Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Zitat
Lilas Playlist
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Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Kim Nina Ocker bei LYX
Impressum
Everything
I didn’t say
Roman
Jamie Evans ist überglücklich, als sie eine Praktikumsstelle bei der erfolgreichen TV-Serie Chicago Hearts ergattert. Endlich kann sie Berufserfahrung sammeln und ihrem Traum, nach dem Studium am Theater zu arbeiten, einen Schritt näherkommen. Das Herzklopfen, das sie vom ersten Moment an in der Nähe des jungen Schauspielers Carter Dillane spürt, kann sie allerdings ganz und gar nicht gebrauchen, zumal es dessen Lieblingsbeschäftigung zu sein scheint, ihr das Leben am Set so schwer wie möglich zu machen. Doch je mehr Zeit sie mit ihm verbringt, desto heftiger sprühen zwischen ihnen die Funken – auch wenn sie beide wissen, dass sie unbedingt die Finger voneinander lassen müssen. Nicht nur, weil Jamie auf keinen Fall ihren Job als Dramaturgieassistentin verlieren will, sondern auch, weil Carter als Star der Show vertraglich dazu verpflichtet ist, keine Beziehung zu führen. Als sie sich auf einer Party aber so nahe kommen wie nie zuvor, können sie dem Prickeln zwischen ihnen nicht länger widerstehen – nicht ahnend, dass diese gemeinsame Nacht Folgen haben wird, die sowohl Jamies als auch Carters Leben gehörig auf den Kopf stellen …
Für Tarik. Für alles.
»Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde.«
Jean Paul
Dynoro & Gigi D’agostino – In My Mind
»Vaiana«, Andreas Bourani – Voll Gerne
»Die Eiskönigin«, Willemijn Verkaik & Pia Allgaier –
Zum Ersten Mal
»Die Schöne Und Das Biest«, Josh Gad – Gaston
One Voice Children’s Choir – Believer
Alcazar – Crying At The Discoteque
»Mulan«, Stefan Erz & Caroline Vasicek & Otto Waalkes & Thomas Piper & Sebastian Krumbiegel & Uwe Adams –
Sei ein Mann
»Vaiana«, Tommy Morgenstern – Glänzend
Andrew Belle – In My Veins
Passenger – Let Her Go
Es gibt viele Arten von Geschichten und mindestens ebenso viele Gründe, sie zu erzählen. Am beliebtesten sind wohl diejenigen, die mit einem Happy End abschließen. Mit Pauken, Trompeten und Herzchen über den Worten. Doch eigentlich ist das vermeintliche Happy End lediglich eine Momentaufnahme. Ein kurzes Standbild einer idealen Vorstellung. Danach folgen oft Jahre, manchmal Jahrzehnte, in denen uns das Leben übel mitspielen kann. Wer weiß, ob Cinderella und ihr Prinz – hat man eigentlich je erfahren, wie der Typ heißt? – sich nach vierzig glücklichen Ehejahren nicht getrennt haben? Eine hässliche Scheidung mit einem blutigen Rosenkrieg um das Königreich und die gemeinsamen Kinder. Nein, Happy Ends sind nicht für die Ewigkeit. Lediglich kurze Einblicke, wie der verstohlene Blick durch die Fenster fremder Menschen, bevor man weitergeht. Deswegen lieben wir Geschichten. Weil wir am schönsten Punkt aufhören uns mit ihnen zu beschäftigen. Wir können uns einreden, dass diese Momentaufnahme ewig währt.
Meine eigene Geschichte hat viele Happy Ends – viele Momente, in denen ich gerne auf ›Stop‹ gedrückt und das Standbild für immer im Herzen eingeschlossen hätte. Und dann ging es weiter.
Sie können mich nicht sehen. Zumindest versuche ich mir das einzureden, während ich aus dem dunklen Wohnzimmer auf die schwach beleuchtete Straße hinausblicke. Wie ich mich hier hinter die Gardinen drücke, jederzeit bereit mich zu ducken oder mich auf den Bauch fallen zu lassen, komme ich mir vor wie eine schlechte Geheimagentin. Das ist doch lächerlich! Es ist lächerlich, dass ich mich in meinem eigenen Haus verstecke und es ist lächerlich, dass mein Herz jedes Mal schneller schlägt, wenn es an der Tür klingelt. Als würde ich auf ihn warten.
Vielleicht tue ich das ja wirklich, trotzdem ist das kein Grund für ein Gefühlschaos. Der Grund, warum ich allein bei dem Gedanken an ihn schwitzige Hände bekomme, ist ganz einfach: Ich bin so wütend, dass ich platzen könnte. Das hier ist seine Schuld. Ausnahmslos, von vorne bis hinten. Schließlich bin ich keine derart spannende oder interessante Person, dass es diese Reportermeute rechtfertigt. Nein, er ist derjenige, der sich durch Actionfilme oder Fernsehschnulzen schleimt und damit aus irgendeinem mir nicht ersichtlichen Grund haufenweise Fans um sich schart.
Olle Speichellecker.
Nicht, dass Carter kein Talent hat. Im Gegenteil. Allerdings ist er in den vergangenen Jahren von seinem Vater und seinem beschissenen Agenten offenbar derart ausgelaugt worden, dass es nur noch für mittelmäßige, anspruchslose Produktionen reicht. So eine Verschwendung.
»Was machst du da?«
Ich zucke zusammen und werfe mich tatsächlich beinahe bäuchlings auf den Wohnzimmerboden, als Dad ins Zimmer kommt. Im Gegensatz zu mir geht er nicht geduckt oder versucht sich im Schatten zu halten, um von der Straße aus nicht gesehen zu werden.
Ich drehe mich wieder um und beobachte einen der Kerle, der gerade seine Kamera überprüft. Mein Blick schweift durch die Nachbarschaft. Hier und da schwingt eine Gardine zurück an ihren Platz oder eine Haustür wird verstohlen geöffnet. Ich bin definitiv nicht die Einzige, die sich für das Chaos da draußen interessiert.
»Haben die denn alle kein Privatleben?«, frage ich, ohne meinen Vater anzusehen.
Er seufzt, halb belustigt, halb wütend. »Deines scheint im Moment interessanter zu sein.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich geschmeichelt fühlen soll.«
Eine Weile sagt keiner von uns beiden etwas, dann stellt er sich neben mich und sieht ebenfalls hinaus. »Hat er sich schon gemeldet?«
Scheinbar unbeeindruckt zucke ich lediglich mit den Schultern. Dass mein Herz in diesem Augenblick bei seinen Worten erneut schmerzhaft stolpert, muss er nicht unbedingt wissen. »Ganz ehrlich«, sage ich leise. »Ich hab keine Ahnung. Bei den ganzen unbekannten Anrufern könnte er durchaus dabei sein.«
»Ich bin mir sicher, dass wir den Kontakt herstellen könnten«, bemerkt mein Vater und deutet auf die Männer und Frauen, die auf unserem Gehweg ihr Lager aufgeschlagen haben, »bei allem was hier los ist.«
Ich beiße die Zähne zusammen. »Das ist nicht meine Aufgabe.«
»Denk an …«
»Ich weiß«, unterbreche ich ihn, weil ich es nicht ertragen kann, dass er den Satz zu Ende spricht. Ich weiß, woran er denkt – woran ich denken sollte. Er hat recht, auch das weiß ich, doch das ist ein Problem, mit dem ich mich heute Abend nicht mehr beschäftigen werde. Vielleicht morgen. Vielleicht auch nie, ich habe mich noch nicht entschieden.
»Was machen wir jetzt?«, fragt Dad.
»Keine Ahnung«, seufze ich, froh, dass er das Thema nicht vertieft. »Die Polizei sagt, dass sie nichts tun können, solange die Leute unser Grundstück nicht mehr betreten.«
Er brummt, was er ziemlich oft tut. Allerdings kenne ich meinen Vater gut genug, um seine verschiedenen Brummer unterscheiden zu können. Dieser hier zeigt eine Mischung aus Wut, Unzufriedenheit und einer Spur Ratlosigkeit.
»Wie haben sie dich gefunden?«
Wieder zucke ich mit den Achseln. »Tut eigentlich nichts zur Sache, oder? Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass sie so lange gebraucht haben.«
»Immerhin kann man nicht behaupten, dass unser Leben langweilig ist.«
Mir entfährt ein trockenes Lachen. »Langweilig klingt im Moment gar nicht schlecht.«
Wieder ein Brummen, diesmal ein zustimmendes. Dann macht er einen Schritt vor, zieht ruckartig die Gardinen zu und versperrt mir damit die Sicht auf unsere Besucher. Als ich protestieren will, legt er mir einen Arm um die Schultern und schiebt mich energisch Richtung Treppenhaus. »Morgen wird sicher ein langer Tag«, meint er unheilvoll und zieht mich an sich. »Geh schlafen. Vielleicht sieht die Welt mit einem bisschen Tageslicht schon ganz anders aus.«
Das wage ich ernsthaft zu bezweifeln.
Nervös strich ich über meine Bluse, als ich aus der Bahn stieg und dabei den Pfützen auswich, die den Asphalt säumten. Die letzten Tage hatte es durchgehend geregnet und bei meinem Glück würde ich als Erstes in eine von ihnen treten und mich komplett einsauen. Das würde zu mir passen. Gleich an meinem ersten Tag erklären zu müssen, warum ich aussah wie frisch aus der Gosse gekrochen.
Mein erster Tag. Wahnsinn!
Ich war anfangs nicht gerade begeistert von dieser Praktikumsstelle gewesen, weil Chicago Hearts, eine überdramatisierte Seifenoper, nicht wirklich zu meinen bevorzugten Genres gehörte. Doch je näher der heutige Tag gerückt war, desto aufgeregter war ich geworden. Nein, das kam nicht dem Chicago Theatre oder dem Oriental Theatre gleich – keine Produktion der großen Klassiker, wie ich es mir wünschte. Lediglich eine kleine Fernsehserie, die nicht einmal zur besten Sendezeit lief und mit Newcomern oder Nobodys besetzt war. Doch das war mir egal. Es war eine Produktion, ein professionelles Set mit professioneller Ausrüstung und einem Skript. Das allein reichte, um mein Herz vor Freude ein wenig höherschlagen zu lassen.
Das Studio von CLT Productions, meinem Arbeitgeber für die kommenden zwölf Monate, lag im Fulton River District, das überwiegend von alten Industriehallen geprägt war. In den letzten Jahren war das Viertel zu einer angesagten Adresse geworden – zahlreiche Läden und New-Age-Cafés hatten sich in den rauen Gebäuden niedergelassen und lockten immer mehr Menschen in die Gegend. Eine Mischung aus alternativer Szene und neureichen Anzugträgern drängte sich durch die Straßen, immer auf der Suche nach dem nächsten Trend. Mir persönlich gefiel der Industriecharme, ich hatte jedoch wenig für das Lebensgefühl übrig, dem die meisten dieser Hipstergeneration hier folgten. Ich aß Fleisch, ernährte mich meistens von Mikrowellengerichten, und mir fehlte schlicht und ergreifend die Zeit für Yoga oder dafür, Bäume zu umarmen. Neben dem Studium arbeitete ich in einer Bar und einer kleinen Bücherei und war schon begeistert, wenn ich es schaffte, den Müll zu recyceln.
Zwischen all den Lädchen und Cafés erhob sich das Gelände von CLT, das ich jetzt ansteuerte. Mit jedem Schritt schien mein Herz schneller zu klopfen, was mir allmählich ein wenig Sorgen bereitete. Es schien ernsthafte Ambitionen auf einen Marathon zu entwickeln, allerdings war ich mir sicher, dass der Rest meines Körpers dem nicht zustimmen würde. Eigentlich hatte ich erwartet, gelassener zu sein. Ich war vor zwei Wochen bereits einmal hier gewesen, um meinen Mitarbeiterausweis abzuholen und ein paar Formulare auszufüllen. Da war ich lediglich in ein unspektakuläres Büro geführt worden und hatte von dem eigentlichen Studio nichts zu sehen bekommen.
Ich atmete einmal tief durch, straffte die Schultern und trat entschlossenen Schrittes an das Häuschen neben dem Eingangstor. Der beleibte Wachmann sah von seiner Zeitung auf und musterte mich skeptisch.
»Ja?«
»Mein Name ist Jamie Evans«, sagte ich mit fester Stimme und zückte stolz meinen Ausweis. »Ich arbeite hier.«
Der Typ warf einen langen Blick auf den Mitarbeiterausweis, wendete ihn sogar ein paar Mal, als wolle er ihn auf seine Echtheit prüfen. Jetzt war es an mir, fragend die Augenbrauen hochzuziehen. Hielt er mich etwa für einen Fan?
Nachdem der Wachmann sich ausgiebig davon überzeugt hatte, dass ich berechtigt war, das Gelände zu betreten, winkte er mich durch und öffnete das riesige Tor. Und ja, möglicherweise hörte ich einen kurzen Moment einen Engelschor in meinem Kopf singen. Ich mochte der Serie skeptisch gegenüberstehen, das änderte jedoch nichts an meiner Begeisterung für die Arbeit, die damit in Verbindung stand.
Als ich durch das Tor schritt, klopfte ich mir innerlich auf die Schulter. An meinem Selbstbewusstsein musste ich grundsätzlich noch arbeiten. Ich war zielstrebig und ehrgeizig, allerdings zweifelte ich manchmal daran, wie ich auf fremde Menschen wirkte. Was vielleicht auch der Grund dafür war, dass ich mich in die Arbeit hinter den Kulissen verliebt und nie daran gedacht hatte, selbst auf der Bühne zu stehen.
Seit ich denken konnte, wollte ich ans Theater. Es hatte keinen speziellen Auslöser gegeben, kein Ereignis, das diesen Wunsch in mir geweckt hatte. Mein Dad war Hausmeister an einer Highschool und hatte oft bei der Vorbereitung der Schulaufführungen geholfen. Es gab Fotos von mir, auf denen ich zwischen den Pappkulissen herumkrabbelte oder viel zu große Kostüme der älteren Schüler trug. In den letzten Jahren hatte ich so ziemlich alles werden wollen, was auch nur annähernd mit dem Theater zu tun hatte: Bühnenbildnerin, Maskenbildnerin, Kostümiere – und war schließlich in der Dramaturgie gelandet. Es gefiel mir, wie viele Aufgabenbereiche diese Arbeit abdeckte. Man musste alles im Auge behalten – von der Entwicklung und Einhaltung der Spielpläne bis hin zur Authentizität des Stücks. Man war quasi ein Koordinator, und es reizte mich, bei sämtlichen Bereichen einer Produktion eingebunden zu sein. Mein Ziel war nach wie vor das Theater, doch dieses Praktikum brachte mir wichtige Berufserfahrung, die sich hoffentlich später bezahlt machen würde.
Ich zog mein Handy aus der Hosentasche und öffnete die Mail, in der Pierce, der Dramaturg und mein zukünftiger Mentor, mir beschrieben hatte, wo ich mich melden sollte: durch das Tor, an der ersten Halle vorbei und zu dem Tor, auf dem die 2 steht.
Stirnrunzelnd sah ich auf und ließ den Blick über den Platz schweifen. Er war karg, aber ziemlich unübersichtlich, weil ständig Leute von A nach B hetzten. Meine Hände begannen aufgeregt zu kribbeln, als ich einen schmächtigen Mann dabei beobachtete, wie er einen gigantischen Kleiderständer über den nassen Asphalt schob. So richtig hatte ich immer noch nicht begriffen, dass ich jetzt beim Fernsehen arbeitete, auch wenn es sich lediglich um ein Praktikum handelte. Die letzten Wochen hatte ich mit Planung verbracht, mir Listen und Post-its geschrieben, um auf alles vorbereitet zu sein. Doch das war lediglich die Theorie gewesen. Wirklich hier zu sein versetzte mich derart in Aufregung, dass ich mich einen Moment sammeln musste. So mussten sich Kinder fühlen, die zum ersten Mal in ihrem Leben Disneyland betraten. Ein wenig orientierungslos sah ich wieder auf mein Handy, während ich vage in die Richtung ging, von der ich hoffte, dass sich dort Halle 2 befand. Ich würde mich definitiv nicht direkt an meinem ersten Arbeitstag verlaufen und zu spät kommen. Nein, das passte weder zu dem Eindruck, den ich hinterlassen wollte, noch zu meinem Wunscharbeitszeugnis.
»Hoppla!«
Ich stolperte und ruderte ein wenig mit den Armen, als ich jemanden mit der Schulter rammte. Jemanden, der ebenfalls zurückwich und spöttisch lachte, als ich überrascht die Luft einsog.
»Oh Gott, es tut mir leid!«, schrie ich beinahe. Ich leuchtete wahrscheinlich wie eine rote Ampel, als mein Blick dem des Kerls begegnete, den ich beinahe über den Haufen gerannt hätte. Ein ziemlich großer Kerl. Ich musste mich beinahe auf die Zehenspitzen stellen, um ihm ins Gesicht zu sehen, während er stirnrunzelnd auf mich herabblickte.
»Ich kenne dich nicht«, bemerkte er trocken und musterte mich eingehend, bevor sich ein wahnsinnig unechtes Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. »Suchst du vielleicht mich?«
Ich blinzelte verwirrt. Dieser Kerl war nicht Pierce, also warum hätte ich ihn suchen sollen? Pierce hatte lange blonde Haare, keine braunen wie dieser Typ. Und ja, Pierce sah auch nicht halb so gut aus, das musste ich zugeben.
»Ähm, nein«, sagte ich leise und versuchte mich krampfhaft an die Übungen zu erinnern, die meine Freundin Nell mir für den Fall gezeigt hatte, dass ich die Nerven verlor. »Nein, ich suche …«
Doch ich kam nicht einmal dazu, ihm zu sagen, was genau ich suchte. Stattdessen machte der Kerl einen Schritt auf mich zu, legte mir völlig selbstverständlich den Arm um die Schultern und zog mich an sich. »Keine Panik, Süße, ich sag es keinem. Es wundert mich ehrlich gesagt nicht, dass du an Greg vorbeigekommen bist. Er ist nicht gerade die hellste Kerze auf der Torte.«
Abgesehen davon, dass ich weder wusste, wer Greg war, noch, warum meine Anwesenheit irgendetwas über seine Helligkeit aussagte, brachte seine aufgesetzte Freundlichkeit mich völlig aus dem Konzept. Wer war der Kerl, und warum knuddelte er mich quasi?
»Sorry«, sagte ich leise, räusperte mich dann und machte mich energisch von ihm los. »Sorry, aber ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst oder wer du bist. Eigentlich suche ich nur Halle 2.«
Erneut runzelte er kurz die Stirn, ehe er sich wieder fing und mich anlächelte. »Soll ich irgendwo unterschreiben?«
»Was?!«
»Ein Autogramm«, sagte er langsam, als sei ich diejenige, die schwer von Begriff war. »Wir können auch ein Foto machen, aber wir sollten uns vielleicht ein bisschen beeilen, bevor dich jemand auf dem Gelände erwischt.«
Irritiert schüttelte ich den Kopf. »Hör mal«, sagte ich bemüht ruhig, »ich will weder ein Autogramm von dir noch ein Foto. Ich weiß nicht, wer du bist, und ich habe jedes Recht, hier zu sein. Jetzt lass mich bitte vorbei. Ich komme zu spät.«
Ich wartete gar nicht seine Antwort ab, sondern drängte mich einfach an ihm vorbei. Ich sah mich auch nicht mehr um, um mich zu vergewissern, dass der Kerl mir nicht folgte. Aus der Uni wusste ich, dass Schauspieler und Filmleute manchmal ein wenig merkwürdig waren. Nell befand sich lediglich in der Ausbildung und war bereits sonderbar.
Zu meiner Erleichterung fand ich Halle 2 recht schnell und hatte sogar noch ein paar Minuten, um mich zu sammeln, bevor ich die schwere Tür öffnete und das Set betrat. Den seltsamen Kerl verdrängte ich aus meinen Gedanken und konzentrierte mich auf das Hier und Jetzt. Mein neues Praktikum, der erste Tag vom Rest meines Lebens.
Ich kniff die Augen zusammen, bis sie sich an das schummrige Licht gewöhnt hatten. Das Erste, was mir auffiel, waren die vielen Menschen. Genau wie draußen auf dem Gelände wuselten überall Leute herum, mit ernsten und wahnsinnig professionellen Gesichtern. Einige von ihnen standen herum und beratschlagten sich, andere schleppten Requisiten durch die Gegend oder riefen einander Fachbegriffe zu, mit denen ich nur teilweise etwas anfangen konnte. Kameras ragten zwischen zahllosen Kabelsträngen auf, Scheinwerfer thronten auf Gerüsten oder hingen von der Decke, und dünne Wände unterteilten die eigentlich gigantische Halle in einzelne Separees, in denen verschiedene Räumlichkeiten nachgebaut waren.
Das hier war dermaßen cool, dass ein hysterisches Quieken in meiner Brust aufstieg.
»Hey, Jamie!«
Ich riss meinen Blick von dem geordneten Chaos los und sah mich nach der Person um, die meinen Namen gerufen hatte. Nach ein paar Sekunden entdeckte ich Pierce, der mit einem breiten Lächeln auf mich zukam.
Erleichtert atmete ich aus. Ich hatte Pierce erst zwei Mal getroffen – einmal zum Bewerbungsgespräch und ein zweites Mal, als ich wegen der Papiere hier gewesen war –, hatte ihn aber auf Anhieb gemocht. »Hey, Pierce«, sagte ich und ließ mich von ihm in eine flüchtige Umarmung ziehen. »Ich hab hergefunden!«
»Das sehe ich«, meinte er grinsend, stellte sich neben mich und deutete zum Set. »Willkommen in der Hölle, liebe Jamie.«
»Das klingt aufmunternd.«
Er zwinkerte. »Wenn man sich einmal an das Chaos und den Lärm gewöhnt hat, macht es Spaß, versprochen.«
»Wenn du das sagst«, murmelte ich und versuchte den Anflug von Angst niederzukämpfen, der in mir aufkam. Das hier war meine Chance, mein erster Schritt Richtung Zukunft. Ich würde das schaffen, und ich würde großartig sein. Mein Studium abschließen, eine Stelle als Dramaturgieassistentin bekommen. Mich hocharbeiten und irgendwann einmal den dramaturgischen Bereich einer großen Theaterproduktion übernehmen. Ich hatte einen genauen Plan, was meine berufliche Zukunft anging, und ich war fest entschlossen, ihn in die Tat umzusetzen. Fahrig glättete ich meine gepunktete Bluse, die ich mir extra für heute gekauft hatte, genau wie die dunkle Jeans und die schwarzen Ballerinas. Neue Kleidung war für mich eine Seltenheit – dafür reichte das Geld einfach nicht. Und auch wenn es für diese Stelle keinen Dresscode gab, hatte ich das Trinkgeld von einer Woche zusammengeklaubt und war mit Nell shoppen gegangen. »Passt das?«, fragte ich und ließ mich von Pierce mustern. »Ich wusste nicht genau, was ihr erwartet.« Ich hatte versucht, es herauszufinden, doch die Dame am Telefon war genauso ratlos gewesen wie ich.
Pierce winkte lächelnd ab. »Du bist super so. Es gibt hier Leute, die kommen in Jogginghose ans Set, also mach dir keine Gedanken.«
Ich nickte erleichtert, auch wenn ich jetzt schon wusste, dass ich mir morgen wieder über meine Garderobe den Kopf zerbrechen würde. So war ich einfach.
»Komm mit, ich zeige dir, wo du deine Sachen abladen kannst«, rief er und drehte sich bereits um. Hastig heftete ich mich an seine Fersen, während ich mich umsah und mich bemühte, so viel wie möglich von meiner Umgebung aufzunehmen. Was gar nicht so einfach war, weil ich nebenbei versuchen musste, weder über eines der Kabel zu stolpern, noch gegen irgendeinen Scheinwerfer zu rennen oder mit anderen Menschen zu kollidieren. Hier war eindeutig Multitasking gefragt.
Ich folgte Pierce an ein paar Sets vorbei, von denen ich einige sogar wiedererkannte. Natürlich hatte ich mir die Serie angeschaut, bevor ich meinen Praktikumsvertrag unterschrieben hatte. Ich erkannte das Wohnzimmer der Clarks – eine reiche Familie, die in den fünf Folgen, die ich mir angesehen hatte, so viele Dramen erlebt hatte, dass es vermutlich für ein ganzes Leben reichte – und einen großen Raum, der offensichtlich einen Ballsaal darstellen sollte, auch wenn sich die Kulissen noch im Aufbau befanden. Eine Wand bestand aus einem Greenscreen, und einige der Möbel waren noch an die Wand gerückt und warteten auf ihren Einsatz.
»Hier ist der Pausenraum für die Mitarbeiter«, erklärte Pierce und öffnete eine unscheinbare Tür zu einem Raum, in dem ein paar Tische und eine Kaffeemaschine standen. »Du kannst deine Sachen erst mal hierlassen, später bekommst du einen eigenen Spind.«
Ich nickte und legte mein Zeug auf einen der Stühle in der Ecke, dann strich ich über meine Bluse und salutierte vor Pierce. »Alles klar, ich bin bereit zum Dienst.«
Er lachte. »Gut zu wissen. Allerdings hatte ich gedacht, dass wir mit einer Führung anfangen. Es ist wichtig, dass du dich auskennst, damit ich dich alleine losschicken kann.«
Wir passierten die üblichen Stationen, während Pierce mir die verschiedenen Sets und Wege zeigte und mir Kolleginnen und Kollegen vorstellte, deren Namen ich meist nach einer halben Stunde schon wieder vergessen hatte. Mir brummte der Kopf, dennoch sog ich jeden Anblick, jede Information, jedes noch so unbedeutende Wort auf. Ich folgte Pierce und spürte mein Herz vor Aufregung wild in meiner Brust schlagen. Als könnte es genau wie ich einfach nicht fassen, dass wir tatsächlich hier waren.
Die einzelnen Sets waren um einiges kleiner, als es im Fernsehen wirkte, die gesamte Halle war allerdings gigantisch. Neben den Bühnenbildern verschiedener Räume gab es Sitzgruppen, in denen Menschen mit Klemmbrettern sich wichtig aussehend beratschlagten, Stationen für die Maske und den Ton sowie Büfetttische, auf denen Getränke und Snacks für die Mitarbeiter standen. Das hier war eine eigene kleine Stadt, nur ohne Tageslicht. Wobei die unzähligen Scheinwerfer diesen kleinen Makel locker ausglichen.
»Als Nächstes gehen wir in den Personalraum«, informierte Pierce mich und winkte mich zu einem Seitengang, in dem es etwas ruhiger zuging. »Da lernst du die Schauspieler kennen.«
»Gibt es keine silbernen Trailer im Hinterhof?«, fragte ich und lachte atemlos. Die Aussicht auf ein Treffen mit den Schauspielern machte mich plötzlich nervös. Sie mochten allesamt eher kleine Lichter in der Schauspielerwelt sein, doch ich wusste von Nell, wie schwierig es war, in dieser Branche eine Anstellung zu bekommen. Sie hatten hart für ihre Position gearbeitet und Erfolg mit dem, was sie taten – das flößte mir Ehrfurcht ein. Ich fühlte mich wie ein kleines Mädchen, das neu in die Klasse kam.
Trotz meiner Aufregung straffte ich die Schultern und machte mich innerlich größer, so wie Nell es mir gesagt hatte. Sicheres Auftreten war das A und O.
Pierce lachte. »Ich fürchte, dafür reicht die Gage nicht. Komm.«
Bevor ich mich noch weiter beruhigen konnte, öffnete er erneut eine schlichte Tür und trat zurück, damit ich vorangehen konnte. Ich wünschte, er hätte das nicht getan. Denn sobald wir eintraten, verstummten die Gespräche, und die Leute sahen uns erwartungsvoll entgegen.
»Was gibt’s?«, fragte eine große Frau mit zurückgebundenen Haaren. Sie trug breite Klammern links und rechts von ihrem Pony. Offensichtlich musste sie noch einmal in die Maske, bevor es vor die Kamera ging. Ich erkannte sie aus der Serie, konnte sie aber nicht auf Anhieb zuordnen.
»Ich wollte euch kurz Jamie vorstellen«, verkündete Pierce und zog mich neben sich. Alle Augen richteten sich prompt auf mich. »Sie ist die neue Praktikantin und wird mir in den nächsten Monaten ein paar Aufgaben abnehmen. Falls sie also auf einen von euch zukommt, wisst ihr, wo sie hingehört.«
Die Aufmerksamkeit machte mich noch nervöser, und ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoss. Trotzdem zwang ich mich den Blick zu heben und meinen neuen Kollegen zu begegnen.
Es waren sechs, und jeder von ihnen schien in unterschiedlichen Stadien der Maske und des Kostüms zu stecken. Ein blonder Kerl, von dem ich wusste, dass er den fiesen Bruder des Protagonisten spielte, trug einen weißen Bademantel und hatte nasse Haare. Die zierliche Frau an seiner Seite hatte Lockenwickler in den Haaren, und einem weiteren braunhaarigen Mann fehlte das Hemd. Einen Moment lang klebte mein Blick förmlich an unrealistisch glänzenden Brustmuskeln, dann riss ich mich zusammen und zwang mich, dem Typen ins Gesicht zu sehen.
Und sog scharf die Luft ein. Das war der merkwürdige Kerl, den ich vorhin auf dem Hof beinahe über den Haufen gerannt hatte.
Na wunderbar.
Mein Selbstbewusstsein schrumpfte mit jeder Sekunde mehr in sich zusammen. Wahrscheinlich wirkte ich in diesem Moment tatsächlich wie der Fan, für den er mich vorhin fälschlicherweise gehalten hatte – mit eingezogenem Kopf, hochrotem Gesicht und verzweifelt nach Worten suchend.
Aber ich war kein Fan. Ich hatte verdammt noch mal genau das gleiche Recht, am Set zu sein, wie er. Zumindest hätte Nell das mit Sicherheit zu mir gesagt, wäre sie hier gewesen. Also hob ich ruckartig den Kopf und begegnete dem selbstsichersten Lächeln, das ich je gesehen hatte. Eine Reihe gerader weißer Zähne, volle Lippen und perfekt unperfekte Bartstoppeln. Der Kerl wirkte beinahe unecht, wie eine überdimensionale Ken-Puppe.
»Ich kenne dich«, sagte er, bevor ich den Mut finden konnte, den Mund aufzumachen.
Ich nickte. »Ich habe dir ja gesagt, dass ich nicht deinetwegen hier bin.«
Sein Lächeln wurde eine Spur breiter – und eine Spur arroganter. »Das bleibt abzuwarten, würde ich sagen.«
Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Trotzdem hielt ich seinem Blick stand und zog eine Augenbraue hoch. Mir war klar, dass die anderen uns wahrscheinlich ansahen und sich fragten, was genau wir da taten. Etwas sagte mir, dass dieser Kerl zu einem Problem werden könnte, wenn ich nicht aufpasste. Er war derart von sich überzeugt, dass eine linkische, leicht zu beeindruckende Praktikantin für ihn wahrscheinlich ein gefundenes Fressen war.
Ich starrte ihn förmlich an, definitiv nicht gewillt, dieses Blickduell zu verlieren. Dann streckte ich ihm die Hand entgegen. »Wie gesagt, ich bin Jamie.«
Er schlug ein, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Freut mich, Jamie.«
Ein paar Sekunden vergingen, allerdings tat er nichts, als mich weiter anzusehen. Allmählich begann meine Hand in seinem festen Griff zu kribbeln, doch ich würde sie ihm nicht entziehen. »Und du bist …?«
Ich wusste wirklich nicht, wer er war. Entweder war er in den Folgen, die ich mir angesehen hatte, nicht vorgekommen, oder er war noch recht neu in der Serie.
Jetzt war es an ihm, eine Braue hochzuziehen. »Pierce, was hast du dem Mädchen überhaupt beigebracht?«
Pierce lachte hinter mir. »Nur das Wichtigste, Carter. Da gehörst du nicht dazu, tut mir leid, Mann.«
Carter schnaubte und umfasste meine Hand einen Sekundenbruchteil fester, bevor er mich losließ. Am liebsten hätte ich erleichtert aufgeatmet, doch das hätte meine gerade demonstrierte Coolness zunichtegemacht. »Man sieht sich, Jamie.«
»Lässt sich wohl nicht vermeiden.«
Er blinzelte, dann lachte er. Bevor er etwas erwidern konnte, wurde ich vom übrigen Team umringt. Sie alle stellten sich vor, erzählten mir teilweise von ihrer Rolle und wünschten mir für mein Praktikum alles Gute. Sie waren freundlich, und keiner von ihnen wirkte so verwirrend wie dieser Carter. Mein Eindruck von ihm änderte sich auch dadurch nicht, dass er die ganze Zeit in einer Ecke stand und mich beobachtete.
Entweder war er echt gruselig oder echt interessant. Ich hatte mich noch nicht entschieden.