Felix Dahn

Vom Chiemgau

Kleine Romane aus der Völkerwanderung

Band 9

 

 

 

Felix Dahn: Vom Chiemgau. Kleine Romane aus der Völkerwanderung Band 9

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Friedrich Zimmermann, Chiemseelandschaft in der Abendsonne, um 1870

 

ISBN 978-3-8430-8555-7

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8619-9395-7 (Broschiert)

ISBN 978-3-8619-9396-4 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Druck bei Breitkopf und Härtel, Leipzig, 1882-1901 in mehreren Auflagen.

 

Dieses Buch folgt in Rechtschreibung und Zeichensetzung obiger Textgrundlage.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

»Peiere vurin ie ci wige gerno«

(Bayern fuhren stets zu Kampfe gern)

Annolied.

 

 

»Chouner volc newart niemêre«

(Kühner Volk war niemals)

Rolandslied.

 

 

 

 

 

Meinem

 

lieben alten Freund und Chiemseeischen Segelgenossen

 

Max Haushofer

 

zu eigen.

 

Vorwort

Reich an stimmungsvoller Poesie ist die Landschaft des bayerischen Chiemgaus.

In vielen, vielen Jugendjahren hab' ich die herbstliche Freizeit dort verlebt: fischend, jagend, die Berge erkletternd, forschend, sinnend, dichtend und träumend.

Von reizvoller Schönheit sind vor allen die beiden größeren Eilande: die idyllische Fraueninsel und das stolz von Hochwald und Fels gekrönte Herrenwörth. Aber auch gar manche Strecke der Ufer, die sich gerade von dem Frauen-Eiland aus gesehen am malerischsten darstellen: so wann über den dunkeln Tannen im Westen des Festlandes die Sonne zu Golde geht und nun, kaum hinter den grünen Wipfeln versunken, ein sattes, leuchtendes Gelb in langen Streifen wagrecht über den ganzen Westhimmel spreitet.

Wie oft saß ich in solcher Stunde als Knabe, als Jüngling tief versteckt, vor jeder Störung geborgen, auf einer der alten Weiden des »Frauengangs« hart vor der Klostermauer!

Wann dann die Welle, ganz sacht ersterbend im sanften Abendwind, die Kiesel leise raschelnd an das flache Ufer schob, wann nur die scheue Fledermaus noch durch die Dämmerung huschte und aus dem uralten Kirchenturm herab die ernste, tiefstimmige Glocke das Ave Maria durch die Lüfte hallte, wann nun der letzte Tonhauch, klingend und schwingend, über den See hin verschwebte, – dann brauchte man Poesie wahrlich nicht zu dichten: – sie lebte und webte ringsum! –

Auch »auf der Hachel« lag ich oft mit meinem »Einbaum«, dem aus Einem Eichenstamm gehöhlten Schiff, wie wir solche den bald zweitausend Jahre alten germanischen Grabhügeln entnehmen, wo sie als »Totenbäume«, das heißt Särge, die Leichen aufnahmen.

Die »Hachel« ist eine schmale, nicht ganz leicht – nur mittels gewisser Merkmale – zu findende Stelle zwischen Frauenwörth und der kleinen »Krautinsel«, von beträchtlicher Tiefe, wo auf dem Seegrund im Sommer und Herbst ungezählte Völker von Bürschlingen (Barschen, Krätzern, perca fluviatilis) stehen. Man festigt den Kahn mittels eines schweren, angeseilten Steines – an des Ankers Statt – und fischt mit der Fingerleine, ohne Angelrute und Kork; die viele Klafter lange Schnur wird, um den rechten Zeigefinger gebunden, hinabgelassen bis auf den tiefen Grund: ein Riß an der Schnur zeigt an, »der Fisch will mit dem Hamen fahren«: nun rasch ein kräftiger Ruck in der der Bewegung des Fisches entgegengesetzten Richtung, – die Angel hat gefaßt! Und dann sofort die lange Schnur aufgehaspelt und in das Schiff gereiht mit der Linken, wahrend die Rechte die Spannung der Schnur nie locker werden lassen darf, bis die Beute über den Kahnrand hereingeschnellt ist.

Jede Stunde des Tages, – das Morgengrauen und das heraufziehende Abenddunkel – hab' ich dort in dem schaukelnden Schifflein verlebt: es war gut dort träumen, von den Wellen gewiegt und doch von dem Steinanker festgehalten: – ein anmutig Bild dichterisch bewegten und doch sicher gefestigten Lebens –: die Hora wie das Ave Maria hab' ich dort lauschend vernommen und den See, die nahen Ufer, die fernen Berge in jeder wechselnden Stimmung geschaut.

Unter den Bergen, die im Süden die Landschaft umrahmend begrenzen, bestieg ich den Hochgern und den Hochfelln: am häufigsten aber, wohl mehr als ein halbdutzendmal, im Südwesten die »zinnenstolze Kampenwand mit ihren Zackenschroffen«. Zwar führte damals noch nicht der bequeme, schöne Fahrweg hinauf, den vor einigen Jahren ein großsinniger, bayerischer »Adaling« anlegen ließ: aber auch damals war der Aufstieg weder beschwerlich noch zeitraubend; man mochte im Laufe des Nachmittags hinaufgehen, oben den Sonnenuntergang beobachten und nach dem Schlaf auf dem duftigen Heu der Sennhütte am andern Morgen den meist noch viel großartigeren Sonnenaufgang, nach ein paar Stunden des Frühdämmers, die auf jener einsamen Bergeshöhe ganz besonders feierlich, ahnungsreich vorüberzogen.

Schon damals von sehr kampffreudiger Einbildungskraft beseelt und eifrig die Geschichte von Schlachten und Belagerungen verfolgend, ward ich schon bei dem ersten Aufstieg merksam auf eine etwa halbwegs der Höhe sich ausbreitende größere Wiesenfläche, auf der ich mir in meinen Träumen ein festes Wehrhaus erbaute: der schmale und steile Bergpfad, der hierher führte, wäre durch Einen Mann mit Schild und Speer gegen eine Übermacht von Angreifern, die nur einer hinter dem andern andringen konnten, zu verteidigen gewesen: die Natur selbst hatte durch mächtige abgestürzte Felstrümmer mit einer Art »kyklopischer Mauer« die Fläche gegen unten zu umwallt. Deutlich sah ich im Abendglanz den germanischen Ringwall um das feste Gehöft sich heben.

Einmal hatt' ich auch bei einer Jagdfahrt eine herrliche Schau. Es war im September: lange vor Tagesgrauen war ich – allein – von der Fraueninsel gen Südwest in das Schilficht gefahren, das gerade gegenüber der Herreninsel das Westufer des Sees säumt und in dem häufig bei erstem Frühdämmer der scheue Silberreiher stelzte, sein Frühmahl zu erfischen. Ich lag gut verdeckt im hochbordigen Einbaum und spähte hinaus in das graue Gedämmer: nur fern im Osten stieg allmählich ein Streif von fahlem Gelb empor: ich blickte über den von Nebel bezogenen Wasserspiegel hin, aus dem dunkel die Herreninsel aufragte mit ihrem stolzen Wald.

Da glaubte ich plötzlich aus Nebel und Wasser hervor ein kleines Geschwader von tiefbraunen Kähnen – Einbaumspitzen? – auftauchen zu sehen: näher, gar rasch näher kam es gegen mich, gegen das Ufer, heran – wenig unterhalb – südlich – meines Bootes: nein, das waren keine Schiffe! Aber was sonst? Scharf spähte ich aus: Tiere waren's, hochbekrönte: nun könnt' ich's deutlich sehen: Hirsche waren's, ein ganzes Rudel!

Die stolzen mutigen Tiere hatten es gewagt, von dem engen Eiland, in dem sie sich doch wie in gelinder Haft fühlen mochten, über den breiten See hin die Freiheit zu suchen. Schon fanden die Schwimmer Grund: sie hielten: sie äugten: mein wurden sie nicht gewahr: der hohe Bord des Einbaums verbarg den Liegenden und der Wind strich von ihnen zu mir. Jetzt war es ein prachtvoller Anblick, wie sie ruhig, in wahrhaft königlichem Gang, ein Vierzehn-Ender als Führer voran, ans Land schritten, und bald verschwanden sie in dem dichten Ufergehölz.

Wunderschön war auch der Blick von den Höhen des Westufers, etwa von dem Aischingerhof oder dem roten Kreuz oberhalb Gstad: die Fraueninsel – gerade gegenüber – bildete den reizvoll lieblichen Vordergrund: bei ruhigem Wetter schien sie auf der spiegelglatten Fläche zu schwimmen, einer Seerose gleich: wunderbar war die Beleuchtung, wann die Sonne hinter mir zu Rüste sank und nun der See, die Inseln, die fernen Ostberge bis gen Süden hin in allen Farbenabstufungen – vom glühenden Rot bis in das dunkle Veilchenblau hinein – erstrahlten.

Am längsten aber und am häufigsten weilte ich in dem Dörflein Seebruck, am Nordende des Sees, dem Bedaium der Römer, die hier einen keltischen Gott: »Bid«, in einen Jupiter Bedaius umgewandelt, verehrt und zahlreiche Spuren ihres Lebens in Frieden und Krieg zurückgelassen haben, zumal in dem nahen Ising, dessen weit ausblickende Höhe wohl einen Wachtturm getragen hatte zur Beobachtung der wichtigen Legionenstraße, die, von Salzburg herkommend, hier den See erreichte, dessen Ausfluß, die tiefe und reißende Alz, überschritt, und von da nach Westen – gen Augsburg – weiter zog.

Die Landschaft ist hier in der Ruhe tief schwermütig: ödes, sumpfiges Wiesland, alter Seeboden, vielfach noch von Binsen bewachsen: malerisch höchst reizvoll, aber traurig; wie verwunschen neigen aus dem rechten Ufer des unheimlichen, tückischen Flusses ein paar uralte Stumpfweiden die langen, hangenden, im leisesten Windhauch wehenden Zweige über das mannshohe dunkelgrüne Schilf.

Wann über die Wipfel dieser Weiden – sehr oft aus dichtem Nebeldunst der Moorwiesen – der Vollmond aufstieg wie ein Blut verkündend Meteor, durch die feuchte Luft ins Unmäßige vergrößert, so war das bei dem tiefen Schweigen der nächtlichen Landschaft – nur das leise gurgelnde Ziehen der Alz durch das Schilf vernahm man – von mächtigster Poesie der Schwermut.

Dagegen den Eindruck übermenschlicher, götterhafter Kraft machte »der Weitsee« (das heißt die gewaltige Wasserfläche, die sich von diesem Nordende des Sees ohne Unterbrechung bis zu der fernen Fraueninsel dehnt), wann Gewittersturm diese weiten Fluten empörte: jagte der Südsturm die unabsehbaren Wassermassen in hochgewölbten Wogen heran gegen die zitternde Brücke, war der Eindruck überwältigend. Bei dem starken Gefäll des Abflusses schien die ganze ungeheure Wucht des Sees sich auf einmal auf das Dörflein stürzen zu wollen wie wilde ungeheure Reiterscharen. Dann ward es am hellen Tag infolge der fast über den ganzen See gespannten Gewitterwolken so dunkel wie in der Nacht: nirgends sah man mehr Ufer, Berge, Land: nur die finstere, drohend steigende Fläche des Sees, zuweilen erhellt durch grelle Zickzackblitze; und unaufhörlich krachte und rollte weithin durch die Himmel der Donner: – ununterbrochen, weil, bevor der dröhnende Wiederhall des ersten Schlages, den die Berge zurückwarfen, verschollen war, schon ein zweiter folgte: ich wähnte mich dann mitten in den Kampf der Götter und der Riesen versetzt.

Einmal verschlug mich der Südweststurm gegen die Felsen hin, die vor Chieming nah an die Oberfläche des Wassers reichen, das Ruder brach mir: ich wäre wohl verloren gewesen, hätten mich heimeilende Fischer nicht bemerkt, meinen Einbaum an ihr Boot gebunden und gelandet.

Ich habe diese Chiemsee-Geschichten getreulich verzeichnet in meinen Erinnerungen. Ich wiederhole, das Beste an all dem Treiben dort in Wald und Feld, auf Berg und See und Eiland war wohl das Träumen und Sinnen. Aber nicht ein bodenloses in die Luft hinein: sondern das Sinnen und Träumen über die Geschicke dieser Landschaft, dieser Inseln und Ufergestade, der Menschen, die in grauer Vorzeit hier gearbeitet, gekämpft, gehaßt und geliebt, geflucht und gebetet zu vielfach wechselnden Göttern hinauf, aber immer aus den gleichen Wünschen und Hoffnungen, Ängsten und Nöten des Menschenherzens heraus, die, verschieden gefärbt im Ausdruck, doch im Inhalt die nämlichen sind aller Zeit und jedes Orts.

Diese Betrachtung nun hat mich von Jugend an gereizt: nachzusinnen, nachzufühlen, endlich nachzubilden, wie die immer gleichen menschlichen Triebe, Leidenschaften, Strebungen im Wechsel der Völker und Zeiten wechselnden Ausdruck, verschiedenartig gefärbte Form der Erscheinung annehmen.

Wohl leuchtet die Sonne Homers auch uns, wohl sieht sie in den Menschen den gleichen Kern: – aber wie reizvoll wechselt die Schale! Wen das nicht anzieht, wer die Versenkung in solche Vergangenheit verwirft, der verwerfe den geschichtlichen Roman, aber auch wie die Antigone und die Elektra, so den Coriolan und den Macbeth, den Tell und den Wallenstein, den Götz und den Egmont, – kurz alle Kunst, die geschichtliche Stoffe wählt und schließlich auch die Wissenschaft der Geschichtsforschung. –

Ich aber will berichten, wie ich zu dieser hier folgenden Erzählung kam.

Wie weiland zu der Dichtung von »Felicitas« ein zufälliger Fund im Wald bei Salzburg und ein daran gereihter Traum den Anstoß gab, wie ein Stück gelben Bernsteins die »Briefe aus Thule« anregte, so sind hier die Träume dichterisch gestaltet und die »Sinnierungen«, die ein fremdartig geformt Hufeisen heraufbeschwor.

Vor vielen, vielen Jahren war's.

Ich saß an spätem Nachmittag des Erntemonds in Seebruck an dem Ausfluß des Sees, der raschflutigen Alz, an ihrem linken Ufer, gerade wo sie, stark ziehend, an die Brücke drängt. Da standen stets stattliche Bürschlinge. Ich hatte mit gutem Erfolg geangelt: der gierige Raubfisch biß scharf: denn das Wetter war schwül: fern im Süd zog ein Gewitter über die Kampenwand: der Wetterwind hatte stundenlang die Fluten des Sees grundtief aufgewühlt: einzelne große Regentropfen fielen schwer durch die Äste des alten Birnbaums.

Ich hatte, der Seebeute befriedigt, die Angelgerte neben mich ins Gras gelegt und träumte und sann, wie so oft, in den See hinaus, die Berge hinan, der Menschen gedenkend, die einst hier geschafft.

Ich sah über den Fluß geradeaus nach »Arlaching«, wo also ein Stammvater Harlacho, auf das ferne Chieming, weiter im Südosten, wo ein Hof-Erbauer Kiemo gehaust, dann auf die ragende Höhe von Ising nah im Nordwesten, »der Iso-Söhne Heim« ... –

Seltsame Stimmung überzog mich.

Ich dachte der römischen Inschriften aus »Bedaium« im Nationalmuseum zu München: ich sah die letzten Kohorten der Legio Italica II, pia, abberufen von Odovakar, abziehen auf der Straße nach Augsburg: – abziehen für immerdar.

Ich sah die Bajuvaren von Osten, von der Donau, von Lorch und Passau, hereinwandern in das herrenlose, aber nicht leere Land – etwa 500 nach Christus – und sich allmählich ausbreiten nach Süden, nach Westen.

Ich gedachte ihrer Stände: der Adalinge, des uralten Adels, der ältesten Geschlechter des Stammes, die fromme ehrfurchtvolle Sage von den Göttern, von Wuotan zumal, entsprießen und die Anfänge des Volkes begründen ließ: – eignete doch eines dieser Adelsgeschlechter, die Fágãna, in der Nähe seinen befestigten Stammhof: noch heute mahnen daran die Trümmer der Burg Fagen an der Mangfall. – Ich gedachte ihrer Gemeinfreien, der breiten Masse des Volkes, der eigentlichen Träger von Recht und Verfassung, den späteren Freibauern entsprechend, trotzig im Gefühl ihrer Kraft und ihrer Freiheit, den Adalingen nur Ehrenvorrechte, keinerlei Vorherrschaft einräumend, doch gern an der »Götterentsproßten« glänzendem Reichtum und Wesen sich freuend, solange es nicht in Übermut sich verstieg.

Ich sah, vom Nebel der Legende mehr verhüllt als gezeigt, die ersten Goten des neuen Glaubens vom Westen her den Fuß setzen in diese Lande, in denen auf die keltisch-römischen, ohne sie völlig zu verdrängen, die germanischen Götter gefolgt waren: ich sah die paar einsamen Mönche furchtlos das Kreuz ihres Gottes aufrichten: – furchtlos, aber auch fruchtlos – bald sank es wieder und die Spur ihrer Schritte verlor sich: späte Nachfolger hatten ganz von neuem zu beginnen.

Ich gedachte dann auch der bösen, ja scheußlichen, tierischwilden Feinde der Bajuvaren, ihrer schlimmen Nachbarn im Osten, der räuberischen Reiterhorden der Awaren, der wilderen Nachfolger der Hunnen, von deren unerhörten Grausamkeiten die Zeitgenossen mit Grauen berichten.

So lag ich und sann und zuletzt dachte ich: spülte doch die aufgeregte Woge da zu meinen Füßen mir ein Stück, ein Erinnerungszeichen jener alten Tage in die Hand! Warum sollte kein solch' Andenken, von den Wassern des Sees überflutet, hier liegen?

»Wuotan, alter Gönner, Wunschgott, erfülle mir diesen, wie zuvor manchen kühneren Wunsch. Du weißt, ich bin der letzte übrig Gebliebene, der an dich glaubt. Willfahre meinem Begehr. Laß mich etwas finden als Gedenkstück jener Tage.«

»Kling! klang! klirr!« scholl es da zu meinen Füßen, bis zu denen der Südwind die trüben Wellen trieb. Rasch griff ich zu: an einen großen Stein am Ufer hatte die Welle angeschlagen ein seltsam gebogen Stück Metall; schwer blieb es liegen. Ich hob's heraus. Ich reinigte es mit dem Taschenmesser – demselben, das mir die Inschrift von »Felicitas« klar geschabt – von einer dicken, offenbar uralten Kruste von grünem Schleim, fest gewordenem Schlamm und Schmutz. Nun stieß ich erst auf den metallnen Kern.

Es war ein Hufeisen, ganz verrostet, so morsch, daß die Krümmung bei leichtem Druck mir unter den Fingern zerbrach. Aber ein Eisen für so kleinen Huf wie kein Römer- und kein Germanen-Roß ihn je gehoben. Doch was für andre Reiter haben hier getrabt?

Hunnen? Wäre doch gar lange her! Waren auch nie in diesen Landen! Aber vielleicht ...? Könnte sein. Ich legte mich zurück in das weiche Gras.

Der ferne Donner war verstummt, der Regen tröpfelte nicht mehr. Aber noch lastete auf mir die Schwüle der Gewitterstunden. Ich schlief ein unter dem breitschattenden Birnbaum. Und nun hob's an: »Die Edeln – die Fagana – die trotzigen Freien hier an der Alz mit ihrem weisen Mark-Richter – seine Tochter mit den weizenblonden Zöpfen – ein kecker Adaling – Gewalt – Fehde – plötzlich wilde Feinde – unzählige Rosse wie die Wellen des Sees – kleine zottige Gäule, – zahllos! wie die kleinen Hufe klappen auf der festen Römerstraße daher – von Osten. Weh, arme Bauern! Wo sind eure tapfern Reiter? Nur Reiter können euch retten. Ach, ihr habt sie verbannt. Sie zürnen – sie können, sie wollen euch nicht helfen ... ihr seid verloren.«

Da, krach! Der letzte Donnerschlag.

Aufgeschreckt aus Schlaf und Traum sprang ich auf: und es galt nur noch, auszugestalten, was ich gesonnen und geträumt.

 

Erstes Buch

I.

Es war an einem Frühlingsabend des Jahres fünfhundertsechsundneunzig nach Christus.

Da saßen zwei Männer auf der Bank vor dem stattlichsten Gehöft des kleinen Weilers an dem linken Ufer der Alz, den die Römer Bedaium genannt hatten, aber die von der Donau her einwandernden Bajuwaren, die seit etwa hundert Jahren hier siedelten, »zur Seebrücke«, weil hier weiland die Römerstraße den Fluß hart am Auslauf aus dem See überbrückt hatte; die Brückenbalken hatten die abziehenden Kohorten hinter sich verbrannt: nun führte über die stehengebliebenen gemauerten Pfeiler nur ein schmaler schwankender Laufsteg, den die neuen Anwohner darauf gelegt.

Jener Hof, der Arninge ragende Heimstatt, stand auf der Anhöhe, über die heute nördlich von Seebruck die Straße nach Seeon führt: so gewährte er weithin die Schau über Fluß und See und die fernher grüßenden Berge.

Die beiden Männer, von etwa gleichem Alter – rüstige Fünfziger – sahen sich, obwohl nicht verwandt, ähnlich: der kernfeste schlichte Ausdruck der hart und ein wenig grob geschnittenen Gesichter, der steten grauen Augen war der gleiche, gleich die bemessene Ruhe der seltenen Bewegungen, gleich auch die wortkarge Rede, die den Gedanken mehr andeutete, erraten ließ als aussprudelte.

»Hm«, meinte der Ältere der beiden, mit dem Ende des Speerschaftes Kreise zeichnend in den weißen Sand vor seinen Füßen, »manch' gedeihlich Geschäft haben wir gedingt diese vielen Winter her, Arno. Und das Angebot, das ich dir heute zutrug, wäre das gedeihlichste geworden. Aber du schlägst diesmal nicht ein in die hingereckte Hand.«

»Noch nicht, Nachbar Iso. Ich sage nicht Nein. Aber ich sage auch nicht schon Ja!« – »Nun, ich dächte«, fuhr der andere fort, beharrlich weitere Kreise ziehend, und so die innere Erregung meisternd, »der Muntschatz, den ich bot, ist – auch für Arntrud! – nicht zu niedrig bemessen. Hundert untadlige Rinder – alamannischen Schlags, – eisengraue! – das sind – du weißt es – die besten.« Arno schwieg, »Und langt das nicht, – du wolltest mir schon lange gern meine zwölf fetten Hufen abkaufen – da drüben, rechts der Alz, abwärts gegen den Hof des Truchtlacho hin – sei's drum: ich lege sie zu! – Es ist mir – es ist mir um den Buben. Meinen einzigen! Der Baumstarke, der Bärentapfere« – des Vaters Augen leuchteten vor Stolz ... aber rasch wich dieser Glanz trüber Trauer – »es frißt an ihm – es verzehrt ihn. Ich biete auch noch ...« – »Schon zuviel, Iso, hast du geboten«, erwiderte nun der andere, leicht die Rechte hebend. »Ich würde von dir gar geringen Muntschatz heischen für das Kind. Aber eben: sie ist noch ein Kind. Ich kann sie noch nicht in den Schuh des Ehemanns treten lassen. Laß doch die beiden – wie bisher! – noch weiter als Kinder – als Nachbarkinder – nebeneinander hinleben.« – »Mein Isanbert ist aber kein Knabe mehr. Und dann ...« Er stockte. – »Und dann?« – »Ich meine ... und er fürchtet ... auch die Blondgezöpfte ist nicht das Kind, für das du sie hältst. – Oder ... ausgiebst.« – »Ausgiebst? Ich pflege nicht zu lügen, Nachbar.« – »Nicht andern. Aber hier vielleicht – dir. Du täuschest dir vor, die Sechzehnjährige sei ein Kind, weil du ...« – »Nun, weil?« fragte Arno, möglichst ruhig, gleichgültig im Klang der Stimme. Aber er konnte nicht verhindern, daß eine rote Blutwelle in seine tiefgebräunten Wangen stieg. »Weil du Zeit gewinnen, abwarten willst. Weil du dir selbst noch nicht eingestehen magst, wo du hinaus willst mit dem schönen Mädel. Hoch hinauf! So hoch wie – da drüben die Kampenwand.« – »Vielleicht«, erwiderte Arno langsam, ihm voll in die Augen sehend. »Vielleicht hast du recht«, »Siehst du!« rief der andere bitter. »Damit nämlich hast du recht: mir war's nicht klar geworden, bis du es aussprachst – unvorsichtig! Geister kommen, nennst du sie bei Namen.« – »Hüte dich vor diesem Geist: – Hochflug heißt er. Gleich mit gleich gedeiht am besten. Der Falk schlägt das Feldhuhn, er freit es nicht. Willst du, unter uns Gemeinfreien der Erste, der Richter der Markgenossenschaft des ganzen Untersees, dein Kind emporheben unter die Edelfreien, daß es auf jener Höhe gering geachtet werde?« – »Bei Donar, nein!« rief Arno. »Weh jedem, der uns gering achten wollte. Aber – winkt mir jener Wunsch, – es ist mir nicht um mich oder um das Kind. Es ist mir nur – um die Mark, um das Ganze. Das darf ich sagen.« – »Du darfst es sagen. Andere würden's lügen.«

»Sieh, Freund«, begann der Richter, tief Atem schöpfend und, voll Bedachtes, langsam sprechend, »auf der Eintracht zwischen uns und den Edelfreien ruht das Gedeihen, ja die Erhaltung all' unserer Höfe, der ganzen Mark. Was die Eintracht stärkt, stärkt uns alle. Und wahrlich: wir können solche Stärkung brauchen: – wir wie die Adalinge.« – »Gut, daß nicht Harlacho – da drüben unter seinen Weiden am See – dich hört, der grimme Adelshasser! Laut würde er schreien, daß wir sie nicht brauchen, die Hochmütigen.« – »Hochgemut dürfen sie sein, die götterentstammten, uralten Geschlechter«, – »Sie sind aber gar oft – darüber hinaus! –übermütig, selbstisch, voll Überhebung ...« – »Ich meine, ich höre Harlacho«, lächelte der Richter. »Laß ihm doch noch ein paar Schmähworte übrig. Und – unter uns alten Freunden geraunt! – sind nicht unter uns Gemeinfreien gar manche gehässig, neidisch gegen die Adalinge? Wir gehören so notwendig zusammen wie Schild und Schildbuckel. Und doch! schon oft hat in diesen Jahrzehnten der Freiheitstrotz der Unsern, und – ich muß es einräumen! – der Übermut manches unter unsern Adalingen, den Faganos an der Prien da drüben, das Schwert der Fehde halb aus der Scheide gezogen.« – »Um zu verhüten, daß es vollends herausfahre, hast du ja vor zwei Wintern den Beschluß des Herbstdings durchgesetzt, daß keine Sippe für sich allein den Fehdegang beschließen dürfe, nur das Handmehr aller Markgenossen.« – »Ja, so hoffe ich die Gefahr zu bannen. Denn es werden sich neben den Stimmen der Ergrimmten stets vernehmen lassen die mäßigenden der nicht selbst Verletzten. Aber freilich, zugestehen mußte ich den zweiten Beschluß, daß, verlangt das Handmehr den Blutgang, jeder Markgenoß die Fehde als eigne aufnehmen, mitkämpfen muß, Nun, das wird wohl nie werden. Denn gegen solche Übermacht der gesamten Märker wird Wohl keine Sippe die Fehde auf sich nehmen, jede wird sich der Sühne, dem Rechtsgang fügen.«

»Es ist das, mein' ich, in all diesen Jahren das Weiseste was du geraten: ich gönne, ich wünsche dir, daß du die Frucht dieser Saat einst selbst ernten mögest. Wir müssen zusammenstehn, du hast recht. Denn wir sind viel bedroht.« – »Ja, wie die Weltesche, an der überall Feinde nagen: – an den Wipfeln wie an den Zweigen und an den Wurzeln. Und die Helfer – sind weit.« – »Und anderwärts vollauf in Arbeit«, nickte Iso. »Seit etwa fünfzig Wintern, als die Frankenkönige, übermächtig, nachdem sie unsere Nachbarn in Niedergang und Mitternacht: Alamannen und Thüringe, bezwungen, eines ihrer Adelsgeschlechter, die Agilolfingen, über unsere fünf alten gauküniglichen erhöht haben, ist uns doch von jenen Merowingen – fern drüben über dem Rhein! – noch niemals Hilfe gekommen wider unsere schlimmen Nachbarn im Aufgang, – die Slovênen. Und nun soll ein neues Reiter- und Raubvolk, von Unholden, in der Steppe von Nachtelben mit Alraunen gezeugt, aufgekommen sein, greulich, von viehischen Sitten. Und bis an die Enns schon sollen ihre kleinen zottigen Gäule traben.« – »Ich hörte davon. Aber wie heißen sie doch?« – »Awaren! Schweifende, soll das heißen in ihrer Sprache. So hat ein aus ihrem Volk Gefangener – in einer Schlacht bei Linz – dem Fagano bedeutet. Woher soll uns Hilfe kommen wider alte und neue Feinde? Nicht von den Merowingen, nicht von den Austrasiern zu Metz! Zur Zeit waltet dort – so berichtete des Fagano Sohn ...« – »Jener Adalfrid«, unterbrach Iso grollend. »Du siehst sie nicht selten, die Adalinge, den Sohn wie den Vater.« – »Und leider auch – öfter als mir lieb! – den frechen Neffen«, meinte der Richter, die Brauen furchend. – »Nun, Adalfrid, der Sohn, ward von unserem Herzog Tassilo zu Regensburg zu den Merowingen übern Rhein gesandt, Hilfe zu erbitten wider die Slovenen, die von Südosten her die Gail und Drau heraufdringen: – schon lange haben sie ein Thal verödet und dann Pustriza – ödes Thal – genannt. Wenig Trost brachte der junge Adaling aus Metz zurück! Dort waltet zwar eine hehre Königin, Frau Brunichildis, wacker für ihren wehrunmündigen Sohn. Aber sie konnte keine Heereshilfe versprechen. Denn eine böse Walandine, rotlockig, aber zauberschön, – Loges Tochter soll sie sein – bedroht ihr Land unablässig mit Krieg: Fredigundis nennen sie die Leute und zittern bei dem Namen! Unser Herzog aber hat Arbeit genug mit den Slovenen. So müssen wir uns selber helfen und Eintracht halten mit den Adalingen. Und deshalb ...«

»Und deshalb soll mein Bub das Nachbarmädel nicht haben, mit dem er von Kind auf gespielt, das er einmal aus der tiefen Alz da drunten gerettet, dem tückischen Neck entrissen hat.«

»Alle Götter mögen's ihm lohnen!«

»Aber nicht Frau Berahta: – scheint es, geht es nach deinem Wunsch. Denn danach soll dein Kind des Adalings Weib werden, der da sein Trutzhaus auf der halben Höhe der Kampenwand gebaut hat und der ihr freilich vieler anderer Höfe Schlüsselgewalt verleihen kann an der Prien und der Mangfall, an der Glon und dem Inn. Wohl weiß ich: es ist dir dabei nicht um den reichen Besitz und den Adelglanz: – dir ist's um die Mark. Deshalb haben wir dich zum Markrichter gekoren, als du kaum vierzig Jahre zähltest. Und gerecht und weise hast du des Amtes gewaltet diese zehn Winter. Und es ist auch wahr: der schöne Adaling ist gegen meinen starken Isanbert wie der Edelhirsch gegen den Ackergaul. Aber doch, Freund Arno! Möge es dich niemals reuen, dein Kind an die stolzen Faganos gehängt zu haben. Gedeiht die Linnenblüte auf der Kampenwand?«

Er stand auf, reichte dem Freunde die Hand, ging den Wiesenhang hinunter an die Alz und überschritt sie auf dem schmalen Laufsteg, von dem ab auf dem rechten Ufer der Weg zu der Höhe führte, wo sein Gehöft, das der »Isinge«, lag.

 

II.

Das wellige Gelände, das sich von den heutigen Dörfern Gstad und Breitbrunn gen Norden nach Seebruck hinzieht und meist von Kornfeldern und Wiesen, selten und undicht von Gehölz bedeckt ist, trug damals auf seinen Höhen fast undurchdringbaren, nur von schmalen Jägerpfaden durchschnittenen, Urwald, während die Niederungen von dem nach allen Ufern viel weiter ausgedehnten See mit Seichtwasser oder Sumpf überspült oder überzogen waren.

In dem über Manneshöhe ragenden Schilf mit seinen dunkelbraunen, bei jedem Lufthauch zierlich wiegenden Federblüten, stapfte hochaufspritzend der ungeschlachte Elch mit seinem mächtig breiten Schaufel-Geweih, wühlte der grunzende Wildeber, röhrte der stolze Hirsch.

Nur dicht südwestlich vor Seebruck hatten die Markgenossen oben auf den Höhen den Wald ein wenig gelichtet und seine nördlichen Ausläufer »mit hallender Hacke und brennendem Brand, mit beißendem Beil und flammender Fackel« ganz gerodet und geschwendet, sonnenbeschienene trockene Wiesen – die Almännde-Weide – für ihre Herden zu gewinnen.

In solche Nähe der Menschen mit ihrer lärmenden Hantierung wagten sie sich nicht, die gewaltigen Raubtiere jener Wälder: die Bären, die in den Felsenhöhlen der Kampenwand und des Hochgern nicht selten hausten, und die Wölfe, die nur in harten Wintern, vom Hunger getrieben, dann aber in starken Rudeln, gegen die Gehöfte trabten und die Ställe umheulten. Der Luchs freilich lag wohl auch in dem nahen Almänndegehölz, wagrecht hingestreckt auf dem seinem rotbraunen Fell ganz ähnlichen Eichenast; und manch verirrt Zicklein fiel seinem nie fehlenden Ansprung auf den Nacken zum Opfer; aber an Menschen traute er sich nicht; noch auch, außer im Wundzorn, die bösartige Wildkatze.

Daher gingen auch die Frauen und Kinder des Dörfleins furchtlos ihrer Arbeit nach in den Weidewiesen und dem gelichteten Hag der Almännde.

So wandelten denn am Morgen nach jenem Zwiegespräch vor der Arninge Hof aus dessen Pfahlwehre eine Jungfrau und ihr klein Schwesterlein Hand in Hand, dann aus dem Dorfe hinaus auf die nahe Waldwiese im Südwesten; die ältere trug auf der linken Schulter eine mächtige »Butte«, das heißt ein hohes schmales Gefäß aus weißem Lindenholz, während das Kind eine zierliche kleine Nachbildung dieses Bottichs in der Hand führte.

Es war noch früh am Tag. Die steigende Morgensonne warf einen breiten Strahlenguß, einer goldenen Brücke vergleichbar, von den Ostbergen her auf den regungslos liegenden, von keinem Lüftchen, keiner Welle gekräuselten spiegelglatten See.

Der Tau glitzerte und glänzte auf allen Grashalmen, allen Blüten: er näßte die Flügel der Wildbienen und machte es ihnen schwer, von Glockenblume zu Glockenblume zu fliegen: sie setzten sich klüglich auf die breiten Polster der Skabiosen, sich hier zu sonnen und die Flügel zu putzen und zu trocknen; über dem schönen dunkelroten Agelei schwebte, wählerisch den Rüssel in den Kelch tauchend, der hellgelbe Segelfalter.