Washington D. C. ist staatstragend und rebellisch, ernst und leicht, ehrwürdig und funky, sicherheitsfanatisch und locker, historisch und futuristisch, kulturell und kultig, bieder und cool. Die Stadt hat seit ihrer Gründung die Aufgabe, Widersprüche in sich zu vereinen. Sie gehört zu den Nordstaaten ebenso wie zu den Südstaaten. Das merkt man schon am Wetter: tropisch heiß und feucht im Sommer, manchmal auch südlich milde Winter, nicht selten aber auch nördlich kalt mit Schneebergen und Glatteis. Washington ist aufregend und entspannend, eine Metropole mit ländlicher Idylle, politisches Hauptquartier mit exotischen Nischen. Es entwickelt und verändert sich seit Beginn der 1990er-Jahre in Riesensprüngen.
Deutsche Touristen stellen sich Washington oft ein bisschen vor wie die frühere deutsche Hauptstadt Bonn: etwas verschlafen und provinziell, viel trockene Politik, wenig pralles Leben. Wenn uns Freunde besuchten, so stellten sie am Ende ihres Aufenthaltes häufig fest: »Eigentlich sind wir nur euretwegen nach Washington gereist, aber nachdem wir die Stadt gesehen haben, wollen wir unbedingt wiederkommen.« Washington hatte schon immer mehr zu bieten als Büros, Politik und Business. Wir lieben diese Stadt, natürlich: Wir haben hier unsere Familie gegründet, unsere Töchter sind hier geboren, unsere kleinen – inzwischen großen – Amerikanerinnen.
Wir haben zehn wunderbare Jahre hier verbracht, eine andere Kultur kennengelernt, mit unserer deutschen und der europäischen so verwandt – und doch so anders. Wir haben Herausforderungen bestanden, zu Hause und auf Reisen, beruflich und privat. Wir haben viele neue Freunde gewonnen, alteingesessene Washingtonians und solche, die – wie wir – von Arbeit, Politik oder der Liebe für ein paar Jahre in die Stadt gespült wurden. Wir kennen nur wenige, die gerne gegangen sind. Natürlich nicht, denn Washington ist eine wunderbare Stadt: abwechslungsreich, quirlig hier und beschaulich dort.
Wir haben die reichen und die armen Viertel dieser Stadt kennengelernt, die Schulen und die Krankenhäuser, die ausgedehnten Parks und die bunten Märkte, die Restaurants und die Bars, die großen Einkaufszentren und die vielen Sehenswürdigkeiten, Galerien und Museen jeder Art. Wir sind durch den Dumbarton Oaks Park spaziert: im Frühling ein Meer von Tulpen, im Sommer Rosen, im Herbst Astern in üppiger Pracht. Über den Eastern Market sind wir gern gebummelt, haben die leckeren Spezialitäten unterschiedlichster Herkunft probiert. Die Ausstellungen in der Phillips Collection, einer privat geführten Galerie, waren immer einen Besuch wert, nicht nur wegen der phantastischen Bilder großer Impressionisten, sondern auch wegen der angenehm entspannten Atmosphäre. Man muss keine Kinder in Washington geboren oder länger dort gelebt haben, um diese Stadt zu lieben. Denn alles ist möglich in der Hauptstadt der Vereinigten Staaten! Sie hält für jeden etwas bereit. Viel Grün zum Joggen, Radeln oder Skaten, viel Wasser zum Bootfahren oder Angeln. Musikbegeisterte finden Jazzkeller, Blueskneipen oder Sinfoniekonzerte, ganz nach Belieben.
Verließen wir das ARD-Studio in Georgetown durch die Hintertür, landeten wir geradewegs in einer schmalen Gasse. Hier zwischen hupenden Lieferwagen, die sich gegenseitig blockierten, und überlaufenden Müllcontainern, die unappetitliche Gerüche verbreiteten, befand sich der Eingang der Blues Alley, eines berühmten Blues- und Jazzclubs mit großer Tradition. Geduldig warten die oft fein gekleideten Besucher in der düsteren Seitenstraße abends auf den Einlass. Verließen wir das Studio durch den Vordereingang in der M Street, konnten wir direkt in einen Bus einsteigen, der uns in zehn Minuten zum Kennedy Center brachte, wo von Opern über Sinfoniekonzerte bis zur Experimentalmusik jeden Abend etwas anderes geboten wird. Nicht nur Musikfans, auch Technik- oder Kunstliebhaber, politisch oder historisch Interessierte, alle finden reichhaltiges geistiges Futter in Museen, die zum großen Teil nicht einmal Eintritt fordern. Mit der Library of Congress ist in D. C. zum Beispiel die Bibliothek mit den meisten Büchern der Welt beheimatet: einunddreißig Millionen Druckwerke in vierhundertsiebzig Sprachen, darunter die Gutenberg-Bibel und – eher ein Kuriosum – Adolf Hitlers Sammlung vom Obersalzberg, obendrein Millionen von Handschriften, Fotos und Karten, das alles verteilt auf drei Gebäude, eins davon ein palastartiger Renaissancebau mit marmorner Eingangshalle.
Auch was das Kulinarische angeht, hat die Stadt einiges vorzuweisen. Es gibt wohl kaum eine Nation der Erde, die nicht mit wenigstens einem Restaurant vertreten wäre. Aus Europa kommend, sollte man sich vor allem der amerikanischen Küche zuwenden, sei es der althergebrachten südamerikanischen Kost, wie sie im Georgia Brown’s serviert wird (die Clintons fühlten sich hier wohl), oder der New American Cuisine, modernen Menus mit multiethnischem Einschlag, wie sie zum Beispiel im Café Atlántico oder im Oval Room (von Condoleezza Rice bevorzugt) serviert werden. Die Politik sorgt nicht nur für viele graue Anzüge im Straßenbild Downtowns, sondern auch für ethnische Vielfalt auf allen Ebenen. Einrichtungen wie das Busboys and Poets befriedigen gleich rundherum alle Bedürfnisse auf einen Schlag: Es gibt Bücher, Lesungen und Diskussionen, CDs und Konzerte, obendrein Kaffee und was zu essen.
Die Amerikaner nennen ihre Hauptstadt nicht einfach Washington. Das würde nämlich zu zahlreichen Verwechslungen führen. Es gibt den Gründungsvater Washington, den Bundesstaat Washington im äußersten Nordwesten des Landes, mehrere Berge, Seen und Parks sowie mindestens fünfundzwanzig andere Städte in den USA, Kanada und England, die Washington heißen. Offensichtlich sind den Pionieren bei der Besiedelung des Landes auf die Schnelle nicht genügend Namen eingefallen. Deshalb ist es heute äußerst wichtig, den Städtenamen immer mit den Initialen für den jeweiligen Bundesstaat zu verbinden. D. C. für District of Columbia. Und so spricht man von der Hauptstadt gemeinhin: Diissii. Dann weiß jeder, was gemeint ist. Insider sagen zur Abwechslung auch: the District.
Die Washingtonians sind offen und höflich, immer bereit zu einem freundlichen Gespräch, obwohl sie, always busy, ständig unter Zeitdruck stehen. »How do you like D. C.?« ist eine der meistgestellten Fragen, kommt gleich nach »How are you?« und »Where do you come from?« Amerikaner sind Meister des Small Talks. Sie wissen schon als Kinder, wie man ein Gespräch beginnt. Als Antwort wird freilich keine ausgewogene Analyse erwartet. Es ist einfach eine Einladung, etwas Freundliches zu sagen. Wer die Frage zu ernst nimmt, ist schnell auf dem falschen Gleis, denn vieles dreht sich schlicht darum, Gelegenheiten zu schaffen, nett zueinander zu sein. Ob man nun auf die Frage nach dem Wohlbefinden ein überschwängliches »Great! Wonderful! Couldn’t be better!« parat hat, ein verhaltenes »Just doing fine« oder gar mit einem »Hangin’ in there …« andeutet, dass die Stimmung nicht auf dem Höhepunkt ist – auf das Lächeln kommt es an und darauf, dass man überhaupt etwas sagt. Dass man signalisiert: Ich sehe dich, ich bin dir freundlich gesinnt. Es mag nicht mein bester Tag sein, aber mit dir hat das schließlich nichts zu tun. Natürlich darf man, bei einer Freundin oder einem guten Bekannten, auch durchaus mal von Sorgen und Ärger berichten und wird sicherlich auf Mitgefühl stoßen: »Oooh, that’s too bad!« Doch wird das amerikanische Gegenüber eher früher als später eine Wende zum Positiven finden, den Blick nach vorne richten oder einfach zu einem anderen Thema übergehen.
So begann auch unsere Amerika-Zeit gleich auf dem Flughafen in Washington/Dulles mit dem Austausch von Nettigkeiten. Das war im Frühjahr 1994, lange vor den Anschlägen des 11. September 2001, in den USA meist nur kurz Nine Eleven genannt. »Was ist der Zweck Ihres Aufenthaltes?«, fragte die Dame von der Einwanderungsbehörde und war mindestens ebenso begeistert wie wir, dass Tom als Korrespondent für einen deutschen Fernsehsender nach Washington versetzt wurde: »That is wonderful!« Der Beamtin stand das Entzücken ins Gesicht geschrieben. In Diissii zu leben – das muss ja wohl das Größte sein, das einem passieren kann. Heute sind die meisten Kontrolleure der Einwanderungsbehörde reservierter und vollauf damit beschäftigt, jedem Ausländer Fingerabdrücke und Fotos abzuverlangen. Nine Eleven hat das Leben hier sehr verändert. Fast ungehindert ließen sich früher jene bedeutungsvollen Orte besuchen, an denen weltpolitische Entscheidungen getroffen wurden. Einfach Geduld haben, anstehen und dann nach einer kurzen Taschenkontrolle durchs Weiße Haus oder das Pentagon zu streifen, das geht leider nicht mehr. Die Sicherheitsstandards wurden angehoben. Zum Glück hat sich aber die patriotische Bunkermentalität, die sich nach den Anschlägen zunächst breitmachte, weitgehend verflüchtigt.
Washington ist viergeteilt, ausgehend vom Kapitol. Wo der Mittelpunkt durch einen Stern im Boden markiert ist. Von hier aus trennt sich das Terrain in vier Quadranten: Nordwest (NW), Nordost (NE), Südwest (SW) und Südost (SE). Dabei bildet der Nordwesten den bedeutendsten Bezirk: Hier befinden sich die meisten Büros, Geschäfte und Sehenswürdigkeiten, Restaurants und Hotels, das Weiße Haus und die besseren Wohngegenden. Für Ortsfremde ist es nicht besonders schwierig, sich zurechtzufinden, denn die Stadtplaner haben einfach in regelmäßigen Abständen waagerechte und senkrechte Linien aufs Papier gebracht und dann – vielleicht damit es nicht allzu eintönig wirkt – ein paar dicke Diagonalen dazwischen gezogen. Die von Nord nach Süd verlaufenden Straßen wurden nummeriert (First, Second Street etc.), während die von Ost nach West gehenden nach dem Alphabet benannt sind (A Street, B Street etc.). Nur die Diagonalen (nach und nach auch ein paar andere Straßen) bekamen richtige Namen. Auch hier mangelte es wohl in den Anfängen der Neuen Welt an bedeutenden Persönlichkeiten, die es verdient hätten, als Namensgeber zu fungieren. Ebenso wie es wichtig ist, einen Städtenamen mit dem entsprechenden Bundesstaat zu verbinden, muss man unbedingt dazu sagen, ob man die P Street, NW, oder die P Street, SE, meint. Dazwischen könnten nämlich ein Dutzend Kilometer oder gar mehr liegen. Einmal abgesehen davon, dass der Southeast mit Northwest so gut wie gar nichts gemeinsam hat außer Straßennamen. Aber dazu später mehr.
Im Mittelpunkt – und das gilt sowohl geografisch, als auch sozial und politisch – liegt die National Mall. Das ist nicht, um eventuellen Missverständnissen vorzubeugen, das zentrale nationale Einkaufszentrum.1 Die Mall ist eine fünf Kilometer lange Rasenfläche, sandwiched (wie die Washingtonians das so praktisch ausdrücken) zwischen der Constitution und der Independence Avenue, flankiert von Museen und Denkmälern, belagert von Hotdog-Ständen und T-Shirt-Verkäufern. Die National Mall ist das Herz der Stadt, in gewissem Sinne sogar das Herz der Nation. Sie ist ein populäres Ziel für Stadtbesichtigungen und Schulausflüge ebenso wie für Lunch-Pausen, sie wird angesteuert von Touristen, Schulklassen und Demonstranten. Sie ist das Feld für Massenveranstaltungen.
Der wohl größte Andrang herrschte hier an einem sehr kalten Tag im Januar 2009. Eine riesige Menge strömte herbei, um der Amtseinführung des 44. Präsidenten, Barack Obama, beizuwohnen. So viele Menschen hatten sich niemals zuvor auf der National Mall versammelt. Mit der Parole »Yes, we can!« hatte zum ersten Mal ein Schwarzer den Wahlkampf gewonnen. Ein historisches Ereignis, dem zwischen achthundertfünfzigtausend und knapp zwei Millionen Menschen (so die Schätzungen) beiwohnen wollten. Fast ein halbes Jahrhundert zuvor hatte hier ein anderer Mann eine weltbekannte Rede gehalten: Martin Luther King, Führer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, verkündete zum Abschluss des March on Washington vor zweihundertfünfzigtausend Demonstrantinnen und Demonstranten zu Füßen des Lincoln Memorial: »I have a dream …« Da war Barack Obama erst zwei Jahre alt. Nun ist mit ihm ein Teil dieses Traums von der Gleichberechtigung wahr geworden.
Auf der National Mall finden sich die politischen Kräfte der Nation, die etablierten und die protestierenden. Besucher gewinnen von hier aus den ersten Überblick über die fremde Stadt. Hier können sie sich treiben lassen, das Leben beobachten und dabei eine erste Ahnung davon bekommen, was Washington geprägt hat und heute ausmacht. Rund achthunderttausend erschienen 1995 zum Million Man March des umstrittenen Führers der Schwarzen-Organisation Nation of Islam, Louis Farrakhan, berühmt und berüchtigt für seine antisemitischen und sexistischen Sprüche. »Heute Morgen wissen eine Million schwarzer Frauen, wo sich ihre Männer befinden«, triumphierte eine Rednerin auf der Kundgebung. Na, wenn das kein Erfolg ist …! Fünf Jahre später versammelte sich eine halbe Million Frauen am Muttertag mit der Forderung nach strengeren Waffengesetzen, um ihre Kinder zu schützen. 1996 bedeckten dreihunderttausend Homosexuelle den gesamten linken Flügel des Rasens mit einem riesigen Quilt, einem typisch amerikanischen Flickenteppich. Fünfhunderttausend demonstrierten 1971 gegen den Vietnamkrieg, hunderttausend verlangten 2005 den Rückzug aus dem Irak: »Bring them home!«, skandierten sie.
Das Lincoln Memorial, das hinter dorischen Säulen den 16. Präsidenten in einer Art griechischem Tempel präsentiert, markiert das westliche Ende der Mall. Am Fuße des weißen Marmorthrons bleibt einem nichts anderes übrig, als ehrfürchtig zu Abraham Lincoln hinaufzuschauen. Sicherlich zu Recht, ist ihm doch zu verdanken, dass er die Vereinigten Staaten zusammengehalten hat, womit der Grundstein zum Aufstieg zur Weltmacht gelegt wurde. Aus der Mitte der langen Rasenfläche ragt ein Obelisk, das Washington Monument; es erinnert an die Anfänge, den ersten Präsidenten George Washington. Das Erdbeben im August 2011 hat einen Riss in der Spitze verursacht und eine vorübergehende Schließung erforderlich gemacht. Normalerweise führt ein Fahrstuhl hoch hinauf zur Aussichtsplattform, die einen phantastischen Rundblick ermöglicht. Hinaufklettern darf man nicht. »Climbing the 897 steps is verboten …«, stand in einem amerikanischen Reiseführer. Verbieten, das gilt hier als typisch deutsche Tätigkeit, so typisch, dass das deutsche Wort »verboten« in die amerikanische Sprache eingegangen ist.
Am östlichen Ende der National Mall steht das Kapitol, überwacht von einem Hügel aus die Stadt. Hier wird der Wille des Volkes diskutiert und formuliert. Dieser honorigen Aufgabe zum Trotz lästern viele Washingtoner, es sehe aus wie eine Hochzeitstorte. Nichts darf in der amerikanischen Hauptstadt höher gebaut werden als das Kapitol, deshalb gibt es nur einen einzigen Wolkenkratzer, das Cairo Apartment Building in der Q Street in der Nähe des Dupont Circle. Mit seinen zwölf Stockwerken und fünfzig Metern Höhe scheint es für heutige Verhältnisse nicht gerade beeindruckend hoch. Als es 1894 erbaut wurde, erzielte es allerdings durchaus Wirkung, und zwar so nachdrücklich, dass der Kongress beschloss, die Höhe von Neubauten in der Stadt zu begrenzen. Hochhäuser gibt es daher nur in Rosslyn, am anderen Ufer des Potomac, direkt gegenüber von Georgetown. Das gehört nämlich zu Virginia und nicht zum District of Columbia.
Nicht nur Wolkenkratzer sind in Washington »verboten«, sondern auch eine Menge anderer Dinge, das haben wir schnell gelernt. Viele denken, im Land der unbegrenzten Freiheit dürfe jeder machen, was er will. In mancher Beziehung ist das auch so: Sie können in Washington viel unkomplizierter als in einer deutschen Stadt die Arbeitsstelle oder gar den Beruf wechseln, ein Unternehmen gründen, Leute einstellen, wieder entlassen, ein Haus bauen oder abreißen.
Mit der Zeit allerdings machten wir aber die Erfahrung, dass das freizügige Amerika doch recht viele Verhaltensmaßregeln für uns parat hält. Für den Umgang miteinander gibt es recht klare Regeln. Man mäht seinen Rasen. Man drängelt nicht, und wenn man aus Versehen jemandem zu nahe kommt, sagt man unbedingt: »Excuse me!«, auch wenn man ihn gar nicht berührt. Man schaut sich an, man grüßt sich oft, auch ohne einander zu kennen. Man trinkt keinen Alkohol auf der Straße, raucht nicht in geschlossenen Räumen und beachtet den Dresscode. Der Unterschied ist nicht, dass die Liste der Verbote hier kürzer wäre als in einem anderen Land. Aber eins fällt auf: Fast immer wird freundlich darauf hingewiesen. Na gut, wir reden hier nicht von Polizisten, die gerade einen Verdächtigen aufs Pflaster nageln. Kommen Sie besser nicht auf die Idee, mit einem Gesetzeshüter zu diskutieren, so nach dem Motto: »Aber Herr Officer, ich müsste ganz dringend nach links, könnten Sie nicht eine Ausnahme machen?« Missachtung ihrer Anweisungen nehmen sie nicht mit Humor.
Die Stadt selbst ist eigentlich nicht groß, hat streng genommen nur rund sechshunderttausend Einwohner. Der Großraum Washington jedoch, der mehrere Landkreise der angrenzenden Staaten Maryland, Virginia und West Virginia umfasst, beherbergt wesentlich mehr: an die 5,5 Millionen Bewohner. Man spricht von der Washington Metropolitan Area, kurz Metro Area. Es ist der siebtgrößte Ballungsraum der Vereinigten Staaten. Wer ein engeres Gebiet bezeichnen, sich aber nicht an die offiziellen Grenzen des Distrikts halten möchte, sagt inside the beltway, womit das Terrain gemeint ist, das sich innerhalb der kreisförmigen Stadtautobahn befindet.
Wovon leben die Menschen hier? Sehr viele multinationale Unternehmen haben einen Sitz in der Gegend. Maryland gilt als Zentrum für Biotechnologie, Nord-Virginia als Hightech-Korridor. Auch die Rüstungsindustrie sucht die Nähe zur Hauptstadt. Im District of Columbia selbst ist die Bundesregierung der größte Arbeitgeber, gefolgt von Unternehmen, die auf verschiedenste Weise mit Regierung und Verwaltung verknüpft sind und dem politischen Apparat zuarbeiten. Auch der Tourismus ist ein wichtiger Faktor. Er schafft schätzungsweise sechsundsechzigtausend Arbeitsplätze in der Stadt.
Diissii hat sich aus vielen Gründen und in vielerlei Hinsicht in den letzten zwei Jahrzehnten sehr gewandelt. Nehmen wir als Beispiel Georgetown, ein sehr beliebtes und lebhaftes Viertel, mit charmanten townhouses, vielfältigen Restaurants und Boutiquen. Als wir 1994 dorthin zogen, standen auf den beiden Hauptstraßen, der Wisconsin Avenue und der M Street, viele Ladenlokale leer. Als wir sechs Jahre später wegzogen, war alles verpachtet und vermietet, der Boutiquenstrip auf der M Street zog sich mittlerweile bis hin zur Key Bridge. Bei unserer Rückkehr nach D. C. 2002 (nach einem knapp dreijährigen Intermezzo in Paris) war gar nicht daran zu denken, eine Wohnung oder ein Haus in Georgetown zu finden. Überhaupt war der Miet- und Immobilienmarkt in den attraktiven Vierteln der Stadt wie leer gefegt, alles vergeben. Heute wiederum machen sich die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise bemerkbar. Wieder stehen Gewerbeflächen leer, Mieter werden gesucht, Hinweise kleben in den Schaufenstern: »For rent«. Das sündhaft teure Antiquitätengeschäft in der O Street/Ecke Wisconsin Avenue ist verschwunden, mit ihm der Laden, der Accessoires fürs überspannte Luxus-Hündchen anbot.
Doch insgesamt gesehen hat Washington der Wirtschafts- und Finanzkrise beispielhaft getrotzt. Die Arbeitslosenquote liegt unter dem amerikanischen Durchschnitt. Tatsächlich verzeichneten die Preise für Wohnimmobilien sogar einen leichten Anstieg, während ringsum in weiten Teilen des Landes der Immobilienmarkt zusammenbrach. Kommerzielle Liegenschaften mussten leichte Einbußen hinnehmen, blieben aber vom katastrophalen Abwärtstrend verschont. Dazu haben Regierungsprogramme beigetragen, aber vor allem ist es der Attraktivität der Stadt zu verdanken. Auf der Suche nach neuem Wohnraum erobern Berufseinsteiger und junge Familien pionierartig Viertel der Stadt, in die sich lange kein »anständiger« Bürger mehr getraut hat. Wo noch vor zehn Jahren Billigbier über vergitterte Verkaufstresen geschoben wurde, wird heute Latte macchiato serviert. Früher hätten wir unseren Freunden auf jeden Fall abgeraten, sich nach einem Besuch auf dem Eastern Market in der Umgebung umzuschauen. Zu gefährlich! Heute gibt es dort nette Cafés, im Sommer sitzen die Leute friedvoll und entspannt am Straßenrand. Das Viertel, Capitol Hill, hat sich zur beliebten Wohngegend für junge Familien entwickelt. Gefahrlos kann man Spaziergänge vorbei an hübsch restaurierten Häusern unternehmen und sich fühlen wie die Hauptfigur in einer kitschigen Novelle des Viktorianischen Zeitalters.
Die gentrification2 erobert die Stadt in rasendem Tempo. Trotz diverser Gegenmaßnahmen vertreibt dieser Prozess die Alteingesessenen, die sozial Schwächeren. Aber er vertreibt auch die Drogendealer und Einbrecher, bringt Farbe an die Hauswände, fegt den Schmutz von den Straßen, sorgt für Geschäfte, Wohnraum und Arbeitsplätze. Mit anderen Worten: Diese Entwicklung möbelt Stadtteile auf, die bisher in Trostlosigkeit und ohne Perspektive vor sich hin gammelten.
D. C. befindet sich im Aufwind. Es ziehen deutlich mehr Leute in die Stadt hinein als hinaus. Zum ersten Mal seit den 1940er-Jahren wurde die Sechshunderttausend-Marke wieder überschritten. Die neuen Bewohner sind im Durchschnitt zahlungskräftiger als jene, die weggehen. In Statistiken, die Einkommen, Bildung oder Lebenserwartung beziffern, rangiert Washington immer ganz oben. Washington Metropolitan Area gilt als das wohlhabendste Gebiet der Vereinigten Staaten. Auch bei Umfragen zur Lebensqualität nimmt Diissii immer Spitzenpositionen ein. Die Washingtonians haben die höchste Lebenserwartung im ganzen Land, gut dreiundachtzig Jahre. Das trifft aber nur für die weißen Einwohner zu. Ein Afroamerikaner in D. C. kann hoffen, einundsiebzig Jahre zu werden. Seine durchschnittliche Lebenserwartung beträgt elf Jahre weniger und ist so niedrig wie nirgendwo sonst im Land. Was für ein Gegensatz! Sehr nachdenklich stimmt auch, dass die Stadt die höchste Kindersterblichkeit der Nation aufweist. Ebenso gibt es zu denken, dass das statistisch hohe Bildungslevel offensichtlich nicht zu Hause erworben wurde. Der Distrikt kämpft mit einer sehr hohen Zahl an Schulschwänzern und Schulabbrechern. Diese Probleme finden sich fast ausschließlich in der schwarzen Bevölkerung der Stadt. Wettgemacht wird das durch viele Neuankömmlinge mit abgeschlossener Berufsausbildung und akademischem Grad.
Die Amerikaner wettern gerne über »die da in D. C.«, die vom Volk abgehobenen Machthaber. Jeder Kandidat für ein politisches Amt in der Hauptstadt stellt sich als vom Politklüngel unverdorbener Außenseiter dar. Schon die Gründungsväter wollten keine feste Elite. Nur in der Weite des Landes manifestiert sich nach dieser Lesart der unverdorbene Volkswille. Wer zu lange in Washington bleibe, sei verdorben, heißt es schon lange. Dann aber, einmal gewählt, entscheiden sich die meisten Politiker heute für ein Leben in Washington, haben sie auch vorher noch so laut auf die Zentrale geschimpft. Selbst nach Ablauf der Amtszeit kehren nur wenige in ihre Heimat zurück. So schlecht lebt es sich offensichtlich nicht in Diissii!
Jedes Jahr ziehen fünfzehn Millionen amerikanische Touristen nach Washington wie an einen Wallfahrtsort, um ihre Hauptstadt zu studieren und zu bewundern. Sie wollen sehen, wo ihr Präsident residiert, das Parlament tagt, oder beobachten, wie im Bureau of Engraving and Printing US-Dollars gedruckt werden. Sie erweisen John F. Kennedy die Ehre an seinem Grab auf dem Arlington National Cemetery. Sie bewundern frühere Präsidenten in Stein gemeißelt rund um die National Mall. Einem einzigen Nichtpräsidenten wurde nun auch die Ehre zuteil, auf der Mall als Denkmal verewigt zu werden, dem Bürgerrechtler Martin Luther King jr. Die von dem chinesischen Bildhauer Lei Yixin entworfene Anlage aus Granit symbolisiert die Leitideen der Bürgerrechtsbewegung: Gerechtigkeit, Demokratie und Hoffnung. Mit einem eigenen Museum hat sich unlängst auch eine andere bedeutende Minderheit einen zentralen Platz in der Hauptstadt reserviert: Das National Museum of the American Indian zeigt die Geschichte der indianischen Ureinwohner in einem markanten, kurvenreichen Natursandsteinbau.
Die Amerikaner sind stolz auf die Wahrzeichen ihrer Nation. Aber sie lieben auch Besonderes und Futuristisches, und sie lassen sich gerne unterhalten. So findet sich in D. C. neben eher gravitätischen, staatstragenden Sehenswürdigkeiten auch eine ganze Reihe von ausgefallenen und vergnüglichen Einrichtungen. Die Tickets für den Flugsimulator im Air & Space Museum sind schon morgens ganz flugs ausverkauft. Die Dinosaurierhalle im National Museum of Natural History erfreut sich ebenso großer Beliebtheit wie der Insektenzoo dort. Das Newseum, ein gigantisches Medienhaus, gilt als das interaktivste Museum der Welt. Hier lässt sich ausprobieren, wie man sich selbst als Moderator oder Redakteur bewähren würde. Mehrere Hundert Zeitungen aus aller Welt schicken täglich ihre Titelseiten ans Newseum, wo sie jeden Tag aufs Neue gezeigt werden und verglichen werden können. In den Sommermonaten herrscht bei den rund hundertfünfzig Denkmälern und fünfzig Museen großer Andrang. Zu den Touristenzielen mit den längsten Warteschlangen gehört das Holocaust Memorial Museum, das mit sechsundzwanzigtausend authentischen Artefakten die Vernichtung der Juden durch die Nazis nachzeichnet. Geschichte zum Anfassen, sehr berührend, nicht leicht zu verkraften.
Diesen Sehenswürdigkeiten und dem immensen Interesse der Amerikaner an Washington D. C. steht die recht mickrige Zahl der internationalen Besucher gegenüber: nur rund anderthalb Millionen jährlich. Wer von weit her kommt und die USA bereist, gibt in der Regel anderen Städten und Regionen den Vorzug. Washington D. C. gehört nicht zu den Top-Reisezielen. Absolut zu Unrecht, finden wir! D. C. is amazing, fabulous, outstanding, terrific, wonderful, was alles nicht mehr und nicht weniger heißt als: Diissii ist super!
Das Weiße Haus ist nicht nur das Machtzentrum der westlichen Welt, es ist auch der begehrteste Hintergrund für Fernsehjournalisten aus aller Welt. Der Platz vor dem Wohnsitz des amerikanischen Präsidenten wird folglich jeden Tag von Korrespondenten und ihren Kamerateams heimgesucht. Wer alt genug ist, um die Korrespondenten Ruge, von Lojewski oder Pleitgen noch vor Augen zu haben, der wird bemerkt haben, dass sich über die Jahrzehnte die Ansicht des Weißen Hauses für die Zuschauer veränderte. Früher standen die Berichterstatter meistens an der Südseite. Das hatte mehrere Vorteile: Erstens hatten die Kollegen bei ihren Aufsagern die Sonne im Gesicht, die Kameraleute mussten sich nicht mit lästigem Gegenlicht herumschlagen. Zweitens war aus dieser Perspektive im Hintergrund die Herzkammer des Weißen Hauses zu sehen, das Oval Office des Präsidenten.
Aber dann verübte 1995 ein rechtsextremer Waffennarr einen Terroranschlag auf ein Regierungsgebäude in Oklahoma City. Tom fuhr zur Berichterstattung hin. Als er zurückkam, hatten sich die Arbeitsbedingungen am Weißen Haus geändert. Der Standort der Journalisten war auf die Nordseite verlagert worden. Deshalb sieht man heute in den Nachrichtensendungen den Haupteingang des Weißen Hauses hinter den Korrespondenten. Und auch dort gab es Hindernisse: Die Pennsylvania Avenue war kurzerhand für den Autoverkehr gesperrt worden. Das ging praktisch über Nacht. Die Bundesbehörden hatten es angeordnet, ohne die Stadt groß zu fragen, und so standen eines Morgens Blockaden auf der Straße.
Reporter haben kein Anrecht auf einen Platz vor dem Weißen Haus. Bei wichtigen Ereignissen wird es eng, dann wird die Suche nach dem Standort zum journalistischen Überlebenskampf. Amerikanische Kollegen verfügen in der Regel über einen »White House Pass«, eine Eintrittskarte ins Pressezentrum. Dort gibt es innen wie außen Anschlüsse für Strom und Übertragungsleitungen. Die Fernsehschaffenden geben ihre Kommentare also direkt vor dem Weißen Haus ab. Wie dicht sie sich dabei am Zentrum der Macht bewegen, erkennt man auf dem Bildschirm zwar nicht unbedingt, aber trotzdem ist es für sie sehr wichtig, nah dran zu sein, aus Prestigegründen und auch aus praktischen Überlegungen. Nach dem Aufsager kommen sie so schnell zurück ins Pressezentrum, um weiterzuarbeiten.
Korrespondenten aus dem Ausland haben es schwerer. Denn nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ordnete der Geheimdienst eine neue Sicherheitsanalyse an. Die Experten schlugen die Hände über dem Kopf zusammen: Viel zu viele Journalisten aus aller Welt hätten Zugang zum Weißen Haus. Im Ernstfall sei dies ein inakzeptables Risiko. Die meisten ausländischen Kollegen verloren ihre Zugangsberechtigung. Sie müssen sich seither bei jedem Besuch umständlich und zeitraubend anmelden und abwarten, wie die Entscheidung ausfällt. Um das zu vermeiden, weichen sie häufig auf den angrenzenden Lafayette Park aus. Aber auch dort ist keineswegs garantiert, dass sie ungestört ihrer Arbeit nachgehen können. Mal lassen die Sicherheitskräfte sie gewähren, dann wiederum greifen sie ein und fordern die Teams auf, die Dreharbeit abzubrechen. Wer amerikanische Polizisten kennt, weiß, dass sie es nicht gewohnt sind, über ihre Anordnungen zu diskutieren. In der Regel läuft so ein Zusammentreffen zwar höflich, aber sehr eindeutig ab. Die Arbeit wird zusätzlich kompliziert, weil man es nicht mit der Polizei, sondern mit verschiedenen uniformierten Ordnungshütern zu tun hat. Mal sagt die lokale Polizei nichts, aber die Sicherheitskräfte des Weißen Hauses kommen und verscheuchen die Kamerateams. Ein andermal haben die vielleicht nichts gegen eine kurze Fernsehaufnahme, aber die Parkpolizei meldet Bedenken an. Grundsätzlich ist das Filmen zwar erlaubt, aber nicht, wenn die Kamera auf einem Stativ steht. Denn dann – so die dahinterstehende »Logik« – müsste man nämlich auch das Zelten im Park erlauben; ein Zelt ist schließlich auch eine Vorrichtung auf Stäben …
In ihrer Not richten viele Kollegen den Blick gen Himmel. Die Dächer umliegender Häuser sind für die Immobilienbesitzer Gold wert: Ob Industrie- und Handelskammer oder Hotel – sie vermieten ihre tolle Aussicht für gutes Geld an Fernsehanstalten aus aller Welt, während großer Ereignisse wie der Amtseinführung des Präsidenten zu Rekordpreisen; dann werden diese Orte zu Freilichtstudios.
Aber auch im Alltag suchen TV-Leute dort Zuflucht. Ein kurzer Besuch auf dem Dach kann mehrere Hundert Dollar kosten. Auch das geht nicht spontan: Das Team muss sich anmelden; sämtliche Personalien werden an die Regierungsstellen weitergeleitet. Schließlich liegen direkt gegenüber auf dem Dach des Weißen Hauses die Scharfschützen des Präsidenten in Stellung. Und man will ja nicht, dass die nervös werden.
Viele Washingtonians sind auf irgendeine Weise mit der Politik verbunden. Wenn sie nicht Journalisten oder Politiker sind, dann arbeiten sie als Berater, Lobbyisten, Juristen oder Diplomaten. Und damit sind ausdrücklich auch Frauen gemeint, die zwar in Washington wie überall auf der Welt in den Zirkeln der Macht unterrepräsentiert sind, aber durchaus auf dem Vormarsch.
Downtown an einem Werktag wird bestimmt von dunklen Anzügen und Kostümen, hellblauen Hemden und weißen Blusen. Regierung, Abgeordnetenbüros und internationale Organisationen ziehen Heerscharen von Aktenkrämern und Paragraphenreitern an. Dies könnte die Stadt langweilig und gediegen machen, doch gibt es viele Faktoren, die das verhindern. Zum einen spürt selbst ein Kurzzeit-Besucher, dass hier nicht irgendeine nationale Regierung an ihren Gesetzen bastelt, sondern dass hier Politik im Weltmaßstab ausgedacht, diskutiert und gemanagt wird. In den grauen und blauen Anzügen stecken nicht selten die erfahrensten und intelligentesten Köpfe, deren Gedanken – dem konventionellen Outfit zum Trotz – auch ganz unkonventionelle Wege gehen, wenn es um die Zukunft Amerikas oder gar des Universums geht.
Zugegeben, eine Menge Therapeuten und Psychiater gibt es auch, mehr als in fast jeder anderen amerikanischen Stadt. Die müssen oft helfen, das Durcheinander in den genialen und gestressten Köpfen zu entwirren. Auf jeden Fall sind es keineswegs nur Langweiler und grauhaarige Altgediente, die es nach D. C. zieht, weil sie das Schicksal der Menschheit mitbestimmen wollen. Es wimmelt in Washington von aktiven, motivierten jungen Leuten, die sich für eine gute Idee oder eine gute Karriere einsetzen.
Wenn Sie an der Union Station ein Taxi rufen, so haben Sie das keineswegs für sich allein gepachtet. Die Fahrer dürfen durchaus weitere Passagiere aufnehmen, vorausgesetzt, der Platz reicht und es geht in dieselbe Richtung.3 Also kann es passieren, dass ein schüchterner junger Mann zusteigt, der sich – blass und hager von der vielen Büroluft – in die Ecke drückt, mit einer Mappe wichtiger Papiere unter dem Arm, die er persönlich von A nach B bringen soll. Vielleicht schlackert sein Anzug an ihm herum wie ein Erbstück vom großen Bruder, die Krawatte ist der letzte Schrei – von vor fünf Jahren –, und sein Polyesterhemd schlägt Funken, wenn er aussteigt. Das stört hier keinen, es geht nicht um Mode und Geschmack. Er kommt vielleicht aus Idaho, Kansas oder Connecticut, geht eigentlich noch zur Schule oder studiert und absolviert gerade ein Praktikum im Büro eines Abgeordneten oder einer bedeutenden Kanzlei. Dort darf er Botengänge erledigen, Akten sortieren, Kaffee holen oder Rede-Entwürfe schreiben, je nach Talent, Vorkenntnis und Vitamin B (B wie Beziehung).
Nicht selten werden die Nachwuchskräfte mit allem gleichzeitig beauftragt. Großes Geld verdienen sie dabei nicht, und auch die Freizeit ist beschränkt. Mit viel Geduld und Energie betrachten es die meisten als lohnende Investition in ihre berufliche Zukunft. Wer Glück hat, darf sich nach einer Weile zum Mitarbeiterstab zählen und erledigt ungefähr die gleichen Aufgaben für ein bisschen mehr Geld.
All die Youngsters, und seien sie auch noch so pflicht- und karrierebewusst, wollen abends natürlich eins: feiern und chillen. Wenn sie auch während des Tages streng darauf achten, nicht aus dem Rahmen zu fallen, abends soll dann schon mal die Post abgehen. Wo Nachfrage ist, wächst das Angebot. Dieser Grundsatz gilt nirgendwo so sehr wie in den USA. So tragen die vielen Büromäuse am Ende des Tages eine Menge dazu bei, dass Washington immer bunter und interessanter wird. Klassische Plätze für einen entspannt-gediegenen Absacker nach einem Tag voller Polittermine sind das Off The Record im Hay-Adams Hotel (wo man – wie der Name sagt – gern gesehen, aber nicht gern gehört werden will) und die Bar Round Robin im Willard InterContinental, die für sich beanspruchen kann, dass hier das Wort »Lobbyist« erfunden wurde und der beste Mint Julep, ein Bourbon-Pfefferminz-Cocktail, gemixt wird. Sehr viel moderner geht es im Shadow Room auf der K Street zu; hier kann der young professional seine Bestellung per SMS aufgeben. Einen umwerfenden Ausblick auf das Weiße Haus und die National Mall hat man im P. O. V., einer Lounge mit Terrasse. Wer etwas mehr Abstand zum Büroalltag braucht, fährt vielleicht in die U Street, in die Chi-Cha Lounge, nimmt hier einen Drink und ein Wasserpfeifchen. Am Wochenende geht es anschließend vielleicht in einen der schillernden Tanzpaläste, zum House und Hip-Hop mit Supersound in der U Street Music Hall zum Beispiel.