Prof. Dr. Alexander Rubel ist Inhaber einer Forschungsprofessur am Archäologischen Institut der Rumänischen Akademie in Jassy (Rumänien), dem er seit 2011 als Direktor vorsteht. Neben Arbeiten aus dem engeren Bereich von Archäologie und Alter Geschichte publiziert er regelmäßig zu breiteren kulturgeschichtlichen Themen. Seine Forschungsschwerpunkte sind das klassische Griechenland, antike Religionsgeschichte, Romanisierung in den Provinzen des römischen Reiches und die Rezeption der Antike in Mittelalter und Moderne.

Zum Buch

Wer waren die Griechen des Altertums und was haben sie uns heute noch zu sagen? Diesen Kernfragen kulturgeschichtlicher Betrachtung geht der vorliegende Band überblicksartig nach. Von der Entstehung der griechischen Stadtstaaten über die Perserkriege bis zum Zeitalter des Perikles und von der Ausbildung der Demokratie in Athen über die ökonomischen Grundlagen griechischer Gemeinwesen bis hin zu den grausamen Kriegen, die Griechen gegeneinander und gegen andere führten, spannt sich der narrative Bogen dieser Einführung. Geschichte, Kunst, Literatur und Alltagsleben der Griechen der archaischen und klassischen Periode werden in einem Gesamtbild einer Epoche präsentiert und ihre fortwährende Bedeutung für eine Gegenwart, die sich von humanistisch-klassizistischen Traditionen weit entfernt hat, wird kritisch analysiert. Dabei werden die Griechen einerseits von ihrem humanistischen Sockel geholt und ihre Lebensweise, ihre Gebräuche und politischen Institutionen als Teil einer uns doch recht fremden vormodernen Gesellschaft beschrieben, zugleich wird aber auch die nachhaltige Bedeutung ihrer Kultur für das Verständnis der europäischen Kulturgeschichte betont.

Alexander Rubel

Die Griechen

Alexander Rubel

Die Griechen

Kultur und Geschichte
in archaischer und klassischer Zeit

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012

ISBN: 978-3-8438-0261-1

www.marixverlag.de

Inhalt

0. Vorbemerkung

Hinweise zur Benutzung des Buches:

1. Einleitung: Raum, Zeit, Umwelt

2. Krieger und Seefahrer: Die Welt(en) Homers

Archaische Zeit

3. Griechischer Frühling. Die Entstehung der Poliskultur und die griechische Kolonisation

Was ist eine Polis?

Aufbruch zu neuen Ufern

Kunst und Kommerz

4. Aristokraten, Tyrannen, Demokraten. Politischer Raum und politisches Denken

Vom Königtum zur Adelsherrschaft

„Die Besten“. Politik und Lebensstil des Adels

Die griechische Tyrannis

Demokratisierung der Polis. Institutionen und öffentliche Räume

Klassische Zeit

5. Die Perserkriege und der Beginn der Unterscheidung zwischen Orient und Okzident

6. Sparta und Athen

Sparta

Ursprünge und Grundzüge

Gesellschaft und spartanische Erziehung

Spartas politische Ordnung

Athen

Athen und Sparta: Der Peloponnesische Krieg

7. Wie funktioniert direkte Demokratie? Athen im 4. Jahrhundert v. Chr.

Menschen und Institutionen

Die Volksversammlung und der Rat der 500

Die Ämter

Die Gerichte

Demokratie und Freiheit

Kultur und Gesellschaft

8. Literatur, Philosophie, Kunst und Architektur

Schriftlichkeit und Mündlichkeit

Literatur: Drama und Geschichtsschreibung

Drama

Geschichtsschreibung

Philosophie

Bildende Kunst und Architektur

Krieg und Gewalt

9. Religion

Von der Fremdartigkeit griechischer Religion

Götter, Menschen und Städte

Griechische Kultfeste: Ritual und Mythos

Rational und irrational im Polytheismus

10. Handel und Wirtschaft

Oikonomia

Landwirtschaft

Handel, Handwerk und Warenproduktion

Münz- und Kreditwesen

Primitive oder marktliberale Griechen?

11. Die griechische Gesellschaft

Sklaven und Freie

Frauen

Sexualität

12. Schlussbemerkung – Die Griechen und wir

Anhang

Zeittafel

Literaturhinweise

Allgemeine Darstellungen

Weiterführende Literatur zu den einzelnen Kapiteln

Bildnachweise

Danksagung

 

We are all Greeks. Our laws, our literature, our religion, our arts, have their root in Greece.“ (P. B. Shelley)

 

„Man kommt ohne das Altertum aus“
(W. Schuller)

0. Vorbemerkung

Dieses Buch ist für Leser gedacht, die sich einen Überblick über die griechische Antike verschaffen wollen, ohne dabei auf mehr als sehr allgemeines Vorwissen zurückgreifen zu müssen. Die angelsächsische Welt hat dafür den passenden Begriff vom „general reader“ geprägt, der sich nicht recht ins Deutsche übertragen lässt. Es ist kein Buch für Fachleute und nur in sehr beschränktem Maße eines für solche, die es vielleicht einmal werden wollen. Es ist auch kein Nachschlagewerk oder „Minimalhandbuch“, in dem die wichtigsten Ereignisse der behandelten Epoche systematisch aufgelistet sind. Gleichwohl ist es ein Buch für alle diejenigen, die sich für das Altertum interessieren und sich über die Grundzüge der antiken griechischen Geschichte informieren wollen. Der „intendierte Leser“, also derjenige Leser, den sich der Autor beim Schreiben gewissermaßen als idealen Adressaten vorstellt, könnte jemand sein, der aus touristischem, aus allgemein kulturgeschichtlichem Interesse oder auch als Student einer geisteswissenschaftlichen Disziplin, die historische und inhaltliche Verbindungen zur antiken Kulturgeschichte aufweist (etwa Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft), zu diesem Büchlein greift. Idealerweise ist es einfach jemand, der aus reiner Wissbegier etwas über ein faszinierendes Volk und seine Geschichte erfahren möchte, dessen kulturelle Leistungen uns mittelbar und manchmal auch unmittelbar noch heute betreffen.

Das Buch behandelt die Kultur und Geschichte der Griechen des Altertums während der „archaischen“ und „klassischen“ Zeit. Unter Archaik versteht man die Epoche der Ausbreitung der griechischen Stadtstaatkultur im Mittelmeerraum und im Schwarzmeergebiet zwischen ca. 750 und ca. 500 v. Chr. Die Klassik, die Blütezeit der griechischen Zivilisation, umfasst die Periode von etwa 500 bis 338 (das exakte Datum bezeichnet die Niederlage Athens und seiner Verbündeten gegen den Makedonenkönig Philipp II., das gemeinhin als Ende der unabhängigen Stadtstaaten der Griechen gilt). Beide Epochen lassen sich kunstgeschichtlich und politisch deutlich voneinander scheiden. Die diesen Epochen vorangegangenen Hochkulturen der griechischen Bronzezeit (Minoische und Mykenische Kultur) können hier ebenso wenig behandelt werden wie die Zeit Alexanders des Großen und der von seinen Nachfolgern gegründeten makedonisch-griechischen Königreiche, die weit über die Mittelmeerwelt hinaus die Antike bis zum Siegeszug der Römer prägten –kulturell noch weit darüber hinaus. Diese thematische Beschränkung ist einzig Art und Umfang dieser Einführung geschuldet, die eine Ausbreitung von mehr als 1.500 Jahren Geschichte nicht zulässt.

Obwohl es sich bei dem vorliegenden Bändchen um eine sehr knappe Darstellung der griechischen Zivilisation der Antike handelt, in der keine Forschungsdiskussionen ausgebreitet werden können und auch kaum Raum für von der herrschenden Meinung abweichende Thesen bleibt, liegt ihm doch eine These gewissermaßen als Grundüberzeugung zu Grunde. Die These ließe sich etwas folgendermaßen formulieren: Das Interesse an der Antike ist auch im 21. Jahrhundert ungebrochen und bedarf einer adäquaten Pflege. Die allgemeinen Kenntnisse vom Altertum und seiner Kultur sind aufgrund der Veränderungen im Bildungswesen (in ganz Europa) stark zurück gegangen, was von Kulturkritikern häufig beklagt wird. Diesen Sachverhalt kann man betrauern, man kann ihn aber auch als Chance begreifen. Die Tatsache, dass immer weniger Bewohner der westlichen Welt in alten Sprachen ausgebildet werden, heißt ja nicht, dass das Interesse an der antiken Kultur erloschen sei, sondern nur, dass die Grundlage der „klassischen“, im 19. Jahrhundert begründeten Allgemeinbildung weg gebrochen ist und die Vermittlung der Antike neuer Kanäle bedarf. Dass diese These nicht ganz aus der Luft gegriffen ist, scheinen die vielen Hollywoodadaptionen griechischer und allgemein antiker Stoffe zu bestätigen. Filme wie das Spartaspektakel 300, Alexander oder Troja mit Brad Pitt haben unabhängig von ihrer Qualität Millionen Menschen in die Kinos gelockt. Dokumentarfilme mit nachgestellten Szenen über antike Geschichte erreichen hohe Einschaltquoten, und Archäologieformate wie Terra X und Schliemanns Erben sind seit Jahren Quotenbringer bei den Fernsehsendern.

Wolfgang Schuller schrieb einmal in seiner Einführung in die Geschichte des Altertums, dass man gut und gerne ohne Kenntnisse über die Antike leben könne. Seine Aussage wurde diesem Vorwort etwas provokativ vorangestellt. Beim Zitieren habe ich jedoch den wichtigen Nachsatz unterschlagen, in dem der Autor betont, welchen Verlust es bedeutet, auf diese Kenntnisse zu verzichten: „Man kommt ohne das Altertum aus. Mehr aber auch nicht. Man kommt über die Runden, aber das ist ja nicht genug, wenn man von einer Sache wirklich etwas verstehen will“ (W. Schuller, Einführung in die Geschichte des Altertums, UTB, S. 12). Daran anknüpfend möchte dieses Buch eigentlich nur das Interesse an der griechischen Antike wecken. Wenn dieses Ziel bei dem einen oder anderen Leser erreicht wird, wäre der Autor schon sehr zufrieden. Wenn es ihm auf diesen wenigen Seiten darüber hinaus gelänge, zu vermitteln, dass die Beschäftigung mit dem Altertum eine lohnende und vor allem spannende Angelegenheit ist, und Kenntnisse über die griechische Kultur und Geschichte durchaus dabei helfen können, die kulturellen Wurzeln unserer eigenen, modernen Welt des 21. Jahrhunderts zu verstehen, dann wäre das bereits ein großer Gewinn.

Hinweise zur Benutzung des Buches:

Alle folgenden Daten beziehen sich – sofern nicht anders ausgewiesen – auf die Zeit vor Christi Geburt. Den Quellenzitaten liegen die Übersetzungen von J. H. Voß (Homer), G. P. Landmann (Thukydides), J. Feix und A. Horneffer (Herodot), K. Reinhardt (Sophokles) und H. Vretska (Xenophon) zugrunde, bisweilen wurden leichte Änderungen vorgenommen. Die übrigen, nicht gekennzeichneten Zitatübersetzungen, stammen von mir. Am Ende finden sich eine knappe Zeittafel und eine sehr kurze Auswahlbibliographie mit der wichtigsten weiterführenden Literatur (weitgehend in deutscher Sprache), sowie Literaturhinweise zu den einzelnen Kapiteln.

1. Einleitung: Raum, Zeit, Umwelt

Im Jahr 401 machte sich ein rund 10.000 Mann umfassendes griechisches Söldnerheer unter Führung des Athener Heerführers und Schriftstellers Xenophon auf einen langen beschwerlichen Heimweg von Kunaxa im Zweistromland bis zur Südküste des Schwarzen Meeres. Ihr Arbeitgeber, der Thronprätendent des persischen Königreiches, Kyros, war seinem Bruder Artaxerxes unterlegen, die Griechen nach dem Tod des Kyros in der Schlacht arbeitslos. Nach langen Strapazen und vielen Kämpfen in unbekanntem und feindlichem Gebiet erklomm die Vorhut des Trosses eines Tages einen Berg. Xenophon hörte plötzlich von vorne laute Schreie und stürmte kampfbereit mit einer Reiterschar dorthin, weil er glaubte, die Vorhut sei angegriffen worden. Auf der Kuppe des Berges lagen sich jedoch seine Soldaten weinend und lärmend in den Armen und riefen immer wieder „Thalatta, Thalatta!“, „Das Meer, das Meer!“. Sie hatten an der Nordostküste der heutigen Türkei (bei Trabzon) endlich das Schwarze Meer gesichtet. Lassen wir Xenophon selbst zu Wort kommen: „Da liefen nun alle heran, auch die Nachhut, Zugtiere und Pferde wurden herangetrieben. Als alle auf die Berghöhe gekommen waren, da umarmten sie einander unter Tränen, sogar Strategen und Lochagen [Generäle und Offiziere].“ (Xenophon, Anabasis, 4, 5, 24-25).

Während in unserer heutigen Wahrnehmung das Meer das trennende Element ist und das Land uns verbindet, war es in der griechischen Antike genau umgekehrt. Das Meer bestimmte unmittelbar den Lebensraum. Es war zugleich wichtigster Verkehrs- und Handelsweg, bedeutender Nahrungslieferant und allgegenwärtiges Tor zur Welt. Für Xenophons Soldaten bedeutete der Anblick des Meeres die Rettung und eine baldige Passage in die Heimat. Für die Griechen des Altertums bestimmte das salzige Element den Alltag und war allgegenwärtig im Leben wie im Denken. Ein rechtes Verständnis für die Lebenswelt und die Kultur der Griechen lässt sich nur ausgehend vom Meer und seiner Bedeutung für dieses seit Odysseus sprichwörtliche Seefahrervolk gewinnen. Sogar das heutige Griechenland (in der Antike waren griechische Städte über den ganzen Mittelmeerraum bis ins Schwarzmeergebiet verteilt) verfügt über eine eindrucksvolle Küstenlänge von gut 4.000 Kilometer, rechnet man die zahlreichen Inseln hinzu, sind es über 13.000 Kilometer. Eine solche geographische Ausgangslage prägt die Bewohner nachhaltig, man musste sich mit dem Meer auseinandersetzen. Die See behielt dabei für die Griechen den Aspekt des gefährlichen, Verderben bringenden bodenlosen Elements. In ihren Tiefen verorteten Sagen und Legenden Meerungeheuer. Poseidon war unberechenbar, und wer einmal einen Sturm auf dem Mittelmeer erlebt hat, kann sich noch heute die Ängste antiker Seefahrer ausmalen. Selbst in der Odyssee, dem Seefahrerepos par excellence, sagt etwa der König der Phäaken zum gestrandeten Odysseus (Od. 8, 137ff): „Denn nichts Schrecklichers ist mir bekannt, als die Schrecken des Meeres,/ Einen Mann zu verwüsten, und wär’ er auch noch so gewaltig.“ Dennoch gab es für die Griechen keine Alternative zur See, sie bildete das geographische Zentrum, das Zentrum der Verbindungslinien zwischen den Städten, was jede Karte auf einen Blick zeigt und sich auch in Platons Bemerkung wieder findet, mit ihren Städten säßen die Griechen um das Meer herum, wie Frösche um einen Teich (Phaidon 109). Bedenkt man weiter, dass die karstige Gebirgslandschaft mit sehr wenigen fruchtbaren Gegenden im Landesinneren des Festlandes und der Peloponnes nur eine begrenzte landwirtschaftliche Nutzung erlaubt und bereits in der Antike die Wälder Griechenlands weitgehend abgeholzt waren, wird die Bedeutung des Meeres, überhaupt die Relevanz von Raum und Umwelt für Kultur und Wahrnehmung der Griechen, deutlich. Viele Gebiete, selbst die des griechischen Kernlandes, waren angesichts der zerklüfteten Landschaft und der gefährlichen und beschwerlichen Landwege (meist Steilpfande) eigentlich nur über den Seeweg zugänglich.

Neben der geographischen Einordnung scheint mir besonders ein weiterer Aspekt unabdingbar für ein echtes Verständnis der Griechen und ihrer Kultur: Unser Verhältnis zu ihnen. Diesen Aspekt verfolgt das letzte Kapitel, das der Rezeptionsgeschichte gewidmet ist, und beschreibt, wie verschiedene Epochen „ihre“ Griechen wahrgenommen haben. Doch einige Bemerkungen zur Nähe bzw. zur Fremdheit der antiken griechischen zu unserer neuzeitlich modernen Kultur sind schon in diesem Einleitungskapitel nötig.

Es gibt wohl kein ernst zu nehmendes Theater in Deutschland, das in den letzten Jahren nicht eine Antigone oder eine Tragödie von Euripides auf dem Spielplan gehabt hätte. Wir lernen in der Schule, dass die Griechen nicht nur das Theater erfunden, sondern auch als erste die Demokratie als Staatsform hervorgebracht haben. Vieles von dem, was zu den essentiellen Grundlagen europäischer Geistesgeschichte zählt, wurde erstmals von Griechen gedacht und formuliert, ob es sich um die Erfindung des historischen und des politischen Denkens handelt, oder um die kritische Rationalität im Austausch von Gedanken und im Formulieren von Meinungen, um mathematische Axiome oder ärztliche Standesehre (der berühmte Hippokratische Eid). Bis vor kurzem lernte man in der Schule auch nicht nur eine tote Sprache der Antike (im deutschen Gymnasialunterricht nimmt Latein hinter dem Englischen noch immer den zweiten Rang innerhalb der Fremdsprachen ein), sondern mit dem Altgriechischen auch eine zweite, und wenn Alfred N. Whitehead Recht hat, dann besteht die ganze moderne Philosophiegeschichte aus Fußnoten zu Platon. Kurzum: Die Antike im Allgemeinen, die griechische Antike im Besonderen gehört zu uns, gehört uns. Die Lordsiegelbewahrer der abendländischen Hochkultur erheben zwar häufig die Klage, dass es einstmals besser um die Kenntnis des Altertums gestanden habe. Dennoch ist die griechische Kultur bis in den Sprachgebrauch hinein („Eulen nach Athen tragen“, „Tantalusqualen leiden“, „den Augiasstall ausmisten“, „kein Krösus sein“, „eine Odyssee erleben“ etc.) auch heute noch allgegenwärtig.

Genau diese Vertrautheit mit der griechischen Kultur der Antike, wie oberflächlich sie heutzutage auch sein mag, steht aber einem differenzierten und realitätsnahen Verständnis der Griechen, wie es in diesem Buch vorgeschlagen wird, nachhaltig im Wege. Wir sehen „unsere“ Griechen eben zunächst einmal durch die Brille einer über 2.000-jährigen Rezeptionsgeschichte mit unterschiedlichen Aneignungsstufen. Dieser Sachverhalt verdeckt bisweilen die andere, uns eher fremde und – so sie uns bewusst ist – befremdende Seite der griechischen Kultur, etwa ihre seltsame, von blutigen Tieropfern und merkwürdigen Ritualen geprägte Religion, ihre Grausamkeit und Brutalität gegenüber Besiegten oder die Sklaverei, die zum unhinterfragten Alltag gehörte. Ein Buch über die Griechen müsste man daher – wenn das möglich wäre – eigentlich aus einer ähnlichen Perspektive schreiben wie ein Buch über die Maya, die Khmer oder die Han-Dynastie. Doch das Nachdenken über die griechische Kultur bedeutet immer zugleich auch ein Nachdenken über unsere eigene Kultur. Dieses hermeneutische Problem kann nicht gelöst, sondern nur ins Bewusstsein gebracht werden. In diesem Sinne möchte ich hier für eine vorsichtige Distanzierung plädieren. Natürlich kann uns ein Blick auf die griechische Antike niemals in wirklich gleicher Weise gelingen wie ein Blick auf unserer Kultur völlig fremde historische Sachverhalte und Gesellschaften. Dennoch muss man sich bewusst machen, dass die Griechen bei all ihren großartigen und bewundernswerten Leistungen, ihrer Philosophie, Literatur und Architektur, die unser Bild von ihnen beherrschen, ein vormodernes Volk waren, dessen Wesen, Lebensstil und Leistungen uns nur durch den Prozess formender Aneignung so nah erscheint.

Das ist kein prinzipiell neuer Gedanke. Bereits Nietzsche und Jacob Burckhardt haben auch auf die „dunkle Seite“ der griechischen Kultur verwiesen und heutzutage ist die Methode des ethnologischen Vergleichs als eine nützliche Herangehensweise der Forschung verbreitet. Gleichzeitig bedeutet ein solcher Ansatz auch keineswegs eine „Primitivisierung“ der griechischen Kultur, deren ungeheure schöpferische Leistungen immer Bestand haben werden. Vielleicht ist es ja auch gerade diese andere, dunklere Seite, die den Reiz der Beschäftigung mit dem hellenischen Altertum im 21. Jahrhundert ausmachen kann. Zumindest ist der warnende Hinweis, nicht einseitig die Marmorfassaden der griechischen Zivilisation zu beachten, für ein umfassendes und wirkliches Verständnis der griechischen Kultur in all ihren Aspekten erforderlich.

Diese hier nur angedeutete unterschiedliche Wahrnehmung und Rezeption der griechischen Kultur in verschiedenen Epochen der abendländischen Geistesgeschichte hat ihren Ursprung nicht zuletzt in Art und Menge der uns zur Verfügung stehenden Quellen über die griechische Antike. Diese sind an Umfang und Qualität denen, die uns etwa für die frühe Neuzeit zur Verfügung stehen und bereits statistische Auswertungen zulassen, nicht vergleichbar. Neben den in Relation eher wenigen antiken Originalzeugnissen wie Inschriften, Münzen, Texten auf Papyrus und archäologischen Zeugnissen, die die Zeiten überdauert haben, sind es in erster Linie deutende und interpretierende Texte aus der Antike, die auf unterschiedlichen Überlieferungswegen selektiv auf uns gekommen sind. Sie repräsentieren nicht nur einen ausgesprochen kleinen Bruchteil dessen, was die Griechen schriftstellerisch während eines halben Jahrtausends produziert haben, sondern genügen auch nicht wirklich den Ansprüchen, die Historiker eigentlich an Quellen stellen. Der bedeutende Althistoriker Moses Finley hat einmal darauf hingewiesen, dass unsere wichtigste und in höchstem Ansehen stehende historische Quelle für das 5. Jahrhundert, das Geschichtswerk des Thukydides von Athen (von ihm wird noch ausführlicher die Rede sein), von Qualität und Anspruch am besten mit Tolstois Krieg und Frieden verglichen werden kann. Man versuche also einmal, die Geschichte von Napoleons Russlandfeldzug auf der Basis von Tolstoi zu schreiben (dazu vielleicht noch ein paar archäologische Funde von französischen Lafetten und Uniformteilen), um ein Gefühl für die Schwierigkeiten der althistorischen Quellenkritik zu bekommen. Gleichzeitig verweist dieser Sachverhalt auf die Fragilität unseres Wissens über die Griechen und ihrer Geschichte, die immer wieder neuer Deutung bedarf.

Ein weiterer besonderer Umstand, den es immer mit zu bedenken gilt, ist ebenfalls den Quellen geschuldet: Wenn wir von Griechenland sprechen, meinen wir oft eigentlich nur Athen. Die kulturelle und politische Dominanz Athens im 5. und 4. Jahrhundert hat dazu geführt, dass unsere Überlieferung in weiten Teilen – mittelbar oder unmittelbar – nur diese heimliche Hauptstadt der Griechen betrifft. Weite Teile der Geschichtsschreibung, die gesamte Staatstheorie und Philosophie der klassischen Zeit, stammen aus der Feder athenischer (oder dort ansässiger) Autoren. Auch der Großteil der bedeutenderen und längeren Inschriften aus dieser entscheidenden Epoche mit im engeren Sinne politischem Gehalt betrifft diese Stadt. Obwohl Athen in vielerlei Hinsicht (v.a. was die Ausbildung einer radikalen, auch untere Schichten einbeziehenden Demokratie betrifft) als repräsentativer Maßstab für die griechische Geschichte betrachtet werden kann, leitet der Mangel an (v.a. literarischen) Quellen für andere Städte und Gegenden Griechenlands den Blick des modernen Betrachters nicht selten in entscheidendem Maße in die Irre. Entsprechend müssen moderne Darstellungen – oftmals geschieht das sogar unbewusst – immer auch von den bekannten athenischen Verhältnissen auf diejenigen in anderen griechischen Stadtsaaten zurück schließen, über die nur bruchstückhafte Informationen vorliegen. Auch diesen Sachverhalt kann man nicht umgehen oder nur sich selbst und den Lesern bewusst machen, um dann einmal mehr auf die Fragilität unseres Wissens über das antike Griechenland zu verweisen.

Bis jetzt war ganz allgemein von „Griechenland“ und „den Griechen“ die Rede. Wo liegt aber das „Griechenland“ des Altertums, und wie lassen sich seine Bewohner näher bestimmen? Diese beiden Fragen sind nur scheinbar banal. Von Griechenland zu sprechen ist für die Zeit der Antike eigentlich sehr ungenau und fast irreführend, versteht man doch unter einem „Land“ gemeinhin ein kompaktes und zusammenhängendes Gebilde, das in geographischer oder kultureller Hinsicht in einem gewissen Grade homogen ist. Neben dem heutigen Griechenland, also der südlichen Balkanhalbinsel mit der Peloponnes und den vorgelagerten Inseln, dem geographischen Kerngebiet auch des antiken Griechentums, gehörte zu dem „Griechenland“, das Gegenstand dieses Buches ist, aber auch die kleinasiatische Küste und ihr Hinterland, die bereits im 11. Jahrhundert von Griechen besiedelt wurden. Darüber hinaus waren fast ganz Sizilien sowie Teile Süditaliens, weiterhin Küstenstädte und Küstengebiete im heutigen Südfrankreich, in Nordafrika und rund um das Schwarze Meer von griechischen Kolonisten besiedelt worden. Überall dort lebten seit dem 8. Jahrhundert Griechen. In einigen Gebieten war die Besiedlung intensiver und prägte auch das Umland (etwa in Kleinasien und Sizilien), andernorts beschränkten sich die so genannten griechischen „Apoikien“ (Kolonien, Pflanzstädte) auf die Küstenstädte, die besonders zahlreich zwischen dem 8. und dem 6. Jahrhundert gegründet worden waren und die – natürlich wegen ihrer Lage am und dem direkten Zugang zum Meer – immer Ausgangspunkt dauerhafter griechischer Ansiedlung waren. Deshalb eben konnte ein Platon hinsichtlich der griechischen Bevorzugung von Siedlungsplätzen am Meer die Griechenstädte an den Küsten mit Fröschen vergleichen, die um einen Teich herum sitzen.

Während die Frage, wie das antike Griechenland geographisch zu beschrieben sei, aufgrund der historischen Quellen und der archäologischen Funde recht einfach geklärt werden kann, ist es weitaus schwieriger, genauer zu bestimmen, wer denn nun die „Griechen“ des Altertums waren und woher sie kamen.

Die Griechen selbst bezeichneten sich seit der klassischen Zeit als Hellenen (héllenes, zunächst wohl nur der Name eines thessalischen Stammes), unsere Bezeichnung „Griechen“ geht auf die lateinische Bezeichnung des Volkes, graeci, zurück. Sie verbanden mit ihrer Herkunft Vorstellungen, denen sie selbst den Namen „Mythen“, sagenhafte Geschichten, gaben, und die wir heute – allerdings in anderer Wortbedeutung – ebenfalls Mythen nennen würden. Für die Griechen handelte es sich dabei um historische Erinnerung in Form sagenhafter Geschichten, die zwar zeitlos empfunden, aber auch als durchaus wahr anerkannt wurden, denn das meint der Begriff mythos eigentlich. Wir hingegen bezeichnen literarische Erfindungen, Sagen und Legenden als Mythen. Sie alle stammten, so glaubten die Griechen, von einem mythischen Helden namens Hellen ab, der wiederum als Urvater der griechischen Stämme galt. Deren wichtigste waren die Ionier, die Achaier, Aioler und Dorer (entsprechend finden sich unter den Söhnen und Enkeln des Hellen ein Doros, ein Aiolos, ein Ion und ein Achaios).

In historischer Zeit, also zu Zeiten geordneter, systematisierender und zur Bewahrung für die Nachwelt gedachter schriftlicher Überlieferung, mithin ab dem 5. Jahrhundert, hatten die Griechen trotz aller Unterschiede zwischen den zahlreichen Kleinstaaten und den verschiedenen Stämmen, die sich durch eigene Dialekte und Mythen voneinander abgrenzten, eine Vorstellung von ihrem gemeinsamen „Griechentum“. Diese verbindende Vorstellung hat uns Herodot überliefert. Mitte des 5. Jahrhunderts hatte er als erster Europäer ein geschichtliches, wohl um das Jahr 430 publiziertes Werk geschrieben – sein Thema waren die Perserkriege zu Beginn des 5. Jahrhunderts –, das historische Fragestellungen behandelt und Methoden entwickelt, die noch heute als Basis der modernen Geschichtswissenschaft dienen. Als Gründe dafür, warum die einzelnen griechischen Staaten gegen die Bedrohung durch die Perser zusammenhalten müssten, gaben die Athener in Herodots Bericht Folgendes als „typisch griechisch“ zu Protokoll (Buch 8, 144): „Wir teilen die gleiche Abstammung und die gleiche Sprache mit den Griechen, die gleichen Heiligtümer und gemeinsame Opferfeste, sowie gleichgeartete Sitten“.

Diese Aufzählung – so würde jeder Ethnologe sicher bestätigen – umfasst die Kernelemente ethnischer Identität und kultureller Zusammengehörigkeit: gemeinsame Abstammung (oder zumindest der Glaube an eine solche), gemeinsame Sprache, Religion und Bräuche. Entsprechend konnten sich die Griechen des 5. Jahrhunderts trotz aller Zankereien und trotz alltäglicher Kriegshandlungen zwischen den häufig verfeindeten Stadtstaaten als Träger einer gemeinsamen Kultur empfinden und als solche auch im Kampf gegen einen gemeinsamen „barbarischen“ Feind handeln. Eine bedeutende Vermittlungsinstanz für diese Gemeinsamkeiten waren die vielen religiösen Feste, besonders die vier panhellenischen Spiele, die Pythien in Delphi, die Isthmien bei Korinth, die Nemeen in Nemea und allen voran die seit 776 durch Siegerlisten belegten Olympischen Spiele, an denen nur Hellenen teilnehmen durften und die Griechen aus allen Teilen der bekannten Welt zusammen führten.

Vom ersten Auftauchen von Einwanderern auf der südlichen Balkanhalbinsel, die einen frühgriechischen Dialekt sprachen, bis zu Herodots Beschreibung der hellenischen Kulturgemeinschaft lässt sich die in einem langfristigen Prozess ablaufende Ethnogenese der historischen Griechen nur bruchstückhaft rekonstruieren: Wohl um 2000 wanderten vom Norden aus nach und nach Träger einer neuen Kultur ins griechische Kernland ein. In den folgenden Jahrhunderten gelangten diese durch Handelskontakte und Kulturaustausch unter den prägenden Einfluss der Minoischen Kultur, der berühmten Hochkultur auf Kreta (Blütezeit etwa 2000 bis 1450), und begannen einen eigenständigen Stil in der Produktion von Keramik und Kunstgegenständen zu entwickeln. Die Archäologie kann diese Einwanderungsbewegung anhand der Grabbefunde nachweisen. Die bronzezeitlichen Gräber, die den Trägern dieser neuen Kultur, die sich um 1600 festigte und stärkere kulturelle (und damit archäologisch nachweisbare) Merkmale ausbildete, zugeordnet werden können, unterscheiden sich von den früheren Grablegen durch bestimmte markante Details: Grablege in Schächten, deswegen „Schachtgräber“, vermehrt Waffenbeigabe als Zeichen einer „Kriegerkultur“. Dass es sich bei diesen Neuankömmlingen, die die nach ihrem Hauptfundort auf der Peloponnes benannte Mykenische Kultur begründeten, um Leute handelte, die Griechisch sprachen, weiß man erst seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, als es dem englischen Architekten Michael Ventris in Zusammenarbeit mit dem Philologen John Chadwick endlich gelungen war, die Schrifttäfelchen zu entziffern, die die „Mykener“ in ihren ausgebrannten Palästen und Verwaltungsgebäuden hinterlassen hatten. Denn nur durch Brandkatastrophen in diesen Gebäuden, seien sie zufällig oder durch kriegerische Akte verursacht, wurden diese eigentlich ungebrannten Archivtontäfelchen konserviert. Groß war die Überraschung, als sich auf den hauptsächlich buchhalterischen Zwecken dienenden Schrifttafeln bekannte griechische Amtstitel, Orts- und Götternamen fanden, darunter auch der Name des Gottes Dionysos, den man zuvor aufgrund der mythologischen Überlieferung für eine „junge“ Gottheit gehalten hatte, die erst spät Eingang in den griechischen Götterhimmel gefunden habe.

Inwieweit man die Angehörigen dieser Mykenischen Kultur, die zwischen 1200 und 1100 unter immer noch ungeklärten, aber gewaltsamen Umständen vollständig von der Bildfläche verschwindet, als Griechen ansprechen darf, ist in der Forschung höchst umstritten, dass es sich bei ihrer Sprache um eine frühe Stufe des Griechischen handelte indes nicht. Über die ethnische Struktur der Bevölkerung der späten Bronzezeit (etwa 1600-1100) lässt sich auch anhand des archäologischen Materials keine befriedigende Aussage treffen. Auch hinsichtlich des Verbreitungsgrads der Sprache (nur von einer Herrenschicht gesprochen?, nur administrativen Zwecken dienlich?) lässt sich für diese frühe Periode keine eindeutige Schlussfolgerung ziehen. Vom historischen Griechentum kann man eigentlich erst für die Zeit der so genannten „Dunklen Jahrhunderte“ sprechen, die auf den gewaltsamen Untergang der Mykenischen Kultur folgen, und die bis zum Beginn der archaischen Zeit andauern, also etwa von 1100 bis 800/750. Man spricht davon, obwohl gerade für diese Epoche die Schriftzeugnisse fehlen, denn die Kenntnis der Schrift ging in dieser Periode eines allgemeinen Niedergangs scheinbar ebenso verloren wie die kunsthandwerklichen Fertigkeiten abhandenkamen. In dieser Zeit, in der offenbar nicht nur die Schrift verlernt wurde, sondern auch die politischen Institutionen verschwanden und die materielle Kultur verarmte, kam es zu erneuten Wanderungsbewegungen, die als die Ionische und die Dorische Wanderung bekannt sind. In das Vakuum, das der Niedergang der mykenischen Palastzentren und der damit verbundene Bevölkerungsrückgang hinterlassen hatte, stießen nun Gruppen, die man mit dem griechischen Stamm der Dorer in Verbindung bringt. Sie besiedelten nun das griechische Kernland und stießen später bis zur Peloponnes vor, wo Sparta eine der wichtigsten dorischen Siedlungen wurde. Gleichzeitig wanderten Reste der vordorischen Bevölkerung, die den ionischen Dialekt des Griechischen sprachen, nach Kleinasien aus, wo sie bis zu ihrer Vertreibung durch Atatürk und die wirren Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg dreitausend Jahre später die Westküste der heutigen Türkei besiedelten. Im Prozess dieser komplexen Migrationsbewegungen (es wird freilich auch diskutiert, dass es sich bei der Dorischen Wanderung weitgehend um Binnenmigration gehandelt haben könnte) kam es zur Herausbildung derjenigen griechischen Stämme und Staaten, die sich auch zu historischen Zeiten durch sprachlich-dialektale Unterschiede fassen lassen. Neben dem Ionischen, das von den kleinasiatischen Griechen, in Athen mit Umgebung und auf Euböa gesprochen wurde (wo Nachfahren der Mykener verblieben waren), dem Dorischen und dem Nordwestgriechischen, das auf der Peloponnes, auf Kreta, in Arkananien und Ätolien vorherrschte, gab es noch das Äolische in Böotien und Thessalien, sowie den frühgriechischen Dialekt des Arkado-Kyprischen, der auf Zypern und im unzugänglichen Zentrum der Peloponnes, in Arkadien, gesprochen wurde.

Am Ende dieser mit der so genannten Geometrischen Keramik auch archäologisch fassbaren Periode der griechischen Ethnogenese stehen zwei revolutionäre Kunstwerke, die nach scheinbar schriftlosen Jahrhunderten wie ein Paukenschlag die Kulturgeschichte des Abendlandes begründen sollten: die Ilias und die Odyssee.

2. Krieger und Seefahrer: Die Welt(en) Homers

„Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes/ Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung/ Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat,/ Und auf dem Meere so viel’ unnennbare Leiden erduldet,/ Seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft./ Aber die Freunde rettet’ er nicht, wie eifrig er strebte,/ Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben […],/ Alle die andern, so viel dem verderbenden Schicksal entflohen,/ Waren jetzo daheim, dem Krieg entflohn und dem Meere:/ Ihn allein, der so herzlich zur Heimat und Gattin sich sehnte,/ Hielt die unsterbliche Nymphe, die hehre Göttin Kalypso,/ In der gewölbeten Grotte und wünschte sich ihn zum Gemahle.“ (Homer, Odysse, 1, 1-6). Mit diesen berühmten Versen beginnt das zweite der beiden unter dem Namen des Dichters Homeros, zu Deutsch Homer, überlieferten Epen um den Trojanischen Krieg und die Rückkehr der an ihm beteiligten griechischen Helden: die sagenhafte Geschichte von den Irrfahrten des Königs von Ithaka, der nach der zehnjährigen Belagerung Trojas erst nach weiteren zehn abenteuerlichen Jahren in die Heimat zurückkehren kann und dort seine von Eindringlingen bedrohte Herrschaft wieder etablieren muss. Die Eingangsverse der Odyssee habe ich für den Kapitelanfang deshalb ausgewählt, weil in diesen wenigen Sätzen bereits im Kern die wichtigsten Elemente enthalten sind, die die „Welt Homers“, also das frühgriechische Universum des 8. und frühen 7. Jahrhunderts, charakterisieren: Es ist die Rede von Seefahrt und Rückkehr, von Kulturkontakt und Kulturaustausch (Odysseus hat „vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt“), von Krieg und Missetat und – natürlich – vom allgegenwärtigen Meer als Zentrum der Existenz, als Verkehrsweg aber auch als Verderben bringendes, schicksalhaftes Element.

Bevor aber die Rede von dieser Lebenswelt, der „Welt Homers“, sein wird, zunächst einige Worte zum ersten und wohl berühmtesten Dichter des Abendlands: Die Philologen sind sich mittlerweile weitgehend einig, dass die unter dem Namen Homers überlieferten Versdichtungen Ilias und Odyssee aufgrund der stilistischen Unterschiede von verschiedenen Autoren stammen müssen und unterschiedlichen Abfassungszeiten angehören (die von unbekannten Verfassern stammenden so genannten „Homerischen Hymnen“, Preislieder auf Göttinnen und Götter, die ins 7. bis 5. Jahrhundert datieren, orientieren sich nur sprachlich an den Homerischen Epen). Der blinde Sänger Homer, von dem bereits die antike Überlieferung nur Ungefähres zu berichten wusste, hat wohl niemals wirklich als leibhaftige Person existiert. In der Forschungsliteratur wird deshalb in jüngerer Zeit nur noch von den „Homerischen Epen“, vom „Dichter der Ilias“ und dem „Dichter der Odyssee“ gesprochen. Die Ilias, die einen dramatischen Ausschnitt aus der zehn Jahre andauernden Belagerung der Stadt Ilion (Troja) präsentiert – den als „Zorn des Achill“ bekannten Streik des griechischen Haupthelden und seine Folgen –, entstand wohl bald nach 750, die Odyssee um 700. Allerdings ist die Datierungsfrage immer noch umstritten.

Doch unabhängig von dieser in Fachkreisen so genannten „Homerischen Frage“ nach Autor und Autorschaft markieren die beiden beispiellosen Kunstwerke einen Neubeginn und künstlerischen Aufbruch der griechischen Zivilisation, der wie ein Donnerschlag die ansonsten schriftlosen „Dunklen Jahrhunderte“ beendete. Das gilt sowohl inhaltlich für die Einordnung historischer Sachverhalte, als auch formal: Die beiden Epen markieren nämlich den Moment des Übergangs von einer der ständigen Veränderung ausgelieferten mündlichen Überlieferung zu schriftlichem und damit festgelegtem Sprachausdruck. Dass dies in einer so vollkommenen Form gleich zu Beginn der griechischen Schriftkultur erfolgen konnte, kann man getrost dem herausragenden Talent des jeweiligen Verfassers bzw. Redaktors zuschreiben, aber auch der Tatsache, dass die beiden Epen einer langen ausgefeilten mündlichen Tradition entstammen, die nun im Wortsinne festgeschrieben wurde. Es ließe sich noch Vieles über die epische Kunstsprache der Homerischen Dichtungen sagen oder über darin enthaltene Merkmale mündlicher Dichtung, über Komposition, Verwendung von Formelsprache, über dichterische Freiheit neben alten Märchenmotiven usw. In unserem Zusammenhang ist aber besonders der historische Aspekt der Homerischen Epen von Interesse: Was lässt sich über die Welt Homers aus den Epen erschließen?

Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass wir es eigentlich mit drei Welten Homers zu tun haben. Es vermengen sich in den Gedichten nämlich drei Ebenen, die sich heute kaum mehr wirklich entwirren lassen. Einerseits werden offenbar die Verhältnisse einer lange zurückliegenden „heroischen“ Epoche beschrieben. Dabei handelt es sich möglicherweise um jene Epoche, welche die Rhapsoden, also diejenigen, die diese mündlichen Dichtungen in den Generationen vor ihrer schriftlichen Fixierung vortrugen, mit der in ihren monumentalen Überresten noch allenthalben sichtbaren Hochkultur identifizierten, die wir nun die „Mykenische“ nennen. Der Trojanische Krieg aus der Ilias wurde bereits von den griechischen Schriftstellern der klassischen Epoche auf das 12. Jahrhundert datiert (die modernen Forscher, die an ihn glauben, datieren das Ereignis aufgrund der Zerstörungshorizonte in Troja ein Jahrhundert früher). Auf eine – zumindest gewollte – Verbindung zur mykenischen Zeit deuten gewisse Archaismen hin, etwa dass die beschriebenen Waffen aus Bronze sind, obwohl zu Zeiten der Abfassung der Homerischen Epen bereits seit 400 Jahren nur Eisen für die Waffenproduktion Verwendung gefunden hatte. Auch die meisten der im berühmten „Schiffskatalog“ genannten Griechenstädte, die sich unter Agamemnon zu einer Allianz zusammenschließen, waren nach dem archäologischen Befund bedeutende Zentren der Mykenischen Zeit. Andererseits ist die Lebenswelt dieser „heroischen“ Epoche der Epen im Vergleich zur archäologisch rekonstruierbaren mykenischen Palastkultur geradezu ärmlich. Odysseus, der listenreiche und heldenhafte „König“ von Ithaka, ist – wie auch die anderen aus den Epen bekannten griechischen Fürsten – nach normalen Maßstäben bestenfalls als besserer Großbauer zu bezeichnen. In dieser Hinsicht, wie auch hinsichtlich bestimmter Bräuche, wie etwa die für die nachmykenische Zeit bis etwa ins 8. Jahrhundert weit verbreitete Sitte des Leichenbrands (vgl. Begräbnis des Patroklos in der Ilias, Gesang 23), verweisen die Schilderungen klar auf die „Dunklen Jahrhunderte“.

Ein spektakulärer Grabfund bei Lefkandi auf der Insel Euböa (nördlich Attika vorgelagert) scheint die Verbindung zwischen den in den Epen geschilderten Realien und den Bräuchen der frühen Eisenzeit zu bestätigen. Dort kam ein Fürstensitz zum Vorschein, der während der dunklen Jahrhunderte eine bescheidene Blütezeit erlebte. Das auf das Ende des 10. Jahrhunderts datierte „Fürstengrab“ und die darin enthaltenen Beigaben weisen eine Reihe von verblüffenden Übereinstimmungen mit den Beschreibungen der Bestattungen des Patroklos und des Hektor aus der Ilias auf. Auch hinsichtlich des materiellen Hintergrunds dieser offenbar nur regional relevanten Herrschaft mit jedoch weit reichenden Handelsbeziehungen lassen sich Parallelen zu den Bauern- und Hirtenkönigen der Epen ausmachen. Leider lässt die Einzigartigkeit dieses Ausnahmefunds wirklich tragfähige Schlussfolgerungen nicht zu.

Als dritte zeitliche Ebene gesellt sich noch diejenige der Abfassungszeit der Epen hinzu. Ilias und Odyssee wurden ja für ein Publikum des 8. und beginnenden 7. Jahrhunderts mit spezifischem Erwartungshorizont verfasst. Entsprechend enthalten die Epen vor allem auch Hinweise auf Realitäten aus dieser Zeit. In der Beschreibung des vom Schmiedegott Hephaistos gearbeiteten Schilds des Achilleus, auf dem sich symbolische Darstellungen einer Stadt im Frieden und im Kriegszustand befanden, geht der Dichter bereits wie selbstverständlich von der um einen Marktplatz konzentrierten griechischen Stadt, der Polis, als typischem Lebensraum aus. Die Beschreibung der Gründung der Phäakenstadt Scheria in der Odyssee (6, 6ff, die Phäaken sind das friedliebende Volk, bei dem Odysseus gegen Ende seiner Irrfahrt Aufnahme findet), entspricht ziemlich exakt dem typischen Prozedere bei der Gründung einer griechischen Apoikie oder Pflanzstadt. Die griechischen Poleis und damit auch das Exportmodell der als Poleis verfassten Neustädte bildeten sich aber gerade wohl erst zum Beginn der Archaischen Zeit aus, waren also für die Dichter der Epen ein rezentes Phänomen (dazu im nächsten Kapitel mehr).

Die Historiker versuchen nun seit Generationen aus diesen drei zeitlichen Ebenen möglichst viele verlässliche Informationen herauszudestillieren. Dass dies für die Mykenische Epoche besonders schwierig ist, liegt auf der Hand. Entsprechend kristallisierte sich in den letzten Jahrzehnten die herrschende Meinung heraus, dass Homers Welt in erster Linie die Lebenswelt des 9. und 8. Jahrhunderts widerspiegelt, wobei Vieles aufgrund der poetischen und eben nicht historischen Interessen der Autoren im Ungewissen bleiben muss. Die Welt Homers ist dabei eine Welt überschaubarer Fürstentümer. Die Herren sind Grundbesitzer, deren ökonomische Basis weitgehend von Landwirtschaft und Viehzucht bestimmt wird. Sie verfügen über Gefolgschaften aus grundsätzlich standesgleichen Grundbesitzern, deren Unterstützung sie sich immer wieder versichern müssen (Einbindung in Ratsversammlungen, in denen die Älteren Vorrang haben). Das „Volk“, das man sich aus freien Bauern bestehend vorstellen muss, spielt in den Epen eine untergeordnete Rolle, nur wenige Stellen in den Hintergrundbeschreibungen erwähnen Bauern, Hirten, Handwerker, etwa Gold- und Silberschmiede oder Töpfer. Das Volk, der demos, hat aber bei Volks- und Heeresversammlungen offenbar die Möglichkeit, seine Meinung durch Murren und Rufen zu bekunden (Od. 3, 214).

Die Haushaltung der Adligen wird indes genauer beschrieben. Zum Hausstand (oíkos) als sozialer und wirtschaftlicher Einheit gehören neben der Kernfamilie um den Patriarchen auch fein abgestuft Hörige und Sklaven. So hat etwa der treue Schweinehirt des Odysseus, der Knecht Eumaios, seinerseits einen eigenen Sklaven. Die Anführer und Adligen sind zunächst einmal Krieger, und ihr Rang und Ruhm basiert auf Kriegstaten. Gastgeschenke, Prestigeobjekte und allgemein der Gabentausch spielten offenbar für diese Herrenschicht eine besonders große Rolle. Glaukos und Diomedes tauschen goldene bzw. bronzene Rüstungen (Il. 6, 230ff), Menelaos bietet dem Telemach, dem Sohn des Odysseus, als Gastgeschenk einen edlen Becher an und gibt ihm schließlich ein wertvolles silbernes Mischgefäß mit (Od. 4, 589ff). Luxusgüter aus Metall wie eherne Kessel, prunkvolle Becher aus Silber oder Gold, vor allem auch Importwaren und Luxuskeramik tauchen in den Epen als Prestigeobjekte und Statussymbole auf, sind aber auch archäologisch für das Dunkle Zeitalter und die frühe archaische Zeit in Gräbern belegt. Dennoch ist das, was die Forschung zur „Homerischen Gesellschaft“ zu sagen hat, in hohem Maße spekulativ, da sich dichterische Freiheit, absichtliche Distanzierung durch Archaismen (etwa Opferung von Gefangenen bei Bestattungen) und realitätsbezogene Beschreibungen der Gesellschaft nicht leicht voneinander trennen lassen.

Die in den Epen beschriebene und archäologisch belegte materielle Kultur verweist auch auf einen wichtigen Aspekt des Homerischen Zeitalters und des vorausgehenden 9. Jahrhunderts: Die Griechen fuhren nicht nur zur See, um Krieg zu führen oder Gastfreunde zu besuchen, sondern sie hatten auch intensive Kontakte, v. a. Handelskontakte zu benachbarten Völkern und Kulturen der Mittelmeerwelt. Während dieser Kulturkontakt in den Epen, vor allem in der Odyssee, als eher zufällig erscheint und bisweilen phantastische Züge trägt (die Lästrygonen, die Lotophagen, die Phäaken usw. repräsentieren in ihren seltsamen Sitten v. a. den Aspekt der Fremdheit, entweder als abscheulich oder als idealisiert dargestellt), zeigen archäologische Funde und nicht zuletzt auch die Einführung der von den Phöniziern übernommenen Schrift intensiven und stetigen Austausch. Dabei war der Fernhandel noch kein geordnetes Gewerbe und die Griechen übten es zumindest nach Auskunft der Epen nicht aus. Denn dort treten vor allem die Phönizier als fahrende Kaufleute auf. Doch archäologische Funde in Al Mina im heutigen Syrien, wo griechische Händler um 800 bereits einen Stützpunkt hatten, und auf der Insel Ischia, auf der Handel treibende Griechen bereits um 770 ansässig wurden, zeugen von Beziehungen, die über Gelegenheitskontakte hinaus reichten. Man wird sich die frühen griechischen Händler als eine Art Teilzeitpiraten vorstellen dürfen, die je nach Situation Handel trieben oder die Küstenplätze nach Art von Seeräubern ausplünderten. In der Odyssee (I, 338) erscheint Menschenraub zum Erwerb von Sklaven als ganz übliches Vorgehen. Und der Zyklop Polyphem fragt Odysseus und seine Mannen zunächst einmal misstrauisch aber pragmatisch, ob sie des Handels wegen angelandet, oder ob sie auf Seeraub aus seien (Od. 9, 251ff): „Habt ihr wo ein Gewerb’, oder schweift ihr ohne Bestimmung/ Hin und her auf der See: wie küstenumirrende Räuber“. Thukydides (1, 5) berichtet von diesem keineswegs unehrenhaften Betätigungsfeld der Frühzeit: „Denn die ältesten Hellenen und auch die Barbaren an den Küsten des Festlandes und die die Inseln bewohnten, hatten kaum begonnen, mit Schiffen zueinander hinüberzufahren, als sie sich auch schon auf den Seeraub verlegten, wobei gerade die tüchtigsten Männer sie anführten, zu eignem Gewinn und um Nahrung für die Schwachen; sie überfielen unbefestigte Städte und offne Siedlungen und lebten so fast ganz vom Raub. […] Dies Werk brachte noch keine Schande, eher sogar Ruhm.“

Über die Kontakte zu den Nachbarn kam auch die Schrift zu den Griechen und löste eine kulturelle Revolution aus, deren Folgen nicht hoch genug veranschlagt werden können. Wohl auf den östlichen Inseln, Zypern oder Rhodos, vielleicht auch auf der für den Fernhandel seit alters her besonders wichtigen Insel Euböa übernahmen die Griechen das phönizische Alphabet. Da das Phönizische als semitische Sprache weitgehend ohne Vokale auskam, mussten die Griechen nur einige Schriftzeichen, für die sie keine Verwendung hatten, zu Vokalen umfunktionieren, um ein flexibles, auf Lautwerten aufbauendes Zeichensystem zu haben, mit dem jeder Sprachlaut abgebildet werden kann. Damit entwickelte man das erste Schriftsystem, das sowohl reinen Konsonanten als auch Vokalen eigene Zeichen zuwies. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass diese Neuerung auf eine kleine Gruppe, vielleicht sogar einen einzigen Mann zurückgeht. Der Gräzist Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf sprach in diesem Zusammenhang von einem „unbekannten Wohltäter der Menschheit“. Bis heute beherrscht die erste Alphabetschrift mit ihren kyrillischen und lateinischen Ablegern weite Teile der Welt.