Heinrich Zschokke

Die Branntweinpest

Der König von Akim

Die Nacht in Brczwezmcisl

Drei Erzählungen

 

 

 

Heinrich Zschokke: Die Branntweinpest / Der König von Akim / Die Nacht in Brczwezmcisl. Drei Erzählungen

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Vilmos Aba-Novak, Trinker, 1925

 

ISBN 978-3-8430-8816-9

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-9550-1 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-9551-8 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Die Branntweinpest

1. Der Reisegefährte

Auf meiner Reise von England machte ich eines Tages angenehme Bekanntschaft, in einem Gasthof, mit einem liebenswürdigen jungen Herrn. Er fiel mir eben so sehr auf durch seine männliche Schönheit und durch Anmuth seines Betragens, als durch sein niedergeschlagenes Wesen. Er sprach wenig. Als er aber zufällig hörte, daß ich ein Schweizer sei, reichte er mir mit traurigem Lächeln die Hand, nannte mich Landsmann, und lud mich zuletzt sogar ein, ihm bis in die Schweiz Gesellschaft, in seinem bequemen Reisewagen, zu leisten. Ich nahm es mit Vergnügen an.

Unterwegs erfuhr ich, daß er Fridolin Walter heiße, und Arzt sei. Er hatte einen reichen Lord und dessen Familie vier Jahre lang auf Reisen durch Europa begleitet, und war durch dessen Dankbarkeit und Freundschaft nicht nur im Besitz eines unabhängigen Vermögens, sondern auch eines lebenslänglichen Jahrgehaltes. Er hatte dem Lord und einer Tochter desselben, durch seine Kunst, das Leben gerettet.

»Da Ihr das gekonnt habt, lieber Doktor«, sagt' ich: »so könntet Ihr mir vielleicht auch helfen.« Ich klagte ihm, daß ich seit geraumer Zeit Beschwerden des Magens, schlechte Verdauung, öfters am Morgen Reiz zum Erbrechen verspüre. – Meine Klage gab zu einem sonderbaren Gespräch Anlaß. Denn er sah mich eine Weile mit seinen schwarzen Augen fest an, als wollt' er mich durch und durch schauen; dann sagte er ganz trocken: »Es kann mit Euch, Herr Landsmann, noch ärger kommen!«

– Das verhüte Gott! – rief ich erschrocken: Ich weiß nicht, was Schuld daran ist.

Er antwortete: »Aber ich weiß es schon seit einigen Tagen, da wir mit einander reisen. Der Schnapps, den ihr zuweilen nehmt, ist Schuld, wiewohl Ihr, Herr Landsmann, eben nicht zu viel trinkt, z. B. nur Morgens nüchtern etwa ein Gläschen Rum; nach dem Mittagessen ein Glas Kirschwasser zum Kaffee; Abends noch einmal zum Schlaftrunk eins.«

– Ei, Ihr treibt wohl Euern Spaß mit mir Doktor! entgegnete ich: ein Glas guten Likörs zuweilen kann nicht schaden, da ich sonst einfach zu leben gewohnt bin. Das bringt mir ein leichtes Wohlbehagen; stärkt und wärmt mir den Magen; regt meine Lebensgeister etwas an, und Alles geht zehnmal besser von statten. Ich schwör' Euch, die ganze Welt sieht nach einem mäßigen Schnapps viel freundlicher aus, als vorher.

Der Doktor erwiederte: »Ganz recht! Das ist allezeit die gute und die erste Wirkung von gebrannten Wassern. Darum liebt man dies Getränk auch allgemein. Aber die unfehlbare, zweite Wirkung ist nicht so gut; es macht Euch hintennach schläfrig, schlaff und abgespannt; schwächt Magen und Eingeweide; überreizt dabei die Nerven; zersetzt endlich das Blut in den Adern, daß es mit der Zeit wie geronnen wird; macht bei herrschenden Fiebern und Seuchen im Lande den Körper für dieselben weit empfänglicher, und wenn den Menschen irgend einmal eine Krankheit befällt, wird sie gefährlicher, als bei andern Leuten, die keiner hitzigen Getränke gewohnt sind.«

– Ei, ei, Doktor, Ihr müßt es nicht zu arg machen! rief ich: das mag bei Trunkenbolden der Fall sein.

»Nein, gar nicht, Herr Landsmann!« versetzte er: »es ist wirklich schon bei Euch der Fall. Der Himmel verhüte, daß die Cholera kömmt; Ihr wäret wahrscheinlich ihr Opfer. Zu London starben von den Cholerakranken sieben Achtel unrettbar weg, und zwar von denen, die sowohl in den höhern Ständen als in der ärmern Volksklasse, täglich gern ihren Schnapps nahmen. Ihr könnt Euch darauf verlassen und die Erfahrung hat es bewiesen, daß von zehn jungen Männern, die vom zwanzigsten bis dreißigsten Jahre alltäglich nie mehr, als ein oder zwei Spitzgläser Likör trinken, nach Verlauf von zehn Jahren über die Hälfte gestorben sind und die andern vor der Zeit kränklich werden.«

– Aber, bester Doktor! rief ich: Es gibt doch nicht nur Trinker, sondern Säufer, die bei ihrem Brannteweinglase alt und grau geworden sind!

Der unerschütterliche Doktor erwiederte: »Dies alte Vieh aber, seht es nur recht an, hat sich nicht nur um die besten Leibeskräfte, sondern auch um die Verstandeskräfte gebracht. Seht ihren verworrenen, starren Blick; das Zittern ihrer Hände! Diese Einzelnen machen eine Ausnahme von den Frühsterbenden, aber keine Ausnahme von den Folgen ihrer Sünde. Was dem saufsüchtigen Vater nicht geschieht, das müssen die Kinder büßen. Betrachtet die Kinder! Sie sind schwächlich, gliedersüchtig, bleich; haben Drüsengeschwülste und andere Leibesschaden. Machen sie es mit dem Branntewein dem Vater nach, so sterben sie vor dem dreiundzwanzigsten Jahr.«

– Nun, nun! sagt' ich: da habt Ihr freilich Recht. Ich kenne dergleichen. Aber man muß Gebrauch vom Mißbrauch unterscheiden.

»Allerdings, Herr Landsmann!« antwortete er: »Auch ist der Gebrauch gebrannter Wasser häufiger, als der sogenannte Mißbrauch. Darum aber hören beide nicht auf, ihre schädliche Wirkung für den menschlichen Leib zu äußern, wie Ihr schon an Euch selber verspüret. Branntewein ist unter allen Umständen Gift. Merkt Euch das! Er dient nicht, als Getränk, zur Löschung des Durstes; sondern umgekehrt, er vermehrt den Durst. Er dient nicht zur Nahrung, denn er hat durchaus keine nährenden Theile; sondern umgekehrt, er schwächt Euch offenbar Magen und Eingeweide. Er nützt also nichts zur Erhaltung unserer Gesundheit, sondern hilft zur Zerstörung derselben. Schon die Gesichter der Trinker, wenn Ihr ein wenig aufmerksam darauf seid, verrathen das. Die, welche in der ärmern Volksklasse nur Branntewein von Korn, Erdäpfeln, Reiß trinken, haben ein blasses, mißfarbenes, schwächliches Ansehen. Wohlhabendere, die Kirschwasser, Franzbranntewein, ausländische, starke Weine und Liköre genießen, bekommen davon ein röthliches, aufgetriebenes, kupferiges Gesicht. Gott zeichnet die Sünder

– Doktor, sagt' ich: Ihr macht mir fast bange für mein hübsches Gesicht. Ich meine, das Schädliche im Wein und Branntewein sei der Mißbrauch und bleibe dabei. Nur Mißbrauch macht ihn zum Gift.

»Nein, Landsmann, der nicht allein!« rief der Doktor: »sondern der Weingeist ist das Gift! Mit einem bis zwei Trinkgläsern voll reinen Weingeistes kann man einen gesunden Menschen, der sonst keine starken Getränke nimmt, geradezu tödten. Vermischt mit Anderm, setzt der Weingeist Krankheitsstoffe im Leibe an. Wein und Bier, sehr mäßig getrunken, sind weniger nachtheilig, als bloßer Branntewein, weil sie weniger Weingeist enthalten. Denn in hundert Maß Bier sind höchstens nur bis 2 Maß Weingeist; in unsern Landweinen enthalten 100 Maß etwa 4 bis 8 Maß Weingeist; aber gute französische Weine gleicher Menge haben 10 bis 19 Maß jenes Giftes; spanische und portugiesische aber 19 bis 25 Maß; hingegen Branntewein, Likör, Kirschwasser, Zwetschgen-, Erdäpfelbranntewein und Rum haben, in 100 Maaß, 24 bis 53 Maß Weingeist. Das macht einen Unterschied!«

– Ihr glaubt also im Ernst, Doktor, der Weingeist sei das Verderbliche, oder Giftige? Und doch braucht man ihn ja sogar zu Arzneien?

»Ganz gewiß. Landsmann, so gut, wie man Quecksilber zu Arzneien gebraucht, aber nicht zur Nahrung, oder zum täglichen Gebrauch. Weingeist ist und bleibt Gift, wie Quecksilber; durchdringt Blut und Knochen, wie Quecksilber; wird von allen innern Theilen, die er angreift, abgestoßen und verworfen, wie Quecksilber; und geht zum Theil unverändert wieder ab und bleibt zum Theil unverändert im Leibe, wie Quecksilber.«

– Der Henker hole alle Weingeist- und Quecksilberkuren! schrie ich: Was rathet Ihr mir für meinen Magen, und gegen mein Übelbefinden. Ich muß doch trinken. Verschreibt mir etwas.

»Nichts«, rief der unbarmherzige Arzt: »Ihr dürfet wohl bescheidener Weise Wein und Bier trinken; besser aber noch, für Eure Gesundheit gutes, reines Wasser. Um Euch wieder kerngesund zu machen, nehmt Morgens nüchtern einige Gläser frischen Wassers und eben so viel Abends vor Schlafengehen; und zwar alle Tage. Trinket keinerlei gebranntes Wasser, denn es ist ein künstlich fabrizirtes Getränk, kein natürlicher Trank. Ich verspreche Euch, Landsmann, Ihr sollt schon nach einem halben Jahre wieder gesunden Magen, gesunde Eingeweide haben und die besten Wirkungen davon für Eure Gesundheit empfinden. Ich bitte, folgt meinem Rath. Unsere Vorfahren waren stärkere Leute. Sie tranken den Branntwein nicht, weil sie ihn nicht hatten und nicht kannten. In den Apotheken fand man ihn unter dem Namen aqua vitae, d. h. Lebenswasser. Er diente zum Heilmittel Jetzt heißt er bei den Wilden in Amerika Tollwasser, und die Wilden haben Recht.«

Ich merkte mir's, wie es Herr Fridolin Walter gesagt hatte. Aber ich füge noch, zur Ermunterung vieler Tausende, die über Unpäßlichkeit meiner Art klagen, dies bei: daß ich, von dem Tage an, des Doktors Rath befolgte; Morgens und Abends ein Paar Glas frischen Wassers nahm, und nur bei Tisch Bier oder Wein; daß ich schon nach einem Vierteljahr die guten Wirkungen für meine Gesundheit davon mit Freuden spürte, und daß ich seitdem in meinem Hause alle gebrannten Wasser abgeschafft habe und sie gänzlich meide. Seit drei Jahren brauch' ich weder Doktor noch Apotheker.

 

2. Zwei traurige Briefe

Wir beide, Fridolin und ich, wurden auf der Reise täglich vertrauter. Er war ein herziger Mann. Doch seine Traurigkeit blieb dieselbe. Nichts konnte ihn zerstreuen. Doktor Walter schien viel zu edel, um ein böses Gewissen zu haben. Was konnte ihm also bei seinem erworbenen Wohlstand, bei seiner blühenden Gesundheit. in der vollen Frische seines Lebens, so sehr am Herzen nagen? Gewiß, dacht ich, hat er in England eine fehlgeschlagene Liebschaft gehabt. Denn daß er unverheiratet war, hatte ich schon herausgebracht.

Ich machte ihm eines Tages, als wir im Wagen beisammen saßen und schnell dahin flogen durch die schönen Landschaften, wegen seines Trübsinns freundschaftliche Vorwürfe. »Ihr könntet und solltet der glücklichste Mensch unter Gottes Sonne sein!« sagt' ich: »öffnet mir Euer Herz; vielleicht kann ich ebenfalls Euer Arzt werden.«

»Das könnet Ihr nicht!« sagte er mit unterdrücktem Seufzer. »Ich bin unglücklich. Mir hilft Niemand. Doch kann ich Euch wohl die Ursache meines Grams entdecken. Vielleicht thut mir's gut, wenn ich wenigstens mit einem theilnehmenden Freunde von meinem traurigen Schicksal sprechen kann. Da, lieber Landsmann, leset selber, was mich so schnell nach Hause ruft.«

Er zog jetzt eine prächtige Brieftasche hervor und richte mir daraus zwei Papiere. Das eine war ein Brief seiner Mutter. Der lautete also:

»Wenn du dieses Schreiben empfängst, lieber Fridolin, bin ich schon lange eine verlassene Wittwe. Komm zurück, liebes Kind, und werde die Stütze deiner unglücklichen Mutter. Dein Vater lebt nicht mehr. Ein Schlagfluß raffte ihn schnell aus der Welt. Schon im Herbst vorigen Jahrs hatte er einen Anfall davon. Ich schrieb dir nichts darüber, um dich nicht zu ängstigen. Der Arzt hatte ihm vergebens mehr Enthaltsamkeit empfohlen beim Weinglase. Er ergab sich leider dem Trunk! Das ward sein und unser Unglück. Gottes Wille geschehe! Ich hatte die letzten zwei Jahre großes Hauskreuz; denn ich sah, wie es mit unserm Vermögen immer mehr zurück ging. Unser kleines Gut ist ziemlich verschuldet. Vermutlich wird kaum mehr gerettet, als mein Eingebrachtes. Ich fürchte, unser Haus muß verkauft werden. Komm also schnell zurück, du mein letzter Trost!«

»Noch bereite dich auf einen harten Schlag des Schicksals. Im Hause unsers Nachbars Thaly hat sich vor mehr denn sechs Wochen ein über alle Beschreibung entsetzliches Ereigniß zugetragen; furchtbarer, als das unsrige. Ich sage dir nur, Thaly lebt nicht mehr. Seine Tochter Justine, die dir so lieb war, ist verschwunden, niemand weiß, wohin? Alle Nachsuchungen sind vergebens geblieben. Der alte Thaly hat schändlich gehandelt; viele Leute betrogen; auch uns. Sein Vermögen reicht nicht hin, die vielen Schulden zu zahlen. Das arme Mädchen dauert mich. Lieber Fridolin, säume nicht. Verlaß Alles und eile mir zum Beistand.

»Deine tiefbetrübte Mutter.«

 

Der andere Brief, den mir Fridolin gab, war ebenfalls von einer weiblichen Hand geschrieben, aber ohne Datum und ohne Angabe des Orts. Er lautete:

»Erschrick nicht, mein ewig teurer Fridolin, wenn ich dir melde, daß dieser Brief der letzte ist, welche ich dir schreien darf und will. Zwar hange ich an dir noch mit heißem Herzen. Aber mag dies Herz brechen; deine Verlobte, deine Braut kann ich nicht mehr sein. Es ist gut, daß sich deine Ältern unserer Vereinigung widersetzten. Denn ich habe das Schauderhafteste erleben müssen, was der Mansch erleben kann. Schreiben mag ich's nicht. Du wirst es nur zu früh erfahren. Vergiß mich! Ich entlasse dich aller deiner Versprechungen. Der Ring, den ich von dir bisher trug, soll für dich in die Hand deiner Mutter zurückkommen. Gib ihn einer glücklichern Tochter, die deiner würdiger ist. Ich lebe und leide fern von deiner und meiner Heimath. Im Wohlstand erzogen, bin ich jetzt zur Dienstmagd geworden. Für mich hat die Welt keine Freude mehr. Für mich ist Alles Nacht und Tod.«

»Lebe wohl, lieber, theuer Fridolin! – – Vergiß mich! – Nun hab' ich das Schwerste vollbracht; nun den ewigen Abschied von dir genommen. Vergiß mich! Forsche nicht nach meinem Aufenthalt; und wenn du ihn fändest, würdet du ihn vergebens gefunden haben. Ich sehne mich zu sterben. Vielleicht erbarmt sich meiner bald der Tod. Leb' wohl! leb' wohl!«

»Justine Thaly

 

3. Ein Unglücklicher

Als ich die Briefe gelesen hatte, saß ich lange in großer Bestürzung da; denn zwei dergleichen, das fühlt' ich wohl, waren hinreichend, einen jungen Mann, der ein Herz, wie mein Freund, im Busen trug, zur Verzweiflung zu treiben. Ich konnte mir jetzt wohl seine Scheu vor starken Getränken erklären. Denn er hatte durch Schuld derselben seinen Vater und einen guten Theil seines Vermögens eingebüßt. Besonders aber erschütterten mich die Zeilen dieser Justine Thaly. Es lag darin ein schreckliches Geheimniß, was die Unglückliche nicht einmal den Muth hatte, selber zu gestehen. Was hatte sie verbrochen? War sie verführt? War sie entehrt? – Nun, dann war die Leichtsinnige der Vergessenheit werth. Für ein verführtes Weib gibt es keine Entschuldigung; jede Jungfrau muß die Hüterin ihrer eigenen Ehre sein; es kann es kein Anderer werden.

»Armer Fridolin!« sagt' ich und drückte seine Hand: »Hier kann ich keinen Trost geben. Solche Wunde muß allein die Hand der Zeit und die der Religion heilen.«

Er trocknete von seinen Augen die Thränen. Er schloß krampfhaft meine Hand in die seinige und rief: »Ich bin auf viele Jahre, vielleicht auf immer elend gemacht. Daß mein Vater gestorben ist, so plötzlich; daß er Schulden hinterließ, – – ich könnte, so hart es ist, das Schicksal mit männlichem Muth ertragen. Der Tod ist aller Menschen endliches Loos; Niemand ist auf Erden unsterblich. Die Zerrüttung des häuslichen Vermögens sollte für meine gute Mutter lange kein Kummer sein. Sie weiß nicht, daß ich von der freigebigen Dankbarkeit des Lords und seiner Familie für die Zukunft so ziemlich aller Nahrungssorgen enthoben bin. Aber die arme Mutter! sie hatte »Hauskreuz«, schreibt sie; einige Jahre lang Hauskreuz! Mich quälen böse Ahnungen. Wer machte die fromme, gute Frau jahrelang zur Dulderin? – Ach, und die unglückliche Justine! Dieser Engel, diese Heilige, was ist aus ihr geworden? Warum mußte sie flüchten? Warum will sie mir nun entsagen?«

Hier schwieg er und schluchzte lautweinend. »Freund«, sagte ich: »entweder ist sie an der unheilvollen Begebenheit unschuldig, derentwillen sie entfloh, – –«

»Halt! kein Oder!« schrie Fridolin: »Sie ist rein, sie ist schuldlos! Ich kenne sie von frühester Jugend her. Wir waren Nachbarskinder, unzertrennliche Gespielen. Als ich von der Hochschule zurückgekommen war, gelobten wir uns Treue und Liebe bis zum Grabe, obgleich sich unsere Väter haßten und mit einander beständig in Streit und Prozeß lagen. Ich nannte sie meine Verlobte und Braut, ungeachtet unsere Väter uns den Umgang mit einander verboten hatten, und unsere Vereinigung mit ihrem Fluch bedrohten. Wir hofften das Bessere von der Zeit. Darum hatte ich den Antrag des Lords willig angenommen, ihn einige Jahre lang auf seinen Reisen zu begleiten. Und jetzt, nun unserer Verbindung kein Hinderniß mehr im Wege stände, jetzt entsagt sie mir! Noch in dem Briefe. den ich von ihr, wenige Wochen vor diesem schrecklichen, letzten hier, empfangen hatte, beschwor sie mich mit zärtlicher Heftigkeit, bald in die Heimath zurückzukehren. Sie war immer tugendhaft, fromm und treu, muthvoll und entschlossen; – und nun, wie hat das Schicksal sie gebeugt! Warum verhehlt sie mir, die doch sonst mir nichts verhehlte, das schwarze Geheimniß, das uns auf immer trennen soll? Was ist aus ihr geworden?«

So sprach er noch lange. Ich konnte mich bei seinem Jammer der Thränen nicht enthalten. Justines Brief lautete so räthselhaft und zweideutig, daß wir uns vergeblich in Vermuthungen darüber erschöpften. Im Stillen aber zweifelte ich bei mir nicht, das Mädchen sei, während seiner langen Abwesenheit, leichtsinnig und treulos geworden. Doch wagt' ich meinen Argwohn nicht zu äußern, um den jungen Mann nicht zu beleidigen. Allein dergleichen Vorfälle sind nur gar zu gewöhnlich.

Ein unerwarteter Unfall brach plötzlich unser Gespräch ab. »Justine Thaly

 

4. Neues Unglück

Wir waren noch keine Stunde von dem Wirthshaus entfernt, wo wir, in der Nähe der Landesgrenze, zu Mittag gespeist hatten. Der Weg ging nun etwas bergab gegen ein Dorf, in welches wir eben einfahren wollten. Der Knecht des Miethkutschers, von welchem wir für den Tag die Rosse geliehen hatten, trieb diese, wie unsinnig an. Es ging über Stock und Stein die Höhe hinab. Plötzlich aber stürzte der Wagen um. Wir lagen, fest an einander geklammert, mit diesem am Boden; der Knecht hingegen ward weit fortgeschleudert. Zum Glück hielten die Pferde, deren Leitseil der Kerl in der Faust behalten hatte, auf der Stelle an. Bauern, die uns von fern gesehen hatten, kamen eilfertig zur Hilfe herbei und umringten den Wagen. Wir krochen unbeschädigt hervor. Aber der Knecht ward blutend und leblos in das Wirtshaus getragen, wohin auch wir uns begaben.

»Dacht' ich's doch gleich«, sagte Fridolin auf dem Weg dahin: »der verdammte Kerl hat ganz gewiß zu viel getrunken, wo wir zu Mittag hielten. Er ist besoffen. Sein rothglühendes Gesicht und sein Flüchen und Schwören verkündeten es schon, als wir einstiegen.«

Es dauerte fast eine Viertelstunde, ehe der Kutscherknecht zu sich selber kam. Fridolin untersuchte und behandelte ihn mit großer Sorgfalt. Der arme Mensch hatte beim Fall eine Rippe und den linken Arm gebrochen, und das Gesicht war ihm blutig geschunden. Er gestand, als man ihn fragte, daß er bei Tisch nur ein halbes Maß Wein, und, auf Zureden der Wirthin, nachher zwei Gläser Kirschwasser getrunken habe. Mehr nicht; aber schon genug für ihn und für uns.

Dieser traurige Zufall, und der beschädigte Wagen des Doktors, der ausgebessert werden mußte, nöthigten uns, das Weiterreisen bis zum folgenden Tag zu verschieben. Indessen hatten wir Abends in unserm Wirthshaus gute Gesellschaft von einigen Beamten und andern verständigen Leuten des Orts. Wir befanden uns im lieben schweizerischen Vaterlande. Es war natürlich, daß wir begierig waren, Neuigkeiten zu erfahren. Man äußerte sich sehr zufrieden über die gegenwärtigen Einrichtungen und Regierungen. Nur der Wirth rief ärgerlich dazwischen: »Es ist mir Alles ganz recht. Aber Unrecht und Sünde gegen das Volk ist's, daß man leichtfertiger Weise aller Orten das Wirthen und Wein-Ausschenken vermehren läßt und damit die Liederlichkeit im Lande vergrößert. Ich kenne Marktflecken und Städte, wo je das fünfte Haus ein Wirthshaus, oder eine Schenke ist. Hier in unserm kleinen Orte, wo wir kaum 600 Seelen haben, sind sieben dergleichen Häuser; und, geht hin, alle Abend sind sie voll von Gästen.«

Es gibt zuweilen im Leben eine Zeit, einen Tag, da sich durch wunderbare Fügung der Umstände eine und dieselbe Sache öfters wiederholt; oder gewisse Dinge sich ereignen, die alle auf einen und denselben Zweck hinzuwirken scheinen. Man gebe nur recht Acht darauf. Mich dünkt, dergleichen komme weder im Welt- noch im Lebenslaufe ganz von ungefähr. Denn weder der Gang der Welt, noch der Gang des Lebens ist bloßes Spiel eines blinden Ungefährs. Ich sehe darin Gottes Finger, der auf etwas hin deutet, daß wir es aufmerksamer beachten sollen. Es liegt in dem sonderbaren Zusammentreffen der Umstände eine warnende oder ermunternde Lehre des Schicksals für uns.

So mußte ich's für eine solche Schicksalspredigt annehmen, daß an dem gleichen Tage mir erst Doktor Walter die Gefahr meiner Liebhaberei von starken Getränken schilderte; daß mir dann der plötzliche Tod seines Vaters und das Unglück seiner Familie, als Folge einer ähnlichen Liebhaberei, mitgetheilt werden mußte; daß endlich bald darauf der Rausch unsers Fuhrmanns uns in die größte Lebensgefahr stürzte. Ich bekenne, daß mich dies Alles, was sich hier zusammengedrängt hatte, nachdenklich machte; und daß es in mir den Vorsatz befestigte, von nun an den gebrannten Wassern den Abschied zu geben.

Aber diese Geschichte hatte noch andere Folgen auf mein Leben.

 

5. Ein Gespräch, wie man's im Wirthshaus selten hört

»Brodneid! Brodneid, Herr Wirth!« rief lachend einer der Anwesenden.

»Nein, Herr«, antwortete der Wirth: »ich spreche nicht aus Eigennutz; sondern mich jammert des armen Volks. Von Jahr zu Jahr wird es zucht- und sittenloser, und daran ist die Vermehrung der Wein- und Brannteweinschenken Schuld. Denn je zahlreicher die Gelegenheiten der Verführung vorhanden sind, je zahlreicher wird die Menge der Verführten werden; je zahlreicher die Saufhänser, je mehr Säufer! Leset nur die Zeitungen. Ich habe manches daraus aufgezeichnet. Im Kanton BernFreiburg, Solothurn, Aargau, Zürichsie saufen es alle Jahre selber rein auf