Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie
Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Livio Andronico, Fotografie der Laokoon-Gruppe, Vatikanisches Museum, 2014. Lizenz: CC-BY-SA 4.0, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Laocoon_and_His_Sons_black.jpg
ISBN 978-3-8430-5346-4
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8430-5275-7 (Broschiert)
ISBN 978-3-8430-5276-4 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: Berlin (Voss) 1766.
Der Text dieser Ausgabe folgt:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Herausgegeben von Herbert G. Göpfert in Zusammenarbeit mit Karl Eibl, Helmut Göbel, Karl S. Guthke, Gerd Hillen, Albert von Schirmding und Jörg Schönert, Band 1–8, München: Hanser, 1970 ff.
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Ύλη και τροποις μιμησεως διαφερουσι.
Πλουτ. ποτ. Αϑ. κατα Π. η κατα Σ. ενδ.
Laokoon-Gruppe. 50 v. Chr. Rom, Vatikan. Museum.
Kopf des Laokoon. 50 v. Chr. Rom, Vatikan. Museum.
Der erste, welcher die Malerei und Poesie mit einander verglich, war ein Mann von feinem Gefühle, der von beiden Künsten eine ähnliche Wirkung auf sich verspürte. Beide, empfand er, stellen uns abwesende Dinge als gegenwärtig, den Schein als Wirklichkeit vor; beide täuschen, und beider Täuschung gefällt.
Ein zweiter suchte in das Innere dieses Gefallens einzudringen, und entdeckte, daß es bei beiden aus einerlei Quelle fließe. Die Schönheit, deren Begriff wir zuerst von körperlichen Gegenständen abziehen, hat allgemeine Regeln, die sich auf mehrere Dinge anwenden lassen; auf Handlungen, auf Gedanken, sowohl als auf Formen.
Ein dritter, welcher über den Wert und über die Verteilung dieser allgemeinen Regeln nachdachte, bemerkte, daß einige mehr in der Malerei, andere mehr in der Poesie herrschten; daß also bei diesen die Poesie der Malerei, bei jenen die Malerei der Poesie mit Erläuterungen und Beispielen aushelfen könne.
Das erste war der Liebhaber; das zweite der Philosoph; das dritte der Kunstrichter.
Jene beiden konnten nicht leicht, weder von ihrem Gefühl, noch von ihren Schlüssen, einen unrechten Gebrauch machen. Hingegen bei den Bemerkungen des Kunstrichters beruhet das Meiste in der Richtigkeit der Anwendung auf den einzeln Fall; und es wäre ein Wunder, da es gegen einen scharfsinnigen Kunstrichter funfzig witzige gegeben hat, wenn diese Anwendung jederzeit mit aller der Vorsicht wäre gemacht worden, welche die Waage zwischen beiden Künsten gleich erhalten muß.
Falls Apelles und Protogenes, in ihren verlornen Schriften von der Malerei, die Regeln derselben durch die bereits festgesetzten Regeln der Poesie bestätiget und erläutert haben, so darf man sicherlich glauben, daß es mit der Mäßigung und Genauigkeit wird geschehen sein, mit welcher wir noch itzt den Aristoteles, Cicero, Horaz, Quintilian, in ihren Werken, die Grundsätze[9] und Erfahrungen der Malerei auf die Beredsamkeit und Dichtkunst anwenden sehen. Es ist das Vorrecht der Alten, keiner Sache weder zu viel noch zu wenig zu tun.
Aber wir Neuern haben in mehrern Stücken geglaubt, uns weit über sie weg zu setzen, wenn wir ihre kleinen Lustwege in Landstraßen verwandelten; sollten auch die kürzern und sichrern Landstraßen darüber zu Pfaden eingehen, wie sie durch Wildnisse führen.
Die blendende Antithese des griechischen Voltaire, daß die Malerei eine stumme Poesie, und die Poesie eine redende Malerei sei, stand wohl in keinem Lehrbuche. Es war ein Einfall, wie Simonides mehrere hatte; dessen wahrer Teil so einleuchtend ist, daß man das Unbestimmte und Falsche, welches er mit sich führet, übersehen zu müssen glaubet.
Gleichwohl übersahen es die Alten nicht. Sondern indem sie den Ausspruch des Simonides auf die Wirkung der beiden Künste einschränkten, vergaßen sie nicht einzuschärfen, daß, ohngeachtet der vollkommenen Ähnlichkeit dieser Wirkung, sie dennoch, sowohl in den Gegenständen als in der Art ihrer Nachahmung, (Ύλη και τροποις μιμησεωσ) verschieden wären.
Völlig aber, als ob sich gar keine solche Verschiedenheit fände, haben viele der neuesten Kunstrichter aus jener Übereinstimmung der Malerei und Poesie die krudesten Dinge von der Welt geschlossen. Bald zwingen sie die Poesie in die engern Schranken der Malerei; bald lassen sie die Malerei die ganze weite Sphäre der Poesie füllen. Alles was der einen Recht ist, soll auch der andern vergönnt sein; alles was in der einen gefällt oder mißfällt, soll notwendig auch in der andern gefallen oder mißfallen; und voll von dieser Idee, sprechen sie in dem zuversichtlichsten Tone die seichtesten Urteile, wenn sie, in den Werken des Dichters und Malers über einerlei Vorwurf, die darin bemerkten Abweichungen von einander zu Fehlern machen, die sie dem einen oder dem andern, nach dem sie entweder mehr Geschmack an der Dichtkunst oder an der Malerei haben, zur Last legen.
Ja diese Afterkritik hat zum Teil die Virtuosen selbst verführet. Sie hat in der Poesie die Schilderungssucht, und in der Malerei die Allegoristerei erzeuget; indem man jene zu einem[10] redenden Gemälde machen wollen, ohne eigentlich zu wissen, was sie malen könne und solle, und diese zu einem stummen Gedichte, ohne überlegt zu haben, in welchem Maße sie allgemeine Begriffe ausdrücken könne, ohne sich von ihrer Bestimmung zu entfernen, und zu einer willkürlichen Schriftart zu werden.
Diesem falschen Geschmacke, und jenen ungegründeten Urteilen entgegen zu arbeiten, ist die vornehmste Absicht folgender Aufsätze.
Sie sind zufälliger Weise entstanden, und mehr nach der Folge meiner Lektüre, als durch die methodische Entwickelung allgemeiner Grundsätze angewachsen. Es sind also mehr unordentliche Collectanea zu einem Buche, als ein Buch.
Doch schmeichle ich mir, daß sie auch als solche nicht ganz zu verachten sein werden. An systematischen Büchern haben wir Deutschen überhaupt keinen Mangel. Aus ein Paar angenommenen Worterklärungen in der schönsten Ordnung alles, was wir nur wollen, herzuleiten, darauf verstehen wir uns, Trotz einer Nation in der Welt.
Baumgarten bekannte, einen großen Teil der Beispiele in seiner Ästhetik, Gesners Wörterbuche schuldig zu sein. Wenn mein Raisonnement nicht so bündig ist als das Baumgartensche, so werden doch meine Beispiele mehr nach der Quelle schmecken.
Da ich von dem Laokoon gleichsam aussetzte, und mehrmals auf ihn zurückkomme, so habe ich ihm auch einen Anteil an der Aufschrift lassen wollen. Andere kleine Ausschweifungen über verschiedene Punkte der alten Kunstgeschichte, tragen weniger zu meiner Absicht bei, und sie stehen nur da, weil ich ihnen niemals einen bessern Platz zu geben hoffen kann.
Noch erinnere ich, daß ich unter dem Namen der Malerei, die bildenden Künste überhaupt begreife; so wie ich nicht dafür stehe, daß ich nicht unter dem Namen der Poesie, auch auf die übrigen Künste, deren Nachahmung fortschreitend ist, einige Rücksicht nehmen dürfte.[11]
Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke in der Malerei und Bildhauerkunst, setzet Herr Winckelmann in eine edele Einfalt und stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. »So wie die Tiefe des Meeres, sagt er,1 allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag auch noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.
Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laokoons, und nicht in dem Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket, und den man ganz allein, ohne das Gesicht und andere Teile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezogenen Unterleibe bei nahe selbst zu empfinden glaubt; dieser Schmerz, sage ich, äußert sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singet; die Öffnung des Mundes gestattet es nicht: es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibet. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilet, und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktet: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser große Mann das Elend ertragen zu können.
Der Ausdruck einer so großen Seele geht weit über die Bildung der schönen Natur. Der Künstler mußte die Stärke des Geistes in sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägte. Griechenland hatte Künstler und Weltweise in einer Person, und mehr als einen Metrodor. Die Weisheit reichte der Kunst die Hand, und blies den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein, u.s.w.«
Die Bemerkung, welche hier zum Grunde liegt, daß der Schmerz sich in dem Gesichte des Laokoon mit derjenigen Wut nicht zeige, welche man bei der Heftigkeit desselben vermuten[12] sollte, ist vollkommen richtig. Auch das ist unstreitig, daß eben hierin, wo ein Halbkenner den Künstler unter der Natur geblieben zu sein, das wahre Pathetische des Schmerzes nicht erreicht zu haben, urteilen dürfte; daß, sage ich, eben hierin die Weisheit desselben ganz besonders hervorleuchtet.
Nur in dem Grunde, welchen Herr Winckelmann dieser Weisheit gibt, in der Allgemeinheit der Regel, die er aus diesem Grunde herleitet, wage ich es, anderer Meinung zu sein.
Ich bekenne, daß der mißbilligende Seitenblick, welchen er auf den Virgil wirft, mich zuerst stutzig gemacht hat; und nächst dem die Vergleichung mit dem Philoktet. Von hier will ich ausgehen, und meine Gedanken in eben der Ordnung niederschreiben, in welcher sie sich bei mir entwickelt.
»Laokoon leidet, wie des Sophokles Philoktet.« Wie leidet dieser? Es ist sonderbar, daß sein Leiden so verschiedene Eindrücke bei uns zurückgelassen. – Die Klagen, das Geschrei, die wilden Verwünschungen, mit welchen sein Schmerz das Lager erfüllte, und alle Opfer, alle heilige Handlungen störte, erschollen nicht minder schrecklich durch das öde Eiland, und sie waren es, die ihn dahin verbannten. Welche Töne des Unmuts, des Jammers, der Verzweiflung, von welchen auch der Dichter in der Nachahmung das Theater durchhallen ließ. – Man hat den dritten Aufzug dieses Stücks ungleich kürzer, als die übrigen gefunden. Hieraus sieht man, sagen die Kunstrichter,2 daß es den alten um die gleiche Länge der Aufzüge wenig zu tun gewesen. Das glaube ich auch; aber ich wollte mich desfalls lieber auf ein ander Exempel gründen, als auf dieses. Die jammervollen Ausrufungen, das Winseln, die abgebrochenen α, α, φευ. ατατται, ω μοι, μοι! die ganzen Zeilen voller παπα, παπα, aus welchen dieser Aufzug bestehet, und die mit ganz andern Dehnungen und Absetzungen deklamieret werden mußten, als bei einer zusammenhangenden Rede nötig sind, haben in der Vorstellung diesen Aufzug ohne Zweifel ziemlich eben so lange dauren lassen, als die andern. Er scheinet dem Leser weit kürzer auf dem Papiere, als er den Zuhörern wird vorgekommen sein.[13]
Schreien ist der natürliche Ausdruck des körperlichen Schmerzes. Homers verwundete Krieger fallen nicht selten mit Geschrei zu Boden. Die geritzte Venus schreiet laut;3 nicht um sie durch dieses Geschrei als die weichliche Göttin der Wollust zu schildern, vielmehr um der leidenden Natur ihr Recht zu geben. Denn selbst der eherne Mars, als er die Lanze des Diomedes fühlet, schreiet so gräßlich, als schrieen zehn tausend wütende Krieger zugleich, daß beide Heere sich entsetzen.4
So weit auch Homer sonst seine Helden über die menschliche Natur erhebt, so treu bleiben sie ihr doch stets, wenn es auf das Gefühl der Schmerzen und Beleidigungen, wenn es auf die Äußerung dieses Gefühls durch Schreien, oder durch Tränen, oder durch Scheltworte ankömmt. Nach ihren Taten sind es Geschöpfe höherer Art; nach ihren Empfindungen wahre Menschen.
Ich weiß es, wir feinern Europäer einer klügern Nachwelt, wissen über unsern Mund und über unsere Augen besser zu herrschen. Höflichkeit und Anstand verbieten Geschrei und Tränen. Die tätige Tapferkeit des ersten rauhen Weltalters hat sich bei uns in eine leidende verwandelt. Doch selbst unsere Urältern waren in dieser größer, als in jener. Aber unsere Urältern waren Barbaren. Alle Schmerzen verbeißen, dem Streiche des Todes mit unverwandtem Auge entgegen sehen, unter den Bissen der Nattern lachend sterben, weder seine Sünde noch den Verlust seines liebsten Freundes beweinen, sind Züge des alten nordischen Heldenmuts.5 Palnatoko gab seinen Jomsburgern das Gesetz, nichts zu fürchten, und das Wort Furcht auch nicht einmal zu nennen.
Nicht so der Grieche! Er fühlte und furchte sich; er äußerte seine Schmerzen und seinen Kummer; er schämte sich keiner der menschlichen Schwachheiten; keine mußte ihn aber auf dem Wege nach Ehre, und von Erfüllung seiner Pflicht zurückhalten. Was bei den Barbaren aus Wildheit und Verhärtung[14] entsprang, das wirkten bei ihm Grundsätze. Bei ihm war der Heroismus wie die verborgenen Funken im Kiesel, die ruhig schlafen, so lange keine äußere Gewalt sie wecket, und dem Steine weder seine Klarheit noch seine Kälte nehmen. Bei dem Barbaren war der Heroismus eine helle fressende Flamme, die immer tobte, und jede andere gute Eigenschaft in ihm verzehrte, wenigstens schwärzte. – Wenn Homer die Trojaner mit wildem Geschrei, die Griechen hingegen in entschloßner Stille zur Schlacht führet, so merken die Ausleger sehr wohl an, daß der Dichter hierdurch jene als Barbaren, diese als gesittete Völker schildern wollen. Mich wundert, daß sie an einer andern Stelle eine ähnliche charakteristische Entgegensetzung nicht bemerket haben.6 Die feindlichen Heere haben einen Waffenstillestand getroffen; sie sind mit Verbrennung ihrer Toten beschäftiget, welches auf beiden Teilen nicht ohne heiße Tränen abgehet; δακρυα ϑερμα χεοντες. Aber Priamus verbietet seinen Trojanern zu weinen; ουδ' εια κλαιειν Πριαμος μεγας. Er verbietet ihnen zu weinen, sagt die Dacier, weil er besorgt, sie möchten sich zu sehr erweichen, und morgen mit weniger Mut an den Streit gehen. Wohl; doch frage ich: warum muß nur Priamus dieses besorgen? Warum erteilet nicht auch Agamemnon seinen Griechen das nämliche Verbot? Der Sinn des Dichters geht tiefer. Er will uns lehren, daß nur der gesittete Grieche zugleich weinen und tapfer sein könne; indem der ungesittete Trojaner, um es zu sein, alle Menschlichkeit vorher ersticken müsse. Νεμεσσωμαι γε μεν ουδεν κλαιειν, läßt er an einem andern Orte7 den verständigen Sohn des weisen Nestors sagen.
Es ist merkwürdig, daß unter den wenigen Trauerspielen, die aus dem Altertume auf uns gekommen sind, sich zwei Stücke finden, in welchen der körperliche Schmerz nicht der kleinste Teil des Unglücks ist, das den leidenden Helden trifft. Außer dem Philoktet, der sterbende Herkules. Und auch diesen läßt Sophokles klagen, winseln, weinen und schreien. Dank sei unsern artigen Nachbarn, diesen Meistern des Anständigen, daß nunmehr ein winselnder Philoktet, ein schreiender[15] Herkules, die lächerlichsten unerträglichsten Personen auf der Bühne sein würden. Zwar hat sich einer ihrer neuesten Dichter8 an den Philoktet gewagt. Aber durfte er es wagen, ihnen den wahren Philoktet zu zeigen?
Selbst ein »Laokoon« findet sich unter den verlornen Stücken des Sophokles. Wenn uns das Schicksal doch auch diesen »Laokoon« gegönnet hätte! Aus den leichten Erwähnungen, die seiner einige alte Grammatiker tun, läßt sich nicht schließen, wie der Dichter diesen Stoff behandelt habe. So viel bin ich versichert, daß er den Laokoon nicht stoischer als den Philoktet und Herkules, wird geschildert haben. Alles Stoische ist untheatralisch; und unser Mitleiden ist allezeit dem Leiden gleichmäßig, welches der interessierende Gegenstand äußert. Sieht man ihn sein Elend mit großer Seele ertragen, so wird diese große Seele zwar unsere Bewunderung erwecken, aber die Bewunderung ist ein kalter Affekt, dessen untätiges Staunen jede andere wärmere Leidenschaft, so wie jede andere deutliche Vorstellung, ausschließet.
Und nunmehr komme ich zu meiner Folgerung. Wenn es wahr ist, daß das Schreien bei Empfindung körperlichen Schmerzes, besonders nach der alten griechischen Denkungsart, gar wohl mit einer großen Seele bestehen kann: so kann der Ausdruck einer solchen Seele die Ursache nicht sein, warum dem ohngeachtet der Künstler in seinem Marmor dieses Schreien nicht nachahmen wollen; sondern es muß einen andern Grund haben, warum er hier von seinem Nebenbuhler, dem Dichter, abgehet, der dieses Geschrei mit bestem Vorsatze ausdrücket.
Es sei Fabel oder Geschichte, daß die Liebe den ersten Versuch in den bildenden Künsten gemacht habe: so viel ist gewiß, daß sie den großen alten Meistern die Hand zu führen nicht müde geworden. Denn wird itzt die Malerei überhaupt als die Kunst,[16] welche Körper auf Flächen nachahmet, in ihrem ganzen Umfange betrieben: so hatte der weise Grieche ihr weit engere Grenzen gesetzet, und sie bloß auf die Nachahmung schöner Körper eingeschränket. Sein Künstler schilderte nichts als das Schöne; selbst das gemeine Schöne, das Schöne niedrer Gattungen, war nur sein zufälliger Vorwurf, seine Übung, seine Erholung. Die Vollkommenheit des Gegenstandes selbst mußte in seinem Werke entzücken; er war zu groß von seinen Betrachtern zu verlangen, daß sie sich mit dem bloßen kalten Vergnügen, welches aus der getroffenen Ähnlichkeit, aus der Erwägung seiner Geschicklichkeit entspringet, begnügen sollten; an seiner Kunst war ihm nichts lieber, dünkte ihm nichts edler, als der Endzweck der Kunst.
»Wer wird dich malen wollen, da dich niemand sehen will«, sagt ein alter Epigrammatist9 über einen höchst ungestaltenen Menschen. Mancher neuere Künstler würde sagen: »Sei so ungestalten, wie möglich; ich will dich doch malen. Mag dich schon niemand gern sehen: so soll man doch mein Gemälde gern sehen; nicht in so fern es dich vorstellt, sondern in so fern es ein Beweis meiner Kunst ist, die ein solches Scheusal so ähnlich nachzubilden weiß.«
Freilich ist der Hang zu dieser üppigen Prahlerei mit leidigen Geschicklichkeiten, die durch den Wert ihrer Gegenstände nicht geadelt werden, zu natürlich, als daß nicht auch die Griechen ihren Pauson, ihren Pyreicus sollten gehabt haben. Sie hatten sie; aber sie ließen ihnen strenge Gerechtigkeit widerfahren. Pauson, der sich noch unter dem Schönen der gemeinen Natur hielt, dessen niedriger Geschmack das Fehlerhafte und Häßliche an der menschlichen Bildung am liebsten ausdrückte,10 lebte in der verächtlichsten Armut.11 Und Pyreicus,[17] der Barbierstuben, schmutzige Werkstätte, Esel und Küchenkräuter, mit allem dem Fleiße eines niederländischen Künstlers malte, als ob dergleichen Dinge in der Natur so viel Reiz hätten, und so selten zu erblicken wären, bekam den Zunamen des Rhyparographen,12 des Kotmalers; obgleich der wollüstige Reiche seine Werke mit Gold aufwog, um ihrer Nichtigkeit auch durch diesen eingebildeten Wert zu Hülfe zu kommen.
Die Obrigkeit selbst hielt es ihrer Aufmerksamkeit nicht für unwürdig, den Künstler mit Gewalt in seiner wahren Sphäre zu erhalten. Das Gesetz der Thebaner, welches ihm die Nachahmung ins Schönere befahl, und die Nachahmung ins Häßlichere bei Strafe verbot, ist bekannt. Es war kein Gesetz wider den Stümper, wofür es gemeiniglich, und selbst vom Junius,13 gehalten wird. Es verdammte die griechischen Ghezzi; den unwürdigen Kunstgriff, die Ähnlichkeit durch Übertreibung der häßlichern Teile des Urbildes zu erreichen; mit einem Worte, die Karikatur.
Aus eben dem Geist des Schönen war auch das Gesetz der[18] Hellanodiken geflossen. Jeder Olympische Sieger erhielt eine Statue; aber nur dem dreimaligen Sieger, ward eine ikonische gesetzet.14 Der mittelmäßigen Portraits sollten unter den Kunstwerken nicht zu viel werden. Denn obschon auch das Portrait ein Ideal zuläßt, so muß doch die Ähnlichkeit darüber herrschen; es ist das Ideal eines gewissen Menschen, nicht das Ideal eines Menschen überhaupt.
Wir lachen, wenn wir hören, daß bei den Alten auch die Künste bürgerlichen Gesetzen unterworfen gewesen. Aber wir haben nicht immer Recht, wenn wir lachen. Unstreitig müssen sich die Gesetze über die Wissenschaften keine Gewalt anmaßen; denn der Endzweck der Wissenschaften ist Wahrheit. Wahrheit ist der Seele notwendig; und es wird Tyrannei, ihr in Befriedigung dieses wesentlichen Bedürfnisses den geringsten Zwang anzutun. Der Endzweck der Künste hingegen ist Vergnügen; und das Vergnügen ist entbehrlich. Also darf es allerdings von dem Gesetzgeber abhangen, welche Art von Vergnügen, und in welchem Maße er jede Art desselben verstatten will.
Die bildenden Künste insbesondere, außer dem unfehlbaren Einflusse, den sie auf den Charakter der Nation haben, sind einer Wirkung fähig, welche die nähere Aufsicht des Gesetzes heischet. Erzeigten schöne Menschen schöne Bildsäulen, so wirkten diese hinwiederum auf jene zurück, und der Staat hatte schönen Bildsäulen schöne Menschen mit zu verdanken. Bei uns scheinet sich die zarte Einbildungskraft der Mütter nur in Ungeheuern zu äußern.
Aus diesem Gesichtspunkte glaube ich in gewissen alten Erzählungen, die man gerade zu als Lügen verwirft, etwas wahres zu erblicken. Den Müttern des Aristomenes, des Aristodamas, Alexanders des Großen, des Scipio, des Augustus, des Galerius, träumte in ihrer Schwangerschaft allen, als ob sie mit einer Schlange zu tun hätten. Die Schlange war ein Zeichen der Gottheit;15 und die schönen Bildsäulen und Gemälde[19] eines Bacchus, eines Apollo, eines Merkurius, eines Herkules, waren selten ohne eine Schlange. Die ehrlichen Weiber hatten des Tages ihre Augen an dem Gotte geweidet, und der verwirrende Traum erweckte das Bild des Tieres. So rette ich den Traum, und gebe die Auslegung Preis, welche der Stolz ihrer Söhne und die Unverschämtheit des Schmeichlers davon machten. Denn eine Ursache mußte es wohl haben, warum die ehebrecherische Phantasie nur immer eine Schlange war.
Doch ich gerate aus meinem Wege. Ich wollte bloß festsetzen, daß bei den Alten die Schönheit das höchste Gesetz der bildenden Künste gewesen sei.
Und dieses festgesetzt, folget notwendig, daß alles andere, worauf sich die bildenden Künste zugleich mit erstrecken können, wenn es sich mit der Schönheit nicht verträgt, ihr gänzlich weichen, und wenn es sich mit ihr verträgt, ihr wenigstens untergeordnet sein müssen.
Ich will bei dem Ausdrucke stehen bleiben. Es gibt Leidenschaften und Grade von Leidenschaften, die sich in dem Gesichte durch die häßlichsten Verzerrungen äußern, und den ganzen Körper in so gewaltsame Stellungen setzen, daß alle die schönen Linien, die ihn in einem ruhigern Stande umschrieben, verloren gehen. Dieser enthielten sich also die alten Künstler entweder ganz und gar, oder setzten sie auf geringere Grade herunter, in welchen sie eines Maßes von Schönheit fähig sind.
Wut und Verzweiflung schändete keines von ihren Werken. Ich darf behaupten, daß sie nie eine Furie gebildet haben.16[20]
Zorn setzten sie auf Ernst herab. Bei dem Dichter war es der zornige Jupiter, welcher den Blitz schleuderte; bei dem Künstler nur der ernste.
Jammer ward in Betrübnis gemildert. Und wo diese Milderung nicht statt finden konnte, wo der Jammer eben so verkleinernd als entstellend gewesen wäre, – was tat da Timanthes? Sein Gemälde von der Opferung der Iphigenia, in welchem er allen Umstehenden den ihnen eigentümlich zukommenden[21] Grad der Traurigkeit erteilte, das Gesicht des Vaters aber, welches den allerhöchsten hätte zeigen sollen, verhüllete, ist bekannt, und es sind viel artige Dinge darüber gesagt worden. Er hatte sich, sagt dieser,17 in den traurigen Physiognomien so erschöpft, daß er dem Vater eine noch traurigere geben zu können verzweifelte. Er bekannte dadurch, sagt jener,18 daß der Schmerz eines Vaters bei dergleichen Vorfällen über allen Ausdruck sei. Ich für mein Teil sehe hier weder die Unvermögenheit des Künstlers, noch die Unvermögenheit der Kunst. Mit dem Grade des Affekts verstärken sich auch die ihm entsprechenden Züge des Gesichts; der höchste Grad hat die allerentschiedensten Züge, und nichts ist der Kunst leichter, als diese auszudrücken. Aber Timanthes kannte die Grenzen, welche die Grazien seiner Kunst setzen. Er wußte, daß sich der Jammer, welcher dem Agamemnon als Vater zukam, durch[22] Verzerrungen äußert, die allezeit häßlich sind. So weit sich Schönheit und Würde mit dem Ausdrucke verbinden ließ, so weit trieb er ihn. Das Häßliche wäre er gern übergangen, hätte er gern gelindert; aber da ihm seine Komposition beides nicht erlaubte, was blieb ihm anders übrig, als es zu verhüllen? – Was er nicht malen durfte, ließ er erraten. Kurz, diese Verhüllung ist ein Opfer, das der Künstler der Schönheit brachte. Sie ist ein Beispiel, nicht wie man den Ausdruck über die Schranken der Kunst treiben, sondern wie man ihn dem ersten Gesetze der Kunst, dem Gesetze der Schönheit, unterwerfen soll.
Und dieses nun auf den Laokoon angewendet, so ist die Ursache klar, die ich suche. Der Meister arbeitete auf die höchste Schönheit, unter den angenommenen Umständen des körperlichen Schmerzes. Dieser, in aller seiner entstellenden Heftigkeit, war mit jener nicht zu verbinden. Er mußte ihn also herab setzen; er mußte Schreien in Seufzen mildern; nicht weil das Schreien eine unedle Seele verrät, sondern weil er das Gesicht auf eine ekelhafte Weise verstellet. Denn man reiße dem Laokoon in Gedanken nur den Mund auf, und urteile. Man lasse ihn schreien, und sehe. Es war eine Bildung, die Mitleid einflößte, weil sie Schönheit und Schmerz zugleich zeigte; nun ist es eine häßliche, eine abscheuliche Bildung geworden, von der man gern sein Gesicht verwendet, weil der Anblick des Schmerzes Unlust erregt, ohne daß die Schönheit des leidenden Gegenstandes diese Unlust in das süße Gefühl des Mitleids verwandeln kann.
Die bloße weite Öffnung des Mundes, – bei Seite gesetzt, wie gewaltsam und ekel auch die übrigen Teile des Gesichts dadurch verzerret und verschoben werden, – ist in der Malerei ein Fleck und in der Bildhauerei eine Vertiefung, welche die widrigste Wirkung von der Welt tut. Montfaucon bewies wenig Geschmack, als er einen alten bärtigen Kopf, mit aufgerissenem Munde, für einen Orakel erteilenden Jupiter ausgab.19 Muß ein Gott schreien, wenn er die Zukunft eröffnet? Würde ein gefälliger Umriß des Mundes seine Rede verdächtig machen? Auch glaube ich es dem Valerius nicht, daß Ajax in dem[23] nur gedachten Gemälde des Timanthes sollte geschrieen haben.20
Weit schlechtere Meister aus den Zeiten der schon verfallenen Kunst, lassen auch nicht einmal die wildesten Barbaren, wenn sie unter dem Schwerde des Siegers Schrecken und Todesangst ergreift, den Mund bis zum Schreien öffnen.21
Es ist gewiß, daß diese Herabsetzung des äußersten körperlichen Schmerzes auf einen niedrigern Grad von Gefühl, an mehrern alten Kunstwerken sichtbar gewesen. Der leidende Herkules in dem vergifteten Gewande, von der Hand eines alten unbekannten Meisters, war nicht der Sophokleische, der so gräßlich schrie, daß die Lokrischen Felsen, und die Euböischen Vorgebirge davon ertönten. Er war mehr finster, als wild.22 Der Philoktet des Pythagoras Leontinus schien dem Betrachter seinen Schmerz mitzuteilen, welche Wirkung der geringste gräßliche Zug verhindert hätte. Man dürfte fragen, woher ich wisse, daß dieser Meister eine Bildsäule des Philoktet gemacht habe? Aus einer Stelle des Plinius, die meine Verbesserung nicht erwartet haben sollte, so offenbar verfälscht oder verstümmelt ist sie.[24]23
Aber, wie schon gedacht, die Kunst hat in den neuern Zeiten ungleich weitere Grenzen erhalten. Ihre Nachahmung, sagt man, erstrecke sich auf die ganze sichtbare Natur, von welcher das Schöne nur ein kleiner Teil ist. Wahrheit und Ausdruck sei ihr erstes Gesetz; und wie die Natur selbst die Schönheit höhern Absichten jederzeit aufopfere, so müsse sie auch der Künstler seiner allgemeinen Bestimmung unterordnen, und ihr nicht weiter nachgehen, als es Wahrheit und Ausdruck erlauben. Genug, daß durch Wahrheit und Ausdruck das Häßlichste der Natur in ein Schönes der Kunst verwandelt werde.
Gesetzt, man wollte diese Begriffe vors erste unbestritten in ihrem Werte oder Unwerte lassen: sollten nicht andere von ihnen unabhängige Betrachtungen zu machen sein, warum dem ohngeachtet der Künstler in dem Ausdrucke Maß halten, und ihn nie aus dem höchsten Punkte der Handlung nehmen müsse.
Ich glaube, der einzige Augenblick, an den die materiellen Schranken der Kunst alle ihre Nachahmungen binden, wird auf dergleichen Betrachtungen leiten.
Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte, brauchen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholter maßen betrachtet zu werden: so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes, nicht fruchtbar genug gewählet werden kann. Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft[25] freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. In dem ganzen Verfolge eines Affekts ist aber kein Augenblick der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben. Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen, heißt der Phantasie die Flügel binden, und sie nötigen, da sie über den sinnlichen Eindruck nicht hinaus kann, sich unter ihm mit schwächern Bildern zu beschäftigen, über die sie die sichtbare Fülle des Ausdrucks als ihre Grenze scheuet. Wenn Laokoon also seufzet, so kann ihn die Einbildungskraft schreien hören; wenn er aber schreiet, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stufe höher, noch eine Stufe tiefer steigen, ohne ihn in einem leidlichern, folglich uninteressantern Zustande zu erblicken. Sie hört ihn erst ächzen, oder sie sieht ihn schon tot.
Ferner. Erhält dieser einzige Augenblick durch die Kunst eine unveränderliche Dauer: so muß er nichts ausdrücken, was sich nicht anders als transitorisch denken läßt. Alle Erscheinungen, zu deren Wesen wir es nach unsern Begriffen rechnen, daß sie plötzlich ausbrechen und plötzlich verschwinden, daß sie das, was sie sind, nur einen Augenblick sein können; alle solche Erscheinungen, sie mögen angenehm oder schrecklich sein, erhalten durch die Verlängerung der Kunst ein so widernatürliches Ansehen, daß mit jeder wiederholten Erblickung der Eindruck schwächer wird, und uns endlich vor dem ganzen Gegenstande ekelt oder grauet. La Mettrie, der sich als einen zweiten Demokrit malen und stechen lassen, lacht nur die ersten male, die man ihn sieht. Betrachtet ihn öftrer, und er wird aus einem Philosophen ein Geck; aus seinem Lachen wird ein Grinsen. So auch mit dem Schreien. Der heftige Schmerz, welcher das Schreien auspresset, läßt entweder bald nach, oder zerstöret das leidende Subjekt. Wann also auch der geduldigste standhafteste Mann schreiet, so schreiet er doch nicht unabläßlich. Und nur dieses scheinbare Unabläßliche in der materiellen Nachahmung der Kunst ist es, was sein Schreien zu weibischem Unvermögen, zu kindischer Unleidlichkeit machen würde. Dieses wenigstens mußte der Künstler des Laokoons vermeiden, hätte schon das Schreien der Schönheit[26] nicht geschadet, wäre es auch seiner Kunst schon erlaubt gewesen, Leiden ohne Schönheit auszudrücken.
Unter den alten Malern scheinet Timomachus Vorwürfe des äußersten Affekts am liebsten gewählet zu haben. Sein rasender Ajax, seine Kindermörderin Medea, waren berühmte Gemälde. Aber aus den Beschreibungen, die wir von ihnen haben, erhellet, daß er jenen Punkt, in welchem der Betrachter das Äußerste nicht sowohl erblickt, als hinzu denkt, jene Erscheinung, mit der wir den Begriff des Transitorischen nicht so notwendig verbinden, daß uns die Verlängerung derselben in der Kunst mißfallen sollte, vortrefflich verstanden und mit einander zu verbinden gewußt hat. Die Medea hatte er nicht in dem Augenblicke genommen, in welchem sie ihre Kinder wirklich ermordet; sondern einige Augenblicke zuvor, da die mütterliche Liebe noch mit der Eifersucht kämpfet. Wir sehen das Ende dieses Kampfes voraus. Wir zittern voraus, nun bald bloß die grausame Medea zu erblicken, und unsere Einbildungskraft gehet weit über alles hinweg, was uns der Maler in diesem schrecklichen Augenblicke zeigen könnte. Aber eben darum beleidiget uns die in der Kunst fortdauernde Unentschlossenheit der Medea so wenig, daß wir vielmehr wünschen, es wäre in der Natur selbst dabei geblieben, der Streit der Leidenschaften hätte sich nie entschieden, oder hätte wenigstens so lange angehalten, bis Zeit und Überlegung die Wut entkräften und den mütterlichen Empfindungen den Sieg versichern können. Auch hat dem Timomachus diese seine Weisheit große und häufige Lobsprüche zugezogen, und ihn weit über einen andern unbekannten Maler erhoben, der unverständig genug gewesen war, die Medea in ihrer höchsten Raserei zu zeigen, und so diesem flüchtig überhingehenden Grade der äußersten Raserei eine Dauer zu geben, die alle Natur empöret. Der Dichter,24 der ihn desfalls tadelt, sagt daher sehr sinnreich, indem er das Bild selbst anredet: »Durstest du denn beständig[27] nach dem Blute deiner Kinder? Ist denn immer ein neuer Jason, immer eine neue Creusa da, die sich unaufhörlich erbittern? – Zum Henker mit dir auch im Gemälde!« setzt er voller Verdruß hinzu.
Von dem rasenden Ajax des Timomachus läßt sich aus der Nachricht des Philostrats urteilen.25 Ajax erschien nicht, wie er unter den Herden wütet, und Rinder und Böcke für Menschen fesselt und mordet. Sondern der Meister zeigte ihn, wie er nach diesen wahnwitzigen Heldentaten ermattet da sitzt, und den Anschlag fasset, sich selbst umzubringen. Und das ist wirklich der rasende Ajax; nicht weil er eben itzt raset, sondern weil man siehet, daß er geraset hat; weil man die Größe seiner Raserei am lebhaftesten aus der verzweiflungsvollen Scham abnimmt, die er nun selbst darüber empfindet. Man siehet den Sturm in den Trümmern und Leichen, die er an das Land geworfen.
Ich übersehe die angeführten Ursachen, warum der Meister des Laokoon in dem Ausdrucke des körperlichen Schmerzes Maß halten müssen, und finde, daß sie allesamt von der eigenen Beschaffenheit der Kunst, und von derselben notwendigen Schranken und Bedürfnissen hergenommen sind. Schwerlich dürfte sich also wohl irgend eine derselben auf die Poesie anwenden lassen.
Ohne hier zu untersuchen, wie weit es dem Dichter gelingen kann, körperliche Schönheit zu schildern: so ist so viel unstreitig, daß, da das ganze unermeßliche Reich der Vollkommenheit seiner Nachahmung offen stehet, diese sichtbare Hülle, unter welcher Vollkommenheit zu Schönheit wird, nur eines von den geringsten Mitteln sein kann, durch die er uns für seine Personen zu interessieren weiß. Oft vernachlässiget er dieses Mittel gänzlich; versichert, daß wenn sein Held einmal unsere Gewogenheit gewonnen, uns dessen edlere Eigenschaften entweder[28] so beschäftigen, daß wir an die körperliche Gestalt gar nicht denken, oder, wenn wir daran denken, uns so bestechen, daß wir ihm von selbst wo nicht eine schöne, doch eine gleichgültige erteilen. Am wenigsten wird er bei jedem einzeln Zuge, der nicht ausdrücklich für das Gesicht bestimmet ist, seine Rücksicht dennoch auf diesen Sinn nehmen dürfen. Wenn Virgils Laokoon schreiet, wem fällt es dabei ein, daß ein großes Maul zum Schreien nötig ist, und daß dieses große Maul häßlich läßt? Genug, daß clamores horrendos ad sidera tollit ein erhabner Zug für das Gehör ist, mag er doch für das Gesicht sein, was er will. Wer hier ein schönes Bild verlangt, auf den hat der Dichter seinen ganzen Eindruck verfehlt.
Nichts nötiget hiernächst den Dichter sein Gemälde in einen einzigen Augenblick zu konzentrieren. Er nimmt jede seiner Handlungen, wenn er will, bei ihrem Ursprunge auf, und führet sie durch alle mögliche Abänderungen bis zu ihrer Endschaft. Jede dieser Abänderungen, die dem Künstler ein ganzes besonderes Stück kosten würde, kostet ihm einen einzigen Zug; und würde dieser Zug, für sich betrachtet, die Einbildung des Zuhörers beleidigen, so war er entweder durch das Vorhergehende so vorbereitet, oder wird durch das Folgende so gemildert und vergütet, daß er seinen einzeln Eindruck verlieret, und in der Verbindung die trefflichste Wirkung von der Welt tut. Wäre es also auch wirklich einem Manne unanständig, in der Heftigkeit des Schmerzes zu schreien; was kann diese kleine überhingehende Unanständigkeit demjenigen bei uns für Nachteil bringen, dessen andere Tugenden uns schon für ihn eingenommen haben? Virgils Laokoon schreiet, aber dieser schreiende Laokoon ist eben derjenige, den wir bereits als den vorsichtigsten Patrioten, als den wärmsten Vater kennen und lieben. Wir beziehen sein Schreien nicht auf seinen Charakter, sondern lediglich auf sein unerträgliches Leiden. Dieses allein hören wir in seinem Schreien; und der Dichter konnte es uns durch dieses Schreien allein sinnlich machen.
Wer tadelt ihn also noch? Wer muß nicht vielmehr bekennen: wenn der Künstler wohl tat, daß er den Laokoon nicht schreien ließ, so tat der Dichter eben so wohl, daß er ihn schreien ließ?[29]