Ein Großteil der Figuren und Ereignisse im Roman beruht auf historischen Vorbildern. Diese werden jedoch in fiktiver Art und Weise verwendet. Nähere Erläuterungen zum Thema »Fakt und Fiktion« finden sich im Nachwort.
(Achtung: Dieses enthält Spoiler für Teil 1 der Haupthandlung.)
Sämtliche Daten und Altersangaben folgen dem westlichen Kalender.
Japanische Namen werden nach dem dort geltenden System wiedergegeben, das heißt, der Familienname wird zuerst genannt, dann der Vorname.
In Japan ist es üblich, in der Anrede bestimmte »Höflichkeitssuffixe« an den Namen anzuhängen. Das Weglassen der Suffixe ist entweder Zeichen großer Unhöflichkeit oder enger Vertrautheit.
Die im Roman verwendeten Suffixe sind:
Erläuterungen zu weiteren japanischen Begriffen finden
sich im Glossar.
Edo, Februar 1853
Die Küsse seiner nächtlichen Geliebten brannten noch auf Hijikata Toshizōs Lippen, während ihr Name bereits seinem Gedächtnis entwich wie die Nebelschwaden über den Hügeln von Tama, wenn die ersten Strahlen der frühen Morgensonne sie zärtlich berührten.
Obwohl ihm die Müdigkeit der durchwachten Nacht tief in den Knochen steckte und seine Muskeln beschwerte, schritt er schnell voran, hielt das Gesicht dem kühlen Wind entgegen, genoss den Geruch nach Tau, feuchtem Straßenstaub und Regen, der schwer in der Luft hing und seine Sinne allmählich belebte.
Im Grunde war er nächtlicher Abenteuer wie diesem längst
überdrüssig. Genauso überdrüssig wie seiner Arbeit als wandernder
Arzneihändler oder des Daseins als Farmer. Was er suchte, war nicht
in den Armen einer Frau zu finden, war vielleicht nirgendwo zu
finden, und so ließ sich Hijikata vom Wind treiben wie die
verwehten Kirschblüten im Frühjahr, lebte in den Tag hinein, in die
Nacht hinein.
Der einzige feste Punkt in seinem Dasein, sein Leuchtfeuer in der
Dunkelheit, war das Dōjō, das sein bester Freund Kat-chan einst
erben würde.
Das Shieikan lag ein Stück weit nordwestlich der Burg von Edo, in Ichigaya, und war keine der großen, berühmten Schwertkampfschulen Edos. Die meisten seiner Schüler entstammten einfachen Bauernfamilien aus dem Hügelland von Tama, genau wie Hijikata und der Freund selbst. Schon immer waren die Bauern von Tama ein besonderes Volk gewesen, dem Shōgun loyal ergeben und an Tapferkeit und Mut so manchem Samurai ebenbürtig. Viele von ihnen ließen ihre Söhne in der Schwertkunst unterrichten und sie waren stolz darauf, ihre Dörfer und ihr Zuhause selbst verteidigen zu können.
So zog Kondō Shūsai, der Meister des Shieikan-Dōjōs, von Dorf zu Dorf und unterrichtete die Kinder reicher Bauern im Fechten. Auch in Kat-chans und Hijikatas Heimatdörfern hatte er Stunden gegeben, und auf diese Weise hatten sie beide den Meister – und später auch einander – kennengelernt.
Von Kat-chans Fähigkeiten und seinem Charakter war der Meister sofort tief beeindruckt gewesen. Und dann, vor einigen Jahren, war Kat-chans Haus von einer finsteren Diebesbande überfallen worden. Kat-chan, damals erst fünfzehn Jahre alt, hatte das Gesindel gemeinsam mit seinen Brüdern in die Flucht geschlagen und sich dabei derart heldenhaft hervorgetan, dass sich die Geschichte in der ganzen Gegend so rasch verbreitete wie eine Feuersbrunst an trockenen Sommertagen. Auch dem Meister kam sie zu Ohren, und so geschah, was sich Jungen von Kat-chans Stand bisher nur in ihren kühnsten Träumen hätten ausmalen können: Der alternde Samurai, der selbst keinen Sohn hatte, adoptierte Kat-chan und machte ihn zum Erben seines Dōjōs. Aus Miyagawa Katsugorō, genannt Kat-chan, wurde Kondō Isami, künftiges Oberhaupt der Tennen Rishin-ryū Schwertschule und Meister des dazugehörigen Shieikan-Dōjōs.
Knapp vier Jahre war dies nun schon her.
Für Kat-chan war damals ein Traum in Erfüllung gegangen, der auch tief in Hijikatas Herzen brannte, für ihn jedoch so unerreichbar war wie der kalte, bleiche Mond, der in der langsam aufkeimenden Dämmerung allmählich verblasste.
Kat-chan war nur ein Jahr älter als er selbst und hatte bereits so viel mehr erreicht. Und dennoch liebte Hijikata den Freund zu sehr, um Eifersucht oder gar Neid zu empfinden.
Kat-chan – er sollte sich angewöhnen, ihn Kondō oder wenigstens Isami zu nennen – war der klügste, feinsinnigste und warmherzigste Mann, den Hijikata kannte, und er war sicher, irgendwann würde einer der größten und edelsten Samurai aus ihm werden, die dieses Land je gesehen hatte. Und wenn er, Hijikata Toshizō, Sohn eines Bauern aus Tama, in diesem Moment an der Seite seines Freundes stehen durfte, so wäre es für ihn das höchste Glück, das er sich je erträumen konnte.
Von solch hochtrabenden Gedanken erfüllt, erreichte er das Dōjō, und ein Lächeln schlich sich über seine Züge, als die vertrauten Konturen des Gebäudes vor ihm in der Morgendämmerung aufragten.
Es war kein besonders nobles Anwesen. Das Tor war schlicht und schmucklos, auf dem Dach des Haupthauses saßen einige Schindeln locker, und das Reispapier der Wände war an unzähligen Stellen geflickt und aus Kostengründen nicht erneuert worden.
Und doch … In Hijikata Toshizōs Augen war dieser Ort so vollkommen, als wäre er der Palast des Shōguns, und während er durch das Tor schritt und den Hof überquerte, fühlte es sich an, als betrete er eine fremde Welt und ließe all die Sorgen und Unzulänglichkeiten seines täglichen Lebens einfach draußen zurück.
Das Gefühl löste sich allerdings in Rauch auf, als sein Blick auf den Jungen fiel, der gerade dabei war, vor der Veranda des Wohnhauses einen Korb Wäsche aufzuhängen. Okita Sōjirō!
Hijikata seufzte innerlich. Die kleine Kröte hatte ihm gerade noch gefehlt! Im Gegensatz zu Kondō und Hijikata entstammte Sōjirō einer Samurai-Familie. Wie Kondō und Hijikata hatte er seine Eltern früh verloren. Bis vor kurzem hatte er daher bei seiner älteren Schwester Mitsu und deren Ehemann gelebt, doch Mitsu war nun selbst schwanger und konnte – oder wollte – sich nicht mehr um den Kleinen kümmern. Einer der Schüler hier im Shieikan war ein entfernter Verwandter ihres Mannes, und so hatte sich Kondō Shūsai dazu bereiterklärt, den neunjährigen Waisenjungen in seinem Haus aufzunehmen.
Angeblich war er einer der talentiertesten Schüler des Shieikan, Hijikata jedoch hatte ihn noch nie ein Schwert schwingen, geschweige denn an Kondōs Unterricht teilnehmen sehen. Alles, was der Junge tat, war Tee servieren, den Boden wischen und Wäsche waschen.
Hijikata schüttelte sich vor Verachtung. Kondō hatte einen Narren an dem Kleinen gefressen und verhätschelte ihn wie ein Mädchen seine Lieblingspuppe, Hijikata jedoch sträubten sich die Nackenhaare, wenn er den Jungen nur ansah. Er wusste noch nicht einmal genau, woran es lag, doch der Kleine hatte etwas an sich, das Hijikata schaudern ließ.
Vielleicht war es die Tatsache, dass er niemals lachte, niemals weinte und kaum je ein Wort von sich gab. Das schmale Gesicht des Jungen war leer wie das einer Statue, die großen, pechschwarzen Augen so unergründlich wie der Ozean. Viel zu tief und viel zu dunkel für die Augen eines Kindes.
»Hey, du kleiner Putzteufel!«, rief Hijikata übellaunig und noch während er die Worte aussprach, fühlte er, wie erbärmlich es war, ein Kind zu beleidigen, das neun Jahre jünger war als er selbst und offenbar kaum in der Lage, sich zu wehren.
Immerhin schien er mit der Beleidigung ins Schwarze zu treffen, denn der Kleine zuckte heftig zusammen und blickte von seiner Arbeit auf. Kein Muskel rührte sich in dem maskenhaften Gesicht, in den Augen jedoch blitzte einen Herzschlag lang ein Funke auf, Abglanz einer lodernden Glut, die sofort wieder hinter einem Ausdruck dunkler Leere verschwand.
Über Hijikatas Gesicht glitt ein Lächeln. Wenigstens war es ihm gelungen, den Hauch einer Reaktion in Sōjirō hervorzurufen. Der Junge war also nicht so kaltblütig, wie er tat, und beinahe erleichterte dies Hijikata.
»Toshi!«
Abrupt drehte Hijikata sich um, als er Kondōs vertraute Stimme hinter sich hörte. Der Freund begrüßte ihn mit einem herzlichen Lächeln, und sofort vergaß Hijikata den Jungen, der sich mittlerweile wieder seiner Arbeit widmete, und das mit einer Hingabe und Konzentration, als gelte es, ein Kunstwerk zu vollenden.
»Du solltest Sōjirō-chan nicht immer so ärgern«, bemerkte Kondō sanft, während sie sich gemeinsam ein paar Schritte entfernten. »Er hatte es schwer. Seine Familie ist so arm, dass sie ihn kaum ernähren konnte. Seine Schwester kann nicht mehr für ihn sorgen. Er hat niemanden außer mich. Und für mich ist er wie der kleine Bruder, den ich mir immer gewünscht habe.« Ein sonderbar weicher Ausdruck glitt über Kondōs Gesicht. »Und du, Toshi, du bist mein bester Freund. Es schmerzt mich zu sehen, dass zwei Menschen, die mir so viel bedeuten, einander nicht leiden können. Bitte versuche, freundlicher zu ihm zu sein.«
Der sanfte Tadel in diesen Worten gab Hijikata einen Stich, machte ihm noch deutlicher bewusst, wie albern er sich benahm.
»Verzeih mir«, entgegnete er aufrichtig und senkte ein wenig den Kopf dabei. »Es ist nur … Der Junge hat etwas an sich, das …« Er ließ die Worte in der Luft schweben und zu Boden fallen. »Ist er nicht das Kind eines Samurai?«, fragte er stattdessen. »Warum benimmt er sich dann nicht so? Warum tut er nichts außer putzen und waschen, als wäre er ein Dienstbote?«
Ein bekümmerter Ausdruck verfinsterte Kondōs Gesicht. »Weil er genau das ist«, entgegnete er traurig. »Seine Familie kann das Schulgeld nicht bezahlen. Mein Vater hat ihn aus Gutmütigkeit in seinem Haus aufgenommen, aber Mutter ist der Meinung, er müsse, wenn er hier umsonst wohnen und essen will, wenigstens dafür arbeiten. Also lässt sie ihn arbeiten, hart arbeiten.« Voll Mitgefühl und Schuldbewusstsein senkte er den Blick.
»Warum trainierst du ihn nicht in der Schwertkunst?«, fragte Hijikata, denn er hatte Sōjirō noch nie mit den anderen Schülern in der Halle gesehen. »Sollte ein Samurai-Kind nicht fechten lernen, wenn es schon in einem Dōjō wohnt?«
Ein mildes Lächeln glitt über Kondōs Lippen. »Oh, er trainiert durchaus. Nur eben nicht mit den anderen. Aber ich weiß, er sieht genau zu, wenn ich unterrichte. Nachts, wenn er glaubt, niemand würde es bemerken, schleicht er sich dann heimlich ins Dōjō und übt für sich allein. Und durch die harte Arbeit ist er schon viel kräftiger geworden als zuvor, das kommt seinem Training zugute.«
»Er übt für sich allein?«, hakte Hijikata ungläubig nach. »Wieso das denn? Ist er so schlecht, dein kleiner Bruder?« Hijikata kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Oder ist er einfach nur feige?«, fügte er böse hinzu.
Neulich, da hatte er beobachtet, wie die älteren Schüler Sōjirō geärgert und verspottet hatten. Der Junge hatte nicht einmal versucht, sich zu wehren. Er hatte es sich gefallen lassen wie ein unterwürfiger Hund.
Hijikata schnaubte verächtlich.
Kondō hingegen zuckte unter Hijikatas Hohn heftig zusammen. »Nein«, entgegnete er mit einem Ausdruck von Schmerz in den Augen, der Hijikata einen erneuten Stich versetzte. »Nein, er ist weder feige noch schlecht. Das ist er ganz und gar nicht.«
Hijikata presste die Kiefer aufeinander, bis die Knochen knackten. Er hatte sich in Rage geredet, und die gemeinen Worte waren ihm entschlüpft, ohne dass er darüber nachgedacht hatte. Aber sie hatten nicht Sōjirō verletzt, sondern Kondō.
Reumütig senkte Hijikata den Blick, unfähig, die Pfeile zurückzuholen, die er bereits verschossen hatte. Warum nur machte dieser Junge ihn so wütend? So wütend, dass er seine Zunge nicht mehr im Zaum halten konnte und dabei sogar seinen besten Freund vor den Kopf stieß?
Weil der Junge ein Samurai ist …, flüsterte eine Stimme in seinem Inneren, die Hijikata nicht hören wollte, denn er wusste, dass sie die Wahrheit sprach.
Sōjirō war das Kind eines Samurai und damit all das, was Hijikata niemals sein durfte. Aber Sōjirō wusste dieses Privileg noch nicht einmal zu schätzen, warf es fort, als wäre es nichts. Und Hijikata konnte nicht anders, als den Jungen dafür aus tiefster Seele zu hassen.
»Er ist nicht feige«, wiederholte Kondō leise, und die Worte erreichten kaum Hijikatas Bewusstsein. »Der Geist des Kriegers ist stark in ihm, er schlummert bloß. Und es ist Sōjirō-chans eigene Entscheidung, wann er ihn erwachen lässt. Ich werde das respektieren. Und du solltest das auch tun.« Wieder verbarg sich der Tadel hinter einem sanften Lächeln, und wieder gab er Hijikata einen tiefen Stich in die Brust.
»Sieh, ich will dir etwas zeigen«, bemerkte Kondō in verändertem Tonfall und lenkte Hijikatas Aufmerksamkeit wieder in die Richtung des Jungen, der mittlerweile mit der Wäsche fertig war und begonnen hatte, die Veranda zu schrubben.
Für einen Moment versuchte er, Sōjirō mit den Augen seines Freundes zu betrachten, versuchte zu erkennen, was dieser in ihm sah. Doch er selbst erblickte nur ein Kind mit dem leeren Gesicht einer Puppe und den Augen eines wilden Tieres, hoch gewachsen für sein Alter und dabei so dürr, als könne er beim nächsten Windhauch einfach auseinanderbrechen.
»Sieh dir seine Bewegungen an«, flüsterte Kondō, dicht an seiner Seite. »Zielgerichtet, kraftvoll und geschmeidig wie die einer Katze. Er mag im Moment aussehen, als würde er gedankenverloren vor sich hinträumen, aber in Wahrheit ist er stets wachsam, angespannt und hoch konzentriert. Pass auf!«
Schnell trat er unter den Pflaumenbaum im Garten, wo noch ein wenig Schnee lag, nahm eine Handvoll davon vom Boden auf, formte daraus eine Kugel und schleuderte sie ohne jede Vorwarnung in Richtung des Jungen.
Hijikata riss vor Schreck die Augen auf, Sōjirō jedoch reagierte mit überraschender Geistesgegenwart: Ohne auch nur hinzusehen, so als hätte er das Wurfgeschoss bereits aus der Ferne herannahen gespürt, hob er blitzschnell die Hand und fing den Schneeball sicher und präzise auf.
»Siehst du«, rief Kondō triumphierend. »Er hat die Instinkte eines Tigers! Er wird einmal ein fantastischer Schwertkämpfer werden!« Und, an Sōjirō gewandt, brüllte er: »Gut gemacht, Sōji!«
»Sōji?« Irritiert legte Hijikata die Stirn in Falten. »So nennst du ihn? Ich dachte, sein Name sei Sōjirō.«
Kondō zuckte mit den Schultern. »Dein Name ist Toshizō, und ich nenne dich Toshi. Also warum nicht?«
Das war es nicht, was Hijikata gemeint hatte. Sōji konnte auch Putzen bedeuten, eine bittere Ironie, die allerdings weder Kondō noch den Jungen zu stören schien. Für sie beide war es einfach nur ein liebevoller Spitzname, in den sie nichts Böses hineininterpretierten.
»Aber ich darf ihn nicht Putzteufel rufen«, grummelte Hijikata missmutig in sich hinein, was Kondō allerdings überhörte, denn der Freund schien ihn bereits völlig vergessen zu haben. Stattdessen trat er mit ein paar schnellen Schritten zu dem Jungen auf die Veranda und strich ihm stolz über das lange, zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengefasste Haar. Hijikata beobachtete verblüfft, wie eine geradezu frappierende Veränderung im Gesicht des Jungen vor sich ging. Über den eben noch vollkommen leeren, maskengleichen Zügen des Kindes breitete sich plötzlich ein Strahlen aus, als wäre die Sonne über einem schneebedeckten Hügel aufgegangen. Die dunklen Augen leuchteten, ja, sogar die Andeutung eines winzigen Lächelns zuckte über die vollen, puppenhaften Lippen.
Dieser Junge, das begriff Hijikata mit einem Mal, verehrte Kondō, als wäre er ein Gott. Würde das Schicksal es von ihm verlangen, er würde an Ort und Stelle für Kondō sein Leben geben, ohne auch nur einen Wimpernschlag zu zögern.
Und war es nicht genau das, was Hijikata selbst tief in seinem Innersten empfand?
Mit einem Mal fühlte er, wie sein Hass auf den Jungen erkaltete, und etwas Anderem Platz machte, für das er selbst keinen Namen fand. Doch als Kondō später mit ihm bei einer Schale Tee auf der Veranda saß und ihn erneut bat, freundlicher zu dem Kind zu sein, da nickte er, und diesmal meinte er es auch so.
***
Noch am selben Abend bekam Hijikata Gelegenheit, seinen Entschluss auf die Probe zu stellen. Kondō hatte ihn eingeladen, die Nacht in seinem Haus zu verbringen, und da Hijikata ohnehin wenig Leidenschaft für seine Arbeit als Medizinverkäufer empfand, war es ihm nur recht, die ungeliebte Tätigkeit um einen weiteren Tag hinauszuschieben.
Während Kondō im Dōjō einige Jungen aus der Nachbarschaft unterrichtete, streifte Hijikata ziellos durch den Garten des Hauses. Ein kühler Wind ließ die Äste der Walnussbäume erzittern und brachte den würzigen Geruch nach Regen mit sich. Fröstelnd richtete Hijikata den Blick dem sich verdunkelnden Himmel entgegen, beobachtete einen Moment lang die schweren Wolken, die über ihn hinwegzogen wie die Geister einer längst vergangenen Zeit. Er wollte sich gerade abwenden, als er bemerkte, dass an der Ecke des Hauses eine Schiebetür weit offenstand. In dem Raum dahinter kniete eine schmale Gestalt auf den Tatami-Matten und las, den Kopf gegen den Türrahmen gelehnt, in einem Buch. Sōjirō hatte kein Licht entzündet, und so verschwamm sein Körper mit den Schatten des ersterbenden Tages, als wäre er selbst ein Geschöpf der Dämmerung. Neben ihm lag ein rotweißes Fellknäuel zusammengerollt auf dem Boden, das Hijikata zunächst für eine Katze hielt. Als er jedoch langsam nähertrat, erkannte er erstaunt, dass es sich um ein Fuchs-Junges handelte.
Das Tier und der Junge bemerkten ihn im selben Moment, und obwohl Hijikata sicher war, kein Geräusch verursacht zu haben, hoben sie beide gleichzeitig den Kopf, und zwei gleichsam dunkle Augenpaare blickten ihm funkelnd entgegen.
Der Fuchs knurrte grollend, schoss wie ein roter Feuerblitz auf Hijikata zu und hielt dann mitten in der Bewegung inne, drohend die Zähne gebleckt.
»Was zur Hölle …« Erschrocken wich Hijikata einen halben Schritt zurück und tastete instinktiv nach dem Messer in seinem Gürtel. Der Fuchs reagierte mit einem schrillen Fauchen auf die Bewegung und spannte die Muskeln zum Sprung, kam aber nicht dazu, den Angriff zu Ende zu führen, denn Sōjirō war ihm mit einem einzigen, geschmeidigen Satz hinterhergejagt, fing ihn geschickt ein und presste ihn fest an sich. Der Fuchs hörte sofort auf zu knurren, das Zittern seiner Schnurrhaare jedoch zeugte deutlich von seiner Anspannung.
»Was ist das denn für ein Vieh?«, entfuhr es Hijikata ärgerlich.
»Das … das ist mein Fuchs«, stammelte Sōjirō mit einem Ausdruck entgeisterten Schreckens in den geweiteten Augen und warf sich, das Tier noch immer im Arm haltend, vor Hijikata auf die Knie. »Bitte, Hijikata-san, tun Sie ihm nichts! Der Fuchs ist mein Freund!«
»Dein Freund, soso …« Skeptisch zog Hijikata die Brauen hoch. »Wofür hältst du dich? Für einen Kitsune?«
Sōjirō blickte ein wenig verwirrt drein. »Es ist nur ein gewöhnlicher Fuchs …«, entgegnete er zögerlich, ohne auf die Spitze einzugehen. Behutsam strich seine Hand über den Kopf des Tierchens, das sich dabei sichtlich entspannte. »Ich habe ihn am Waldrand gefunden, bei der verlassenen Scheune. Er war ganz allein und er war verletzt und halb verhungert und … und da habe ich ihn mit nach Hause genommen. Kondō-sensei hat mir erlaubt, mich um ihn zu kümmern.« Und mit einem Anflug von trotzigem Stolz wiederholte er: »Der Fuchs ist mein Freund.«
Mein einziger Freund …, ergänzte der schmerzlich dunkle Glanz in seinen Augen, während er den Fuchs noch enger an sich presste, als fürchte er tatsächlich, Hijikata wolle ihm das Tier mit Gewalt entreißen.
Hijikata seufzte innerlich und wusste nicht, welche Tatsache ihn mehr verblüffte: Dass Kondōs kleiner Bruder ausgerechnet mit einem Fuchs befreundet sein wollte – oder dass diese seltsame Rede die längste war, die er je von Sōjirō gehört hatte.
Hijikata seufzte erneut, diesmal laut. Kondōs Bitte, freundlicher zu dem Jungen zu sein, hallte wie ein Glockenschlag in seinem Kopf wider, doch er musste zugeben, es war eine schwere Bürde, die der Freund ihm auferlegt hatte. Der Junge war so eigenartig …
»Wenn du dich nicht derart seltsam benehmen würdest, dann hättest du vielleicht auch richtige Freunde«, sagte Hijikata und dachte wieder daran, wie die anderen Schüler den Kleinen ausgrenzten und schikanierten.
Vermutlich war dies auch genau der Grund, aus dem Sōjirō sich so hartnäckig weigerte, mit ihnen gemeinsam zu trainieren.
Der Junge blinzelte verständnislos. »Ich benehme mich … seltsam? Was meinen Sie damit?« Wenn ihn die Worte verletzt hatten, dann zeigte er es nicht. Er blickte Hijikata nur aus seinen großen, unschuldigen Kinderaugen an, bis dieser unbehaglich das Gesicht abwenden musste.
»Nun ja«, begann er zögerlich. »Du könntest zum Beispiel damit anfangen, nicht immer so finster dreinzuschauen. Wenn du ab und an mal lächeln würdest, dann würden dich die anderen sicher lieber mögen.«
»Die anderen mögen mich, wenn ich … lächle?« Sōjirō legte den Kopf schräg und schien noch immer so fremd und fern, als wäre er nicht von dieser Welt.
Als wäre er selbst ein Fuchsgeist, dachte Hijikata schaudernd. Ein Kitsune.
Und was versuchte er da eigentlich gerade, dem Jungen einzureden? Mit einem Mal kam er sich unsagbar dumm vor.
Wenn du lächelst, dann akzeptiert man dich, wenn du dich nur anstrengst, dann mag man dich … Wusste er nicht selbst am besten, wie verlogen diese Worte waren? Wie es sich anfühlte, schikaniert und gepeinigt zu werden, ohne die Chance, sich dagegen wehren zu können?
»Du bist ein Dieb, ein nichtsnutziger, kleiner Dieb!«
»Ich bin kein Dieb … ich …«
»Leugne es nicht auch noch! Gib einfach zu, dass du das Geld genommen hast, du nichtsnutziger Bastard!«
»Wie kann ich etwas zugeben, das ich gar nicht getan habe?«
Wie Treibholz aus der aufgewühlten See zuckte die Erinnerung in Hijikatas Innerem empor. Er war elf Jahre alt gewesen, kaum älter als Sōjirō jetzt, als sein Bruder ihn nach Edo geschickt hatte, um bei einem angesehenen Kimono-Händler in die Lehre zu gehen. Die kurze Zeit, die er dort verbracht hatte, war die Hölle gewesen. Unablässig hatte einer der älteren Lehrjungen ihn getriezt, gequält und geschlagen, und der Inhaber des Ladens hatte schweigend dabei zugesehen.
Eines Nachts schließlich hatte Hijikata es nicht mehr ausgehalten und war davongelaufen, war die ganze Nacht über gelaufen, Stunde um Stunde, bis in sein Heimatdorf. Sein Bruder war sehr wütend gewesen auf ihn, aber in den Laden des Kimono-Händlers war er nie wieder zurückgekehrt.
Also warum erzählte er jetzt Sōjirō diesen Unsinn?
Wie um seine Gedanken zu bestätigen, erklang ein tiefes Donnergrollen über ihm am Himmel. Der Wind frischte auf, und Hijikata spürte die ersten kalten Regentropfen auf der Haut.
Ohne den Älteren weiter zu beachten, drehte Sōjirō sich um und trat in sein Zimmer zurück. Der Fuchs lag mittlerweile ruhig und zufrieden in seinen Armen, und Sōjirō hielt ihn behutsam fest, hob das Buch, das er vorhin fallen gelassen hatte, vom Boden auf und räumte es ins Regal zurück.
Hijikata erhaschte einen flüchtigen Blick auf den Titel, und ein Lächeln huschte über seine Lippen. Es war eine illustrierte Ausgabe der Geschichte über die 47 Rōnin. Kondōs Lieblingslektüre, was zweifellos der Grund war, aus dem Sōjirō vorhin so eifrig darin gelesen hatte.
Mit einem Anflug widerwilliger Neugierde trat Hijikata näher, zögerte aber, Sōjirō in sein Zimmer zu folgen, sondern blieb unschlüssig im Türrahmen stehen.
Das Zimmer war winzig, nicht größer als eine Abstellkammer, und bot gerade genug Platz für einen Futon, das kleine Bücherregal, das bis auf einen zweiten Band völlig leer war, eine Truhe für die Kleidung des Jungen, und den hübsch verzierten Ständer an der Stirnseite des Zimmers, auf dem seine Schwerter ruhten.
Sōjirō hatte den Fuchs mittlerweile auf dem Boden abgesetzt und begann, ihn mit Stücken eines Reisbällchens zu füttern. Während das Tier gierig sein Futter verschlang, blieb Hijikatas Blick an den Schwertern hängen.
Daisho. Die Kombination aus dem langen Katana und dem etwas kürzeren Wakizashi, die zu tragen den Samurai vorbehalten war.
Die Seele des Samurai, sein Stolz und sein Privileg.
»Sind das deine Schwerter?«, fragte Hijikata in dem ungelenken Versuch, die Konversation aufrechtzuerhalten.
»Sie gehörten meinem Vater …« Sōjirō blickte nicht auf, war ganz auf seinen Fuchs konzentriert. Der kurze Ausbruch von Interesse schien vorüber, und er wirkte nun wieder abwesend und in sich gekehrt, als wäre über seinem Inneren eine Falltür zugeschlagen.
»Warum nimmst du nicht an Kondō-senseis Unterricht teil?«, erkundigte sich Hijikata, plötzlich wild entschlossen, die abweisende Fassade des Jungen zu durchbrechen.
Sōjirō versteifte sich, nur für einen Moment, doch deutlich erkennbar. Ein Schatten zuckte über sein Gesicht. »Ich will niemanden verletzen«, antwortete er tonlos, und seine Augen waren zwei tiefe Abgründe, in denen Hijikata sich zu verlieren drohte.
Er lachte schnaubend. »Die anderen Schüler sind alle älter, größer und stärker als du«, bemerkte er in bewusst herablassendem Tonfall, doch die Worte prallten an Sōjirō ab wie Regentropfen an Ölpapier.
»Ich will niemanden verletzen«, wiederholte er mechanisch und wandte sich wieder dem Fuchs zu.
Hijikata glaubte schon, das Gespräch sei damit endgültig versandet, als der Junge erneut aufblickte und ihn einen Moment lang so durchdringend anstarrte, als wolle er direkt in seine Seele schauen. »Sie sind Kondō-senseis Freund und Sie bewundern ihn«, bemerkte er ruhig. »Warum werden Sie kein offizielles Mitglied dieses Dōjōs? Warum schreiben Sie sich nicht im Shieikan ein?«
Etwas in Hijikatas Brust krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ja, warum schrieb er sich nicht im Dōjō ein? Schon lange übte er sich in der Fechtkunst, studierte verschiedene Stile und Techniken, trainierte sie und suchte sie heimlich zu vervollkommnen. Doch er gehörte keiner offiziellen Schule an.
Stattdessen zog er durch die Gegend und verkaufte die Arznei, die seine Familie selbst herstellte. Ishida-Pulver. Gut bei Knochenbrüchen, Prellungen und anderen Blessuren. In Wahrheit aber war die Arbeit als Verkäufer nur ein Vorwand, um fremde Dōjōs aufzusuchen, sie herauszufordern und dabei neue Techniken zu erlernen.
Was er sich eigentlich wünschte, war, ein Schwertkämpfer zu sein wie Kondō. Doch egal, wie sehr er sich anstrengte, er würde niemals so gut sein wie der Freund.
Ich werde niemals ein Samurai sein, flüsterte die Stimme in seinem Inneren, von der er in diesem Moment sicher war, Sōjirō könne sie hören. Aber ich will genauso stark sein wie einer von ihnen. Nein, ich will stärker sein. Stärker als sie alle.
Hijikata ballte die Hand zur Faust und presste die Kiefer aufeinander, damit der Junge nicht bemerkte, wie sehr seine Frage ins Schwarze getroffen hatte. Und mit einem Mal wurde ihm klar, warum er dieses Kind so sehr ablehnte. Sōjirō war mit seinen neun Jahren gerade mal halb so alt wie er selbst, und doch blickten seine Augen tiefer als die der meisten Erwachsenen, und er sah Dinge, die Hijikata lieber verborgen gehalten hätte.
Plötzlich erkannte er auch, was Kondō in dem Jungen sah. Mit dieser Fähigkeit, seinem Gegenüber direkt ins Herz zu blicken, an seine intimsten Gedanken zu rühren, noch bevor sie diesem selbst bewusst waren, konnte er in der Tat einmal der beste Schwertkämpfer in ganz Edo werden. Denn ein Kämpfer, der den Gegner durchschaute, war unbesiegbar.
Mit einiger Verspätung antwortete er ausweichend: »Ich will meinen eigenen Weg gehen.«
Sōjirōs Blick bohrte sich in den seinen, hielt ihn fest wie ein Raubtier seine Beute. »Genau das will ich auch.« Ein Hauch von Trotz hatte sich in seine Stimme geschlichen, und aus irgendeinem Grund ließ dies eine unbeherrschbare Woge von Zorn in Hijikata aufwallen: »Und worin besteht dieser Weg?«, zischte er scharf. »Zu putzen und Wäsche zu waschen und dich von den anderen Schülern prügeln zu lassen wie ein Hund?«
Sōjirō erstarrte. Sein Gesicht wurde bleich. Der Fuchs hörte auf zu fressen und knurrte drohend in Hijikatas Richtung.
Hijikata war zu weit gegangen. Aber er fand keine Worte, um wiedergutzumachen, was eben geschehen war.
Es war Kondō, der die Situation rettete.
»Hey, ihr beiden!«, rief er fröhlich, vom Garten aus auf die Veranda tretend. Und mit einem Lachen fügte er, an Sōjirō gewandt, hinzu: »Dieses Reisbällchen da war eigentlich für dich gedacht, Sōji, nicht für den Fuchs! Aber ich glaube, in der Küche sind noch ein paar Süßigkeiten. Die magst du doch so gern.« Kondō zwinkerte verschmitzt. »Aber lass dich nicht von Mutter erwischen. Und vor allem: Pass auf, dass niemand den Fuchs im Haus sieht! Mutter würde dieses Haustier gewiss nicht billigen.«
»Jawohl.« Sōjirō verneigte sich steif, nahm den zappelnden Fuchs auf den Arm und beeilte sich, das Zimmer zu verlassen, nicht ohne Hijikata einen frostigen Blick zuzuwerfen.
»Was war denn hier los?«, fragte Kondō seinen Freund besorgt. »Habt ihr euch schon wieder gezankt?«
Hijikata antwortete nicht.
Einige Tage später besuchte Hijikata auf seinem Heimweg erneut das Dōjō seines Freundes. Er war gelöster Stimmung, denn er hatte in der Stadt etliche Pakete Ishida-Pulver verkauft. Und auch, wenn er seine Zukunft nicht im Arzneimittelhandel sah, erfüllte es ihn mit einem gewissen Maß an Zufriedenheit, ein gutes Geschäft getätigt zu haben.
Sein Optimismus löste sich schlagartig in Rauch auf, als er unweit des Hauses unterdrückte Schreie hörte. Hijikatas Hand schnellte instinktiv zur Waffe an seiner Seite. Ohne nachzudenken rannte er los – und erstarrte einen Moment lang vor Schreck und Empörung, als er die grausame Szenerie erfasste, die sich vor ihm auftat:
Zwei der älteren Schüler des Dōjōs hatten den kleinen Sōjirō brutal zu Boden geworfen, drückten sein Gesicht in den Staub und hielten ihn fest, während ein dritter mit aller Gewalt auf ihn einschlug. Einen halben Meter entfernt standen zwei weitere Jungen und hieben mit Holzschwertern auf Sōjirōs Fuchs ein, dessen Fell bereits blutverschmiert war.
»Seid ihr wahnsinnig geworden?«, brüllte Hijikata, und der Zorn ließ seine Stimme grollen wie in sich zusammenstürzende Berge während eines Erdbebens. Mit tödlicher Leichtigkeit glitt das Messer aus seinem Gürtel, beinahe ohne sein Zutun.
Panik blitzte in den Augen der Jungen auf. Einer der beiden, die Sōjirō festgehalten hatten, rannte kreischend davon, was Sōjirō die Gelegenheit gab, sich mit einem Ruck zu befreien und hastig auf seinen Fuchs zuzustürzen.
Die Peiniger des Tieres hatten mittlerweile von ihrem hilflosen Opfer abgelassen, doch es war zu spät: Der Fuchs lag blutüberströmt am Boden, es war kein Leben mehr in dem geschundenen kleinen Körper.
»Nein!« Schmerz explodierte in Sōjirōs Augen, und dann zerbrach etwas in seinem Blick, und Dunkelheit senkte sich über sein zerschlagenes Gesicht. Mit einem Schrei, in dem nichts Menschliches mehr schwang, sprang er auf, stieß den Jungen, der ihm am nächsten stand, zu Boden, und schnappte sich dessen Holzschwert.
Noch in derselben, blitzschnellen Bewegung attackierte er den zweiten Peiniger. Dieser machte einen ungeschickten Versuch, Sōjirōs Angriff mit seiner eigenen Waffe zu parieren, doch Sōjirō fegte über ihn hinweg wie ein Taifun, schlug ihm die Waffe mühelos aus der Hand und stieß ihm das Holzschwert gegen die Brust.
Wäre es eine echte Klinge gewesen, er hätte das Herz des anderen durchbohrt, so konnte Hijikata nur die Rippen des Jungen bersten hören. Mit einem erstickten Schrei taumelte der Junge zurück, stolperte und fiel. Hart schlug sein Hinterkopf auf dem steinigen Boden auf, Blut breitete sich unter seinem Schädel aus, und er rührte sich nicht mehr.
Sōjirō ließ seine Waffe fallen. Er bebte am ganzen Körper, das Gesicht war weiß wie ein Laken, die Augen so geweitet, als wollten sie aus den Höhlen quellen.
Auch Hijikata senkte seine Waffe.
»Hey, du!«, schnauzte er den dritten Jungen an. »Hol Kondō-sensei! Schnell!«
Der Junge war zu eingeschüchtert, um nicht zu gehorchen. Hijikata konnte hören, wie er ins Haus lief, achtete aber nicht weiter auf ihn.
Sōjirō gab unterdessen ein halb unterdrücktes Wimmern von sich. Tränen liefen über seine Wangen und mischten sich mit dem Blut, das aus einer Platzwunde an seiner Stirn rann. In seinen Augen flackerte es, und er zitterte so heftig, als könne er jeden Moment auseinanderbrechen.
Behutsam streckte Hijikata die Hand nach ihm aus, wagte aber nicht, ihn zu berühren. Sōjirō bemerkte ihn dennoch. Langsam, als koste ihn die Bewegung unendliche Mühe, wandte er den Kopf, blickte erst zu Hijikata auf und dann auf seine unkontrolliert zuckenden Hände. »Ich … Es … ist schon wieder passiert … Hijikata-san …«
Hijikatas Name klang wie ein schriller Hilfeschrei, bevor sich die Worte in namenlosem Entsetzen verloren. Er taumelte, und Hijikata breitete die Arme aus, um ihn aufzufangen, aber Sōjirō schien plötzlich wie aus einem Traum zu erwachen, schrie gequält auf und rannte in Richtung des Hauses.
Hijikata kämpfte kurz mit dem Impuls, ihm zu folgen, wandte sich stattdessen aber dem Jungen zu, den Sōjirō niedergerungen hatte. In seinem Herzen war kein Platz für Mitgefühl mit einem Kerl, der Jüngere und Schwächere peinigte, und er empfand nichts weiter als Verachtung für die feigen Bastarde, die sich zu viert gegen ein einzelnes Kind und ein wehrloses Tier verschworen hatten. Dennoch erleichterte es ihn zu sehen, dass der Junge immerhin noch am Leben war.
Nachdem Kondō atemlos herbeigeeilt war, schleppten sie den Verletzten hastig ins Haus und legten ihn auf einer der Tatami-Matten ab. Hijikata berichtete dem Freund in knappen Worten von dem Vorfall, und Kondō ließ einen der anderen Schüler nach einem Arzt schicken. Während sie auf den Doktor warteten, sprach der Freund kaum ein Wort, stand nur mit bekümmertem, von Sorge umwölktem Gesicht auf der Veranda und wirkte dabei fern und unerreichbar.
Als der Arzt endlich kam und den verletzten Jungen versorgte, nahm Hijikata den Freund behutsam beiseite.
»Du solltest den Sensei auch nach Sōjirō-chan sehen lassen«, bemerkte er in gedämpftem Tonfall. »Diese Jungen haben den Kleinen ziemlich übel zugerichtet.«
Ein Schatten legte sich über Kondōs Gesicht. Sein Blick wich dem des Freundes aus, seine Stimme jedoch klang ruhig und beherrscht, als er einen der Hausangestellten aufforderte, Sōjirō zu holen.
Hijikata beobachtete den Älteren einen Moment lang eindringlich. Obwohl Kondō sich Mühe gab, nach außen hin gefasst zu wirken, konnte Hijikata den Aufruhr in seinem Inneren regelrecht am eigenen Körper spüren. Und dennoch war er nicht in der Lage, sich zurückzuhalten.
»Kondō-san?«, fragte er ernst, und sein ungewöhnlich distanzierter Tonfall ließ den Freund aufschauen.
Hijikatas Blick bohrte sich in den des anderen. »Hast du gewusst, was diese Jungen dem Kleinen antun?«, fragte er kalt.
Kondō zuckte zusammen, als wäre jedes seiner Worte eine Klinge, die sich direkt in sein Herz bohrte. »Ich wusste, dass sie ihn ärgern«, antwortete er leise, und diesmal schwankte seine Stimme. »Aber natürlich wusste ich nicht, wie schlimm es wirklich ist.«
Schmerz breitete sich in seinen Augen aus, aber Hijikata ignorierte es.
»Und wenn du es wusstest«, zischte er, drehte die Klinge, die er dem Freund ins Herz gestoßen hatte, unbarmherzig herum, »warum hast du dann nicht eingegriffen? Warum hast du den Jungen, den du als deinen Bruder bezeichnest, nicht beschützt?«
Kondō schluckte hart, fand jedoch seine Fassung wieder. »Sōjirō-kun ist ein Krieger«, erklärte er ruhig. »Er ist Bushi. Hätte ich ihn unter meine Fittiche genommen wie eine Glucke ihr Küken, hätte ich ihn nur gedemütigt. Ich hätte damit den anderen Jungen gegenüber angedeutet, dass er nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. Dass er schwach ist. Und dafür hätten sie ihn nur noch mehr verachtet. Ich hätte kein Recht gehabt, seinen Stolz derart zu verletzen.«
»Seinen Stolz?« Hijikata spuckte das Wort aus, als wäre es ein giftiger Pfeil. »Diese Jungen sind zu viert auf ihn losgegangen! Sie haben seinen Fuchs getötet! Ich habe heute Morgen gesehen, wozu Sōjirō-chan fähig ist. Aber ich habe keinen Bushi gesehen. Ich habe ein Kind gesehen, das so von Verzweiflung erfüllt war, dass es kaum mehr etwas Menschliches an sich hatte!«
Kondō erbleichte, und Hijikata erkannte, dass er gewonnen hatte. Sein Zorn erlosch. Sanfter nun neigte er den Kopf vor dem Freund. »Ich gehe den Jungen suchen«, erklärte er, eigentlich nur, um der Situation zu entweichen, und wandte sich ab.
Warum er sich plötzlich so sehr für Sōjirō, den er nicht mal leiden konnte, einsetzte, wusste er selbst nicht. Vielleicht, weil die Bande des Schicksals niemals nur in eine Richtung wirkten. Sōjirō hatte ihn durchschaut, hatte in seine Seele geblickt. Aber Hijikata hatte dabei auch einen Blick in das Innere des Jungen erhascht. Und dann war da noch dieser ersterbende Schrei gewesen … Hijikata-san … Als wäre der Junge ein Ertrinkender, der sich verzweifelt irgendwo festzuklammern suchte. Hijikatas Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.
Er trug keine Verantwortung für dieses Kind. Es hätte ihm so gleichgültig sein können wie die meisten Menschen es waren. Aber aus Gründen, die er selbst noch nicht begriff, war es das nicht.
Er war gerade dabei, in seine Sandalen zu schlüpfen, als der Bursche, den Kondō vorhin geschickt hatte, im Laufschritt zurückkehrte.
»Kondō-sensei!«, rief er keuchend. »Sōjirō-kun ist nicht in seinem Zimmer! Und seine Schwerter sind auch fort!«
Kondō und Hijikata tauschten einen erschrockenen Blick. Hijikata hatte den Jungen fortlaufen sehen, doch bisher war er ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Sōjirō sich irgendwo im Haus, in seinem Zimmer oder im Garten verkrochen hatte. Innerhalb des Dōjōs jedoch hatte er den Kleinen noch nie echte Schwerter tragen sehen. Dass er die Klingen mitgenommen hatte, konnte nur eines bedeuten: Sōjirō war fortgelaufen – und er hatte nicht vor zurückzukehren.
»Wo kann er sein?«, fragte Hijikata hektisch.
Kondō wirkte gequält. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er zurück zu seiner Schwester, Mitsu-san.«
Hijikata seufzte tief. »Dann geh zu Mitsu-san«, erklärte er entschlossen. »Vielleicht kannst du ihn noch einholen. Ich frage bei den Nachbarn, ob ihn dort jemand gesehen hat.«
Und ohne die Antwort des Freundes abzuwarten, lief er los.
***
Von den Nachbarn hatte keiner den Jungen gesehen, und auch im nahegelegenen Schrein, wo der Kleine sich wohl gerne herumtrieb, fand Hijikata ihn nicht. Als er ins Dōjō zurückkehrte, war es bereits Nachmittag, Kondō aber war noch nicht zurück.
Inoue Genzaburō, der älteste Schüler des Dōjōs und entfernter Verwandter von Sōjirōs Schwager, hatte bereits die üblichen Spielplätze des Jungen abgesucht, aber keine Spur von ihm entdeckt.
Lautlos fluchte Hijikata in sich hinein. Wo um alles in der Welt steckte der Kleine bloß? Und warum nur hatten sie es so weit kommen lassen?
Hijikata-san …
Der markerschütternde Schrei des Jungen wollte und wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Und dann plötzlich durchzuckte ihn eine weitere Erinnerung:
Der Fuchs ist mein Freund … Ich habe ihn am Waldrand gefunden, bei der verlassenen Scheune …
Hijikata kannte diesen Ort! Er lag außerhalb der Stadt, in der Nähe des Flussufers. Früher war dort ein Hof gestanden, aber er war abgebrannt und die Bewohner waren fortgezogen. Nur eine alte, halb verfallene Scheune war zurückgeblieben. Das musste es sein!
»Ich glaube, ich weiß, wo er ist!«, rief Hijikata triumphierend aus und wollte sich bereits abwenden, als Inoue ihn zurückhielt.
»Warten Sie, Hijikata-san! Es wird bald dunkel! Sie sollten nicht allein unterwegs sein. Ich werde Sie begleiten!«
Hijikata schüttelte den Kopf. »Nein, warten Sie lieber hier. Der Junge war heute Morgen völlig durcheinander. Wenn er von allein zurückkommt, dann wird er jemanden brauchen, der für ihn da ist.«
Inoue nickte verstehend. »Dann nehmen Sie wenigstens das hier mit!« Mit ernstem Gesichtsausdruck holte er eines der Schwerter von der Wand und hielt es Hijikata hin. Der jedoch blinzelte nur verblüfft, unfähig, danach zu greifen.
Er hatte bereits mit Holzschwertern trainiert, ein echtes Schwert hingegen war bisher völlig außerhalb seiner Reichweite gewesen.
»Bitte«, beharrte Inoue jedoch. »Zu Ihrem Schutz! Es gehört dem jungen Meister. Er hätte gewiss nichts dagegen.«
Zögerlich nahm Hijikata die Waffe entgegen, schob sie in seinen Gürtel und fühlte das ungewohnte Gewicht an seiner Hüfte zerren. Einen Moment lang spürte er das Blut in seinen Adern rauschen, spürte, wie sein Puls sich beschleunigte und hart gegen die Adern pochte. Dieses fremd vertraute Gewicht, die Klinge des Freundes an seiner Seite, es fühlte sich merkwürdig gut an. Als wäre er mit einem Mal unbesiegbar.
Hastig riss er sich zusammen, verdrängte die seltsame Empfindung und dachte wieder an Sōjirō. Inoue hatte Recht: Die Dämmerung würde bald hereinbrechen, und wenn es schon für einen Erwachsenen zu gefährlich war, allein im Dunkeln herumzustreifen, wollte er sich gar nicht ausmalen, wie es für einen neunjährigen, noch dazu verletzten Jungen sein musste.
Eilig nickte er Inoue zu, verließ das Dōjō und rannte los.
»Sōjirō-chan!«, brüllte er mit vollem Stimmaufwand, während er den schmalen Trampelpfad über die Felder entlanglief und dabei aufmerksam jeden Busch, jeden Strauch und jedes Grasbüschel mit den Augen abtastete. Im Grunde wusste er, wie aussichtslos die Aktion war. Der Junge konnte überall sein. Und wenn er nicht gefunden werden wollte, dann …
Er führte den Gedanken nicht zu Ende, stapfte stattdessen weiterhin grimmig vorwärts, schrie den Namen des Jungen, stolperte über eine Wurzel und rannte fluchend weiter und immer weiter, obwohl ihm bereits die Lungen brannten vor Anstrengung.
Neben ihm rauschten die Gräser im Wind, und als er den Blick gen Himmel hob, erkannte er, dass sich bedrohlich finstere Wolken über ihm gesammelt hatten. Beunruhigt ballte er die Hand zur Faust. Regen war das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte!
Noch allerdings war es trocken, noch war es nicht dunkel. Aber er musste den verdammten Jungen schnell finden!
Endlich erreichte er das Flussufer, und jenseits der schmalen Holzbrücke erhoben sich in der Ferne die Umrisse der alten Scheune. Schaurig sah sie aus im Schatten der schweren Wolkenfetzen, und plötzlich war Hijikata ganz und gar nicht mehr sicher, ob Sōjirō wirklich hierher gelaufen war. Hatte Kondō nicht irgendwann erzählt, der Junge fürchtete sich vor Geistern? Würde er dann ausgerechnet an so einen Ort fliehen, der bereits von Weitem aussah, als wäre es dort nicht geheuer?
Aber er musste es wenigstens versuchen! Immer noch Sōjirōs Namen brüllend lief er rasch auf die Brücke zu – und bemerkte erst jetzt die drei Gestalten, die am anderen Flussufer am Brückenkopf herumlungerten.
Unwillkürlich spannten sich Hijikatas Muskeln an, die Schritte verlangsamten sich. Inoue hatte Recht gehabt: Die Gegend war nicht sicher, allzu viele finstere Gestalten durchstreiften sie dieser Tage.
Aber Hijikata würde sich davon nicht aufhalten lassen! Den Kopf hoch erhoben, die Hände zu Fäusten geballt, überquerte er die Brücke, nickte den drei Gestalten höflich zu – und wollte einfach an ihnen vorübergehen, als sich ihm ein grobschlächtiger Kerl mit unrasiertem Gesicht und von Trunkenheit umwölkten Augen provozierend entgegenstellte.
Hijikata seufzte innerlich. Warum konnten ihn diese Bastarde nicht einfach in Ruhe lassen?
»Hey, was brüllst du durch die ganze Gegend wie ein Verrückter?«, bellte sein Gegenüber Hijikata entgegen. »Hast du keine Manieren?«
Hijikata richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Wer will das wissen?«, gab er ungerührt zurück, während er gleichzeitig versuchte, die Kerle mit einem einzigen Blick abzuschätzen. Sie trugen Schwerter an den Hüften, und ihre Hände spielten kampfbereit an den Griffen. Der Kleidung und den Frisuren nach zu urteilen waren es Rōnin. Herrenlose Samurai. Und zwar offenbar von der üblen Sorte, der Sorte, die Reisende überfiel, Bauern und Handwerker tyrannisierte und Kaufleute erpresste.
Kalte Verachtung legte sich um Hijikatas Herz. Genau diese Art von Typen waren es, die er am meisten hasste. Im Grunde waren sie nichts als Gesindel, und doch glaubten sie, sich über andere erheben zu dürfen, nur, weil sie Schwerter in ihren Gürteln trugen.
Heute aber, heute trug auch Hijikata ein Schwert, und für gewöhnlich hätte er nicht gezögert, sich mit ihnen anzulegen. Aber er hatte Dringlicheres zu erledigen. Er musste den Jungen finden, denn die Dämmerung setzte bereits ein!
»Geh mir gefälligst aus dem Weg, Hund!«, fuhr sein Gegenüber ihn an, obwohl streng genommen er es gewesen war, der Hijikata den Durchgang versperrt hatte. Drohend trat er einen Schritt näher.
Hijikata wich ein Stück zurück. »Hör zu, ich habe keinen Streit mit euch«, erklärte er ruhig. »Wieso geht ihr nicht einfach weiter?« In einer weit ausholenden Geste machte er den Weg über die Brücke frei, trat dabei von ihr herunter und brachte damit ein weiteres Stück Abstand zwischen sich und den Fremden.
»Keinen Streit?« Einer der anderen Männer stellte sich neben seinen Freund und musterte Hijikata verächtlich. »Du bist doch dieser Arzneimittelhändler aus Hino, oder? Hijikata?«
Überrascht zuckte Hijikata zusammen, wich dem funkelnden Blick des anderen aber nicht aus. »Und wenn es so wäre?«, gab er vermeintlich gelassen zurück, während er bereits spürte, wie das Blut in seinen eigenen Ohren rauschte.
»Du hast meiner Schwester schöne Augen gemacht«, antwortete der Fremde und spuckte vor Hijikata ins Gras. »Und dann hast du sie einfach fallen gelassen! Du hast ihr das Herz gebrochen, du Schwein!«
Dies allerdings klang ganz nach etwas, das Hijikata getan haben könnte, obwohl er nicht die geringste Ahnung hatte, wer dieser Kerl sein mochte. Oder seine Schwester.
Geradezu von selbst schmiegte sich seine Hand um den Schwertgriff an seiner Hüfte. Wie vorhin im Dōjō spürte er, wie das Gewicht des Metalls ihm ein Gefühl nie gekannter Stärke einflüsterte. Sein Puls beschleunigte sich, die Muskeln spannten sich an wie bei einem zum Sprung bereiten Tiger. Hijikata hatte bereits die Mitglieder verschiedener Dōjōs herausgefordert. Er hatte mit Holzschwertern trainiert und er hatte durchaus die ein oder andere Prügelei überstanden. Doch es sah ganz so aus, als würde dies sein erster ernsthafter Kampf werden.
»Ich habe keine Ahnung, wer deine Schwester ist«, antwortete er, bewusst provozierend. »Aber sie hat sicher gewusst, was sie tat!« Und mit einem bösen Grinsen fügte er hinzu: »Wahrscheinlich hat sie es sogar genossen!«
Sein Plan ging auf. Wut explodierte im Gesicht des Fremden. Brüllend zog er sein Schwert und ging auf Hijikata los.
Aber Hijikata hatte diese Reaktion bereits vorausgeahnt, und da die Bewegung des anderen unkontrolliert war und von Zorn getrübt, hatte er Zeit genug, seine eigene Waffe zu ziehen und den Angriff des anderen mühelos abzuwehren.
Stahl klirrte auf Stahl, als die beiden Klingen aufeinanderprallten. Vor Anstrengung keuchend drückte Hijikata die Waffe des Gegners zur Seite, zog seine eigene Klinge zurück und ließ sie dann mit einem blitzartigen Streich vorschnellen.
Die Schneide traf den Fremden am Hals, glitt mit einer Leichtigkeit, die Hijikata selbst überraschte, durch Haut und Fleisch. Blut spritzte auf.
Die Augen des anderen weiteten sich. Mit einem gurgelnden Schrei brach er zusammen und blieb zuckend liegen.