Søren Kierkegaard

Die Krankheit zum Tode

Eine christlich-psychologische Entwicklung

zur Erbauung und Erweckung

 

 

 

Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Eine christlich-psychologische Entwicklung zur Erbauung und Erweckung

 

Übersetzt von Hermann Gottsched und Christoph Schrempf

 

Vollständige Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

ISBN 978-3-8430-5359-4

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-1753-4 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-1754-1 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Sygdommen til Døden. Erschienen 1849 unter dem Pseudonym Anti-Climacus. Hier in der Übersetzung von Christoph Schrempf und Hermann Gottsched, Jena, 1912.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

 

 

Herr! Gib uns blöde Augen

für Dinge die nichts taugen,

und Augen voller Klarheit

in alle deine Wahrheit.

 

 

Vorwort

Diese Form der »Entwicklung« wird vielen sonderbar vorkommen: zu streng um erbaulich, zu erbaulich um streng wissenschaftlich zu sein. Über dies letzte habe ich kein Urteil, und in bezug auf das erste bin ich anderer Meinung; wäre diese Entwicklung aber wirklich zu streng um erbaulich zu sein, so wäre dies in meinen Augen ein Fehler. Vielleicht kann sie nicht für jeden erbaulich sein, weil nicht jeder die Voraussetzungen hat ihr zu folgen; aber darum kann sie doch ihrer Art nach erbaulich sein. Christlich genommen soll nämlich alles, alles zur Erbauung dienen. Eine Wissenschaftlichkeit die nicht zuletzt erbaulich ist ist eben darum unchristlich. Alle Darstellung des Christlichen muß Ähnlichkeit haben mit dem Vortrag eines Arztes am Krankenbett; ob diesen auch nur der Heilkundige versteht, darf doch nie vergessen werden, daß er beim Krankenbett gehalten wird. Die Beziehung des Christlichen auf das Leben (im Gegensatz zu einem wissenschaftlichen Absehen vom Leben), oder die ethische Seite des Christlichen ist eben das Erbauliche; und eine derartige Darstellung, wie streng sie übrigens auch sein mag, ist qualitativ völlig verschieden von einer »gleichgültigen« Wissenschaftlichkeit, deren erhabener Heroismus christlich so wenig Heroismus ist daß er vielmehr christlich eine Art unmenschliche Neugier ist. Christlicher Heroismus (wie er vielleicht selten genug vorkommt) ist es, wenn einer wagt ganz er selbst, ein einzelner Mensch zu sein: allein vor Gott, allein in dieser ungeheuren Anstrengung und mit dieser ungeheuren Verantwortung. Aber es ist kein christlicher Heroismus, wenn man den »reinen« Menschen spielt oder über den Gang der Weltgeschichte orakelt. Alles christliche Erkennen, wie streng auch seine Form sein mag, muß Sorge sein; das eben ist das Erbauliche. Die Sorge ist das Verhältnis zum Leben, zur Wirklichkeit der Persönlichkeit, und so (christlich) der Ernst; die Erhabenheit des gleichgültigen Wissens ist (christlich) so wenig höherer Ernst, daß sie (christlich) Scherz und Eitelkeit bedeutet. Der Ernst ist wieder das Erbauliche.

Diese kleine Schrift ist daher in einem Sinne von der Art, daß sie ein Seminarist schreiben könnte; und doch vielleicht in einem anderen Sinne so, daß nicht jeder Professor sie schreiben könnte.

Daß aber die Einkleidung der Abhandlung so ist wie sie ist, ist jedenfalls wohl überlegt, und doch wohl auch psychologisch richtig. Es gibt einen feierlicheren Stil, der so feierlich ist daß er nichts mehr bezeichnet, und der, da man seiner nur allzusehr gewohnt ist, leicht nichtssagend wird.

Übrigens nur noch eine freilich überflüssige Bemerkung, deren Überflüssigkeit ich doch auf mich nehmen will: ich möchte nämlich ein für allemal darauf aufmerksam machen, daß, wie der Titel sagt, in dieser ganzen Schrift Verzweiflung als die Krankheit, nicht als das Heilmittel verstanden wird. So dialektisch ist nämlich Verzweiflung. So ist ja auch in christlicher Terminologie der Tod der Ausdruck für das größte geistige Elend, und besteht doch gerade die Heilung im Sterben, im Absterben.

Im Jahre 1848

 

Einleitung

»Diese Krankheit ist nicht zum Tode« (Joh. 11,4). Und doch starb ja Lazarus. Als die Jünger Christi späteres Wort mißverstanden: »Lazarus, unser Freund, ist eingeschlafen, aber ich gehe hin ihn aufzuwecken«, da sagte er es ihnen geradeheraus: »Lazarus ist tot« (11,14). Also Lazarus ist tot, und doch ist diese Krankheit nicht zum Tode. Wir wissen nun wohl, daß Christus an das Wunder dachte das den Zeitgenossen, soweit sie glauben konnten, die Herrlichkeit Gottes zeigen sollte (11,40); an das Wunder durch das er Lazarus von den Toten auferweckte, so daß »diese Krankheit« nicht nur nicht zum Tode war, sondern, wie Christus voraussagte, zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehrt werde (11,4): o, aber selbst wenn Christus Lazarus nicht auferweckt hätte, würde es dann nicht doch ebenso wahr sein, daß diese Krankheit, daß der Tod selbst nicht zum Tode ist? Indem Christus zum Grabe hintritt und mit lauter Stimme ruft: »Lazarus, komm heraus!« (11,43), ist es ja gewiß genug daß »diese« Krankheit nicht zum Tode ist. Wenn aber Christus dies auch nicht gesagt hätte / daß er, der »die Auferstehung und das Leben« (11,25) ist, ans Grab hintritt, bedeutet nicht schon das, daß diese Krankheit nicht zum Tode ist? daß Christus überhaupt da ist, bedeutet das nicht, daß diese Krankheit nicht zum Tode ist? Und was hätte es Lazarus geholfen von den Toten auferweckt zu werden, wenn es doch zuletzt damit enden muß daß er stirbt? was hätte das Lazarus geholfen, wenn jener nicht der wäre, der er für jeden, der an ihn glaubt, ist: die Auferstehung und das Leben? Nein, nicht weil Lazarus von den Toten auferweckt wurde, nicht darum kann man sagen daß diese Krankheit nicht zum Tode ist, sondern weil Er da ist, darum ist diese Krankheit nicht zum Tode. Denn menschlich gesprochen ist der Tod das Letzte von allem; und menschlich gesprochen gibt es nur Hoffnung solange Leben da ist. Aber christlich verstanden ist der Tod keineswegs das Letzte von allem, sondern auch er nur eine kleine Begebenheit innerhalb dessen das alles ist, innerhalb eines ewigen Lebens; und christlich verstanden, ist im Tode unendlich viel mehr Hoffnung als in bloß menschlichem Sinn sogar da, wo nicht nur Leben vorhanden ist, sondern dieses Leben in vollster Gesundheit und Kraft steht.

Also christlich verstanden ist nicht einmal der Tod »die Krankheit zum Tode«, geschweige denn alles, was irdisches und zeitliches Leiden, Noth, Krankheit, Elend, Drangsal, Widerwärtigkeit, Pein, Seelenqual, Sorge und Gram heißt. Und wäre solches auch so schwer und peinvoll, daß wir Menschen sagten: »das ist schlimmer als der Tod«, oder daß doch der Leidende das sagte / alles derart, was immer mit einer Krankheit verglichen werden kann, ist doch nicht in christlichem Sinn die Krankheit zum Tode.

So vornehm lehrt das Christentum den Christen über alles Irdische und Weltliche und selbst den Tod denken. Es scheint fast, als müßte der Christ hochmütig werden wenn er sich so stolz über alles erhebt, was der Mensch sonst Unglück, ja das größte Übel nennt. Aber dann hat das Christentum wieder ein Elend entdeckt von dem der Mensch als solcher nichts weiß: eben die Krankheit zum Tode. Was der natürliche Mensch als das Schauerliche aufzählt / wenn er dann alles aufgezählt hat und nichts mehr zu nennen weiß: das ist für den Christen wie ein Scherz. Der natürliche Mensch verhält sich zum Christen wie das Kind zum Manne: wovor dem Kinde graut, das achtet der Mann für nichts. Das Kind weiß nicht was das Schreckliche ist; das weiß der Mann, und davor graut ihm. Die Unvollkommenheit des Kindes besteht erstens darin, daß es das Schreckliche nicht kennt; und daraus folgt zweitens, daß ihm vor dem graut was nicht schrecklich ist. So auch mit dem natürlichen Menschen: er weiß nicht was in Wahrheit das Schreckliche ist; doch ist er damit nicht frei von Angst, nein, ihm graut vor dem was nicht schrecklich ist. Wie der Heide nicht bloß den wahren Gott nicht kennt, sondern überdies einen Abgott als Gott verehrt.

Nur der Christ weiß was die Krankheit zum Tode bedeutet. Er bekam als Christ einen Mut, den der natürliche Mensch nicht kennt. Diesen Mut bekam er dadurch, daß er das noch Schrecklichere fürchten lernte. Nur auf diese Weise bekommt der Mensch Mut. Wenn man eine größere Gefahr fürchtet, hat man immer Mut in die geringere zu gehen; wenn man eine Gefahr unendlich fürchtet, ist es als wären die andern gar nicht da. Das Schreckliche aber, das der Christ kennen lernte, ist »die Krankheit zum Tode«.

 

Erster Abschnitt

Die Krankheit zum Tode ist Verzweiflung

I. Daß Verzweiflung die Krankheit zum Tode sei

A. Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann so ein Dreifaches sein: daß man, in der Verzweiflung, sich dessen nicht bewußt ist ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); daß man, verzweifelt, nicht man selbst sein will; daß man, verzweifelt, man selbst sein will

Der Mensch ist Geist. Was ist Geist? Geist ist das Selbst. Was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis das sich zu sich selbst verhält; oder ist das im Verhältnis, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; also nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.

Ein Verhältnis das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muß sich entweder selbst gesetzt haben oder durch ein anderes gesetzt sein.

Ist das Verhältnis das sich zu sich selbst verhält durch ein anderes gesetzt, so steht es als Verhältnis zu sich selbst außerdem in einem Verhältnis zu dem Dritten, das das ganze Verhältnis gesetzt hat.

Solch ein abgeleitetes, gesetztes Verhältnis ist das Selbst des Menschen: ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält und in diesem Zusichselbstsichverhalten sich zu einem anderen verhält. Daher kommt es daß es zwei Formen eigentlicher Verzweiflung geben kann: verzweifelt nicht man selbst sein wollen; und verzweifelt man selbst sein wollen. Hätte das Selbst des Menschen sich selbst gesetzt, so könnte es nur in Verzweiflung nicht es selbst sein, sich selbst los sein wollen; nicht aber könnte es dann verzweifelt es selbst sein wollen. Warum nämlich kann es verzweifelt es selbst sein wollen? Weil es nicht durch sich selbst zum Gleichgewicht oder zur Ruhe kommen oder in Ruhe sein kann, sondern nur so, daß es sich in seinem Verhältnis zu sich selbst zu dem verhält was das ganze Verhältnis gesetzt hat. Deshalb ist auch diese zweite Form der Verzweiflung so wenig bloß eine besondere Art von Verzweiflung, daß sich im Gegenteil zuletzt alle Verzweiflung in sie auflösen und auf sie zurückführen läßt. Und deshalb ist ein Verzweifelnder, wenn er mit aller Macht allein durch sich selbst die Verzweiflung heben will, noch in der Verzweiflung und arbeitet sich mit allem seinem vermeintlichen Kampf gegen die Verzweiflung nur immer tiefer in tiefere Verzweiflung hinein. Das Mißverhältnis im Verzweifeln ist eben kein einfaches Mißverhältnis, sondern ein Mißverhältnis in einem Verhältnis das sich zu sich selbst verhält und von etwas anderem gesetzt ist; so daß das Mißverhältnis in jenem für sich seienden Verhältnis sich zugleich unendlich in dem Verhältnis zu der Macht reflektiert die es setzte.

Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt wenn die Verzweiflung ganz ausgerottet ist: indem es zu sich selbst sich verhaltend es selbst sein will, gründet sich das Selbst sich selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte.

 

B. Möglichkeit und Wirklichkeit der Verzweiflung

Ist Verzweiflung ein Vorzug oder ein Mangel? Rein dialektisch ist sie beides. Wenn man die Verzweiflung abstrakt denken wollte, ohne an einen Verzweifelten zu denken, so müßte man sagen: sie ist ein ungeheurer Vorzug. Die Möglichkeit dieser Krankheit ist des Menschen Vorzug vor dem Tiere: verzweifeln kann der Mensch nur weil er mehr ist als Tier, nämlich ein Selbst, Geist. Die Möglichkeit dieser Krankheit ist des Menschen Vorzug vor dem Tiere; auf diese Krankheit aufmerksam zu sein ist des Christen Vorzug vor dem natürlichen Menschen; von dieser Krankheit geheilt zu sein ist des Christen Seligkeit.

Verzweifeln können ist also ein unendlicher Vorzug; Verzweifeln aber ist nicht bloß das größte Unglück und Elend, nein Verlorenheit. So verhalten sich Möglichkeit und Wirklichkeit sonst nicht zueinander. Ist es sonst ein Vorzug, das und das sein zu können, so ist es ein noch größerer Vorzug, es zu sein. Das will heißen: sonst steigt man vom Seinkönnen zum Sein auf. Was dagegen die Verzweiflung betrifft, so fällt man da aus dem Seinkönnen in das Sein hinab; und der unendlichen Höhe des Vorzugs, verzweifeln zu können, entspricht die unendliche Tiefe des Falls in die wirkliche Verzweiflung hinein. In Beziehung auf die Verzweiflung steigt man also von der Möglichkeit auf zum Nichtsein. Jedoch ist diese Bestimmung wieder zweideutig. Mit dem Nichtverzweifeltsein steht es nicht wie mit dem Nichtlahm-, Nichtblindsein und dergl. Wenn Nichtverzweifeltsein weder mehr noch weniger ist als nicht verzweifelt zu sein, so ist es gerade verzweifelt sein. Nichtverzweifeltsein und die vernichtete Möglichkeit sein, verzweifelt sein zu können; wenn es wahr sein soll daß ein Mensch nicht verzweifelt ist, muß er in jedem Augenblick die Möglichkeit zu verzweifeln vernichten. So ist das Verhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit sonst nicht. Zwar sagen die Denker, Wirklichkeit sei die vernichtete Möglichkeit; das ist aber nicht ganz wahr: sie ist die erfüllte, die wirkende Möglichkeit. Hier dagegen ist die Wirklichkeit (nicht verzweifelt zu sein, also eine Verneinung!) die ohnmächtige, vernichtete Möglichkeit. Sonst ist Wirklichkeit eine Bekräftigung, hier eine Vernichtigung der Möglichkeit.

Ein Selbst, ein Verhältnis das sich zu sich selbst verhält, ist der Mensch weil er eine Synthese ist: eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichkeit und Ewigkeit, von Freiheit und Notwendigkeit. Verzweiflung ist nun das Mißverhältnis in dem Verhältnis des Selbst zu sich selbst. Die Synthese selbst aber ist nicht das Mißverhältnis, ist bloß dessen Möglichkeit; oder in der Synthese liegt die Möglichkeit des Mißverhältnisses. Wäre die Synthese selbst ein Mißverhältnis, so gäbe es gar keine Verzweiflung: Verzweiflung würde dann etwas sein was in der Natur des Menschen als solcher läge, wäre also eben nicht Verzweiflung. Sie würde dann etwas sein was dem Menschen begegnete, was er litte (wie eine Krankheit, in die der Mensch fällt; oder wie der Tod, der das Los aller ist). Nein, das Verzweifeln liegt als Möglichkeit in der Natur des Menschen, als Wirklichkeit im Menschen selbst. Wäre er keine Synthese, so könnte er gar nicht verzweifeln; und wäre die Synthese nicht ursprünglich von Gottes Hand her im rechten Verhältnis, so könnte er auch nicht verzweifeln.

Woher kommt nun die Verzweiflung? Von dem Verhältnis, worin die Synthese sich zu sich selbst verhält. Gott, der den Menschen zum Verhältnis machte, läßt ihn gleichsam aus seiner Hand; und so wird der Mensch ein Verhältnis das sich zu sich selbst verhält. Darin aber, daß das Verhältnis Geist ist, das Selbst ist, darin liegt die Verantwortung, unter der alle Verzweiflung steht und jeden Augenblick steht, den sie dauert; wie viel und wie sinnreich auch, sich und andere täuschend, der Verzweifelte von seiner Verzweiflung als von einem Unglück redet, das nur von außen, also ohne seine Verantwortung, über ihn gekommen sei.

Wenn so das Mißverhältnis (die Verzweiflung) eingetreten ist, folgt daraus von selbst daß es andauert? Nein, das folgt nicht von selbst; wenn das Mißverhältnis andauert, folgt das nicht aus dem Mißverhältnis, sondern aus dem Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Dies will heißen: so oft sich das Mißverhältnis äußert, und in jedem Augenblick wo es da ist, entspringt es unmittelbar aus dem Verhältnis. Sieh, man redet davon daß sich ein Mensch (z.B. durch Unvorsichtigkeit) eine Krankheit zuzieht. Die Krankheit tritt ein, und von dem Augenblick an macht sie sich als Krankheit, die da ist, geltend und ist nun eine Wirklichkeit, deren Ursprung immer mehr der Vergangenheit angehört. Es würde grausam und unmenschlich sein, wenn man dem Kranken immerzu sagen würde: »in diesem Augenblick ziehst du, Kranker, dir diese Krankheit zu.« Das wäre, wie wenn man in jedem Augenblick die Wirklichkeit der Krankheit in ihre Möglichkeit auflösen wollte. Wahr ist, daß er sich die Krankheit zugezogen hat; das hat er aber nur einmal getan, und die Fortdauer der Krankheit ist eine einfache Folge davon daß er sie sich einmal zuzog; ihr Fortgang darf nicht in jedem Augenblick auf ihn als Ursache zurückgeführt werden. Er zog sie sich zu; aber man kann nicht sagen: er zieht sie sich zu. Anders mit dem Verzweifeln. Jeder wirkliche Augenblick der Verzweiflung ist auf ihre Möglichkeit zurückzuführen; jeden Augenblick, wo der Verzweifelte verzweifelt ist, zieht er sich das zu. Da ist beständig die gegenwärtige Zeit; es entsteht nichts Vergangenes, das der Wirklichkeit gegenüber zurückgelegt wäre; in jedem wirklichen Augenblick der Verzweiflung trägt der Verzweifelte alles was vor sich geht in der Möglichkeit als ein Gegenwärtiges. Denn zu verzweifeln liegt in der Sphäre des Geistes und verhält sich zum Ewigen im Menschen. Das Ewige aber kann der Mensch nicht loswerden, nein, in alle Ewigkeit nicht; er kann es nicht ein für allemal wegwerfen, nichts ist unmöglicher; er muß es in jedem Augenblick wo er es nicht hat jetzt von sich geworfen haben, jetzt (denn es kommt wieder) von sich werfen. Jeden Augenblick also, wo er verzweifelt ist, zieht er sich das Verzweifeln zu. Denn die Verzweiflung folgt nicht aus dem Mißverhältnis, sondern aus dem Verhältnis das sich zu sich selbst verhält. Und das Verhältnis zu sich selbst kann der Mensch nicht loswerden, so wenig wie sein Selbst (was übrigens ein und dasselbe ist, da ja das Selbst das Verhältnis zu sich selbst ist).

 

C. Verzweiflung ist: die »Krankheit zum Tode«

Dieser Begriff, »die Krankheit zum Tode«, ist doch in besonderer Bedeutung zu nehmen. Sonst bedeutet er eine Krankheit deren Ende und Ausgang der Tod ist. So redet man von einer tödlichen Krankheit als von einer Krankheit zum Tode. In dem Sinn ist Verzweiflung keine Krankheit zum Tode. Und umgekehrt ist eine leibliche Krankheit, auch wenn sie zum Tode führt, nicht im selben Sinne wie die Verzweiflung eine Krankheit zum Tode. Denn der Tod ist nicht das Letzte, ist ja, christlich verstanden, selbst ein Übergang zum Leben. Soll im strengsten Sinn von einer Krankheit zum Tode die Rede sein, so muß es eine Krankheit sein bei der der Tod das Letzte und bei der das Letzte der Tod ist. Und dies ist eben der Fall bei der Krankheit »Verzweiflung«.

Jedoch ist Verzweiflung in einem andern Sinne noch bestimmter die Krankheit zum Tode. An dieser Krankheit stirbt man nicht (was man sonst sterben nennt); oder: diese Krankheit endet nicht mit dem leiblichen Tode. Im Gegenteil, die Qual der Verzweiflung besteht gerade darin daß man nicht sterben kann. So hat sie mehr mit dem Zustand des Todkranken gemein, der das liegt und sich mit dem Tode plagt und nicht sterben kann. »Zum Tode krank sein« heißt also: nicht sterben können, doch nicht, als ob da noch Hoffnung auf Leben wäre; nein, das Hoffnungslose ist das, daß selbst die letzte Hoffnung, der Tod, nicht kommt. Wenn der Tod die größte Gefahr ist, hofft man auf Leben; wenn man die noch schrecklichere Gefahr kennen lernt, hofft man auf den Tod. Wenn die Gefahr so groß ist daß der Tod zum Gegenstand der Hoffnung geworden ist, dann ist das Verzweiflung daß man nicht einmal sterben zu können hofft.

In dieser letzten Bedeutung ist nun Verzweiflung die Krankheit zum Tode: diese Krankheit im Selbst, ewig zu sterben; zu sterben und doch nicht zu sterben; des Todes zu sterben. Welch qualvoller Widerspruch! Denn Sterben bedeutet, daß es vorbei ist; aber des Todes sterben bedeutet, daß man das Sterben erlebt; und läßt sich dieses einen einzigen Augenblick erleben, so erlebt man es damit für ewig. Würde ein Mensch an Verzweiflung sterben, wie man an einer Krankheit stirbt, dann müßte das Ewige in ihm, das Selbst, in demselben Sinne sterben können wie der Leib an der Krankheit stirbt. Dies ist aber eine Unmöglichkeit; das Sterben der Verzweiflung setzt sich beständig in ein Leben um. Der Verzweifelte kann nicht sterben; »so wenig wie der Doch Gedanken töten kann«, so wenig kann die Verzweiflung das Ewige, das Selbst verzehren, das der Verzweiflung zugrunde liegt, »deren Wurm nicht stirbt, und deren Feuer nicht erlischt«. Jedoch ist Verzweiflung gerade ein Sichselbstverzehren; aber eine Leidenschaft sich selbst zu verzehren, ohne die Macht sich selbst zu verzehren, und das Gefühl dieser Ohnmacht ist die Ursache neuer, potenzierter Verzweiflung: des gesteigerten, und auch wieder ohnmächtigen Verlangens sich selbst zu verzehren. Das bohrt sich dem Verzweifelten immer tiefer ein; das erzeugt den kalten Brand der Verzweiflung. Es ist für den Verzweifelten kein Trost daß ihn die Verzweiflung nicht verzehrt: im Gegenteil! Dieser Trost ist gerade die Qual: daß der Wurm nicht stirbt. Darüber eben verzweifelte, nein, verzweifelt er: daß er nicht sich selbst verzehren, nicht sich selbst loswerden, nicht zu nichts werden kann.

Ein Verzweifelnder verzweifelt über etwas. So sieht es einen Augenblick aus, aber nur einen Augenblick; in demselben Augenblick zeigt sich die wahre Verzweiflung oder die Verzweiflung in ihrer Wahrheit. Indem er über etwas verzweifelte, verzweifelte er eigentlich über sich selbst, und will nun sich selbst loswerden. Wenn so der Herrschsüchtige, dessen Losung heißt: »entweder Cäsar oder nicht«, nicht Cäsar wird, so verzweifelt er darüber. Dies bedeutet aber etwas anderes: daß er, weil er nicht Cäsar wurde, es nicht aushalten kann er selbst zu sein. Also verzweifelt er eigentlich nicht darüber daß er nicht Cäsar wurde, sondern über sich selbst, daß er nicht Cäsar wurde. Dieses Selbst, das wenn es Cäsar geworden wäre seine ganze Lust gewesen wäre (in einem andern Sinne übrigens ebenso verzweifelt), dieses Selbst ist ihm nun das Allerunerträglichste. Nicht daß er nicht Cäsar wurde, sondern dieses Selbst, das nicht Cäsar wurde, ist ihm, recht verstanden, das Unerträgliche; oder noch richtiger: das Unerträgliche ist ihm, daß er sich selbst nicht loswerden kann. Wenn er Cäsar geworden wäre, so wäre er sich verzweifelt losgeworden; nun ward er aber nicht Cäsar und kann verzweifelt sich nicht loswerden. Wesentlich ist er gleich verzweifelt; denn er hat sein Selbst nicht, er ist nicht er selbst. Dadurch daß er Cäsar geworden wäre wäre er doch nicht er selbst geworden, sondern sich selbst losgeworden; und gerät er dadurch in Verzweiflung daß er nicht Cäsar wird, so verzweifelt er darüber daß er sich selbst nicht loswerden kann. Daher kann nur ein ganz oberflächlicher Mensch, der vermutlich nie einen Verzweifelten (und nicht einmal sich selbst) gesehen hat, von einem Verzweifelten sagen (als wäre das eine Strafe!): »er verzehrt sich selbst.« Gerade das ist es ja woran er verzweifelt; und gerade das ist es ja was er zu seiner Qual nicht kann / da durch die Verzweiflung Feuer in etwas geraten ist, was nicht verbrennen kann / ins Selbst.

Über etwas verzweifeln ist also noch keine eigentliche Verzweiflung. Es ist der Anfang: wie wenn der Arzt von einer Krankheit sagt: sie hat sich noch nicht erklärt. Das Nächste ist die erklärte Verzweiflung: über sich selbst verzweifeln. Ein junges Mädchen verzweifelt aus Liebe; sie verzweifelt also über den Verlust des Geliebten (daß er starb, oder daß er ihr untreu wurde). Ihre Verzweiflung hat sich noch nicht erklärt; in Wahrheit verzweifelt sie über sich selbst. Dieses ihr Selbst, das sie, wenn sie »seine« Geliebte geworden wäre, auf die holdseligste Weise losgeworden wäre (oder verloren hätte!), dies Selbst ist ihr nun eine Plage, weil es ein Selbst ohne »ihn« sein soll; dieses Selbst, das ihr (übrigens in einem andern Sinn ebenso verzweifelt) ihr Reichtum geworden wäre, ist ihr nun, da »er« tot ist, eine widerwärtige Leere geworden, oder zum Abscheu, da es sie daran erinnert, daß »er« sie betrogen hat. Versuche es nun und sage zu einem solchen Menschen: »du verzehrst dich selbst«; und du wirst sie antworten hören: »o nein, die Qual ist gerade daß ich das nicht kann«.

Über sich verzweifeln, verzweifelt sich selbst los sein wollen, ist die Formel für jede Verzweiflung; so daß also die zweite Form der Verzweiflung (verzweifelt man selbst sein wollen) auf die erste (verzweifelt nicht man selbst sein wollen) zurückgeführt werden kann; wie wir andererseits die Form »verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen« in die Form »verzweifelt man selbst sein zu wollen« aufgelöst haben. Ein Verzweifelnder will verzweifelt er selbst sein. Will er aber verzweifelt er selbst sein, so will er sich doch nicht selbst los sein? Ja, so scheint es; wenn man aber genauer zusieht, sieht man doch daß es auf dasselbe hinausläuft. Das Selbst, das er verzweifelt sein will, ist ein Selbst das er nicht ist (denn das Selbst sein zu wollen das er in Wahrheit ist, das ist ja gerade das Gegenteil von Verzweiflung). Er will also sein Selbst von der Macht die es setzte losreißen. Das vermag er aber nicht. Jene Macht ist stärker als er in seiner verzweifeltsten Anstrengung und zwingt ihn, das Selbst zu sein das er nicht sein will. Aber so will er ja doch sich selbst, das Selbst das er ist, los sein, um das Selbst zu sein das er selbst erfunden hat. Ein Selbst zu sein wie er es will, das würde (wenn er auch in einem andern Sinn dann ebenso verzweifelt wäre) seine ganze Lust sein; dagegen gezwungen ein Selbst zu sein wie er es nicht sein will, das ist sein Qual / die Qual, daß er sich selbst nicht loswerden kann.

Sokrates bewies die Unsterblichkeit der Seele daraus, daß wohl der Leib von der Krankheit des Leibs, nicht aber ebenso die Seele von der Krankheit der Seele verzehrt wird. So kann man auch das Ewige im Menschen daraus beweisen, daß die Verzweiflung sein Selbst nicht verzehren kann und gerade darin die Widerspruchsqual der Verzweiflung besteht. Gäbe es im Menschen nichts Ewiges, so könnte er nicht verzweifeln; könnte aber die Verzweiflung sein Selbst verzehren, so brauchte er nicht zu verzweifeln.

So ist Verzweiflung, diese Krankheit im Selbst, die Krankheit zum Tode. Der Verzweifelte ist todkrank. In ganz anderer Weise als man es sonst von einer Krankheit sagen kann hat die Krankheit die edelsten Teile angegriffen; und doch kann er nicht sterben. Da ist der Tod nicht das Letzte der Krankheit, sondern fortwährend das Letzte. Von dieser Krankheit durch den Tod gerettet zu werden ist eine Unmöglichkeit: die Krankheit und ihre Qual / und der Tod ist ja gerade, daß man nicht sterben kann. Dies ist der Zustand des Menschen in Verzweiflung. Ob es dem Verzweifelten auch entgeht daß er verzweifelt ist; ob es ihm auch gelingt, sein Selbst so ganz verloren zu haben daß er den Verlust nicht einmal merkt: die Ewigkeit wird es doch offenbaren daß sein Zustand Verzweiflung war, und wird ihm sein Selbst so festnageln daß er es auch nicht mehr in der Einbildung loswerden kann. Und so muß die Ewigkeit handeln. Denn ein Selbst zu haben, ein Selbst zu sein, das ist die größte dem Menschen gemachte Einräumung (ein wirklich unendliches Zugeständnis) / und ist zugleich die Forderung der Ewigkeit an den Menschen.

 

II. Die Allgemeinheit dieser Krankheit

(der Verzweiflung)

Wie der Arzt wohl sagen mag, daß vielleicht nicht ein einziger Mensch lebe der ganz gesund sei, so müßte man, wenn man den Menschen recht kennte, sagen, daß nicht ein einziger Mensch lebe der doch nicht etwas verzweifelt sei, in dessen Innern nicht eine Unruhe, ein Unfriede, eine Disharmonie, eine Angst wohne / eine Angst vor einem unbekannten Etwas, oder vor einem Etwas, das er nicht einmal kennen zu lernen wagt; eine Angst vor einer gewissen Möglichkeit des Daseins oder eine Angst vor sich selbst; so daß er (wie der Arzt sagt, man trage eine Krankheit in sich) eine Krankheit des Geistes in sich trägt, die ab und zu blitzartig in und mit dieser ihm selbst unerklärlichen Angst merken läßt daß sie da ist. Und auf jeden Fall: außerhalb der Christenheit hat kein Mensch gelegt und lebt kein Mensch der nicht verzweifelt wäre, und in der Christenheit keiner, er sei denn ein wahrer Christ; und sofern einer dies nicht ganz ist, ist auch er etwas verzweifelt.