Lou Andreas-Salomé

Aus fremder Seele

Eine Spätherbstgeschichte

 

 

 

Lou Andreas-Salomé: Aus fremder Seele. Eine Spätherbstgeschichte

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

John Atkinson Grimshaw, Herbstmorgen, um 1870

 

ISBN 978-3-8430-8181-8

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8619-9068-0 (Broschiert)

ISBN 978-3-8619-9069-7 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: 1896

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

1.

Die Blätter fielen.

Aus den Wipfeln der alten breitästigen Linden, die mitten im Dorf die Kirche umstanden, sank ein Blatt nach dem andern über die niedrige Mauerbrüstung des Kirchhofs hinab. Schon war der Spätherbst weit vorgerückt, und nur die selten günstige Witterung hatte dem nordischen Oktober noch einen Anflug von Sommerschönheit gelassen. Reiche Farbenpracht verhüllte das stille Welken ringsumher und breitete sich darüber aus wie ein in Gold und Rot gesticktes Feierkleid.

Die mächtige Baumgruppe um die Kirche – weithin sichtbar, denn platt und eben dehnte sich das Land – bildete den ursprünglichen Kern des Ortes. Um sie herum und am seichten Wassertümpel entlang befanden sich altersgraue Dorfgebäude mit moosbewachsenen Dächern und windschiefen Türen. Mehrere von ihnen standen in einer tiefen Einsenkung zu beiden Seiten des Weges, der, zwischen ihnen herlaufend, sich im Laufe der Zeit Schicht um Schicht über ihren Eingang emporgehoben hatte. Hier in der Mitte des Dorfes stach nur, hinter gepflegtem Vordergärtchen, ein schmuckes Schanklokal durch seinen frischen Anstrich grell ab von der bescheidenen Umgebung. Weiterhin aber, nach den Ausläufern des Ortes zu, zogen sich neu erbaute Häuser, die ganz aus dem Rahmen des Dörflichen fielen, und an ihren Erdgeschossen wiesen buntbemalte Schilder auf die Läden hin, in denen ein Kunterbunt von billigen Sachen feilgeboten wurde. Die nur eine Stunde entfernte und immer rascher anwachsende Großstadt hatte schon begonnen, das kleine abgelegene Dorf allmählich zu seiner künftigen Bestimmung einer Vorstadt umzuwandeln.

Die Türen der verwitterten Kirche, an deren Mauern sich wilder Epheu üppig emporrankte, waren weit geöffnet, und von innen erscholl Orgelklang. Trotz der noch frühen Nachmittagsstunde hatte sich eine beträchtliche Anzahl Dörfler hineinbegeben, um einer Taufhandlung beizuwohnen – vorwiegend freilich Frauen, Kinder und alte Leute.

Unweit der Tür lehnte an der letzten Kirchenbank ein halb erwachsener Knabe und blickte zerstreut um sich, wie jemand, der zufällig in fremde Umgebung geraten ist. Ein bildhübsches Mädchen, das neben ihm saß, fesselte alsbald seine Aufmerksamkeit. Armselig gekleidet, blaß und mager, fiel sie dennoch sogleich durch den Liebreiz ihrer Züge und die Feinheit ihres Wuchses auf. Als sie einmal flüchtig auf ihn schaute, bemerkte er am Ausdruck ihrer Augen, daß sie wohl daran gewöhnt sein mochte, von bewundernden oder dreisten Blicken angestarrt zu werden. Gleich darauf aber blickte sie mit verdoppelter Andacht nach dem greisen Prediger am Altar.

Der junge Mensch unterdrückte ein Gähnen.

»Wer ist denn der Täufling?«, fragte er leise seine hübsche Nachbarin, aus Interesse für sie, nicht für das Kind.

»Ein gar armer Wurm«, entgegnete sie flüsternd, »ein Urenkelchen von der steinalten, gebückten Frau, die gleich vorn sitzt. Das ist die Rieke – eine der Ältesten bei uns. Alle ihre Kinder hat sie verloren, und ihre Enkelin, was die Mutter vom Kinde ist, liegt auch schwer krank.«

»Daher wohl die vielen Menschen bei dieser Taufe«, bemerkte ihr Nachbar.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nicht daher. Sondern weil ihre Enkelin, die Kathrine, mit Schimpf und Schande aus ihrem Stadtdienst gejagt worden ist – weil sie das Kind bekam. Sie diente bei einem Geistlichen. Und nun will jeder hören, wie gut dagegen unser Himmelspastor der alten Rieke zuspricht.«

»Wer –?«

Sie sah ihn erstaunt an.

»Unser Himmelspastor. Anders heißt er hier nicht.«

Der junge Mensch blickte nach der schmächtigen, in den Schultern ein wenig gebückten Gestalt des Predigers. Der obere Teil des Kopfes, schon seit langem kahl, wurde von der blassen Oktobersonne beleuchtet, die durch die Bogenfenster schien. Ungewöhnlich schön war die Stirn, und eine kräftig ansetzende, leicht gebogene Nase gab dem Profil etwas Energisches.

Er kannte den Pastor Theodor Arnsfeldt nur ganz flüchtig, obschon dessen Adoptivsohn Kurt sein Freund war. Aber dieser hatte ihn meistens in der Stadt aufgesucht, und war dann ein ganzes Jahr fort gewesen, in einer Genfer Erziehungsanstalt. Erst heute morgen war Kurt von dort zurückgekommen – unerwartet, ein paar Tage zu früh, und soeben erst hatte er den Heimgekehrten von der Stadt zu Fuß hierher begleitet.

Inzwischen verklang der Gesang, welcher der beendeten Amtshandlung folgte. Die kleine Gruppe vor dem Altar löste sich auf; die meisten drängten dem Ausgang zu. Eine junge Bäuerin, ihren Säugling an der Brust, zwei Kinder an den Rockfalten, kam grade vorbei und sagte: »Wahr ist's schon, unser Herr Pastor fischt immer das beste heraus. Da geht keines leer aus. Wie's ohne ihn wär' – man mag's nicht ausdenken.«

Eine grobe Männerstimme ließ sich etwas spöttisch vernehmen: »Es steht indessen noch von andern Dingen in der Bibel drin, als von Trost und himmlischem Süßholz. An das hätte die Kathrine sich lieber beizeiten halten sollen.«

»Was unser Herr Pastor beiseite läßt, kann so arg wichtig nicht sein«, entschied die Bäuerin gleichmütig und ging hinaus.

Jemand lachte kurz auf.

»Ja, für das Weibsvolk! Die Zeiten sind vorüber, wo man sich vom Pfarrer trösten läßt. Auf eigne Faust brav sein soll man.«

Das hübsche blasse Mädchen, das auf der letzten Kirchenbank gesessen, war aufgestanden und machte eine heftige Bewegung nach dem Sprecher hin.

»Was recht tröstet, das macht auch brav!«, sagte sie und errötete dabei, »manch eine hier weiß das.«

»Freilich! So'n Fabrikmädel wie du muß es wohl wissen, Trudel.«

Sie ging unwillig hinaus, nicht ohne einen flüchtigen Seitenblick auf ihren jungen Nachbar während der Taufhandlung zu werfen, der dem kurzen Wortwechsel zugehört hatte. Als sie auf die Dorfstraße trat, holte ein andres Mädchen sie ein und schob die Hand in ihren Arm.

»Laß die Mannsleute reden, Trudel – deinem lieben Himmelspastor geschieht nichts«, sagte es tröstend und hob das blatternarbige Gesicht zu ihr auf, »aber wahr ist's schon: die Kathrine hat Unrecht getan. Man muß doch seinen Stolz haben und etwas auf sich halten.«

»Mag sein. Aber es gibt mancherlei Versuchungen, das kannst du glauben!«, bemerkte Gertrud einsilbig.

»Wo denn, Trudchen? wenn man brav ist? Ich war auch im Dienst.«

»Ja – du!« Ein halb mitleidiger, halb geringschätziger Blick streifte die Gefährtin; »übrigens ist das gewiß auch verschieden. Aber das sage ich dir: wenn er nicht wäre – wenn unser Pastor nicht wäre – und so gut, und so eindringlich –, dann – weiß Gott! Man will doch leben!« –

Durch die Seitentür der Sakristei, wo er sein Ornat abgelegt, hatte Pastor Arnsfeldt sich auf den Heimweg begeben. Er ging raschen Schrittes an den beiden Mädchen vorüber, ihren Gruß nur mit freundlichem Nicken erwidernd, denn ihm blieb keine Hand frei: die Rechte wie die Linke waren von je einem kleinen Mädel erwischt worden, und andre Kinder folgten noch dicht hinterdrein. Das war meistens so, wenn er sich auf der Dorfstraße zeigte.

Die Kleine an seiner Rechten, die sich vergeblich abmühte, Schritt mit ihm zu halten, sagte bedenklich: »Wenn du so läufst, Herr Pastor, dann bist du schon gleich zu Hause.«

»Das will ich auch, Gretchen. Ich eile sehr. Denn denk doch: zu Hause ist ja mein Junge angekommen. Kurt ist angekommen! Und ich hab' ihm noch kaum guten Tag sagen können.«

»Kurt?«, fragte ein Bübchen und drängte sich an ihn, »dein großer Kurt? Darum rennen wir so? O je, können wir den nicht auch gleich wiedersehn?«

»Jetzt gleich lieber nicht. Aber spätestens morgen. Denn er sucht ganz sicher jeden von euch auf und erzählt euch was ihr haben wollt.«

Hinter ein paar armseligen Taglöhnerhäuschen, die aussahen, als hätte man sie aus Lehm und Feldsteinen zusammengeworfen, lag das niedrige Pfarrhaus in einem Garten. Ein Querbau, wo sich die Küchenräume befanden, verengte den Hof zu einem schrägen Dreieck. Als sie herantraten, sprang eine schlanke weiße Hündin sie freudig bellend an, während aus der Hundehütte der alte, gichtlahme Unkas, der keine Kinder leiden konnte, nur ein verdrossenes Knurren hören ließ.

Im Querbau stand das Küchenfenster offen, und ein feines faltiges Frauengesicht, umrahmt von weißen Flechten, beugte sich lächelnd heraus. Die Kinder ließen die Hand des Pastors los, blieben stehn und machten lange Hälse. Wenn »Tante Babette«, wie sie bei allen hieß, des Pastors langjährige Freundin und Hausgenossin, ihnen zuwinkte, so gab es immer etwas Gutes – besonders, wenn sie Pfefferkuchen gebacken hatte, solche, die es hierzulande gar nicht gab, denn das verstand sie.

Der Pastor war inzwischen durch den Garten gegangen, aus dem man direkt in seine Arbeitsstube gelangen konnte. Eine breite Glastür verlieh derselben viel Licht und den vollen Blick ins Grüne. An den Wänden standen Bücherregale, und den Boden deckte ein dunkler einfarbiger Teppich. Über dem Schreibtisch, der an einem Seitenfenster, nach dem Hof zu, stand, hing ein in Öl gemaltes Porträt der Mutter des Pastors – einer schönen Jüdin mit tiefen schwermütigen Augen. Darunter eine Radierung von Klinger in einfachem Rähmchen: die tote Mutter mit dem Kinde, das mit erstaunten Blicken von der Leiche in die Ferne schaut.

Kurt lehnte an der Glastür, er öffnete sie dem Pastor und rief in froher Ungeduld: »Wie lange dauert doch solche Taufe! Und daß du heute überhaupt noch jemand anders gehörst, als mir allein!«

»Mein herrlicher Junge!«, sagte der Pastor und faßte ihn an beiden Schultern, »ich hab' dich ja noch gar nicht ordentlich wiedergesehen. Wie groß und stramm bist du geworden. O so frisch und stramm!«

»Und du so jung und hübsch, Vater!«

»Du Schlingel! Du Taugenichts!«

Und während er Kurt mit freudigen Augen betrachtete, fügte er hinzu: »Es ist sonderbar! Uns alten Leuten wird alles Vergangenheit. Ich habe dich das ganze Jahr als kleinen Buben um mich gesehen. Als ganz kleinen Buben – so wie du warst, als ich dich noch zu Bett brachte.«

»Ja«, meinte Kurt, »das war die schönste Zeit. Warum hast du mich auch fortgelassen?«

»Weil die Gelegenheit günstig war, dich unter neue Menschen und Eindrücke zu bringen. Weil du selbständig werden, nicht an meinem Rock hängen bleiben solltest – am Rock des Alten. Alt und jung – das stimmt nicht.«

»O Vater, zwischen uns hat alt und jung immer gestimmt! Ich hätte sehr gut bei dir zu Ende lernen können – ich hatte ja auch Lehrer und Kameraden in der Stadt. Aber du warst doch die Hauptsache. Und da draußen – ja, da hab ich manchmal Angst bekommen, daß die lange Entfernung von dir dich mir noch ganz fortnimmt.«

»Dummer Bub! Wie sollte das wohl möglich sein?«, versetzte der Pastor, der an den Schreibtisch getreten war und in zwei bereitstehende Gläser Wein eingoß.

Kurt nahm sein Glas, stieß mit dem Pastor an und leerte es auf einen Zug. Einen Augenblick schwieg er. Dann stellte er das Glas fast heftig nieder und sagte: »Wie? Nun zum Beispiel so, wie du es selbst vorhin erwähntest: daß du mich in der Erinnerung stets als den kleinen Jungen siehst, während ich doch längst groß bin und mich ganz fern von dir weiter entwickelt. Wäre das neben dir, unter deinen Augen geschehn, so wär es für mich ganz anders.«

»Du bist noch immer derselbe Brausekopf!«, bemerkte der Pastor lächelnd, aber sein Gesicht war aufmerksam geworden, »also was wäre anders, mein heftiger, ungeduldiger Junge?«

Kurt antwortete nicht. Er war an die Glastür getreten und blickte hinaus. Nach einer Pause sagte er: »Ich möchte dich etwas fragen, Vater: warum hast du mich grade dort – grade in diesem Jahr und im Auslande konfirmieren lassen?«

Der Pastor, der in seinem Lehnstuhl vor dem Schreibtisch saß, wandte sich nach ihm um.

»Jetzt versteh ich dich – ich fange an zu verstehn«, antwortete er ruhig, »– du fürchtest, daß wir in unsern Ansichten auseinander gegangen sind, und du glaubst, das wäre nicht geschehen ohne deine Abwesenheit.«

»Vielleicht wär es geschehen – aber jedenfalls wäre immer alles zwischen uns zur Sprache gekommen! Während so – ich habe draußen mit andern, mit Fremden geredet, ich habe gelesen, gehört, nachgedacht. Ich bin über vielerlei in Zweifel geraten, Vater, wovon ich weiß, wie fest du daran glaubst.« –

Kurt trat zu ihm hin und fügte traurig hinzu: »Siehst du, so ist es nun: ich wollte es dir verschweigen – und nun ist es in der ersten Viertelstunde heraus.«

»Das ist gut so. Ich danke dir dafür, mein Junge.«

Kurts Augen suchten den Blick des Pastors zu erhaschen, aber dieser hatte den Kopf gebückt, und sah ihn nicht an. Da schlug dem Knaben plötzlich eine heiße Röte ins Gesicht.

»Du mußt nicht gleich denken, daß ich einer von den allerschlimmsten bin, Vater«, sagte er außer sich, »das Schreckliche ist nur, daß es mich von dir trennt. Denn, siehst du, jetzt kann ich gar nicht über alles das mit dir reden und mich aussprechen, wie ich es ganz zu Anfang so brennend gern getan hätte. Jetzt muß ich erst mit mir selber darüber ins reine kommen. Mit mir selbst ganz allein.«

Pastor Arnsfeldt stand auf und nahm Kurts blonden Kopf zwischen seine beiden Hände. Schweigend blickte er in das erregte, gerötete Knabengesicht mit den noch kindlichen Zügen.

»Ich denke nichts Schlimmes von dir, mein Junge. Handle in allem frei und nach deiner eignen Empfindung. Komm erst mit dir selbst ins reine – wie du vorhin sagtest. Dann aber – kommt es einmal über dich, daß du dich aussprechen mußt – dann vergiß eins nicht: ich bin mir wohl bewußt, daß wir uns in einer solchen Stunde nicht mehr als Greis und Kind gegenüberstehn würden, wie ehedem, sondern als Mann zu Mann – mit Vertrauen und Achtung. Vergiß es nicht. Und jetzt laß mich einen Augenblick allein.«

Er küßte ihn auf die Stirn, und Kurt ging hinaus.

Draußen auf dem Gang aber blieb Kurt stehn, und ein heißes Reugefühl quoll in ihm auf. Hätt er denn nicht schweigen können! Ja, er hatte schweigen wollen, aber so war er: weil er so ungestüm wünschte, die trennende Schranke sei nicht da, darum war er mit nutzlosen Worten gegen sie angerannt! Und nun war sie doppelt da: weil beiden bewußt.

Wie mild und liebevoll der Vater es aufgenommen hatte! Mild und liebevoll wie immer – und doch hing er selbst am vollen Kirchenglauben. Er rang sich also die Milde nur ab – im Herzen mußte er voll Gram und Sorge und Bitterkeit sein. Er, wie kein andrer Prediger weit und breit, verstand es ja, seinem Glauben das Schönste, Trostvollste zu entnehmen, wenn er davon zu Menschen sprach – damit zu beschenken und zu bereichern, wo er nur konnte. Mußte es ihm nicht unerträglich erscheinen, grade Kurt, seinen Knaben, seinen Liebling, ausgeschlossen zu sehen von seinen Gaben? Kurt kam es vor, als habe er gradezu zum Vater gesagt: »Was soll mir fortan dein Plunder!«

Bei dieser Vorstellung stiegen ihm Tränen ins Auge. Zornig ballte er die Hände gegen sich selbst, und unwillkürlich trieb es ihn zu des Vaters Stube zurück. Er mußte ihn sehen, ihm noch etwas sagen – irgend etwas ...

Die Gangtür zum Studierzimmer war offen geblieben. Der Pastor stand noch am Tisch, dem Knaben das Profil zukehrend. Er hörte, wie Kurt auf die Schwelle trat, und wandte sich um.

Aber Kurt hatte nur einen Augenblick lang auf der Schwelle gestanden – dann ging er langsam an der Tür vorüber. – – –

Eine eigentümliche Bestürzung hielt ihn in Bann, in der Brust ein Gefühl von fast schmerzhafter Beklemmung. Beinahe war ihm, als habe er dort, zwischen Schreibtisch und Glastür, ein Gespenst gesehen.

Und doch war es nichts so schreckliches.

Nur ein Lächeln sah er. – –

Ein liebevolles und gütiges Lächeln. Aber an Stelle der Herzensbetrübnis war es ein Lächeln – –.

 

2.

Da, wo die für städtische Sommergäste erbauten Häuser sich schon der Dorfgrenze näherten, saß auf dem schmalen Balkon eines ersten Stockwerks in bequemem Lehnsessel ein alter Herr. Neben dem Hause befand sich ein großer lattenumzäunter Bauplatz und dahinter lief bereits die Chaussee der Stadt zu, deren Bild, schattenhaft und dunstumwölkt, am Horizont sichtbar wurde.

Mit einem höchst verdrossenen Ausdruck im Gesicht blickte der alte Herr über die kahlen Stoppelfelder hin, als ärgere er sich darüber, daß an dieser flachen, dürftigen Gegend so absolut gar nichts Erfreuliches zu sehen war, als allenfalls die herbstlich gefärbten kräftigen Eichbäume, die zu beiden Seiten der Chaussee standen und grade vor seinem Hause ihre lange Linie begannen, um dann, immer kleiner und kleiner werdend, sich in der Nebelferne zu verlieren.

Er war bis über die Knie in eine blaugestreifte wollene Fußdecke eingewickelt, und ein seidenes Halstuch schützte ihm den Nacken vor dem kaum merklichen Luftzug, der vorüberstrich. Auf dem Kopf trug er eine kleine gefütterte Kappe, unter der eisgraues Haar hervorschaute, das, sorgfältig vornübergekämmt, in langen, spärlichen Strähnen um seine eingesunkenen Schläfen geordnet lag.

Wie er so dasaß in der matten Nachmittagssonne, und die dürren Blätter ihm über den braunen Mantel und über die Hände in den roten Pulswärmern fielen, erschien er selber den verwitterten Herbstblättern ähnlich. Aber um so eigentümlicher wirkte seine ängstliche Vorsicht, sich vor aller Unbill des Herbstes und Alters zu schützen, inmitten der feierlichen Hingebung, womit die Natur um ihn so lautlos welkte und starb.

In sein verdrießliches Brüten hinein erscholl eine aufmunternde Stimme von unten: »Herr Justus Steiner! Wissen Sie es schon? Der Kurt ist zurück! Er ist grad gesehen worden, wie er mit einem Freunde durchs Dorf kam.«

Der alte Kopf in der Kappe beugte sich hastig über das Gitterwerk des Balkons.

Unten stand sein Wirt, der Besitzer des Käse- und Wurstladens parterre, und schaute zu ihm hinauf. Die Hände hatte er gleich einem Schallrohr an seinen Mund gelegt.

»Kurt? Schon heute? Nein, ich wußt' es nicht!«

Sein Gesicht war ganz hell geworden, es sah in der Freude ordentlich verjüngt aus.

»Ein Glück, daß man den Jungen wieder hat – wahrhaftig ein Glück! Wenigstens hat es sich gelohnt, mit dem Umzug in die Winterwohnung auf ihn zu warten! Wenigstens brauche ich jetzt nicht abends in der Dunkelheit allein aus der Pfarre nach Hause zu trotteln.«

Er gähnte geräuschvoll und versank in sein früheres Hinbrüten.

Wenn er jetzt daran dachte, daß Kurts Adoption im Pfarrhaus ihn einst jahrelang daraus vertrieben hatte! Denn Kurt war ein laut schreiender Säugling gewesen und durchaus kein geeigneter Hausgenosse für jemand, der, wie Justus, gewohnt war, alljährlich in der größten Ruhe und Bequemlichkeit seine Karlsbader Kur beim Universitätsfreunde zu absolvieren. Auch die beiden Frauen des Hauses, sowohl des Pastors erst vor einem Jahre verstorbene Mutter als auch Tante Babette, protestierten gegen den kleinen Eindringling. Aber alle drei richteten diesmal gegen den sanften Pastor nichts aus: die Mutter wurde gewaltsam zur Großmutter gemacht und Babette zur Pflegemama.

Da rückte Justus aus, nicht gewillt, von nun an die zweite Geige und die zweite Wärterin im Pfarrhause zu spielen. Er blieb jahrelang auf Reisen – in Luxusbädern, in Weltstädten, im Auslande. Seine Mittel erlaubten ihm das angenehmste Leben, und er machte den wagehalsigen Versuch, noch einmal jung zu sein. Aber das bekam ihm äußerst schlecht. Er wurde krank; die ansehnliche Leibesfülle, die er um das fünfzigste Jahr angesetzt hatte, schwand rasch und unvermittelt und hinterließ auf einmal jene betrübend große Menge von Falten und Fältchen, die ihn noch heute erbittern konnte. Nun wählte er statt der Luxusbäder wirksame Kurorte, unter den Städten solche, deren Ärzte berühmt waren. Des Morgens, beim Ordnen von Haar und Halsbinde, kniff er die Augen unwillkürlich ein wenig zusammen, wenn er in den Spiegel sah, und als der Herbst kam, entschloß er sich nach dem Süden zu gehn und so auch dem großen Spiegel zu entlaufen, den ihm im Norden der sterbende Sommer vorhielt.

Aber wider das Alter gab es keinen Kurort, keinen Arzt, keinen Süden. Es schlich ihm nach, dicht auf den Fersen.

Und da, weiß Gott wie, mitten im Sonnenschein Roms, packte ihn plötzlich die Sehnsucht – eine seltsame, eine unwiderstehliche Sehnsucht. Und eines Tages, so recht in der unwirtlichsten Jahreszeit, setzte er sich in den Schnellzug und reiste, ohne sich aufzuhalten, nordwärts.

Pastor Arnsfeldt schien nicht übermäßig überrascht, als er ihn an einem Vormittag, in Pelzwerk eingehüllt, aus dem Wagen steigen sah – sehr gealtert, sehr mürrisch, das Gesicht in hundert Falten gezogen, aber die Taschen vollgestopft mit Süßigkeiten für den Jungen.

»Denn jetzt muß man dem Balg wohl schmeicheln, wenn man hier gut behandelt sein will!«, meinte Justus verächtlich.