Hilfe, die Wikinger kommen!

Als die beiden Jungen erwachten, war es bereits heller Tag. Um sich herum hörten sie viele Schritte und laute aufgeregte Stimmen. Schnell krochen sie aus ihrem Schlafsack heraus.
»Land in Sicht!«, rief ihnen Björn zu, der bereits zu seinem Ruderplatz hastete. »Beeilt euch!«, fügte Jarl hinzu, der hinter seinem Freund her eilte. »Man kann schon die Häuser und Bäume erkennen. Aber sie haben uns noch nicht bemerkt!«
Schon waren Thorolf und Sigurd an ihrem Platz und griffen nach den Rudern.
Das Schiff schoss auf das fremde Ufer zu. Rot leuchtete das Segel im Wind.
Thorolf blickte kurz zu dem Drachenkopf vor ihm. Ob er wirklich die Fremden in Angst und Schrecken versetzte?
»Vorsicht!«, rief Olaf, als das Schiff immer näher auf den flachen Sandstrand zuschoss.
»Nehmt die Ruder hoch!«
Das Schiff verlor an Fahrt, wurde immer langsamer und setzte dann ganz leicht auf dem Sand auf.
»Stürmt das Dorf!«, rief Olaf nun.
Einige zogen sich blitzschnell ihre Kampfkleider über, andere wollten mit nacktem Oberkörper kämpfen. Aber alle griffen nach ihren Schilden, Schwertern und Speeren.
Thorolf hatte einige Mühe, den Schild zu lösen. Doch er schaffte es.
Nun sprangen die Männer ins Wasser und liefen über den Sandstrand auf das fremde Dorf zu.
Mit lautem und furchterregendem Gebrüll rannten sie auf die Häuser zu.
Es war noch früh am Morgen. So unsanft waren die Menschen hier noch nie geweckt worden.
»Hey-hey-heya-heee!«, schallte es von überall her.
Da schrien die Leute, hasteten zur Tür, rannten davon und wollten sich in Sicherheit bringen.
»Die Wikinger kommen!«, brüllten sie immer wieder.
Olaf und seine Männer aber stürmten, drangen in die Häuser ein und rissen alles an sich, was sie in der Eile mitnehmen konnten.
Sie sprengten die Kisten und Truhen auf, um nach Schätzen zu suchen.
Dann rannten sie schwer beladen durch das Wasser zu dem Schiff wieder zurück. Sie mussten bereits fort sein, wenn die Leute mit vielen anderen zurückkamen, um gegen sie zu kämpfen.
»Ein guter Fang!«, lachte Olaf dröhnend und gab das Zeichen zum Start.
Da sprangen die Männer ins Wasser und schoben das Schiff an, bis es wieder freie Fahrt hatte.
»Nehmt die Ruder!«, brüllte Olaf und schnell wie ein Pfeil schoss das Schiff davon.
Hinter ihnen war nun lautes Schreien und Heulen zu hören.
Als Thorolf einmal zurückblickte, sah er, dass die Häuser am Ufer in hellen Flammen standen. Nach dem Raub hatten die Wikinger sie noch angezündet. Am Ufer stand eine recht große Schar bewaffneter Männer, die ihre Speere und Schwerter hoch in die Luft hielten. Weil die Wikinger bereits davonfuhren, blieb ihnen nur das Nachsehen in ohnmächtigem Zorn.
Später, als sie sicher waren, dass ihnen keiner mehr folgen konnte, verstauten die Männer ihre Beute in Kisten und Säcke. Ja, sie hatten gute Beute gemacht.
Silberne Kannen und Becher, Schüsseln, Armspangen, Ketten und Ringe aus Gold, aber auch Kleider und Waffen. Der erste Raubzug hatte sich für alle gelohnt.
Thorolf freute sich besonders über den kleinen goldenen Anhänger mit dem roten Stein. Wie würde sich seine Mutter freuen, wenn er ihn ihr mitbrächte. Thorolf legte ihn behutsam in seine Schiffskiste.
Es würde noch lange dauern, bis sie wieder heimkamen.
Für morgen war bereits der nächste Überfall auf ein anderes Dorf geplant: ein anderes Dorf an einer anderen Küste, das niemand vorher warnen konnte.
Beim nächsten Überfall wollten sie ein paar junge Leute gefangen nehmen und auf das Boot bringen. Sie würden jammern und schreien, aber es würde ihnen nichts nützen. Waren sie erst im Nordland auf Olafs Hof, dann würden sie dort ihr Leben lang arbeiten müssen so wie die anderen Sklaven.
Thorolf schauderte, wenn er daran dachte. Nur zu gut erinnerte er sich an die beiden jungen Sklaven, die der Vater letztes Jahr mitgebracht hatte. Oft hatte er sie vor Heimweh weinen gesehen.
»So schlecht geht es ihnen doch gar nicht bei uns«, hatte er damals zu Sigurd gesagt. »Sie können nie mehr zurück nach Hause!«, hatte Sigurd geantwortet. »Stell dir vor, sie würden uns zu Sklaven machen.«
Damals hatte Thorolf gelacht. Aber jetzt spürte er auf einmal die Angst in sich hochsteigen, wenn er an den nächsten Überfall dachte. Es konnte ja zum Kampf Mann gegen Mann kommen und er konnte von den Feinden geschnappt werden. Vielleicht würden sie auch ihn zu einem Sklaven machen.
Lieber nicht dran denken! Thorolf spuckte in die Hände und packte das Ruder.
Sie wollten diesen Sommer so viel Beute machen, dass sie genügend Sachen zum Tauschen mitbringen konnten. Denn wer etwas zum Tauschen hatte, brauchte im nächsten Winter nicht zu hungern, mochte die Ernte auch noch so schlecht ausfallen.


Die Heimkehr

Olli, seine Mutter und die anderen auf dem Hof hatten wegen Helgas Abreise so viel zu tun, das keiner das Schiff sah, das mit einem roten Segel dem Hafen zusteuerte. Dann erblickten es die kleine Asgard und Brunhild, ihre Schwester, zuallererst. Sie pflückten auf der Wiese einen dicken Blumenstrauß. Den wollten sie Helga zum Abschied schenken.
Sie liefen nicht zurück zum Hof, denn Brunhild hatte ihren Bruder bereits an Bord erkannt.
»Sigurd!«, rief sie immer wieder und winkte mit dem Strauß in ihrer Hand.
Die Kleine stand neben ihr und schrie: »Papa! Papa!«
Doch sie konnten Rollo nicht entdecken. Nun kam das Schiff schnell näher, und Brunhild konnte auch Olaf und die anderen Männer erkennen. Björn, Jarl und Thorolf standen neben Sigurd und winkten zurück.
Brunhild freute sich ganz besonders, als sie Thorolf dort drüben an Bord des Schiffes gesund wieder stehen sah. Sie hatte oft an ihn denken müssen.
Aber wo war ihr Vater?
»Papa!«, rief die kleine Asgard und zog immer wieder an Brunhilds Hand. »Wo ist Papa?«
Als die Männer dann das Schiff festmachten und nach und nach an Land kamen, da senkten sie die Köpfe, als sie an den beiden Schwestern vorübergingen. Sigurd aber kam auf sie zugelaufen, nahm Brunhild in beide Arme und drückte sie so fest er konnte. »Vater ist im Kampf gestorben!«, sagte er und versuchte, gegen die Tränen anzukämpfen, die ihm über das Gesicht liefen. »Wir haben immer wieder von euch gesprochen, von Mutter, den Schwestern und Brüdern«, flüsterte er. »Es war der letzte Kampf und wir hatten uns alle schon auf die Heimkehr gefreut! Drei Männer sind im Kampf gefallen. Einer von ihnen war Vater.«
Thorolf und sein Vater kümmerten sich um die kleine Asgard. Sie fragte immer weiter nach ihrem Papa. Und keiner wagte es, ihr eine ehrliche Antwort zu geben. Schließlich nahm Olaf sie auf seine Arme und trug sie zum Hof hinauf. Da kamen ihnen alle entgegen.
Olaf aber hatte nur Augen für Asgards Mutter. Er ging auf sie zu, legte ihr die kleine Asgard in die Arme und sagte: »Du musst jetzt sehr tapfer sein. Rollo ist tot!« Und als sie sich schluchzend über ihre kleine Tochter beugte, legte er den Arm um sie.
»Ich habe meinen Bruder verloren!«, sagte er. »Und du deinen Mann! Jetzt wird er bei den Göttern in Wallhall sein. Er wird mit Odin und Thor scherzen und lachen und mit ihnen durch den Himmel reiten. Du kannst stolz auf ihn sein. Er ist ein tapferer Wikinger gewesen.«
Dann ging der Vater zu Inga und Helga und begrüßte sie. Er warf den kleinen Sohn hoch in die Luft und Olli schrie vor Freude. Und er begrüßte Leif, seinen Schwiegersohn.
Thorolf stand stumm neben Brunhild und Sigurd. Er wartete, bis beide etwas ruhiger geworden waren. Dann reichte er Brunhild die Hand.
»Ich habe deinen Vater sehr lieb gehabt!«, flüsterte er und konnte nichts dafür, dass er plötzlich weinen musste. »Ich hatte ihn so lieb wie meinen eigenen Vater!«
Da gab ihm Brunhild ihre Hand. Und Hand in Hand gingen alle drei langsam zum Hof hinauf.


Siedeln in einem fernen Land

»Willst du nicht doch mit uns nach Grünland fahren?«, fragte Leif und sah Olli fragend an.
Mit einem Mal wurde es Olli so richtig bewusst, dass Helga morgen mit Leif davonfahren würde.
»Kommst du nie mehr zurück?«, fragte er. Helga schüttelte den Kopf.
Da sprang Olli auf, stürzte zu Helga und schmiegte sich an sie. Keiner sollte sehen, dass er weinen musste. Helga hielt ihn fest in ihren Armen und streichelte seinen Rücken.
»Mein Vater hat das neue Land entdeckt!«, erklärte Leif den anderen. »Zu Hause leben so viele Menschen. Da reicht das Land nicht mehr für das Vieh und für die Äcker und Felder. Es kommt immer wieder zu Kämpfen, denn einer will dem anderen sein Land wegnehmen.«
»Wir werden nach Grünland auswandern!« Helga nickte Leif zu.