Bronwyn Jameson
Deine Lippen, deine Küsse … unwiderstehlich
IMPRESSUM
BACCARA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1
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© 2008 by Bronwyn Turner
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARA
Band 1542 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Roswitha Enright
Fotos: Harlequin Books S.A.
Veröffentlicht im ePub Format im 12/2010 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-86295-526-8
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Nachdem Kimberley Blackstone die Zollabfertigung verlassen hatte, beschleunigte sie ihre Schritte und steuerte auf den Ausgang des Auckland International Airport zu. Trotz ihrer hohen Absätze erreichte sie die Ankunftshalle als Erste und vergrößerte so ihre Chancen, ein Taxi zu erwischen. Da sie versuchte, sich nach den Weihnachtsfeiertagen gedanklich wieder auf den Alltag und den ersten Arbeitstag bei House of Hammond einzustellen, hatte sie die Reporter nicht bemerkt, die am Ausgang lauerten.
Ein Blitzlichtgewitter empfing sie, und sie blieb so plötzlich stehen, dass der Louis-Vuitton-Koffer, den sie hinter sich herzog, gegen ihre Beine rammte. Autsch!
Das konnte doch nur ein Missverständnis sein, dachte Kimberley. Seit fast zehn Jahren hatten die Paparazzi sich nicht mehr für sie interessiert – seit dem Zeitpunkt, als sie sich von ihrem Vater und seinem Diamantenimperium gelöst hatte. Das war damals eine Riesensensation gewesen, denn welche Tochter hatte schon den Mut, sich von ihrem milliardenschweren Vater zu trennen und das Leben selbst in die Hand zu nehmen?
Aber es war kein Missverständnis. Es war eindeutig ihr Name, den man rief, und ihr Gesicht, das die Reporter vor die Linse kriegen wollten. Dieser Trubel um ihre Person machte ihr Angst. Gleichzeitig spürte sie aber auch eine unbändige Wut in sich aufsteigen.
Was sollte das? Was wollte man von ihr?
Kimberley sah sich um, und ihr Blick blieb auf einer großen schlanken Gestalt hängen, die auf sie zukam. Der Mann kam ihr seltsam vertraut vor, und als sie ihn genauer ansah, trafen sich ihre Blicke. Mit schnellen Schritten drängte er sich durch die Menge, und sowie er neben ihr stand, legte er den Arm um sie und zog sie schützend an sich. Das alles passierte so schnell, dass sie gar keine Zeit und Gelegenheit hatte, ihn abzuwehren.
Und ehe sie wusste, wie ihr geschah, drückte er sie an seinen schlanken muskulösen Körper. Verwirrt hob sie den Kopf und sah ihn an.
Ric Perrini.
Zehn Jahre zuvor hatte sie eine leidenschaftliche Affäre mit diesem Mann gehabt, bevor sie ihn geheiratet hatte. Ihre Ehe dauerte dann allerdings nur ganze zehn Tage, bevor sie endete. Kimberley hatte lange gebraucht, um über Ric hinwegzukommen und sich ein neues Leben aufzubauen.
Nach all dieser Zeit hätte sich sein Körper eigentlich nicht mehr so vertraut anfühlen sollen, hätten sein männlicher Duft und seine Kraft sie nicht so gefangen nehmen dürfen. Sie wusste, wie leicht sie seiner Leidenschaft verfiel, wie sehr sein Begehren ihr Verlangen herausforderte.
Typisch war auch, dass er keine Schwierigkeiten hatte, die Situation zu meistern. Die Reporter wichen ihm aus, und als er Kimberley jetzt ins Ohr flüsterte: „Mein Wagen wartet. Ist das dein ganzes Gepäck?“, erkannte sie sofort seinen tiefen verführerischen Tonfall wieder.
Sie nickte. Dennoch wäre sie am liebsten stehen geblieben und hätte ihm gesagt, er solle sich zum Teufel scheren, als er sie losließ und einfach ihren Koffer nahm.
Aber sie war nicht dumm. Sie kannte Perrini gut genug, um zu wissen, dass er mit seiner Haltung immer Erfolg hatte. Der finstere Gesichtsausdruck und sein herrisches Auftreten hielten die Reportermeute auf Abstand.
Doch sie war nicht bereit, sich widerstandslos ihrem Schicksal zu ergeben. „Ich vermute, du wirst mir sagen, was dieser ganze Zirkus hier soll“, brachte sie mühsam beherrscht hervor.
„Nicht solange der Zirkus in Hörweite ist.“
Perrini fuhr den Fotografen dicht vor ihnen so heftig an, dass der erschreckt zur Seite sprang. Dann zerrte er Kimberley eilig weiter. Und obgleich sie sich ärgerte, dass er auf sie keine Rücksicht nahm, musste sie ihm recht geben. In dieser Situation konnte sie nicht erwarten, dass er lange Erklärungen abgab. Aber im Auto dann …
Den anfänglichen Schock hatte sie überwunden, allmählich funktionierte ihr Verstand wieder. Für das Ganze konnte nur ihr Vater verantwortlich sein. Es handelte sich sicher nur um einen Publicitygag, der mit seinem Unternehmen Blackstone Diamonds zu tun hatte.
Sie wusste, dass ihr Vater aus Sydney nach Neuseeland kommen wollte, um bei der Eröffnung der neuesten Boutique seiner exklusiven Juwelierladenkette anwesend zu sein. Die breite Schaufensterfront grenzte leider direkt an den Laden des Konkurrenzunternehmens, für das Kimberley arbeitete. Das war natürlich kein Zufall, dachte sie verbittert, genauso wie es kein Zufall war, dass Ric Perrini sie hier in Auckland abfing und zu seinem Wagen zerrte.
Perrini war Blackstones rechte Hand, stellvertretender Generaldirektor des Unternehmens und Chef der Abteilung Bergbau. Ihm unterstanden Diamantenminen in aller Welt. Die Hochzeit mit der Tochter des Chefs hatte sich für ihn bezahlt gemacht. Sicher hatte ihr Vater ihn geschickt. Die Frage war nur, warum?
Bei seinem letzten Besuch in Auckland hatte ihr Vater versucht, sie zu überreden, wieder in den Schoß des Familienunternehmens zurückzukehren. Er hatte ihr wieder denselben Job angeboten, den sie damals zusammen mit ihrer Ehe aufgegeben hatte. Das Treffen hatte böse geendet. Harte Worte waren gefallen, und Howard hatte gedroht, sie aus seinem Testament zu streichen, wenn sie nicht tat, was er wollte.
Zwei Monate später lebte Kimberley immer noch in Auckland und arbeitete für Howards Erzkonkurrenten, das House of Hammond. Sie hatte seit dem letzten Treffen kein Wort mehr mit Howard gewechselt, was Kimberley nicht überraschte. Wenn ihr Vater sagte, dass er nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, dann konnte sie sich darauf verlassen.
Warum also hatte er seinen Vertrauten Ric Perrini geschickt? Und warum hatte er ihr die Medienmeute auf den Hals gehetzt? Was erhoffte er sich von der Publicity? Wollte er ihr wieder einmal beweisen, dass er Macht über sie hatte?
Sie war verwirrt und wütend, als sie endlich den Wagen erreichten. Der Fahrer verstaute ihren Koffer, und Perrini schob sie auf den Rücksitz. Die Tür schloss sich hinter ihr, endlich war Kimberley vor den Kameras der Reporter sicher.
Perrini war neben dem Wagen stehen geblieben und hob jetzt die Hände, als wollte er um Ruhe bitten. Was er sagte, konnte sie leider nicht verstehen. Sie konnte nur sehen, dass die Journalisten ihm wie gebannt zuhörten.
Sie musste endlich wissen, was Sache war, und tippte dem Fahrer auf die Schulter. „Können Sie bitte die Zentralverriegelung lösen? Ich muss unbedingt aussteigen.“ Doch der Mann tat so, als hätte er sie nicht gehört, und sah betont gelangweilt aus dem Fenster.
„Man hat mich gekidnappt! Machen Sie sofort die Tür auf, oder ich werde dafür sorgen, dass Sie …“
Bevor sie den Satz beenden konnte, wurde die Tür aufgerissen, und Ric schob sich schnell neben sie. Und obgleich sie ihm im Terminal sehr viel näher gewesen war, als er sie schützend in die Arme genommen hatte, fühlte sie seine körperliche Anwesenheit hier in dem geschlossenen Raum besonders deutlich. Schnell rutschte sie auf dem silbergrauen Ledersitz in die andere Ecke und befestigte den Sicherheitsgurt. Der Wagen fuhr an.
Wütend drehte sie sich zu ihrem Nachbarn um. „Du hast mich hier in dem Wagen eingesperrt, während du mit den Journalisten sprachst. Warum?“
In aller Seelenruhe befestigte auch er den Sicherheitsgurt, dann sah er sie an. Zum ersten Mal wurden sie nicht unterbrochen oder abgelenkt, und für den Bruchteil einer Sekunde ließ sie sich von seinen erstaunlich blauen Augen gefangen nehmen. Sofort erwachten vergessen geglaubte Erinnerungen in ihr.
„Du kannst sicher sein“, sagte er grimmig, „dass ich nicht hier wäre, wenn es nicht wirklich wichtig wäre.“
„Wichtig für wen? Für meinen Vater?“
Schweigend blickte er sie an. Er wirkte verärgert.
„Hat er geglaubt, dass du mich umstimmen könntest?“ Ihre Stimme klang kalt, obwohl sie immer wütender wurde. „In diesem Fall hat er sich aber gründlich …“
„Er hat mich nicht geschickt, Kim.“
Der kurze Satz schockte Kim mehr als eine lange Erklärung. Was war los? Sie blickte ihn aufmerksam an, seine Haltung verriet nichts. Allerdings wirkte er nicht so arrogant wie sonst, sondern ausgesprochen ernst. Er sah sie nicht an, und wieder ging ihr durch den Kopf, was für ein beeindruckendes Profil er hatte.
Aber darum ging es jetzt nicht. Er war angespannt, als würde es ihm schwerfallen, ihr das zu sagen, was er ihr sagen musste.
Kimberley wurde es eiskalt ums Herz. Irgendetwas war geschehen, und es war nichts Gutes.
„Was ist denn los?“, fragte sie und presste ihre Finger gegen die weiche Lederhandtasche, die auf ihrem Schoß lag. „Wenn Vater dich nicht geschickt hat, warum bist du dann gekommen?“
„Howard ist gestern Abend aus Sydney abgeflogen. Und heute Morgen hat man deinen Bruder angerufen und ihm mitgeteilt, dass das Flugzeug leider nicht in Auckland angekommen ist.“
„Nicht angekommen ist?“ Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Das gibt es doch gar nicht. Was ist denn passiert?“
„Das wissen wir noch nicht. Zwanzig Minuten nach dem Start in Sydney verschwand das Flugzeug von dem Radarschirm.“ Er blickte sie an, dann senkte er den Kopf. „Es tut mir so leid, Kim“, sagte er leise.
Nein. Das konnte nicht sein. Ausgerechnet ihr Vater, der mit all seiner Macht und Energie unsterblich zu sein schien, sollte tot sein? Und sollte seinen größten Triumph nicht mehr miterleben, nämlich seinem ärgsten Konkurrenten dessen Terrain streitig zu machen? „Er wollte doch zur Eröffnung des neuen Juweliergeschäfts in der Queen Street kommen“, sagte sie tonlos.
„Ja. Er hatte eigentlich um halb acht fliegen wollen, aber der Flug verzögerte sich. Er hatte noch im Büro zu tun.“
So war es immer gewesen. Schon in Kimberleys Kindheit hatte er nie Zeit für sie und ihren Bruder gehabt, weil das Geschäft immer vorging. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn jemals anders als in einem dreiteiligen Anzug gesehen zu haben. Der Beruf war alles, was ihn interessierte. Diamanten, Verträge und weltweite Publicity, dafür lebte er.
„Als ich dich auf dem Flugplatz sah, umringt von Reportern, Fotografen und TV-Crews, habe ich gedacht, es hätte mit der Geschäftseröffnung zu tun. Du weißt, Vater scheute in dem Punkt vor nichts zurück.“ Das Herz wurde ihr schwer. „Aber sie sind gekommen, weil sie es wussten.“
Während sie ihren letzten Strandspaziergang genoss, sich ein allerletztes Frühstück mit Papayas und Mangos schmecken ließ und später im Flugzeug mit dem jungen Mann flirtete, der neben ihr saß, war ihr Vater … „Und ich hatte keine Ahnung“, stieß sie stockend hervor. Trotz der Entfremdung in den letzten zehn Jahren, trotz all der berechtigten Vorwürfe, die sie dem Vater machte, hatte sie ihn bewundert, vor allem als Kind und Jugendliche. Sie erinnerte sich noch gut, dass ihr Bruder und sie immer um seine Gunst gebuhlt hatten. Er hatte großen Einfluss auf sie gehabt, auf ihre Entscheidungen in Bezug auf ihren Beruf und darauf, was sie für wichtig hielt. Natürlich hatte sie in den letzten Jahren manches in Frage gestellt und war insgesamt kritischer ihm gegenüber geworden, aber er war doch immer noch ihr Vater. „Woher wussten die Reporter denn so gut Bescheid?“
Ric zuckte mit den Achseln. „Über deinen Vater? Keine Ahnung. Und woher sie wussten, mit welchem Flug du kommst, ist mir auch ein Rätsel.“
„Und woher wusstest du es?“
„Ich habe bei dir im Büro angerufen. Aber der Kerl da in deiner Firma, dieser Lionel, wollte mir nicht gleich sagen, wann du ankommst.“ Er hatte kostbare Zeit verloren, bis er die Information endlich aus dem Mann herausgepresst hatte. Und auf der ganzen Fahrt zum Flughafen stand er unter dem Druck, eventuell zu spät zu kommen. Denn die Reporter fanden immer einen Weg, an Informationen heranzukommen. Und wenn Kimberley nun von ihnen erfuhr, dass … Schrecklicher Gedanke!
Es wunderte ihn nicht, dass Lionel so zurückhaltend war. Denn die beiden Unternehmen waren erbitterte Konkurrenten, obgleich die Gründer sogar miteinander verwandt waren. Howard Blackstone und Oliver Hammond waren Schwäger, und der Kampf zwischen beiden Häusern, der nun schon dreißig Jahre dauerte, hatte auch auf die nächste Generation abgefärbt. Dass Kimberley die Position als Assistentin bei ihrem Cousin Matt Hammond angenommen hatte, hatte die Beziehungen nicht gerade verbessert.
„Ich kann verstehen, dass Lionel nicht gleich bereit war, mit der Information herauszurücken“, sagte Kimberley, als habe sie gerade Rics Gedanken gelesen.
Ihre Stimme klang kalt und überheblich, und Ric musste sich zusammennehmen, um nicht heftig zu kontern. Was hatte er erwartet? Sie waren erst zehn Minuten zusammen, und schon waren sie kurz davor, sich zu streiten. Aber so war es immer gewesen. Auch in guten Zeiten hatten beide immer Schwierigkeiten gehabt, ihr Temperament zu zügeln.
Müde lehnte er den Kopf gegen das Polster. Er kannte keine Frau, die schwieriger war als Kimberley. Allerdings auch keine, die ihn mehr reizte und die ihm mehr Freude und Befriedigung schenkte als sie.
Als er telefonisch von der vermissten Maschine hörte, war ihm gleich klar gewesen, dass er nach Auckland fliegen musste. Sosehr ihm auch widerstrebte, ihr diese Nachricht überbringen zu müssen, so sehr freute er sich, dass sie auf diese Weise gezwungen war, nach Sydney zurückzukommen. Sie gehörte zu Blackstone.
Er sah sie an. Sie benutzte immer noch dieses leichte Parfüm, das nach Sommerblumen duftete und ihn nur zu eindeutig an frühere Zeiten erinnerte.
Und sie gehörte in sein Bett.
„Du musst heute Morgen schon sehr früh geflogen sein“, sagte sie.
„Ich war auf dem Flug von der Janderra-Mine zurück nach Sydney, als Ryans Anruf mich erreichte. Da es eine eilige Sache war, hatte ich den Firmenjet genommen.“
„Ach so, dann warst du also mit dem Flugzeug unterwegs, als Ryan dich anrief. Deshalb konntest du so schnell kommen.“
Sie blickte ihn mit ihren jadegrünen Augen an, und ihm krampfte sich das Herz zusammen. Ihre Augen hatten ihn immer am meisten beeindruckt, nicht nur, weil sie mit den schwarzen dichten Wimpern und den feinen dunklen Augenbrauen besonders schön waren, sondern weil sie am ehesten etwas von Kimberley Blackstone preisgaben. Er hatte gelernt, in ihren Augen zu lesen.
Nicht, dass Kimberley jemals Schwäche zeigen würde. Dazu war sie zu sehr die Tochter ihres Vaters. Auch jetzt versuchte sie mit Erfolg, Haltung zu bewahren, aber es fiel ihr nicht ganz leicht, das war ihr anzumerken.
„Dass ich gerade mit dem Flugzeug unterwegs war, hatte nichts damit zu tun“, meinte er. „Ich wäre sowieso gekommen.“
„Um mir zu sagen, dass mein Vater tot …“
„Um dich nach Hause zu bringen.“
„Nach Sydney?“ Sie lachte kurz auf. „Das ist schon lange nicht mehr mein Zuhause.“
„Ich weiß.“
Nachdem sie sich von ihm getrennt hatte, hatte er sie erst einmal in Ruhe gelassen. Sie sollte Zeit haben, über ihre ewigen Streitereien nachzudenken, und endlich zu dem Schluss kommen, dass sie zusammengehörten. Doch als er sie nach vier Monaten, die ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen waren, besuchte, musste er feststellen, dass sie sich nicht verändert hatte. Immer noch machte sie ihm heftige Vorwürfe und war fest davon überzeugt, dass ihre Ehe ein riesengroßer Fehler gewesen war. Sie hatte ein neues Zuhause in Neuseeland gefunden und wohnte in Auckland.
Und Matt Hammond war ihr Chef und ihr Beschützer.
All das war Ric noch so gegenwärtig wie am ersten Tag, und bei dem Gedanken daran verdüsterte sich seine Miene. Ein kurzer Blick, und sie wusste, was ihm durch den Kopf ging. Sie selbst erinnerte sich nur zu gut an ihre letzte heftige Auseinandersetzung in ihrem Büro bei Hammond. Ihre Augen funkelten gefährlich, und eine leichte Röte überzog ihre hohen Wangenknochen.
„Du hast gesagt, du würdest mich in Ruhe lassen.“
Das hatte er auch getan, bis heute. Er war zu stolz gewesen, um hinter ihr herzulaufen. Aber dies war jetzt eine andere Situation. „Dass ich gekommen bin, hat nichts mit dir und mir zu tun“, sagte er kühl. „Hier geht es um deinen Vater und deine Familie.“
Sie blickte zur Seite und verkniff sich, ihn darauf hinzuweisen, dass auch die Hammonds ihre Familie waren. Ihre Mutter Ursula, die starb, als Kimberley gerade zwei Jahre alt war, war die Schwester von Oliver Hammond. Da Kimberley von ihrem Vater sehr beeinflusst war, hatte sie gegen die Hammonds immer große Vorbehalte gehabt und hatte Onkel und Tante in Neuseeland und ihre beiden adoptierten Söhne Matt und Jarrod aus tiefster Seele abgelehnt.
Aber als sie nach der Trennung von Ric und ihrem Vater einen neuen Job suchte, hatten die Hammonds sie mit offenen Armen aufgenommen. Matt hatte sich als treuer Freund erwiesen, wenn auch seine Frau Marise immer etwas eifersüchtig war. Doch Matt hatte darauf bestanden, dass Kimberley die Patentante seines kleinen Sohns Blake wurde.
In den letzten zehn Jahren waren die Hammonds für sie zu ihrer Familie geworden, und sie fühlte sich dort mehr zu Hause, als sie es jemals in Sydney bei den Blackstones getan hatte. Aber das hatte sie natürlich nie verlauten lassen. Seit Matt ihr den Job und ein Zuhause angeboten hatte, war Ric extrem schlecht auf ihn zu sprechen. Und wenn Kimberley seinen Gesichtsausdruck jetzt richtig deutete, dann hatte sich daran nichts geändert.
Dass ich gekommen bin, hat nichts mit dir und mir zu tun. Hier geht es um deinen Vater und deine Familie.
Wie recht er hatte, und das nicht nur in einer Hinsicht.
Ihre Beziehung hatte nie nur mit ihm und ihr zu tun gehabt. Genau das war das Problem. Sie waren sich das erste Mal bei Blackstone Diamonds begegnet und waren sich nähergekommen, als sie gemeinsam die Verkaufsstrategie für den Einzelhandel entwickelten. Sie hatte ihr Modell dann dem Vorstand vorgestellt, und als es akzeptiert wurde, hatten sie ihren Erfolg gefeiert und das erste Mal miteinander geschlafen.
Doch Perrini wollte mehr. Um das zu erreichen, hatte er sie geheiratet, und sein stolzer Schwiegervater hatte ihm alles überlassen, was der junge ehrgeizige Marketingexperte forderte: Macht, Prestige und Zugang zu Sydneys feiner Gesellschaft.
Auch die Einrichtung der Einzelhandelsläden war ihm übertragen worden, eine Aufgabe, die Kimberley versprochen worden war und für die sie sich bereits extrem eingesetzt hatte. Als sie sich beklagte, schlug sich Perrini auf die Seite ihres Vaters, der behauptete, sie wäre einer solchen Aufgabe nicht gewachsen.
Mit der Zeit hatte sie eingesehen, dass die Einschätzung vielleicht nicht ganz falsch gewesen war. Aber mit einundzwanzig war sie leidenschaftlich in Ric verliebt gewesen und empfand seine Haltung nur als Verrat, als Beweis dafür, dass er sie nicht liebte. Er war hinter ihr her gewesen und hatte sie geheiratet, aber nur, weil er ehrgeizig war und Karriere machen wollte.
Jetzt war er gekommen, um sie wieder mit ihrer Familie in Sydney zusammenzubringen. Aber war das wirklich der Grund?
Je länger sie schweigend durch die Stadt fuhren, desto klarer wurde ihr, dass seine Motive unwichtig waren. Allmählich wurde ihr bewusst, was er gesagt hatte und was diese Nachricht für sie bedeutete.
Dass ich gekommen bin, hat nichts mit dir und mir zu tun. Hier geht es um deinen Vater und deine Familie.
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Perrini die Beine lang ausgestreckt hatte. Es war nett von ihm gewesen, dass er sie vor den Presseleuten in Schutz genommen hatte, dachte sie, verbot sich diesen Gedanken aber ganz schnell. Sie brauchte seinen Trost nicht, nicht mehr. Das Beste war, möglichst schnell nach Sydney zu fliegen, um bei ihrer Familie zu sein, wenn die Nachricht über das Schicksal des Vaters eintraf.
Wenn sie daran dachte, dass sie bald ihren Bruder Ryan und auch Tante Sonya wiedersehen würde, die versucht hatte, ihr die Mutter zu ersetzen, wurde ihr warm ums Herz. Aber sie durfte ihren Gefühlen nicht freien Lauf lassen. Irgendwann würde sie auch Gelegenheit haben zu weinen, aber keinesfalls in Gegenwart von Ric Perrini.
„Hier wohnst du?“
Neugierig sah Ric an dem hübschen Stadthaus empor, während der Fahrer am Straßenrand einparkte. Kimberley nickte. Da er dem Fahrer die Adresse gegeben hatte, ohne sie vorher gefragt zu haben, wusste er wohl Bescheid. Irgendwie machte es sie nervös, dass er jetzt ihr Heim betreten sollte.
Dies war ihr Zuhause, in dem sie sich wohl und sicher fühlte und sich nach einem hektischen Tag in der Firma entspannen konnte. Der Gedanke, dass Ric nun dieses Refugium betrat, behagte ihr ganz und gar nicht.
Aber natürlich musste sie ihn hereinbitten, wenn er schon extra gekommen war, um sie nach Sydney zu begleiten. „Möchtest du hereinkommen?“, fragte sie schnell, bevor sie es sich anders überlegte. „Ich brauche nicht lange, muss nur ein paar Sachen zusammenpacken, meine Pflanzen wässern und kurz im Büro Bescheid sagen.“
Er hob überrascht die dunklen Augenbrauen. „Dann kommst du wirklich mit?“
„Ja, selbstverständlich. Hast du daran gezweifelt?“
„Bei dir kann man nie sicher sein.“
„So?“ Kimberley lachte kurz auf, und sekundenlang sahen sie sich schweigend in die Augen. Dann lächelte Ric, und für einen kurzen Moment stand ein Ausdruck in seinen Augen, den sie aus ihren ersten verliebten Zeiten kannte. Kimberleys Herzschlag beschleunigte sich, gleichzeitig verachtete sie sich dafür.
„Dann will ich mich mal beeilen“, sagte sie schnell und legte die Hand auf den Griff der Wagentür. In diesem Augenblick klingelte Rics Handy. Doch sie kümmerte sich nicht darum, ließ sich von dem Fahrer das Gepäck herauftragen und suchte in ihrer Tasche nach den Schlüsseln und ihrem Handy. Während sie aufschloss und den Fahrer hereinwinkte, rief sie das Büro an und meldete sich für die kommende Woche ab.
Auch Matt sollte sie anrufen, damit er als ihr Freund und Chef Bescheid wusste. Doch sie hatte kaum seine Nummer gewählt, als sich eine kräftige Hand um ihr Handgelenk schloss. Es war Ric.
„Willst du etwa deinen Boss anrufen?“
Seine Stimme klang gepresst, und Kimberley wurde wütend. Was sollte das? Natürlich musste sie Matt anrufen. „Tut mir leid, Ric, wenn du immer noch nicht begreifen kannst, dass ich nicht mit meinem Boss …“
„Wenn ich keine anderen Sorgen hätte, Kim, wäre ich glücklich.“
Der Anruf. Natürlich. Er hatte neue Informationen über das Flugzeug und ihren Vater.
Ihr Herz krampfte sich zusammen, aber sie ließ sich nichts anmerken, sondern sah ihn nur mit großen Augen an.
„Sie haben Wrackteile des Flugzeugs gefunden“, sagte er leise und bestätigte damit ihre schlimmsten Befürchtungen. „Dicht an der Küste.“
Nur Wrackteile des Flugzeugs? „Also keine Menschen? Keine … Toten?“
„Doch. Sie haben eine Person gefunden. Lebend. Eine Frau.“
Sie schluchzte kurz auf, und ihr ganzer Körper wurde plötzlich von einem Zittern erfasst, das sie nicht kontrollieren konnte. Ric legte den Arm um sie.
„Wer ist es?“, flüsterte sie. „Tante Sonya war doch hoffentlich nicht auch im Flugzeug?“
„Nein. Es ist nicht deine Tante. Ryan meint, es sei möglich, dass es sich um Marise Hammond handelt. Die Frau deines Chefs.“
Marise Hammond war möglicherweise in Howard Blackstones Maschine gewesen?
„Wie kann das sein?“ Sicher, Marise war den letzten Monat über in Australien gewesen. Ihre Mutter war gestorben, und so gab es einiges zu regeln. Und sie war eine etwas kapriziöse Person und sehr egoistisch, aber deshalb hätte sie doch nie zugestimmt, mit dem schlimmsten Feind ihres Mannes nach Hause zu fliegen.
Auch Ric konnte sich diesen Umstand nicht erklären. Er berichtete, dass Howard noch nicht gefunden worden war und die Polizei ihnen auch keine allzu großen Hoffnungen machte.
Was genau das bedeutete, wurde Kimberley bewusst, als sie ihren Koffer packte. Was sollte sie mitnehmen? Musste sie mit Howards Tod rechnen?
Schnell verwarf sie diesen Gedanken wieder. Sie musste positiv denken. Noch gab es Hoffnung.
Als sie ihr Gesicht im Spiegel sah, erschrak sie. Sie sah blass und elend aus, was durch ihr dunkles Haar, das sie schnell zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, noch unterstrichen wurde. Die großen Augen wirkten verloren und unendlich traurig.
Plötzlich war es mit ihrer Beherrschung vorbei. Die Knie gaben nach, und sie ließ sich erschöpft auf die Bettkante sinken. Hinter ihr lag noch der offene Koffer mit den bunten fröhlichen Sommersachen, die sie in die Ferien mitgenommen hatte.
Da hörte sie Rics tiefe ruhige Stimme aus dem Wohnzimmer, atmete tief durch und fühlte sich sogleich besser. Er hatte schon immer diese Wirkung auf sie gehabt. Offenbar telefonierte er. Vielleicht erfuhr er Genaueres. Eine Frau hatte überlebt, wahrscheinlich Marise. Vielleicht war sie nicht die einzige Überlebende?
Es musste alles gut werden. Sie, Kimberley, würde jetzt nach Hause fliegen, und schon bald würde der ganze Albtraum vergessen sein.
Ric kam ins Zimmer, das Telefon noch in der Hand. Er sah sie ernst an, und der Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. „Gibt’s was Neues?“, fragte sie leise und blickte ihn ängstlich an.
„Nein. Das war nur mein Pilot. Er sagt, der Jet sei aufgetankt und bereit zum Start.“
„Okay. Ich muss mich nur noch umziehen, dann bin ich auch fertig.“
Eine alberne Bemerkung, wenn man die Umstände bedachte. Als ob Kleidung jetzt eine Rolle spielte. Sie biss sich auf die Lippen, als Ric sie stirnrunzelnd musterte, während er auf sie zutrat. Er zog sie vom Bett hoch und sah ihr direkt in die Augen.
„Du kannst doch so gehen“, sagte er und lächelte kurz. „In Weiß hast du mir immer besonders gut gefallen.“
Irrte sie sich, oder hatte sie da eben ein kurzes Aufleuchten in seinen Augen gesehen? Was sollte das? Wollte er mit ihr flirten? Eine halbe Stunde nachdem er ihr von dem möglichen Tod ihres Vaters erzählt hatte? Das war mehr als geschmacklos.
„Ich habe nicht die Absicht, dich zu beeindrucken, Ric“, sagte sie scharf.
Er grinste nur.
„Lass mich allein, und ich bin in fünf Minuten umgezogen“, fügte sie schnell hinzu.
„Nein, bleib, wie du bist.“ Er griff nach ihrer Hand. „Dein Gesicht hat endlich wieder ein wenig Farbe. Wir wollen los, bevor du dich wieder mit allen möglichen Gedanken quälst und die Hoffnung verlierst.“
Der Flug von Auckland nach Sydney verlief ohne weitere Zwischenfälle. Der kleine Firmenjet, eine Gulfstream IV, war dasselbe Modell, das auch Kimberleys Vater für seinen schicksalhaften Flug gechartert hatte. Er war sehr luxuriös eingerichtet. Die Passagierkabine war holzgetäfelt, die Bordküche gut ausgestattet, und die weichen cremefarbenen Ledersitze wirkten sehr einladend.
Ric zeigte ihr die kleine Schlafkabine. „Wenn du möchtest, kannst du dich gern hinlegen. Das Bett ist groß genug für uns beide.“
Kein Zweifel, er wollte sie ablenken und aufmuntern. Sie fragte sich, ob er auch an den Flug denken musste, den sie damals ganz allein in einer Privatmaschine unternommen hatten.
Auf dem Weg von San Francisco nach Las Vegas hatten sie kein Bett gehabt, aber das war ihnen ganz egal gewesen. Sie hatten sich leidenschaftlich geliebt, und bevor Kimberley noch wusste, wie ihr geschah, hatte Ric ihr einen Heiratsantrag gemacht.
Dieses Wochenende war der Höhepunkt einer Liebesgeschichte gewesen, die zehn Wochen lang gedauert hatte. Ric Perrini war ein fantastischer und leidenschaftlicher Liebhaber. Sie hatten in einer der Hochzeitskapellen von Las Vegas geheiratet und danach drei Tage in einer Luxussuite im Bellagio verbracht, in denen sie alle Ausschweifungen genossen, nach denen ihnen der Sinn stand. Kimberley hätte nie für möglich gehalten, dass die Tatsache, verheiratet zu sein, sich so positiv auf das Sexleben auswirken könnte, aber die Tage und Nächte mit Ric belehrten sie eines Besseren.
Doch bei ihrer Rückkehr nach Australien war die Bombe geplatzt.
Es durchfuhr sie wie ein Dolchstoß, wenn sie an dieses böse Erwachen dachte, und sie verwarf den Gedanken schnell wieder. Das alles war zehn Jahre her, und sie sollte sich lieber auf die Gegenwart konzentrieren.
Während sie beklommen die ledernen Armlehnen umklammerte, musste sie daran denken, dass ihr Vater und Marise vor vierzehn Stunden mit eben einer solchen Maschine unterwegs gewesen waren. Einer Maschine, die dann, aus welchen Gründen auch immer, vom Himmel gefallen und ins Meer gestürzt war.
Der Hoffnungsschimmer, der ihr die ganze Zeit über Trost gegeben hatte, wurde schwächer und schwächer. Die drei Stunden Flug überstand sie nur, weil ihr gar nichts anderes übrig blieb. Als sie sich Australiens Küste näherten, nahm sie Rics Vorschlag an und legte sich hin. Die Vorstellung, die Gegend zu überfliegen, wo ihr Vater abgestürzt war, war schon schwer genug zu ertragen, sie wollte sie nicht auch noch sehen.
Das war nicht Feigheit, sondern Selbstschutz.
Bisher hatte sie sich ziemlich gut gehalten. Sie war nicht in Tränen ausgebrochen, und sie schaffte es sogar, ruhig und gleichmäßig zu atmen, sodass Ric glauben musste, sie schliefe. Aber es fiel ihr nicht leicht, sich zu verstellen, vor allem wenn er sie betrachtete. Dann hatte er sie mit einer leichten Wolldecke zugedeckt. Wenn er etwas gesagt oder sie berührt hätte, dann hätte sie ihn vielleicht gebeten zu bleiben. Damit er sie halten und trösten und ablenken konnte, auf jede nur erdenkliche Weise.
Denn sie fühlte sich so entsetzlich allein und hilflos.
Aber er hatte die Tür nur vorsichtig von außen zugezogen, und sie hatte sich zusammengerollt. Genauso hatte sie es auch als Kind getan, wenn sie sich nachts in der Eingangshalle auf einem Stuhl zusammenrollte. Wie oft hatte sie dort auf ihren Vater gewartet, der immer sehr spät nach Hause kam.
Als sie sich jetzt diesem Zuhause wieder näherte, wurde ihr besonders qualvoll bewusst, dass ihr Vater möglicherweise nie wieder „nach Hause“ kommen würde. Sie wunderte sich selbst, wie sehr sie darunter litt. Sie selbst hatte manches auszustehen gehabt, und wie er die Hammonds, immerhin die Familie seiner Frau, behandelte, würde sie ihm nie verzeihen. Und hatte er sich nicht in ihre Ehe eingemischt, um seine eigenen Vorstellungen durchzudrücken?
Vielleicht sollte sie sich lieber an diesen Howard Blackstone erinnern, anstatt von dem Vater ihrer Kindheit zu träumen, der sowieso nur in ihrer Fantasie existiert hatte.
„Alles okay?“, fragte Ric und warf ihr einen kurzen Seitenblick zu, konzentrierte sich aber dann wieder ganz auf die Straße. Sie waren auf dem Flugplatz in seinen blauen Maserati umgestiegen. Aber sie war so in Gedanken versunken, dass sie seine Frage überhörte.
Als sie das nächste Mal vor einer roten Ampel halten mussten, legte er ihr die Hand auf die bebenden Finger, die sie im Schoß verschränkt hatte. Sie schluckte und sah ihn an. „Ich wünschte, du wärst nicht so nett, du machst mich ganz nervös.“
„Entschuldige, das ist nur eine momentane Schwäche. Daran solltest du dich nicht gewöhnen.“
„Danke für die Warnung“, bemerkte sie trocken. Aber dann wurde ihr klar, dass er sie mit seiner ironischen Bemerkung wieder einmal aus ihrer Trübsal herausgeholt hatte. „Danke“, wiederholte sie leise.
„Für was denn?“ Die Ampel wurde grün. Er nahm die Hand wieder weg und legte sie aufs Steuerrad.
„Dass du mir die Nachricht persönlich überbracht hast. Dass du mich vor der Pressemeute gerettet und mir geholfen hast, mit alldem zurechtzukommen, was auf mich einstürzte. Das war sehr nett von dir, und ich danke dir, Ric.“
„Das war doch selbstverständlich.“ Er schwieg, dann sagte er plötzlich: „Du hast dich bei mir bedankt. Offenbar mache ich Fortschritte.“
Stimmt, bisher hatte sie sich noch nie für irgendetwas bei ihm bedankt.
„Das war nur eine momentane Schwäche“, sagte sie betont kühl. „Daran solltest du dich nicht gewöhnen.“
Er lachte, und sie erschauerte. Sein tiefes weiches Lachen hatte immer diese Wirkung auf sie gehabt. So schnell sollte sie sich nicht von ihm einwickeln lassen. Aber im Augenblick tat es ihr gut, sich von ihm ablenken zu lassen, vor allem weil sie gerade die Straße hinauffuhren, in der all die Millionärsvillen standen. Ganz oben stand die prächtigste von allen.
Miramare.
In dieser dreistöckigen weißen Villa war Kimberley die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens zu Hause gewesen. Früher war ihr nie aufgefallen, wie groß und majestätisch ihr Elternhaus war. Aber jetzt, nach der langen Abwesenheit, konnte sie kaum glauben, dass all dies für sie früher selbstverständlich gewesen war. Zehn Jahre hatte sie ihr Elternhaus nicht mehr betreten. Ihr Vater hatte es ihr verboten, nachdem sie nicht mehr für Blackstone Diamonds arbeiten wollte.
Als Ric den Wagen vor dem Eingangsportal parkte, war Kimberley in einem totalen Gefühlswirrwarr. Erwartung, Aufregung, Ängste, Zorn, alles stürmte gleichzeitig auf sie ein, und sie starrte bewegungslos auf die breiten Stufen, die zu der gewaltigen Haustür hinaufführten.
Ric drehte sich zu ihr um. „Na, wie ist’s? Ist es ein gutes Gefühl, wieder zu Hause zu sein?“
Was für eine Frage. War dies noch ihr Zuhause? Würde ihre Familie sie willkommen heißen?
Als sie ihren Job bei Blackstone aufgab und bei Hammond anfing, da hatte sie auch ihre Familie verlassen, leider, denn der Bruch zwischen den Blackstones und den Hammonds schien nicht zu kitten zu sein. Sie hatte wählen müssen, das war ein ungeschriebenes Gesetz gewesen.
Auch Sonya Hammond hatte diese Erfahrung machen müssen. Sie war schon als Teenager zu den Blackstones gekommen. Und als ihre ältere Schwester Ursula, Kimberleys Mutter, starb, war sie geblieben. Was zur Folge hatte, dass die Hammonds sie nicht mehr als Mitglied der Familie betrachteten.
Wie würde Sonya sie empfangen? Oder, noch wichtiger, wie stand ihr Bruder Ryan jetzt zu ihr? Er war etwas jünger als Kimberley und hatte einiges unter dem Vater auszustehen gehabt. Aber seit er für die Einzelhandelskette verantwortlich war, hatte sich seine Position in dem Unternehmen gefestigt. Er hatte der Schwester ihr „Überlaufen zum Feind“, wie er es nannte, schwer übel genommen.
Aber sie hatte Rics Frage noch nicht beantwortet.
War es ein gutes Gefühl, wieder zu Hause zu sein?
„Ich habe alle möglichen Empfindungen“, sagte sie leise. „Aber gut sind sie eigentlich nicht.“
Bevor er darauf reagieren konnte, sah er, dass die schwere Eingangstür geöffnet wurde und Sonya heraustrat. Ihre schmale Gestalt stand aufrecht in dem mächtigen Türrahmen.
„Sie hat sich überhaupt nicht verändert“, stieß Kimberley leise hervor.
Tante Sonya war groß und schlank und wie immer elegant gekleidet. Auch ihr braunes Haar trug sie wie immer straff nach hinten gekämmt. Sie lächelte und hob grüßend die Hand.
Kimberley wurde ganz warm ums Herz. Tränen schimmerten in ihren Augen, und am liebsten hätte sie die Wagentür aufgestoßen, wäre auf die Tante zugestürzt und hätte sie umarmt. Aber sie nahm sich zusammen und putzte sich die Nase. Dann ließ sie sich von Ric aus dem Wagen helfen, lief die Stufen hinauf und der Tante in die weit geöffneten Arme. Nun wusste sie, wie es sich anfühlte, zu Hause zu sein. Und jetzt liefen ihr die Tränen, die sie um ihren Vater nicht hatte weinen können, über die Wangen.
„Es tut mir so leid“, schluchzte sie, „so furchtbar leid …“
Sonya drückte sie an sich. „Uns auch, Liebes, wegen allem.“
Dann ließ sie sie los, nahm aber Kimberleys Hand fest in die ihre. „Ich bin so froh, dass du wieder zu Hause bist, Kim. Du siehst gut aus, trotz all dem, was geschehen ist.“ Auch Sonya standen die Tränen in den Augen, und sie legte Kim liebevoll den Arm um die Schultern. „Lass uns reingehen. Dein Bruder ist mit Garth auf der Terrasse. Sicher bist du schon gespannt, die beiden wiederzusehen. Auch Danielle ist da. Sowie sie die Nachricht erhielt, hat sie sich in Port Douglas ins Flugzeug gesetzt.“
Danielle war Sonyas Tochter, die in der Eingangshalle auf Kimberley wartete. Sie hatte sich enorm verändert. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren hatte sie sich zu einer wahren Schönheit entwickelt. Sie war schlank, hatte kupferfarbenes Haar und goldbraune Augen, in denen jetzt Tränen der Freude schimmerten. Überglücklich stürzte sie auf Kimberley zu und umarmte sie.
„Dann hast du es tatsächlich geschafft“, sagte sie über Kimberleys Schulter hinweg zu Ric. „Das hätte ich nie gedacht.“
„Ich bin doch nur der Chauffeur“, meinte er und grinste. „Manchmal allerdings auch der Kofferträger. Wo soll ich die Sachen hinbringen?“
Kimberley drehte sich um und sah, dass er ihre Koffer bereits aus dem Wagen genommen hatte. Fragend blickte sie Sonya an.
„Am besten in Kims Zimmer, Ric. Du weißt ja, wo das ist.“
Er verschwand mit Sonya im Haus, und Danielles Stimme riss Kimberley aus ihren Gedanken. „Wie geht’s dir denn, Kim … oder sollte ich das lieber nicht fragen?“
„Danke, gut.“
Danielle blickte sie skeptisch an, und Kimberley bemerkte erst jetzt, dass Danielle alles andere als fröhlich war. Ihr strahlendes Lächeln wirkte aufgesetzt, die Augen sahen rot aus und ihr Gesicht leicht verquollen. Sie war quasi in diesem Haus aufgewachsen, und Howard war bestimmt ein wichtiger Teil in ihrem Leben gewesen. Eigentlich war sie mehr eine Blackstone als eine Hammond, auch wenn sie sich als Schmuckdesignerin Dani Hammond nannte und unter diesem Namen ihre eigene Firma im tropischen Norden Australiens aufgemacht hatte.
„Aber wie geht es dir, Dani? Wie läuft’s so da oben im Norden für dich?“
„Versuch nicht, das Thema zu wechseln. Jetzt will ich erst einmal Genaueres von dir wissen.“
„Wie ich schon sagte, es geht mir gut“, versicherte Kimberley. Wieder traten ihr Tränen in die Augen, und sie umarmte Danielle fest. Doch es waren eher Tränen der Freude und der Erleichterung als Tränen der Trauer. Denn hier in der vertrauten Umgebung, bei den Menschen, die sie liebte, fühlte sie sich tatsächlich wohl.
„Wisst ihr schon was Neues?“, fragte sie, trat zurück und blickte die Cousine forschend an.
„Nein. Zumindest hat dein Bruder uns nichts Neues erzählt.“
„Meinst du, Ryan weiß etwas, das er uns nicht sagen will?“
„Ich hatte den Eindruck, ja. Aber als ich ihn danach fragte, hat er mich nur heftig angefahren. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist, Kim. Sicher, er ist übernervös in dieser Situation, und Geduld war noch nie seine Stärke. Mum hat mir erzählt, dass er versucht, zusätzlich zu dem australischen Rettungsdienst noch weitere Schiffe und Flugzeuge anzuheuern.“
„Ob er mehr bei der Polizei erfahren hat, als er uns erzählt?“
Danielle zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Aber jetzt komm. Wie ich Mum kenne, hat sie schon längst etwas zum Essen für dich und Ric vorbereitet. Du hast doch wahrscheinlich den ganzen Tag noch nichts zu dir genommen.“
„Nein, stimmt. Aber an Essen mag ich momentan auch wirklich nicht denken.“
„Das kann ich mir vorstellen, aber tu Mom den Gefallen und iss etwas. Es lenkt sie ab, sich um das Essen zu kümmern.“
„Gut. Aber erst muss ich noch mit Ryan sprechen.“
Ric hatte die Koffer in Kimberleys Zimmer im ersten Stock abgestellt und kam jetzt die breite Marmortreppe herunter, die in die Eingangshalle führte. Überrascht blieb er stehen. Danielle und Kimberley gingen Arm in Arm durch die Halle auf den großen Wohnraum zu. Doch Ric hatte nur Augen für Kim.
„Da bist du ja.“ Danielle ließ Kimberley los, als Ric die letzten Stufen herunterkam. „Wir wollten gerade auf die Terrasse gehen, um mit Ryan zu sprechen.“
Ric wusste, dass diese Begegnung nicht einfach verlaufen würde, denn Kimberley wirkte sehr entschlossen und kämpferisch. „Ich bringe sie zu Ryan“, sagte er schnell und nahm Kimberley bei der Hand. „Würdest du so nett sein und Sonya bitten, uns den Kaffee auf die Terrasse zu bringen?“
Danielle nickte und warf ihm einen prüfenden Blick zu. Dann grinste sie, als wollte sie sagen: „Nicht schlecht …“
Aber leider hatte auch Kimberley diesen Blick aufgefangen, denn sie versuchte, ihm die Hand zu entziehen, und zischte: „Du brauchst nicht mit mir zu kommen. Ich weiß sehr genau, wo die Terrasse ist.“
„Das habe ich nie bezweifelt.“
„Dann lass mich los! Danielle und auch Ryan bekommen einen völlig falschen Eindruck.“
Ihre grünen Augen blitzten zornig, und sie zerrte heftiger an ihrer Hand. Aber Ric ließ sie nicht los. Im Gegenteil, er zog sie dichter an sich heran, sodass ihr Rock seine Schenkel streifte. Er meinte, ihren Herzschlag zu hören. Oder war es sein eigenes Herz, das so schnell schlug?
Sollte er sie küssen? Was ihn letzten Endes davon abhielt, war die Verletzlichkeit, die er in ihren Augen las. Sie hatte einen harten Tag hinter sich, und das, was auf sie zukam, war auch kein Zuckerschlecken. Denn irgendwann würde das Flugzeugwrack gefunden werden … und wahrscheinlich auch die Leiche ihres Vaters.
Es wäre mehr als unfair, ihre Schwäche auszunutzen. Schließlich hob er nur ihre Hand an seine Lippen und drückte einen sanften Kuss auf ihr zartes Handgelenk. Als sie plötzlich schwere Schritte hinter sich hörten, fuhren sie auseinander. Es war Garth Buick.
„Oh, Garth!“ Kimberley lief ihm entgegen und warf sich ihm in die Arme. Garth war Howards engster und ältester Freund, der auch dann noch zu ihr gehalten hatte, als sie von Blackstone zu Hammond gewechselt war.
Er legte die Arme um sie und drückte sie fest an sich, während er Ric über Kimberleys Kopf hinweg einen ernsten Blick zuwarf. „Ryan hat gerade mit Stavros gesprochen.“
Stavros war ihr Kontaktmann bei der Polizei. „Und? Schlechte Nachrichten?“
„Nichts von Howard. Aber wir wissen jetzt, wer noch mit an Bord der Maschine war.“
„Wer? Marise?“, fragte Kimberley.
Garth nickte. „Ja. Es war Marise. Sie haben sie gerade ins Leichenschauhaus gebracht.“
„Ins Leichenschauhaus?“, fragte Kimberley entsetzt. „Heißt das, dass sie …?“ Verwirrt blickte sie von Garth zu Ric. „Aber du hast doch gesagt, sie hätte überlebt. Du sagtest, sie wollten …“
„Sie ist noch auf dem Rettungsboot gestorben“, sagte Garth leise, „kurz nachdem sie sie an Bord genommen haben. Es tut mir so leid, Kim. Ich weiß, ihr habt euch sehr nahegestanden.“
„Nein, das eigentlich nicht.“
Nein? Ric sah sie überrascht an. Weshalb war sie dann so betroffen? Wahrscheinlich dachte sie an Marise’ Mann Matt, mit dem Kimberley sich besonders gut verstand. Oder an deren kleinen Sohn. Schrecklich.
„Ist es denn sicher, dass es sich wirklich um Marise Hammond handelt?“, fragte er noch einmal.
„Die offizielle Bestätigung steht noch aus“, meinte Garth. „Aber Stavros hätte es nicht gesagt, wenn er nicht zu neunundneunzig Prozent sicher wäre.“
„Als du mich in Neuseeland anriefst, hast du da nicht etwas von Unklarheiten bezüglich der Passagierliste gesagt?“
„Ja. Ursprünglich sollte eine Angestellte von Blackstone mitfliegen. Jessica Cotter. Sie sollte bei der Eröffnung des Ladens in Auckland dabei sein.“
Der Name war Ric unbekannt, aber er hatte mit der Einzelhandelskette nichts zu tun. „Und sie kann es nicht sein?“
„Nein. Andere Größe, andere Haarfarbe, andere Kleidung. Offenbar hat Ms. Cotter sich kurz vor dem Abflug anders entschlossen.“
„Dann ist es also Marise Hammond.“
Ric drehte sich schnell um. Sonya stand in dem Türbogen, der in die Küche führte. Sie war schockiert, das sah man ihren Augen an, aber sie hatte nichts von ihrer aufrechten Haltung verloren. Jetzt brachte sie sogar ein kleines Lächeln zustande. „Geht doch schon mal vor ins Wohnzimmer. Ich glaube, wir sollten uns alle zusammensetzen und über die Situation sprechen. Ich habe Tee und Kaffee gemacht. Und sagt mir, wenn ihr etwas Stärkeres braucht.“
Ryan Blackstone sah ganz so aus, als bräuchte er etwas Stärkeres. Ric blickte den jungen Mann prüfend an. Sein normalerweise leicht gebräuntes Gesicht war grau, und er wirkte sehr angespannt. Zwar schien er sich in Rics Gegenwart immer etwas unbehaglich zu fühlen, aber so verkrampft hatte Ric ihn noch nie gesehen.
„Einen Kaffee, Ric?“ Sonya war mit einem Tablett hinter ihn getreten.
„Gern.“ Er nahm sich eine Tasse und wandte den Blick dann sofort wieder Ryan zu. Kim lief auf den Bruder zu, und er schloss sie in die Arme, als wollte er sie nie wieder loslassen.
Plötzlich war unwichtig, dass Ryan der Schwester ihr „Überlaufen zum Feind“ sehr übel genommen hatte. Dass sie früher Rivalen gewesen waren. Dass Kim sich in dem Familienkonflikt auf die Seite der Hammonds geschlagen hatte.
Jetzt zählte lediglich, dass nur noch Kim und Ryan von ihrer Familie übrig waren. Ihr ältester Bruder James war als Kind entführt worden. Man hatte nie wieder etwas von ihm gehört. Dann hatte ihre Mutter sich das Leben genommen, und nun hatten sie möglicherweise auch noch den Vater verloren, der immer so unbesiegbar zu sein schien.
Kein Wunder, dass sie sich so fest aneinanderklammerten.
Die Fenster des imposanten Wohnraums boten einen wunderschönen Blick auf die Terrasse und den großen Garten. Die Zimmerdecke war bestimmt zehn Meter hoch und reichte über das erste Stockwerk hinaus. Licht und Luft kamen durch die weit geöffneten Fenster herein, und dennoch herrschte eine Atmosphäre wie in einem Mausoleum. Es war totenstill. Erst als eine Tasse mit leichtem Klirren abgesetzt wurde, hoben alle den Kopf. Garth hatte Sonya die Tasse abgenommen und sie auf ein Beistelltischchen gestellt.
„Danke“, sagte Sonya und räusperte sich. „Es tut mir so leid, das von Marise zu hören“, sagte sie leise, immer noch in tadelloser Haltung.
Danielle, die neben ihr saß, nahm ihre Hand. „Können wir denn ganz sicher sein, dass es wirklich Marise ist?“
„Ja“, sagte Ryan mit erstaunlich fester Stimme. „Sie war die einzige Frau an Bord des Flugzeugs. Die Crew war männlich, und ansonsten sind nur Howard und sein Anwalt mitgeflogen.“
Doch Danielle schüttelte unwillig den Kopf. „Das ergibt doch alles keinen Sinn. Warum ist sie mit Howard geflogen? Sie kannte ihn doch kaum.“