Lucius Annaeus Seneca

Oedipus

Tragödie in fünf Akten

 

 

 

Lucius Annaeus Seneca: Oedipus. Tragödie in fünf Akten

 

Übersetzt von Wenzel Alois Swoboda

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

ISBN 978-3-8619-9550-0

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-7875-7 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-7876-4 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Entstanden um 57 n. Chr. Der Text folgt der Übersetzung von Wenzel Alois Swoboda.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Personen

 

Oedipus, König von Theben

 

Jokaste, seine Gattinn

 

Kreon, ihr Bruder

 

Tiresias, ein Seher

 

Manto, seine Tochter

 

Ein Korinthier

 

Phorbas, ein alter Hirt des verstorbenen Thebaner-Königs

 

Bothe

 

Chor, bestehend aus thebanischen Greisen

 

Erster Akt

Erste Szene

Oedipus. Jokaste.

 

OEDIPUS.

Es flieht die Nacht, es dämmert schon der Tag,

Durch Wolkengrau'n matt blickt der trübe Schein.

Des Morgens furchtbar Roth bringt Schrecken nur;

Denn was die Wuth der Pest hat hingerafft

Bey Nacht, die Leichenhaufen zeiget nun

Der Tag. Wir sehen, ach! die Häuser öd'

Und ausgestorben. – Ha, wo ist der Fürst,

Der glücklich sich auf seinem Throne fühlt? –

O falsche Ehre! welch' ein zahllos Heer

Von Uebeln hält dein Schmeichelschein versteckt! –

Wie um die Höh'n der Sturm am stärksten saus't,

Und wie den Fels, der starr und trotzig fußt

Im Meer, die Wogen peitschen fort und fort,

Wenn auch kein Lüftchen den glatten Spiegel kräuselt,

So steht des Herrschers hoher Platz den Stürmen

Des Schicksals ewig bloß. Wie wohl war mir,

Als deinen Thron, o Vater Polybus,

Ich meidend floh! Da war ich sorgenfrey.

Zwar irrt' ich von der Heimath fern, doch wallte

Ich frey von Kummer durch die weite Welt.

Ihr Himmel und ihr Götter, seyd mir Zeugen,

Daß nur der Zufall mich zu diesem Reich geführt!

Scheu bebt mein Herz vor grauser Missethat:

Den Vater würd' ermorden meine Hand,

So hat der Lorberhain zu Delphi mir

Weissagend zugerauscht, und wildern Gräu'l

Mir warnend kund gethan.

JOKASTE.

Wie? gibt es denn

Noch ärg're Schreckensthat als Vatermord?

OEDIPUS.

Weh' mir! Ich schaud're, ihn nur auszusprechen,

Des Schicksals grassen Spruch. – So dräuet Phöbus:

Des Vaters Bette würde ich entehren,

Und mit der eig'nen Mutter ich, der Sohn

Blutschänderisch gottlosen Eh'bund schließen. –

Kein Fehl verjagt mich aus dem Mutterland;

Die Furcht nur trieb mich aus dem Vaterhaus.

Mir selbst nicht trauend wollt' ich deine Rechte,

O heilige Natur, vor Schmachverletzung wahren.

Droht dir so Gräßliches, o Mensch, dünkt dir's

Unmöglich gleich, o zitt're, hüthe dich!

Mich schrecket alles. Vor mir selbst verberg'

Ich mich. Das Unheil ahn' ich, droht mir nah'.

Was muß ich glauben? – Diese grimme Seuche,

Die Kadmus Stamm verderbend würgt, die rings-

Um feindlich wüthet, schonet mich allein. –

Welch' ärg'rem Unheil sparet sie mich auf?

Dieweil die Stadt zur Wüste wird, mein Volk

Zu Haufen niederfällt, und unaufhörlich

Um immer neue Leichen Thränen fließen,

Steh' ich, der Einz'ge unversehret da.

Wie? darf ich Fluchbelad'ner, den Apoll,

Vorschauend, selber solcher Laster zeiht,

Glück meinem Reiche hoffen? – Weh'! den Zorn

Des Himmels bracht' ich über dieses Land! –

Sieh'! keines Lüftchens kühler Anhauch fächelt

Die heiße Brust, die dürr von Hitze keicht;

Kein leiser Zephyr säuselt durch die Luft,

Und Titans Strahl, den Löwen von Nemäa

Im Nacken drängend, schürt zwiefach die Gluth

Die niedersprüht das sengende Hundsgestirn.

Das Naß der Ströme ist versiegt, die Gräser

Sind welk und farbenlos, der Dirce Quell

Ist ausgetrocknet, seicht fließt der Ismen,

Und wasserarm netzt er den Sand des Bodens kaum.

Trüb fährt am Himmel Phöbus Schwester hin,

Die bange Welt umhangen Wolken fahl und grau,

Wie sie kein Aug' je sah; die Nacht erhellt

Kein Sternchen; schwarzer, dicker Qualm liegt über

Der Erde; selbst der Himmel hohes Haus,

Die Götterpfalz, umzieh'n des Todes Schrecken.

Auch spendet Ceres keine Früchte mehr;

Die falbe, schon gereifte Aehre, die

Sich goldig wiegt am schlanken Stängel, sengt

Die Gluth, der Halm verdorrt, die Saat erstirbt.

Nichts schont die Pest, die allverderbende.

Jedwedes Alter, jegliches Geschlecht

Würgt sie zumahl, den Jüngling und den Greis,

Den Vater und den Sohn. Ein Scheiterhaufen

Verzehrt des Gatten und der Gattinn Leib.

Und niemand ist, der trauernd ihnen weihe

Der Thränen schuld'gen Zoll.

Ja schon so lange wüthet dieser Jammer,

Daß unsre Augen ausgetrocknet sind.

Wir sind auf's äußerste gebracht, wir haben

Nicht einmahl Thränen mehr für unsre Noth.

Dort trägt zur Leichenflamm' den Sohn ein Vater,

Und schon brennt auch der Seuche Gift in ihm;

Dort eine Mutter sinnenlos ihr Kind,

Und eilt daheim, ein zweytes hinzutragen.

Das neu'ste Leid zeugt wieder neuern Gram,

Und wer den Todten zu bestatten kam,

Sinkt selber leblos neben ihm zu Boden. –

In fremdes Feu'r wirft man die Leiche des

Verwandten; Einer reißt dem Andern aus

Der Hand den Brand. Nicht Scheu noch Sitte kennt

Der Elende. Der Todten heilige

Gebeine deckt kein eig'nes einz'les Grab,

Wenn nur am Scheiterhaufen sie gelegen;

Ob sie zu Asche worden, darnach frägt man nicht.

Der Boden hat nicht Raum zu Gräbern mehr,

Der Wald nicht Holz genug zu Leichenfeuern.

Nicht Kunst, nicht fromme Bitten retten, wen

Einmahl die Pest ergriff. Der Arzt selbst fällt,

Und wer zu helfen kommt, den rafft's mit weg.

Hier am Altar fall' ich darnieder, hebe

Die Händ' empor, und fleh' um bald'gen Tod.

Laßt, Götter! laßt mich früher enden, eh' ich

Des Vaterlandes Untergang erschaue;

Laßt mich, den Letzten, nicht die Beute seyn,

Die weg aus diesem Reich der Tod entrafft!

O allzustrenge Mächte! grausames Verhängniß!

An mir allein, ach! geht der Tod vorüber,

Der mit so grimmer Hast um mich her würgt.

Ha! wirf das Zepter weg, das deine Hand,

Der Fluch anklebt und Tod, gefaßt! O fleuch

Von hier, wo Thränen nur und Leichen du schaust.

Weit weg aus dieser todesschwangern Luft!

Du hast es über dieses Land gebracht,

Dem fluchbelad'nen Fremdling folgt der Fluch.

Flieh' schnell, und sey es selbst in Vaters Näh'!

JOKASTE.

Was nützt es, mein Gemahl, das schwere Weh'

Mit kläglichem Gejammer zu erschweren?

Den König, mein ich, ziemt's vor Allen wohl

Im Unglück sich zu fassen. Je bedrängter,

Verzweifelter die Lage ist, wenn wankt

Der Staats-Koloß und schon zu fallen droht: