Ida Boy-Ed

Das Martyrium der

Charlotte von Stein

Versuch ihrer Rechtfertigung

 

 

 

Ida Boy-Ed: Das Martyrium der Charlotte von Stein. Versuch ihrer Rechtfertigung

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Goethe and Charlotte von Stein im gespräch, Ende 18. Jahrhundert

 

ISBN 978-3-8430-8839-8

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8619-9298-1 (Broschiert)

ISBN 978-3-8619-9299-8 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger. Stuttgart und Berlin, 1916.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

»O könnt' ich Dir sagen, was ich Dir schuldig bin!«

Goethe an Frau von Stein, 25. März 1781.

 

 

1

Im Leben der Charlotte von Stein haben zwei Bedingtheiten nicht genug Beachtung gefunden. Der Glanz ihrer Glücksjahre und die Schatten der nachfolgenden Zeit, wo ihr Wesen auf eine geringere Stufe zu sinken schien, lenkten die Augen der Nachwelt ab. Das Spiel von Licht und Dunkel, wo eines das andere bezwingen wollte, war verwirrend und verhinderte den freien Blick auf nüchterne Zeiten und Breiten dieses Frauenlebens. Und doch ist der Alltagsinhalt eines weiblichen Daseins für die Erkenntnis ihrer Art wichtig.

Von diesen beiden Bedingtheiten ist die erste, mit rascher Feder kurz umrissen, wie folgt darzustellen: Charlotte lebte von früher Jugend an in einer Welt, wo Form zwar nicht immer ohne Inhalt, aber doch wichtiger als er war. Sie bewegte sich zwischen Sorge, Kleinstadtenge, höfischem Zwang, der sich nur durch die ästhetische Maske von verletzender, demütigender und die Eigenrechte schmälernder Dienstbarkeit unterschied.

Noch in späten Jahren und trotz aller sie mit der Herzogin Luise verbindenden Freundschaft, Erinnerungen und Schicksale klagt sie, »daß es schwer sei, den Fürsten begreiflich zu machen, daß man auch um seiner selbst willen auf der Welt sei«. – Ihr Vater, Johann Wilhelm Christian von Schardt, hatte verstehen müssen, sich wartend zu bücken, um ein höfisches Amt zu erlangen, das ihm als das einzig Mögliche Lebensziel galt. Ernst August nahm ihn denn auch in seinen Dienst; zuerst als Reisemarschall mit sechshundert Talern Gehalt und freiem Futter für vier Pferde. Von solchen Anfangsumständen aus entwickelte sich das ganze künftige wirtschaftliche Dasein dieser Menschen: immer ein knappes Auskommen, immer das Hoffen auf bessere Bedingungen und das Streben, den Hohen Herrschaften sich möglichst unentbehrlich zu machen. Auch sie selbst und ihre Geschwister kannten es gar nicht anders: von der Fürstenfamilie mußte ihnen der Grundstock der Geldeinnahmen gewährt werden. Sechzehnjährig wurde sie schon Hoffräulein bei Anna Amalia, und das bedeutete für ihre Eltern eine Erleichterung. Die schwerblütige Mutter, die Schottin Konkordia Elisabeth Irving of Drum, gab dem Geist des Hauses eine fast bigotte Färbung, und ihre Ergebung darein, daß alle irdische Lust und Gewalt eitel sei, brachte in den gedrückten Charakter der Umwelt gewiß keinen höheren Schwung. Diese mehr trübe als leuchtende Frömmigkeit hat noch viele Jahre die Seele Charlottens umpreßt; alle ihre Kinder, um dies nebenbei zu erwähnen, bekamen in der Taufe den Namen »Gottlob« als Auftakt zu den eigentlichen Vornamen. Eine so demütig gedrückte Kirchlichkeit wie die, in welcher ihre Mutter sich kasteiete, konnte der Tochter das Gemüt nicht wohl froh und mutig werden lassen. Wer sich in seiner Jugend immer ängstlich vor- und umsehen muß, kann nicht frisch emporschreiten. Und zu einer freien Entwicklung zu gelangen, ist fast unmöglich.

Die zweite Bedingtheit war die frühe körperliche Erschöpftheit Charlottens! Am Hofe der Regentin warb der Stallmeister und Rittergutsbesitzer Josias von Stein um Charlotte von Schard; er war für die junge Hofdame die sich darbietende zusagende Gelegenheit zur Heirat. Die Summe aller seiner unwandelbaren Charakter-, Geistes- und Gemütseigenschaften läßt sich in das eine Wort zusammenfassen: angenehm. Charlotte hat es wohl niemals anders gewußt, als daß eine standesgemäße Verbindung ihre Zukunft sichern müsse. Und Stein war sicherlich ein Mann, gegen den sich nichts in ihr gewehrt haben wird. Sie, unsinnlich veranlagt und formvoll erzogen, lockerte sich in dieser neuen Lage nicht aus dem wohlgefügten Rahmen ihres Wesens. Weder vor sich selbst noch vor der Umgebung führte sie das Schauspiel eines Liebesfrühlings auf; alles ging gemäßigt zu. Der doppelte Wohnsitz gab dem Leben mehr Mannigfaltigkeit. Im Hochsommer und Herbst ging man nach Kochberg, dem Rittergut im Eigentum Steins; die übrige Zeit bewegte man sich in der Hofgesellschaft von Weimar, wo die Dienstwohnung gute Räume bot. Zum fördernden Genuß dieser verbesserten Daseinsumstände kam Charlotte aber nicht. Sie gebar sieben Kinder! Wenn man hinzufügt, daß vier davon starben, weiß jede Frau – was Männer nie völlig, weder seelisch noch körperlich, wägen und werten können –, was für leidvolle, zerquälte, beanspruchende Jahre das gewesen sind. Der Körper mußte so viel hergeben, daß er sich in peinlicher Ermattung nur von Pflicht zu Pflicht hat hintasten können. Und wie sollte die Seele noch Leuchtkraft finden, diese Seele, die schon vorher nur Druck, Stille und blasse Farben gekannt hatte? Bald ein Neugeborenes in der Wiege, bald ein Geschöpf des eigenen Schoßes auf der Bahre. Viermal starrte das grauenvolle Rätsel sie an, daß hinwelkte, was von ihrem eigenen Blute entsproß und Blüte hatte werden wollen. Jede neue Hoffnung war ihr vorweg mit der Angst vor neuem Schmerz verknüpft. Sollten ihre Nerven da nicht von der verzehrenden Empfindung zermürbt worden sein, die so zu durchleiden nur einem Weibe auferlegt werden kann: von der Furcht vor Hoffnung – dem schrecklichen Widersinn? Natürlich blieb auch die Last nicht aus, an denen so manche Frau schleppt, wenn ihre Lenden von zuviel Wochenbetten erschlafften: Frauenleiden, Blutarmut und Nervosität haben Charlotte nie verlassen. Ihr Zustand konnte kein anderer sein als der einer halbverborgenen Herbe und einer beständigen innerlichsten Müdigkeit, die mit Teilnahme an den Scheinwichtigkeiten der Gesellschaft zu übertünchen aber ihre höfische Gewohnheit und Pflicht war.

Diese beiden Bedingtheiten hatten verhindert, daß die Sonnenstrahlen unbefangener Jugendlichkeit sich um die Stirn Charlottens woben. Sie erscheint immer als die in sich Gehaltene, vornehm über stürmischer Bewegung Stehende, von einer mehr vorsätzlichen als ursprünglichen Liebenswürdigkeit. Als eine, die weder Anlage, Kraft noch Sehnsucht hat, ihre wohlbemessene Bahn zu verlassen. Denn alle mühsamen Umstände ihres Lebens ertrugen sich am ehesten im Göpel der Gewohnheit. – So war sie im allertiefsten Sinn unjung!

Und in das Dasein dieser unjungen Frau trat nun Er, der die ewige Jugend selbst war – Jugend, die wächst und sich wandelt; Jugend, die keine Lauheit kennt; Jugend, die jeden Tag neue Wunder lebt und offenbart; Jugend, die mit Götterhänden im goldenen Gefunkel sprühende Saat auswirft; Jugend, die bis in die Wolken baut; die noch aus der Maske der in wunderbarer Schönheit sich zum Greisenhaften umgestaltenden Hülle ruft: »Habe ich nicht mit meinem eigenen Werden genug zu tun?«

Goethe –

Aber gerade weil sie unjung war, bedurfte seine Jugend eine Wegsstrecke ihrer Nähe. Ahnungsvoll und sicher griff er nach der rechten Hand. Wir wissen, daß die Ausbildung seiner Persönlichkeit ihm immer wichtiger war als sein Werk. Und daß sein Werk ihm gerade darum gedieh. Dieser Begierde, immer neue Wesensseiten zur völligsten Entfaltung zu bringen, war Charlotte viele Jahre Helferin. Die Aristokratin zog ihn an, die in Formen Geschulte, die liebenswürdig Gefaßte, die der Gärung Ferne. Je künstlerischer ein Mensch veranlagt ist, desto wählerischer sind seine Instinkte; er ist von Geburt Aristokrat, und danach sind seine Bedürfnisse. (Hier kann man sich der zutreffenden Ausführungen aus dem schnell vergessenen Buch »Rembrandt als Erzieher« erinnern, S. 39-40.) Kann der Künstler nicht die feine Freiheit durchgebildetster Umgangsbedingungen haben, schlägt er oft genug ins Gegenteil um und wirft sich in die tollen Freiheiten der Ungebundenen. Künstler, die ihr volles Leben hindurch sich in bürgerlicher Fassung ganz und gar zufrieden fühlen, sind verdächtig – als Künstler. Goethe, sich im Rausche toller Freiheiten fühlend, suchte das vornehm Gestufte in Charlotte, gerade weil er es in diesem Augenblick seines Wachstums brauchte. »... wenn ich an Dich mein Gebet richte, und Deiner Güte, Weisheit, Mäßigkeit und Geduld teilhaft zu werden wünsche. Ich bitte Dich fußfällig: vollende Dein Werk, mache mich recht gut!«

Aber warum er ihrer bedurfte, steht hier ja nicht zum Beweis.

Hier steht durchaus nur zur Verhandlung: wie Charlotte es trug, als ihr Besitz ihm nicht mehr notwendig war! Die Haltung, die sie dann einnahm, ist umkämpft. Scharfe Gegnerschaft möchte sie entthronen. Männer stehen vor ihrem Bilde und fragen: »Wer war sie eigentlich?«

Vielleicht kann ich als Frau es unternehmen, einige Züge im Bilde zu erklären. Zwischen Mann- und Weibwesen gibt es, wir wissen es alle, eine Wand. Sie ist wie von Platin, dem festesten Metall, und schimmert geheimnisvoll anziehend; viele Türen sind in ihr; es scheint, man brauche nur die eine, richtige zu finden, um durch sie auf die andere Seite zu gelangen. Aber alles Tasten und Suchen ist vergebens: an einigen sind die Riegel diesseits, an anderen jenseits vorgeschoben. Und die, welche sich von diesseits öffnen lassen, führen nicht ins Helle, nicht in die Klarheit.

Das annähernde Verständnis vom Manne zum Weibe kann nur vorbereitet werden, wenn man von beiden Seiten einige Riegel zurückschiebt. – Wir Frauen haben uns zu lange von der seelenkundlichen Erörterung wichtiger Fälle, darin unsterbliche Geschlechtsgenossinnen in unsicherer Belichtung standen, zurückgehalten, trotz unseres Mutes zur einfachen Darstellung, die gerade in der Psychologie so wünschbar ist.

Wenn ich nur ein Geringes zum Verständnis Charlottens in der Zeit ihrer Leiden um Goethe beitragen kann, werden die Untersuchungen nicht vergeblich gewesen sein. Die Aufgabe ist schwer vor allem wegen ihrer Vorbedingung: es gilt nicht die Seiten all der Goetheliteratur aufzublättern, deren Kenntnis man sich in vielen Jahren eindringlicher Teilnahme erwarb; vielmehr gilt es auf diese Bücher die festschließende Hand zu legen. [Daß viel Tatsächliches aus Bodes, an Vollständigkeit nicht zu überbietendem Buch entnommen ward, sei dankbar angemerkt.] Sie anrufen würde wie von selbst oft Auseinandersetzung. Ich will aber nicht polemisieren, sondern nur aussagen. Nichts will ich, als in Goethes Worte und in Charlottens Betragen hineinhorchen – nicht verkennend, daß dies letztere mehr noch offenbart als seine Worte. Ein alles Menschliche in sich zusammenfassendes Wundergeschöpf wie Goethe widerlegt sich oft selbst; jeder Deuter findet für seine Beweisführungen Zeugnisse Goethes gegen Goethe.

 

2

Charlotte von Kalb verbrannte Schillers Briefe. Charlotte von Stein entzog uns die ihrigen an Goethe. In diesen Tatsachen verbirgt sich eine solche Welt von Gegensätzlichkeit im Wesen der beiden Charlotten und im tiefsten Wesen ihrer Beziehungen zu den Unsterblichen, daß man alles darin Einbeschlossene heraussondern und in einer selbständigen Studie ausgestalten möchte. – Aber wir wissen deshalb nicht weniger von Frau von Stein, weil wir ihre Briefe aus der Zeit der Entfaltung und Blüte ihres Liebesbundes mit Goethe nicht besitzen. Haben nicht selbst wir Bescheidenen es ungezählte Male an uns beobachtet, daß unsere Feder wie von guten Geistern geführt freudiger und in höherem Schwünge über das Papier gleitet, wenn wir an Erlesene schreiben, die das Möglichste in uns aufquellen lassen, sobald wir uns nur in Gedanken mit ihnen in Verbindung setzen? Ein Brief, in dem Reichtum ist, sagt nicht nur vom Vermögen des Schreibers, sondern auch von dem des Empfängers viel aus. (Wilhelm von Humboldts Briefe an dies unbedeutende Schattengeschöpf, das Charlotte Diede hieß, lasse ich nicht als Briefe im Sinne des Austausches gelten: es waren Blätter, die der Betrachtende, Gedankenvolle, Wortreiche beschrieb, um seinem Bedürfnis, zu sprechen, eine Gelegenheit mehr zu geben.) Auch die mindeste Form solchen Vermögens: das anmutige Aufnehmen, die geistige Grazie des Verstehens, ist, wenn der Briefschreiber Goethe heißt, etwas Auszeichnendes. Selbst wenn er Dinge in Charlotte hineintrug, die in ihr naturwüchsig nicht vorhanden waren, bliebe ihrem Wesen doch immer der Ruhm, ein ihm willkommenes und wohlgefälliges Gefäß gewesen zu sein. Und noch ein äußerstes »selbst wenn« – –

 

»Ein Wahn, der mich beglückt,

Ist eine Wahrheit wert,

Die mich zu Boden drückt.«

 

Ein anfechtbares Wort bei sittlichen Messungen. Ein herrliches für den Musensohn, der aus Illusionen Steine gewinnt zu ewigen Bauten – gleich der modernen Chemie, die der Luft Materie zum mittelbaren Unterhalt des Lebens abzwingt. – Aber es wäre doch ein gründliches Verkennen, wenn man in solchen Gedanken die beiden Schlußverse aus der spöttisch-reizvollen, viele, viele Jahre später gedichteten »Erinnerung«

 

»Wir irrten uns an einander?

Es war eine schöne Zeit –«

 

als etwa auch auf Goethe und Charlotte zugeschnitten anrufen wollte.