Hanns Heinz Ewers: Der Geisterseher. Fortsetzung des Romanfragments von Friedrich Schiller
Neuausgabe.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.
Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:
Francisco Goya, Der Mönch, 1820-24
ISBN 978-3-8430-6566-5
Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:
ISBN 978-3-8619-9178-6 (Broschiert)
ISBN 978-3-8619-9179-3 (Gebunden)
Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.
Erstdruck: G. Müller, München/Leipzig 1922
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Hier brechen die Papiere des Grafen von Osten-Sacken ab.
* * *
Im Frühjahr 1914 brachte die Londoner »Daily News« eine Notiz, dass Mr. Henry Yates Thompson, der bekannte Handschriften- und Büchersammler, bei dem Verkauf einer Privatbibliothek in Venedig eine ganze Reihe sehr wertvoller Funde gemacht habe. Unter anderen wurde erwähnt: eine aus dem Jahre 1520 stammende Kopie des Logbuches des Columbus; eine Handschrift des Lancelot vom See, für Jehan de Crosse, verschiedene Verträge des Lionardo von Vinci und des Tintoretto mit dem Venediger Senat, acht Liebesbriefe Casanovas an die Gräfin Guendalina Folicaldi und manches noch. Endlich war aufgeführt: eine Handschrift des Grafen Osten-Sacken über die Tätigkeit des Grafen Cagliostro in Venedig. Diese Notiz, die von einer Reihe deutscher Blätter übernommen wurde, wurde auch von dem Lehramtskandidaten Wilhelm Straubing in Berlin gelesen, der gerade mit seiner Doktorarbeit »Fragmente deutscher Klassiker« beschäftigt war. Er wusste natürlich, dass mit dem »Sizilianer« in Schillers »Geisterseher« kein anderer gemeint sei als eben Josef Balsamo aus Palermo, alias Graf Alexander Cagliostro, wusste auch, dass der Schreiber »der Papiere des Grafen von Osten« ein Graf Karl Friedrich von Osten-Sacken aus Kurland war. Er hoffte, aus der aufgefundenen Handschrift ein paar Aufschlüsse zu erhalten, mittelst deren er einige erfreuliche Lichter in seiner Doktordissertation aufstecken konnte. Er verfasste also einen schönen Schreibebrief an den englischen Sammler, in dem er ihn bat, ihm die Handschrift für einige Zeit zur Untersuchung zu überlassen. Um Mr. Thompson über seine Person zu vergewissern, fügte er bei: seinen Konfirmationsschein, sein Maturazeugnis, ein polizeiliches Führungsattest, sowie mehrere Briefe seiner Professoren, die einstimmig seinen Fleiß, sein anständiges Betragen und seine Ehrlichkeit rühmten.
Alle diese schönen Papiere hätte er, zugleich mit einem Bündel vergilbter Papiere, sechs Jahre später zurückerhalten, wenn er selbst nicht schon längst an der Marne gefallen wäre. Da die Sendung »per Adresse Frau Eva Kathreiner« geschickt war, so trug der Postbote kein Bedenken, sie dieser Dame, der würdigen Zimmervermieterin Herrn Straubings, auszuliefern. Diese nahm die uneröffnete Postsendung zu ihrem jetzigen Mietsherrn Ewald Recke, der wie Wilhelm Straubing Student und Lehramtskandidat war. Die beiden stellten zunächst fest, dass die Sendung bereits im Juli 1914 von London abgesandt, dann aber all die Zeit über von der englischen Zensur zurückbehalten worden war. Sie beschlossen also die Rücksendung; packten den großen, stark ramponierten Umschlag ein und fügten einen kurzen Brief bei, in dem sie den Tod des Empfängers meldeten. Die Portokosten fühlte sich Herr Recke verpflichtet zu tragen, da er gewissermaßen die Erbschaft Straubings angetreten hatte. Denn da Lehramtskandidat Straubing ohne jede Verwandtschaft war, so blieb seine Zimmerwirtin in dem Besitz der wenigen Sachen, die er zurückließ, als er nach Frankreich zog. Student Recke nun war nicht zufällig in den Besitz der geistigen Erbschaft Straubings gekommen. Vielmehr hatte ihn, als er mit einem seiner Professoren verschiedene Themata für seine Doktorarbeit besprach, dieser auf die angefangene Arbeit aufmerksam gemacht und angeregt, sie zu Ende zu führen. Der Gedanke, die halbe Arbeit schon getan zu finden, war Recke begreiflicherweise sehr sympathisch. Mit einiger Mühe gelang es ihm, die frühere Wohnung Straubings festzustellen; er begab sich sofort dorthin. Frau Kathreiner hatte durch diese Jahre eine Reihe sehr übler Mieter gehabt; der letzte war ihr gerade ohne zu zahlen durchgegangen. Sie erinnerte sich gut des braven Straubing, der für sie seit seinem glorreichen Tode in allen denkbaren Tugenden eines vollendeten Mietsherrn strahlte – ein kleines Teilchen dieses Glanzes fiel auch auf Herrn Recke, der Student und Lehramtskandidat war wie jener und ihr dazu gewissermaßen von ihrem alten Mieter ins Haus geschickt wurde. Sie erklärte sich sofort bereit, ihm die Arbeitshefte Straubings zu geben – falls Herr Recke dafür bei ihr mieten würde. Hierauf ging Student Recke ein.
Es ist wahr, dass er nicht nur eine halbe, sondern eine vollendete Arbeit vorfand, die lediglich einer schärferen Zusammenfassung bedurfte. Das Unglück war nur, dass diese Arbeit eine streng philologische war – ganz herausgeschrieben aus der Lehramtskandidatenseele Wilhelm Straubings. Der war Germanist mit Leib und Seele, hatte aus innerstem Drang seinen Beruf ergriffen und war durch die Studienjahre sehr getreu der mildleitenden Hand seiner Professoren gefolgt. Er begriff sehr bald, dass es auf das eigentliche Werk des Dichters überhaupt nicht ankomme, sondern dass dies vielmehr ein an und für sich vollkommen gleichgültiges Objekt sei für philologischen Scharfsinn. Das wirklich Wichtige waren die Quellen, die dem Werke zugrunde lagen; die Originale der Figuren, die eventuellen Fehler, die sich der Verfasser hatte zuschulden kommen lassen. Dann die Entstehungsjahre des Werkes und das Datum der Veröffentlichung, die Korrekturen während des Druckes, die Verschiedenheiten der einzelnen Ausgaben, die Druckfehler, Varianten und vor allem die Kommentare anderer Gelehrter über das Werk. Das war wissenschaftliches Denken, und Wilhelm Straubing fühlte sich so wohl darin wie die Kröte im Krautgarten. Es ist keine Frage, dass aus ihm eine Zierde der Germanistik an jeder deutschen Universität geworden wäre, ein Professor, wie er sein soll, wenn nicht eine dumme Kugel diese blühende Hoffnung der Wissenschaft vernichtet hätte.
Ewald Recke, sein Nachfolger, war leider aus ganz anderm Holze geschnitzt. Er hatte sich freilich auch an der philologischen Fakultät einschreiben lassen, aber nur, weil sein Vater, Gymnasialprofessor Dr. Recke, das so wünschte; ihm persönlich war es ganz gleichgültig. Studiert hatte er herzlich wenig, hatte gelegentlich Kollegien besucht, war aber stets wieder fortgeblieben, weil seinem knabenhaften Unverstand die reine Wissenschaft seiner Professoren kaum fassbar war. Er ging sogar soweit, sich darüber lustig zu machen, und ließ über die Vorträge seiner Meister so hässliche Worte fallen wie »Blech«, »Quatsch« und »Bockmist.« Seine Studien, wenn man es so nennen will, wurden dann ebenfalls durch den Krieg unterbrochen – und das blinde Schicksal, das Wilhelm Straubing untergehn ließ, schonte diesen leichtfertigen Bruder. Als er aus dem Felde zurückkehrte, hatte er nichts vergessen – da er ja nie etwas gelernt hatte. Seine Eltern drängten auf den Abschluss des Studium und Ewald fand zu seiner großen Freude, dass für die Kriegsteilnehmer alles mögliche getan wurde, um die Examina zu erleichtern. So durfte er hoffen, durchzukommen, besonders dank der Erbschaft Wilhelm Straubings. Dazu kam, dass die Eltern, um den Arbeitseifer ihres einzigen Sohnes anzuspornen, ein sehr gutes Mittel gefunden hatten. Sie waren seit kurzer Zeit recht vermögend – seit dem Augenblicke, als Frau Reckes Bruder, der während der Kriegsjahre schwer verdient hatte, das Zeitliche gesegnet hatte –, so versprachen sie dem Sohne als Belohnung für bestandene Examina eine große Reise.
Es war also keineswegs das reine Feuer der Wissenschaft, das Ewald beseelte, sondern vielmehr der heilige Wunsch, diese Wissenschaft als Sprungbrett zu einem halben Jahre vergnüglichen Bummellebens zu benutzen. Er arbeitete mit einem Repetitor und würgte die notwendigen Materien mit Haut und Haaren ein wie eine Schlange ein Kanin. Die Straubingsche Arbeit aber war es, die ihm am meisten Übelkeit verursachte, obwohl er sofort begriff, dass sie in ihrer ganzen Anlage und Durchführung in den Augen seiner Professoren durchaus mustergültig war. Je mehr er sich damit beschäftigte, um so mehr wurde sie ihm zuwider. Er ließ sie dann, um Zeit zu gewinnen, fein säuberlich abtippen und brachte sie zur Begutachtung dem Professor, der ihn darauf aufmerksam gemacht hatte. Von ihm, Recke, stammte nicht ein einziges Wort. Der Professor hatte seinerzeit die Arbeit gesehn, als sie kaum zu einem Drittel fertig war; er las sie jetzt sehr aufmerksam durch und lobte aus warmem Herzen die außerordentliche Gabe Reckes, sich in das echt philologische Denken Straubings so völlig einzufinden, ja dessen Sprache und vor allem den wirklichen wissenschaftlichen Periodenbau so erstaunlich gut nachzubilden. Diese Arbeit, sagte er, sei eine sehr, sehr gute; lediglich eine straffere Durcharbeitung sei noch notwendig.
Student Recke ging nach Hause mit der festen Absicht, diese Durcharbeitung sofort vorzunehmen. Aber diese Arbeit, die der Professor ein Vergnügen nannte, machte seinen undisziplinierten, leichtfertigen Geist fast seekrank. Er hatte gerade den Entschluss gefasst, damit seinen Repetitor zu betrauen, als der Postbote das Paketchen aus England zum zweiten Male ins Haus brachte. Es kam diesmal sehr schnell zurück mit dem Postvermerk »Adressat verstorben«.
Ewald Recke, der sich jetzt für durchaus berechtigt ansah, auch diese Erbschaft anzutreten, hatte ein eigentümliches Empfinden, als er die Sendung öffnete. Es war ihm, als ob darin irgend etwas enthalten sei, das ihn im Augenblicke von seiner Sorge befreien könnte – und dieses Gefühl war so stark, dass seine Finger zitterten. Er zerschnitt die Schnüre, riss das Papier auseinander und starrte auf den Inhalt. Dann schellte er seiner Wirtsfrau, bat sie, ihm sofort eine Flasche Rotwein zu holen und trat ans Fenster. Er sah, wie die gute Frau über die Straße lief, sah, wie sie mit dem Wein wieder zurückkam. Er hörte sie die Zimmertüre öffnen, die Flasche aufkorken und ein Glas füllen. Dann erst verließ er seinen Platz am Fenster, setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und leerte schnell das Glas.
Diese seltsame Unruhe erschien ihm völlig natürlich. Er schickte die Frau fort und trank ein zweites Glas. – Endlich griff er die Papiere auf.
Da war zunächst ein Brief des verstorbenen Herrn Henry Yates Thompson an den gleichfalls verstorbenen Studenten Wilhelm Straubing. Herr Thompson schrieb, die beifolgenden Manuskripte hätten für ihn nur geringen sammlerischen Wert, er freue sich, sie Herrn Straubing zum Geschenk machen zu dürfen und hoffe, dass sie ihm von einigem Nutzen sein könnten. Beigefügt waren die verschiedensten Papiere und Zeugnisse des Studenten Straubing – die Ewald ohne einen Blick zur Seite schob.
Er fand ferner einen Brief – aber nur einen einzigen und sehr kurzen dazu –, der an den Grafen Karl Friedrich von Osten-Sacken von dem Freiherr Franz von Freihardt geschrieben war. Dieser Brief trug ein paar Randbemerkungen sowie eine Schlussnote, die augenscheinlich von der Hand des Grafen Osten herrührte.
Endlich enthielt die Sendung ein ziemlich starkes, vergilbtes Manuskript, das in französischer Sprache geschrieben war. Die erste Seite trug in roter Tinte folgende Überschrift:
(d'après les papiers, la correspondance et les documents du comte von Osten) assemblés, publiés et commentés par le docteur Jean-Baptiste Kuhblum de Bâle, médecin aide-major au 18me Voltigeurs, armée de Macdonald, à Venise.
Dr. Jean-Baptiste Kuhblum erzählte auf den nächsten Seiten etwas umständlich zunächst von seinem eigenen Leben und besonders von seinen Feldzügen. Mit General Macdonald sei er nach Venedig gekommen, hier sei er an der Ruhr erkrankt, aber glücklich wieder genesen. Er sein nun Rekonvaleszent, aber viel zu schwach, seine Wohnung im Palazzo Manfrin am Canareggio zu verlassen. Er wohne in dem Bibliothekraume und verbringe seine Zeit mit Lesen. Die Korrespondenzen und Manuskripte des Grafen Osten seien ihm in die Hand gefallen, er habe sich dafür interessiert. Von der alten Marchesina Manfrin habe er folgendes erfahren. Der Graf Osten habe ihren verstorbenen Mann während seines zweiten Aufenthaltes in Venedig im Jahre 1781 kennengelernt und sich mit ihm befreundet; er habe ihm dann bei seiner Abreise nach Deutschland eine verschlossene Ledermappe zur Aufbewahrung zurückgelassen. Drei Jahre später sei der Graf wieder in Venedig aufgetaucht; diesmal habe der Marchese ihn eingeladen, bei ihm zu wohnen in seinem Palazzo. Er sei etwa drei Monate geblieben und habe in dieser Zeit ziemlich viel in der Bibliothek gesessen und geschrieben. Seine Abreise sei eine sehr plötzliche gewesen; er sei nach St. Petersburg gerufen worden und dort in russische Kriegsdienste getreten. Er habe versprochen, im nächsten Jahre zurückzukommen, doch sei er in Polen gefallen. Sie wisse, dass er den fertigen Teil seines Manuskriptes mitgenommen habe, um es einigen intimen Freunden zu zeigen, dagegen die Ledertasche, gefüllt mit Briefen und anderen Aufzeichnungen, auch diesmal zurückgelassen habe, um alles später zu beendigen.
Mit dieser Arbeit nun beschäftigte sich Dr. Kuhblum während seiner Rekonvaleszenz. Er habe, schrieb er, nach den Briefen und den Anmerkungen des Grafen mit geringer Mühe den Inhalt des Teiles der Aufzeichnungen, den der Graf mitgenommen habe, wiederherstellen können.
Ewald Recke war wenig bewandert im Lesen von Handschriften. Dazu wollte die merkwürdige Unruhe ihn nicht loslassen. Er rückte auf seinem Stuhle hin und her, sprang dann auf, lief durchs Zimmer. Trank ein Glas Wein und noch eins, rauchte eine Zigarette und wieder eine. Zwischendurch las er, flüchtig genug, überschlug ganze Seiten und musste dann wieder zurückblättern, weil er den Zusammenhang verloren hatte. Er begriff, dass die Geschichte hier nicht mehr von dem Grafen Osten erzählt wurde, sondern vielmehr von Dr. Kuhblum. Der Anfang war ihm natürlich bekannt – soweit hatte er sich doch aufgeschwungen, dass er alle »Fragmente deutscher Klassiker« und besonders die Schillers im Original gelesen hatte. Die Erzählung Kuhblums war weit kürzer gefasst als die des Grafen Osten; sie erwähnte beispielsweise die eingeschobene Erzählung des Sizilianers, eben des Grafen Cagliostro, mit keinem Wort. Es war Recke sehr sympathisch, dass Dr. Kuhblum sich von sentimentalen Philosophaden, die den Lauf der Geschichte bei dem Grafen Osten so oft unterbrachen, völlig freihielt, doch bemerkte er zu seinem Schrecken, dass dafür der Baseler Doktor, wo es nur anging, eine Rousseausche Sauce anrührte, die ihn, Recke, genauso langweilte.
Entrüstet schob Student Recke das Manuskript beiseite. Freilich, das kribbelnde Gefühl, dass in diesen Blättern etwas stäke, das irgendwo für ihn von Interesse, von Nutzen, von – er wusste nicht wovon – sein würde, verließ ihn auch jetzt nicht. Er fühlte: Mit dem, was da vor ihm lag, kann man irgend etwas anfangen. Was – das wusste er nicht. Aber was immer es war – er musste zu diesem Zweck das Manuskript durcharbeiten.
Dazu entschloss sich Ewald Recke. In den nächsten Wochen las er die Handschrift Dr. Kuhblums und übersetzte sie. Dann strich er mit großer Genugtuung fast alle Kuhblumschen Betrachtungen aus und sammelte auf besonderen Blättern das, was ihm Ostensisch zu sein schien – meist das rein Tatsächliche. Endlich schrieb er, so gut es gehen wollte, die ganze Geschichte von neuem auf.
* * *
Die Niederschrift des Studenten Recke begann mit dem Briefe des Freiherrn von Freihardt an den Grafen von Osten-Sacken.
28. Hornung 1781
»Ich habe noch einmal den Prinzen gesprochen. Er dankt Ihnen herzlich für Ihre Liebe und Anhänglichkeit und nimmt Ihr freundliches Anerbieten an, mit uns nach Deutschland zurückzukehren. Indessen bittet er Sie, liebster Osten, vorauszufahren, beifolgende Briefe persönlich zu übergeben und unsere Ankunft in etwa vierzehn Tagen bei Hofe anzumelden. Der Gemütszustand unseres Prinzen ist unverändert. Er spricht wieder sehr wenig; doch macht es den Eindruck, als sei sein ganzes Wesen von einem einzigen Entschluss erfüllt, dessen Durchführung allein ihm sein Leben noch lebenswert erscheinen lässt. Ich hoffe, Sie heute abend bei dem Marchese Civitella zu sehn – dort werde ich Ihnen die Einzelheiten meiner Unterredung mit dem Prinzen mitteilen. Zu Ihrer vorhandenen Reise Glück und Gesundheit.«
Die Bemerkungen des Grafen Osten-Sacken zu diesem Briefe lauteten: »Ich gab den Brief des Prinzen an seine Schwester, die Herzogin Henriette, persönlich in K. ab.«
Die andere: »Den Brief an den Oheim des Prinzen, den regierenden Herzog, konnte ich nicht persönlich abgeben, da S.H. mich nicht zu empfangen geruhte. Ich musste ihn durch den Hofmarschall überreichen lassen. Es scheint, als ob gegen den Prinzen und seine ganze Umgebung hier am Hofe ein tiefes Misstrauen herrscht.«
* * *
Graf Osten, so erzählt das Manuskript des Dr. Kuhblum, reiste zwei Tage nach dem Empfang dieses Briefes seines Freundes ab. Er hatte sich diesmal etwa sechs Wochen in Venedig aufgehalten und während dieser Zeit teils durch die Berichte des Baron von Freihardt und des Kammerjunkers von Zedtwitz, teils durch einige Nachforschungen feststellen können, was inzwischen geschehen war. Den Prinzen selbst bekam er während dieser Zeit nicht ein einziges Mal zu Gesicht, ebensowenig wie den geheimnisvollen Armenier. Noch sah er den Sekretär Biondello; dieser war zwei Wochen vor seiner Ankunft aus dem Dienste des Prinzen ausgeschieden. Er war einfach abgereist und hatte dem Prinzen lediglich einen Brief hinterlassen, in dem er für sein Verschwinden um Verzeihung bat und seine heiße Dankbarkeit für dessen Güte aussprach. Er habe Nachricht erhalten, dass seine alte Mutter schwer erkrankt sei; es sei seine Sohnespflicht, sofort zu ihr ins Friaulische zu fahren.
Dass das lediglich eine Phrase für einen schönen Abgang war, war dem Grafen vollständig klar; Biondello war in den prinzlichen Haushalt als eine bezahlte Kreatur eingeschmuggelt worden, die ihre Rolle nur allzu gut gespielt hatte.
Der Bericht des Baron Freihardt über die Ereignisse der letzten Monate war in den meisten Punkten einfach und aufklärend genug; trotzdem enthielt er hie und da unerklärliche Lücken und Widersprüche, über die der Baron seinem Freunde vorerst keine Rechenschaft geben konnte. In der ersten Unterredung der beiden, die an dem Krankenbette des von einem heftigen Wundfieber befallenen Barons stattfand, versuchte dieser nur in rohen Zügen die Ereignisse des letzten Herbstes wiederzugeben.
Danach wuchs die Leidenschaft des Prinzen zu der jungen Dame von Murano mit jedem einzelnen Tage. Prinz Alexander schien alles andere vergessen zu haben, interessierte sich für nichts mehr und lebte nur in dem Gedanken an die langen Stunden, die er mit der Geliebten lustwandelnd in dem Garten auf der Insel verbrachte. Diese Gleichgültigkeit für alle andern Menschen ging so weit, dass er nicht nur durchaus notwendige Fragen des Barons nicht beantwortete, sondern auch wenn der Marchese Civitella mit ihm sprach, kaum mehr hinhörte. Der Marchese ertrug diese beleidigende Gleichgültigkeit des Prinzen wochenlang mit äußerster Geduld und verlor diese erst, als ihm durch Biondello einige Male an der Tür gesagt worden war, dass der Prinz nicht für ihn zu sprechen wäre. Zunächst nahm er das gutmütig auf, dann aber riss ihn einmal sein Temperament so sehr mit sich fort, dass er an der Tür einen Skandal verursachte, auf die Mohren des Prinzen mit dem Degen einhieb und nur mit äußerster Mühe von dem herbeieilenden Baron v. Freihardt zu beruhigen war. Der fasste ihn schließlich unter den Arm, brachte ihn in seine Gondel und fuhr mit dem aufs tiefste beleidigten Marchese nach Hause. Während der ganzen Fahrt sprach der Marchese kein Wort, hatte aber bei seinem Palazzo die Ruhe bereits so sehr wiedergefunden, dass er den Baron einlud, bei ihm einzutreten und mit ihm zu Abend zu speisen. Der Baron nahm diese Einladung um so lieber an, als sie ihm reichlich Gelegenheit gab, das Benehmen des Prinzen Alexander nach Möglichkeit zu entschuldigen. Er erzählte dem Marchese wie sehr sie selbst, er und der Junker von Zedtwitz unter der verliebten Besessenheit des Prinzen zu leiden hätten, wie es schiene, als ob für seinen Herrn nur noch ein Ding in der Welt existiere: eben der Garten von Murano. Als ob alles andere ihn weder eines Wortes noch eines Blickes wert sei. Er berichtete ihm, der Wahrheit gemäß, dass das Geld, das der Marchese vorgestreckt hatte, völlig aufgebraucht wäre, dass der Prinz es hartnäckig verschmähe, an seinen Hof zu schreiben, und auf jede Frage, über was es auch sei, einfach nicht hören wolle.
Der Marchese ließ sich rasch überzeugen. Er ging dann schweigend eine Zeitlang im Zimmer umher, endlich trat er zu seinem Schrank, öffnete ihn und nahm eine Schatulle heraus. Er schloss sie auf, suchte zwischen einer Anzahl von Papieren und griff schließlich einen Zettel, den er hochhielt.
»Sie erinnern sich, Baron«, sagte er, »meines Abenteuers, das ich selbst in Murano hatte. Hier ist die Kopie des Briefes an die Unbekannte und darunter die Dechiffrierung. Es ist keine Frage, dass diese Dame keine andere ist als die Angebetete des Prinzen. Aus dem Briefe aber geht eines mit Sicherheit hervor: dass er nicht der einzige Cicisbeo ist. Ich weiß nicht, ob Sie den kurzen Brief nach meiner Erzählung im Gedächtnis behalten haben – bitte lesen Sie also!«
Der Baron nahm das Blatt und las: »Entscheiden Sie selber! – Zwei Wege sind offen – wählen Sie, welchen Sie gehn wollen. Als ich Sie herbrachte, tat ich es nicht, um einen Liebesfrühling zu träumen. Entweder Sie tun, was ich Ihnen sagte: helfen mir, mein Spiel zu spielen. Oder aber Sie weigern sich. Dann mögen Sie zurückkehren, wann Sie wollen, die nötigen Summen stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung. In diesem Falle aber werden Sie mich nicht wieder sehn. E.«
Civitella nahm das Blatt zurück und verschloss es sorgfältig in seine Schatulle. »Wer immer dieser ›E‹ sein mag«, sagte er, »ob er Ihr geheimnisvoller Armenier ist oder nicht – das eine ist gewiss, dass er in sehr naher Beziehung zu der Dame von Murano steht. Und glauben Sie mir, Baron, ich werde die Natur dieser Beziehungen herausfinden!«
* * *
Der Marchese machte sich noch am selben Tage an die Arbeit. Leider aber fand man ihn schneller aus, als er etwas herausfand: schon nach einer Woche machte Biondello seinem Herrn die Mitteilung, dass er sowohl wie die Dame von Murano von Kreaturen beobachtet würde, die im Dienste des Marcheses von Civitella ständen. Der Prinz, ohnehin gedrückt durch seine Schuld an dem Marchese, war über dieses Vorgehen aufs äußerste entrüstet. Die ehrlichen Einwände Freihardts, dass die Absichten des Marchese gewiss nur lautere seien, wollte er nicht hören. Er nahm am selben Tage bei einem der bekanntesten Wucherer der Stadt eine sehr hohe Summe auf und bezahlte seine Schuld dem Marchese – dann gab er Befehl, diesen nicht mehr vorzulassen.
Um so hartnäckiger setzte Civitella seine Bemühungen fort; es war ihm nun zur Ehrensache geworden, dem Prinzen Alexander zu beweisen, dass er in die Hände von Schwindlern gefallen sei. Er machte in der nächsten Zeit einige Feststellungen, von denen er dem Baron Freihardt sofort vertrauliche Mitteilung gab.
Die von ihm, beziehungsweise seinen Leuten, ermittelten Tatsachen waren folgende:
Zunächst war das Madonnenbild des florentinischen Malers, das dem Prinzen zum Kauf angeboten wurden, nichts anderes als ein sehr wohlgelungenes Bildnis der Dame von Murano – auf der Terrasse ihres Gartens gemalt. Der Maler erklärte, dass sein Auftraggeber ein Fremder gewesen sei, der russische Uniform getragen habe – nach seiner Beschreibung konnte es sich um niemand anders als eben den »Armenier« handeln. Als er das Bild vollendet hatte, habe dieser Herr allerlei daran auszusetzen gehabt, habe ihm den Vorschlag gemacht, es irgendeinem Kunstverständigen zu zeigen, dessen Urteil er sich unterwerfen wollte. Der Maler, sicher seiner Kunst, ging lächelnd auf diesen Vorschlag ein. Darauf habe ihn der Russe zu dem Prinzen geschickt, ihn aber gebeten, noch einige andere Bilder mitzunehmen und sie alle ihm zum Kaufe anzubieten – auf diese Weise würde man am ehesten ein völlig unbefangenes Urteil erhalten. – Das Bild machte dann auf den Prinzen einen sehr starken Eindruck – es hatte, erklärte der Marchese, weiter keinen Zweck, als den Prinzen auf das Original vorzubereiten.
Die nächste Nachricht, die der Marchese seinem Freunde brachte, war die, dass seine Aufpasser die Begleiterin der Dame verfolgt hätten, als sie während eines Besuches des Prinzen das Haus verließ. Sie war tief verschleiert zu einer übelbeleumdeten Schenke gegangen, habe dort einen Mann in spanischer Tracht getroffen, der zweifellos eben wieder der »Armenier« gewesen sei. Der Armenier habe mit ihr in einer Sprache gesprochen, die den Spähern unbekannt gewesen sei. Dann habe er ihr einen Brief gegeben, mit dem sie, auf allerlei Umwegen, wieder zurückgekehrt sei.
Die dritte unzweifelhafte Feststellung Civitellas war die, dass Biondello eine bezahlte Kreatur war, bezahlt wieder von dem geheimnisvollen Armenier. Jedes einzelne der Vorkommnisse, die ihm das vollständige Vertrauen des Prinzen gewannen, war nichts anderes als ein abgekartetes Spiel. Die eigentümliche Erbschaftsgeschichte des Prokurators, in der Biondello eine so edle uneigennützige Rolle spielte, war dem Prinzen von ein paar Gaunern vorgetäuscht worden, wie man sie in Venedig für wenige Goldstücke zu Dutzenden finden konnte. Dieser Prokurator, der frühere Herr Biondellos, existierte ebensowenig wie seine Erben. Noch auch existierten die Advokaten, die die Ehrlichkeit Biondellos in dem öffentlichen Hause in St. Giorgio Maggiore auf die Probe stellen wollten. Diese ganze Erzählung war von dem abgefeimten Burschen nur erfunden worden, um sich noch mehr das völlige Vertrauen des Prinzen zu erwerben. Ferner hatten die Späher des Marchese Biondello zweimal beobachtet, wie er eine kleine Schatulle auf der Straße, unweit der Wohnung des Prinzen, einem Gondoliere übergeben hatte; sie waren diesem Gondoliere unauffällig gefolgt und hatten festgestellt, dass er seinerseits die Schatulle einige Straßen weiter einer Persönlichkeit übergab, die wieder dem »Armenier« in allen Einzelheiten entsprach. Der Marchese vermutete, dass diese Schatulle nicht nur Nachrichten Biondellos enthalten habe, sondern auch neben andern Briefe des Barons an seinen Freund, den Grafen von Osten.
War Civitella soweit in seinen Nachforschungen vom Glück begünstigt, so erlebte er nun plötzlich einen kräftigen Gegenschlag. Er hatte dreien seiner besten Leute den Auftrag gegeben, die Persönlichkeit des »Armeniers«, den sie nun schon zu den verschiedenen Malen gesehen hatten, endlich einwandfrei festzustellen. Eines Abends kamen diese drei Männer, verwegene Kerle, die so leicht vor nichts zurückschreckten, in den Palazzo des Marchese und begehrten diesen zu sprechen. Sie zitterten, waren bleicher wie Leintücher, konnten kaum Worte finden, sich zu erklären. Endlich stammelte einer von Ihnen, dass sie den »Armenier« gesehen und gesprochen hätten. Sie müssten sofort nicht nur den Dienst des Marchese verlassen, sondern auch die Stadt – wenn sie hoffen wollten, den nächsten Morgen noch zu erleben. Der Marchese sprach ihnen Mut zu, bot ihnen immer höhere Summen – umsonst, es war keine Silbe aus ihnen herauszubringen. Civitella drohte ihnen mit der Inquisition – mit nicht mehr Erfolg –, die Furcht vor dem, was sie erlebt hatten, überwog ihre Scheu vor dem geheimen Tribunal. Sie gingen – und wurden nicht mehr in Venedig gesehen.
Um diese Zeit erkrankte Veronika – so nannte der Prinz seine Angebetete. Trotz der eifrigsten Bemühungen hatte der Marchese über ihre Person herzlich wenig in Erfahrung bringen können. Ihren Vornamen und die Tatsache, dass sie eine Deutsche war, hatte der Prinz selbst bereits vor längerer Zeit dem Baron mitgeteilt. Dessen Annahme, dass Prinz Alexander in ihr Geheimnis eingeweiht war, schien jedoch eine irrige zu sein – die schöne Frau hatte ihm, wie er gelegentlich äußerte, keine näheren Angaben gemacht, ihm vielmehr das Versprechen abgenommen, sie weder danach zu fragen, noch auch seinerseits Nachforschungen anstellen zu lassen.
Während der Krankheit Veronikas überstürzten sich die Ereignisse. Der Bericht, den Baron Freihardt in seinem Krankenbette dem Grafen Osten darüber machte, war nicht allzu erschöpfend. Sehr bald schien die Krankheit der Dame einen gefährlichen Charakter anzunehmen. Während der ersten Tage freilich wusste hiervon der Prinz nichts. Er erhielt vielmehr nur Nachricht von Murano, dass Veronika ihn nicht empfangen könne, da sie unpässlich sei. Der Prinz blieb also zu Hause, sandte aber alle paar Stunden einen Brief sowie Blumen und auserlesene Früchte der Geliebten. Am fünften Tage entschloss er sich frühmorgens, selbst hinzufahren – nachdem er in den vorhergehenden Nächten auch nicht ein Auge zugetan hatte. Von diesem Augenblicke an blieb er in Murano. Das Befinden Veronikas verschlechterte sich mit jeder Stunde, sie schien entsetzlich unter Vergiftungserscheinungen zu leiden. Der Prinz fand zwei Ärzte an ihrem Bett vor; er ließ noch drei weitere holen. Aber ihre Kunst war vergeblich. Die Kranke weigerte sich schließlich, Nahrung zu sich zu nehmen. Alles, was man ihr mit Gewalt einflößte, erbrach sie sofort. Sie lag in stundenlangen Agonien; der Prinz wich während dieser Zeit nicht von ihrem Bett. Sowohl Baron von Freihardt wie Junker von Zedtwitz waren während dieser Tage auf manche Stunden in Murano; sie gingen meist im Garten spazieren oder warteten im Vorzimmer. In der Nacht des neunten Tages verlangte die Kranke noch nach einem Priester, der ihr die Sterbesakramente reichen sollte. Ein Benediktinermönch erschien in Begleitung zweier Brüder – die Sterbende blieb während mehrerer Stunden mit ihm allein. Nach dieser Tröstung fühlte sie sich sehr erleichtert; sie schlief einige Stunden lang ruhig. Am andern Morgen stand der Prinz vor einem Sterbebette. Hatte Veronika schon während ihrer Krankheit – und vermutlich auch vorher schon – immer wieder versucht, den Prinzen zu bewegen, den Weg zur ewigen Seligkeit zu schreiten, den sie für den einzig möglichen hielt, nämlich den der katholischen Religion, so zeigte sie in der letzten Stunde eine wahrhaft aufopfernde Beredsamkeit. Ihre rührende Liebe zerschnitt des Prinzen Herz, dennoch blieb er standhaft. Immer versuchte er sie von diesem Gebiet abzubringen, aber Veronika hatte nur noch diesen einzigen Gedanken. Ihre Tränen nässten die Kissen, man sah, wie sie unter der Weigerung des Prinzen litt. Bei einem letzten »Nein« des Prinzen stieß sie einen kurzen, verzweifelten Seufzer aus, wandte sich um und vergrub den Kopf in die Kissen. Eine Weile standen der Prinz, der Baron und die übrigen abwartend da; dann beugte sich einer der Ärzte lange über sie.
»Sie ist tot!«, flüsterte er. Dabei warf er ihr ein Tuch über den Kopf.
Dieses Wort griff die völlig zerrütteten Nerven des Prinzen so stark an, und so plötzlich, dass er zusammenbrach. Den Bewusstlosen trugen Freihardt und Zedtwitz aus dem Zimmer.
Die Ohnmacht des Prinzen dauerte manche Stunde an, während deren er gelegentlich wieder zu sich kam, aber nur, um nach wenigen Minuten wieder bewusstlos zu werden. Erst gegen Abend gelang es den Bemühungen der Ärzte, ihn wieder einigermaßen aufzurichten. Seine erste Frage war nach Veronika; man sagte ihm, dass die Ärzte beschlossen hätten, die Leiche zu obduzieren, um die Ursache ihres Todes festzustellen. Trotz aller Einwände erklärte der Prinz seinen festen Entschluss, bei der Leichenöffnung zugegen zu sein. In diesem Augenblick trat ein Bote ein, der dem Prinzen seine deutsche Post überbrachte. Prinz Alexander griff danach; dann ließ er, von einer bangen Hoffnung befallen, die Hand wieder sinken. Endlich entschloss er sich doch. Gleich der erste Brief, den er öffnete, war der seiner Schwester Henriette, die ihn einen Unwürdigen nannte und ihm jede Hilfe und alle Wohltaten für immer versagte. Der Prinz starrte mit weit offenen Augen auf diesen Brief – misstraute seinem eigenen Blick, gab das Schreiben dem Baron und bat ihn, laut vorzulesen.
Baron Freihardt las:
»Die alleinseligmachende Kirche, die an dem Prinzen Alexander eine so glänzende Eroberung gemacht hat –«
Der Prinz griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Halt, halt!«, rief er. »Sie waren dabei, Freihardt, als die heilige Frau drinnen starb! Sie auch Zedtwitz! – Sie bat mich, sie beschwor mich, bei meiner Liebe, meinem Glauben abzuschwören, katholisch zu werden – was antwortete ich?«
»Gnädigster Herr«, erwiderte der Baron, »Sie antworteten ein über das andere Mal, dass Sie das niemals tun könnten! Sie sagten der Sterbenden –«
»Vielleicht irren Sie, Baron – wie ich selbst irre! – Zedtwitz – wie war es?«
»Sie sagten: ›Nein! Nein! und immer wieder: Nein!‹, gnädigster Prinz!«, rief Zedtwitz.
Der Prinz lachte gell auf: »Ihr seid von Sinnen, alle beide – wie ich es bin! Hier steht es – hier – – dass ich abtrünnig wurde!« Er riss den Brief dem Baron aus der Hand, zerknüllte ihn in der Hand und warf ihn zu Boden. Dann griff er mit beiden Händen ans Herz, wie von einem plötzlichen, heftigen Schmerze erfasst, schrie auf und sank aufs neue in tiefe Ohnmacht.
Da die Ärzte darauf bestanden, dass die Leichenöffnung noch am selben Tage vorgenommen wurde, so entschloss sich Baron Freihardt, die Stelle des Prinzen zu vertreten; er ging also mit den Ärzten in die offene Halle, in deren Mitte auf einem großen Tische die Leiche lag. Da es sich nur um eine Erkrankung der inneren Organe handeln konnte, so sahen die Ärzte von einer Öffnung des Kopfes ab und beschränkten sich auf den Leib und auf die Brust; der Baron fand also das Gesicht der Toten mit einem schweren Tuch bedeckt. Er stand abseits, während die Ärzte arbeiteten; sie kamen zu keinem schlüssigen Entscheid. Irgendeine organischen Krankheit sei nicht festzustellen, erklärten sie, auch sei die eigentliche Todesursache nicht mit Bestimmtheit zu ermitteln. Vermutlich liege eine Vergiftung vor. Aber während zwei der Ärzte auf eine Austern Vergiftung rieten, wies der dritte diesen Gedanken mit Entschiedenheit ab, ohne jedoch seinerseits eine andere Erklärung geben zu können.
Die Leiche selbst wurde noch in derselben Nacht, gleich nach der Autopsie, nach der nahegelegenen Insel St. Michele, dem Begräbnisplatz Venedigs, gebracht und dort in früher Morgenstunde in aller Stille beerdigt. Alle diese schnellen Vorbereitungen hatte Biondello getroffen; der Baron, der vollauf mit dem Prinzen zu tun hatte, hatte sich nicht darum bekümmern können.
Die Ohnmacht des Prinzen war während der Nacht einem tiefen Schlafe gewichen – die Natur forderte eben ihr Recht. Bis weit in den Mittag schlief Prinz Alexander. Als er aufwachte, machte ihm der Baron Mitteilung von der Leichenöffnung und von dem Begräbnis. Sofort befahl der Prinz eine Gondel und ließ sich in Begleitung von Freihardt und Zedtwitz übersetzen. Er ließ sich das frische Grab zeigen und gab dem alten Friedhofsgärtner seine Befehle für dessen Ausschmückung.
Nur auf die inständigen Bitten seiner Begleitung hin ließ sich endlich der Prinz überreden, nach Hause zurückzukehren. Er war kaum aus seiner Gondel ausgestiegen, hatte eben die ersten Stufen seines Palazzo erklommen, als die Prunkgondel des Marchese vor den Lagunenpfählen anlegte. Civitella sprang eilends auf die Marmorstufen, lief dem Prinzen nach. »Prinz Alexander«, rief er, »Sie sind in den Händen einer Schwindlerbande! Ihr Armenier, Ihre Dulcinea von Murano –«
Der Prinz fuhr auf – beherrschte sich aber im selben Augenblicke. Er wandte sich an den Baron und sagte kühl: »Sagen Sie dem Marquis, wo diese Dame ist, die er meine Dulcinea zu nennen beliebt!«
Baron Freihardt sagte: »Signora Veronika starb gestern morgen in Murano vor unsern Augen. Sie wurde am Abende obduziert und heute früh auf St. Michele beerdigt. Jetzt, Marchese – ist sie im Himmel!«
Der Marchese war für einen Augenblick sprachlos; der Prinz wandte sich zum Gehn. Civitella rief ihm zu: »Ihr Wort, Prinz, und das dieses Herrn in allen Ehren! Aber ich kann nicht streiten über Dinge, die meine eigenen Augen sahen. Wer immer in Murano starb und in St. Michele beerdigt wurde, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass die Dame Ihres Herzens, die Sie Veronika nennen, vor einigen Stunden mit ihrer Duenna abreiste von Murano. Sie ließen sich nach dem Stadtteil Madonna del Orto mit vielem Gepäck übersetzen. Meine Agenten benachrichtigten mich hiervon; ich beeilte mich und kam gerade zur Zeit, um zu sehn, wie die beiden Damen das nach Fusima fahrende Schiff bestiegen. Sie werden von dort mit der Post nach Padua weiterfahren! Ich erkannte alle zwei Frauen recht gut – und bei der Madonna, Prinz, es ist kein Irrtum möglich!«
Der Prinz wandte sich wieder an die Herren seines Gefolges: »Sagen Sie mir, Zedtwitz, ist dieser Mensch ein abgefeimter Lügner oder ein wahnsinniger Narr?«
»Keines von beiden!«, schrie der Marchese, der sich mit äußerster Willensstärke beherrschte, »aber Ihre Liebste, Prinz, ist eine elende Betrügerin!«
Im Augenblick zog Prinz Alexander seinen Degen; der Marchese tat das gleiche. Baron Freihardt stürzte sich zwischen die beiden rasenden Menschen, mit seinem Leibe fing er den ersten Stich des Marchese auf, der ihn in die Schulter traf. Gleich darauf traf ein Stich des Prinzen Civitellas Brust. Das Gefolge stürzte sich dazwischen, man trug den schwerverwundeten Marchese in seine Gondel; der Prinz führte selber den stark blutenden Freihardt die Treppen hinauf.
Noch in derselben Nacht klopfte ein Gondoliere immer lauter an das große bronzene Tor. Als ihm endlich geöffnet wurden, verlangte der den Prinzen zu sprechen und übergab diesem ein unterschriftloses Schreiben folgenden Inhalts:
»Kardinal Agliardi weiß alles. Die Wunde seines Neffen soll tödlich sein – er hat geschworen, ihn zu rächen. Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, eilen Sie in das Kloster der Carità. Dort finden Sie sicheres Asyl.«
Der Prinz zeigte dieses Schreiben dem Baron, dessen Wunde, nachdem der erste Blutverlust gestillt und ein regelrechter Verband angelegt war, sich als durchaus harmloser Natur herausgestellt hatte. Er selbst hatte wenig Lust, diese anonyme Einladung anzunehmen, zeigte sich völlig gleichgültig gegen jede drohende Gefahr, gab aber schließlich den Bitten seiner Umgebung nach. Er bestand darauf, dass der Baron und der Junker ihn begleiteten. Da das Kloster St. Maria della Carità westlich des großen Kanals lag, beschloss man, um die Fahrt durch die vielen kleinen Kanäle, in denen ein Entkommen bei einem möglichen Angriff sehr schwer war, zu vermeiden, weit aus der Stadt hinauszufahren und außerhalb entlang der Fondamente Nuove herumzufahren, dann in den Canareggio einzubiegen.
So ging die Fahrt an St. Michele vorbei. Als der Prinz der Gräberinsel ansichtig wurde, befahl er, dorthin zu lenken. Er sprang an Land, bat aber den Baron, mit Zedtwitz weiterzufahren nach Murano. Er überreichte ihm die Schlüssel zum Garten und zum Hause und gab ihm den Auftrag, unter allen Umständen, selbst unter Anwendung von Gewalt, die Duenna der Verstorbenen herzubringen. Freihardt verstand die Absicht des Prinzen sofort: Diesem ließen die erstaunlichen Behauptungen Civitellas keine Ruhe, er wollte sich nun selbst von deren Nichtigkeit überzeugen. Der Baron fuhr also mit der Gondel nach Murano und drang, begleitet von zweien der prinzlichen Mohren, erst in den Garten, dann in das Haus. Man fand mit Ausnahme eines taubstummen alten Gärtners auch nicht einen der Dienerschaft vor; man durchsuchte jedes einzelne Zimmer, musste aber feststellen, dass die alte Begleiterin verschwunden war.