaten und die angesprochenen Themen

Die meisten bisher erschienenen Briefausgaben Rilkes versammeln ausgewählte Briefe in einem bestimmten Zeitraum oder Briefe an einen (oder mehrere) Adressaten. Wenige stellen ein Problem in den Blickpunkt, wie zum Beispiel Briefe zur Politik, andere haben einen bestimmten Anlass als Schwerpunkt, z.B. Weihnachtsbriefe an die Mutter, oder handeln von einer Person: Briefe über Cézanne.

In diesem Band sind die an einem Ort geschriebenen Briefe aus einem Zeitraum von gut zwei Monaten zusammengestellt.21 Sie zeigen, mit welcher Bandbreite von Personen Rilke während eines bestimmten Zeitraums Briefkontakt hatte. Auch wird die große Spannweite von Themen und Problemen deutlich, die Rilke in diesem Zeitraum beschäftigen.

In den 70 Tagen, die Rilke auf Gut Böckel verbrachte, schrieb er rund 50 Briefe. Wenn man berücksichtigt, dass vielleicht nicht alle Briefe erhalten sind, könnten es noch mehr gewesen sein, als hier zusammenzustellen möglich war. So berichtet z.B. Kurt Wolff in seinen Erinnerungen: „Ende 1917 erhielt ich zwei lange Briefe von Rilke, die später beide verloren gingen (oder wie so viele viele andere geklaut wurden).“22

Die Briefe verteilen sich nicht regelmäßig über die Zeit des Aufenthaltes. Die meisten Briefe werden im August geschrieben, fast täglich einer. Der Schwerpunkt wird Mitte August erreicht: am 17.8. sind es drei Briefe, am 18.8. vier, am 19.8. wieder drei. Die Anzahl der Briefe geht dann im September stark zurück. Anfang September gibt es sogar eine Unterbrechung von acht Tagen (6.9.-13.9.). Auch das wiederholt sich noch einmal Ende September (21.9–28.9.).

Die Gründe für die unregelmäßige Verteilung sind durchaus unterschiedlich. Ein banaler ist das Wetter. Im Jahre 1917 war in Ostwestfalen der Sommer ziemlich verregnet; er verlockte nur beschränkt zum Aufenthalt im Freien. Der Gartenplatz am Schlossgraben, der Rilkes bevorzugter Leseplatz war, blieb anfangs häufig verwaist. Auch Spaziergänge reizten in dieser Zeit nicht. Wenn hingegen das Wetter besser war, musste das genutzt werden. Und das trat Ende August und im September ein.

Der Adressatenkreis, der von Rilke in diesem Zeitraum von mehr als zwei Monaten Briefe erhält, ist breit gefächert, es sind über dreißig Personen. Die meisten Briefe – insgesamt drei – erhalten vier Frauen: Marianne Friedländer-Fuld (Mitford), Sodonie Náderný von Borutin, Hedwig Jaenichen-Wörmann und Dorothea von Ledebur. Alle anderen Adressaten werden nur ein- oder zweimal angeschrieben.

Inhaltlich steht bei den Briefen die Pflege freundschaftlicher Beziehungen im Vordergrund. Weitere Schreibanlässe sind die Familie (Mutter, Tochter, insbesondere die Zukunft der Tochter Ruth, s. Br. Nr. 34 und 35), Fragen, die mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit zu tun haben, aber auch für etliche Briefempfänger die Beschreibung der Situation und des Ortes, an dem er sich aufhält, zum Teil sogar mit identischen Worten. So heißt es vergleichbar im Brief an Albert Rapp: „Hier erweist er [der Sommer, d.V.] sich nicht ganz so günstig, es regnet viel, und die Niederschläge sind in diesem feuchten Lande umso empfindlicher, wenn man in einem alten Gutshause wohnt, das, wie alle westphälischen Güter, an der muldigsten Stelle, sozusagen im Souterrain der Landschaft liegt. Aber auch das ist nur eine kleine Einschränkung in den voll zugegebenen Wohlthaten einer schönen, gutsherrlichen Gastfreundschaft, die ich sehr dankbar erlebe.“ (s. Br. Nr. 29) Allmählich gewöhnt sich Rilke an die neue Umgebung, am 12. August sagt er, dass die Landschaft ihm „aber nun nach und nach anfängt wohlzuthun“ (s. Br. Nr. 16). Die Gastfreundschaft, die ihm Hertha Koenig auf Böckel gewährt, wird durchgehend dankbar gelobt. Am 11. August heißt es z.B. (s. Br. Nr. 15): „[…] die Gastfreundschaft [ist] hier sehr gut und großmüthig, meine schönen Zimmer sind voller Blumen, und Stille und Gleichmäßigkeit ist da: was mir über alles geht.“

Manchmal geht Rilke auf seine eigene schwierige Situation, die Schaffenskrise und die negativen politischen Einflüsse der durch den Weltkrieg aus den Fugen geratenen Verhältnisse ein. Manche Briefe zielen rein auf Zuspruch und Beistand, z. B. bei Krankheit, psychischen Problemen (s. Br. Nr. 13) oder dem tröstlichen Zuspruch für Eva Cassirer wegen der Totgeburt ihres zweiten Sohnes (s. Br. Nr. 44). Einige enthalten Lektüre-Vorschläge (s. Br. Nr. 4, 13 und 36) oder Stellungnahmen zu bestimmten Büchern (s. Br. Nr. 33). Auch Fragen der Kunst und des Kunstverständnisses werden erörtert (s. Br. Nr. 11). Häufig überschneiden sich die Themenbereiche.

Das Hertha Koenig geschenkte handschriftliche Konvolut: Aus den Gedichten An die Nacht

Nicht selten verschenkte Rilke mit der Hand abgeschriebene Texte (Gedichte) an Freunde und Bekannte, so beispielsweise auch an Sophie Liebknecht (s. Br. Nr. 7) und Eva Cassirer (s. Br. Nr. 10). Er benutzte dabei als Grundlage seine immer mit sich geführten sog. Taschenbücher. So ist auch das von ihm im August auf Gut Böckel geschriebene Konvolut von sechs Gedichten zu verstehen, welches er Hertha Koenig schenkte.23 Schon die Überschrift verdeutlicht, dass es sich um einen Auszug aus einer noch umfangreicheren Kollektion handelt.

Die ursprüngliche Sammlung eigenhändig geschriebener Gedichte aus der Zeit zwischen dem 6. / 14. Januar 1913 und Februar 1914 war ein Geschenk Rilkes an seinen Freund Rudolf Kassner.24 Es umfasste ein Titelblatt mit der Aufschrift Gedichte an die Nacht und 35 weitere Blätter mit 22 Gedichten. 1916 handschriftlich vereinigt – das genaue Datum ist unbekannt – überreichte er Kassner das in Halbleder gebundene Bändchen. Über Kassner sagte Rilke, er ist „der bedeutendste Mensch, den ich kenne“, und einer „der vorzüglichsten und gebendsten im Umgang“25, „seine unbeirrte, gleichmäßige Freundschaft thut mir unsäglich wohl, die Stunden bei ihm sind immer lebendige, obgleich ich so wenig zu ihnen beitrage.“26 Aus der Zusammenstellung für Kassner war bis zur Abschrift für Hertha Koenig erst ein Gedicht veröffentlicht worden: So angestrengt wider die starke Nacht, und zwar im Brenner-Jahrbuch 1915.

Fünf der sechs für Hertha Koenig zusammengestellten Gedichte befinden sich in dem Kassner-Bändchen, das erste Gedicht ist dort nicht vorhanden. Keines von den für Hertha Koenig zusammengestellten Gedichten war bis zu diesem Zeitpunkt gedruckt; vollständig veröffentlicht wurde der Zyklus Gedichte an die Nacht erst 1976. Das erste Gedicht Klage in dem Bändchen Hertha Koenigs entstand Anfang Juli 1914 in Paris (veröffentlicht 1918 in Die Dichtung, 1. Folge. Hg. von Wolf Przygode, München, Roland-Verlag, später im Insel-Almanach auf das Jahr 1927).

Das Gedicht Ob ich damals war oder bin findet sich bei Hertha Koenig wie bei Kassner in der dreistrophigen Fassung vom Herbst 1913, geschrieben in Paris, nicht in der dort im Dezember 1913 geschaffenen zweistrophigen. Durchgehend gibt es zahlreiche kleine Varianten bei der Zeichensetzung und in der Orthografie sowohl gegenüber der Fassung für Kassner als auch der endgültigen veröffentlichten Version.

Neben den beiden Konvoluten für Kassner und Hertha Koenig gibt es noch ein drittes mit dem Titelblatt Aus den Gedichten An die Nacht mit fünf handschriftlichen Gedichten. Es gehört zur Sammlung Kippenberg und variiert erneut die Zusammenstellung.

Offensichtlich hat Rilke eine Zeitlang geplant, einen abgerundeten Zyklus Gedichte an die Nacht herauszubringen. Die von der chronologischen Entstehungsgeschichte abweichenden Zusammenstellungen unterstreichen wie die Gedichte selbst, wenn auch in unterschiedlichem Maße, den experimentellen Charakter. Über die zugrunde liegenden Ordnungsabsichten lassen sich nur unterschiedliche Hypothesen formulieren.27 Der Zyklus blieb ein Torso; „der Versuchscharakter dieser Lyrik im Hinblick auf die Elegien28 ist nicht zu übersehen. Die Vollendung der Duineser Elegien sind das nicht aufgegebene vorrangige Ziel dieser Jahre.

Zurück nach Berlin

Rainer Maria Rilke war von Berlin, wo er sich eine Woche lang aufgehalten hatte, nach Böckel gereist, nach Berlin kehrte er am Ende seines Aufenthaltes zurück. Dort traf er eine Reihe der Adressaten der Briefe, denen er auf Gut Böckel geschrieben hatte: Richard von Kühlmann, Marianne Friedländer-Fuld, Thankmar von Münchhausen, Karl von der Heydt, Jacob von Uexküll. Auch Hertha Koenig trifft er dort manchmal; er wird mit ihr gemeinsam von dem Verlegerehepaar S. Fischer zum Abendessen (18.11.) eingeladen. Am 10. Dezember ist er wieder in München, wo er vor seiner Abreise nach Berlin die Wohnung in der Keferstraße aufgegeben hatte und wo er sich nun für fünf Monate im Hotel Continental einquartiert.





Anmerkumgen

1 Rainer Maria Rilke. Briefe an Hertha Koenig. Hg. von Theo Neteler. Bielefeld 2009.

2 Joachim W. Storck (Hg.): Rainer Maria Rilke. „Haßzellen, stark im größten Liebeskreise …“. Verse für Oskar Kokoschka. Marbach 1988, S. 19.

3 Rainer Maria Rilke – Stefan Zweig. Briefe und Dokumente. Frankfurt a.M. 1987, S. 79.

4 Brief vom 16. März 1921, Schloss Berg am Irchel, zit. nach Bernd Stenzig: Rainer Maria Rilke. Die Briefe an Ottilie Reyländer 1908–1921. In: Blätter der Rilke-Gesellschaft. Bd. 17 / 18, 2007, S. 213f.

5 Brief an Dorothea von Ledebur vom 15.1.1920, unveröffentlicht (DLA), (andere Auszüge aus dem Brief veröffentlicht bei Joachim W. Storck (Hg.): Rainer Maria Rilke. Briefe zur Politik. Frankfurt a.M. und Leipzig 1992, S. 295f.)

6 Die Daten ergeben sich aus Folgendem: Am 25.6. – in der Rilke-Chronik (Schnack, Ingeborg: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes. 1875–1926. Erw. Neuausgabe. Hg. von Renate Scharffenberg. Frankfurt a.M. und Leipzig 2009, S. 560) ist irrtümlich der 24.6. angegeben – schrieb Rilke in einem Brief von Gut Böckel an Adolf von Hatzfeld: „dass ich erst gestern abend hier angekommen bin“, also am 24. Juli. Nach dem Böckel-Aufenthalt heißt es am 5. Oktober (abends geschrieben) in einem Brief aus Berlin an Dorothea von Ledebur: „Drei Tage bin ich hier.“ Am 29. September (Sonnabend) hatte er D. von Ledebur mitgeteilt: „Ich bin nun von Montag an in Berlin, im Esplanade.“ Der Montag war der 1. Oktober. Das widerspricht sich. Also ist die Annahme am wahrscheinlichsten, dass er seine Abreise um einen Tag verschoben hat und am Nachmittag oder Abend des 2. Oktober in Berlin eintraf. Vermutlich ist er mit Hertha Koenig zusammen gereist – vielleicht hing die Verschiebung mit ihr zusammen –, denn in einer Nachschrift dieses Briefes spricht Rilke davon, dass H. Koenig ebenfalls in Berlin sei und noch einige Tage bleiben wolle.

7 Brief vom 6.4.1917 von Gut Böckel. In: Salomo Friedländer – Mynona – Alfred Kubin. Briefwechsel. Hg. von H. Geerken u. S. Hauff. Wien, Linz 1986, S. 82.

8 Zit. nach: Inge und Walter Jens: Katias Mutter. Das außerordentliche Leben der Hedwig Pringsheim. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 153.

9 Brief von R.M. Rilke an Hertha Koenig o.D. (3. März 1919). In: RMR. Briefe an Hertha Koenig, a.a.O., S. 113.

10 Rilkes Vorliebe für Türme wurde schon deutlich, als er im November 1916 Regina Ullmann in Burghausen besuchte. Sie wohnte dort mit ihrer Mutter in einem alten Wachtturm der Wehrmauer. Die Erfüllung seines Traumes vom Wohnen im Turm fand er 1921 in Muzot.

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