Cover

Nora Imlau

Du bist anders,

du bist gut

Gefühlsstarke Kinder
beim Großwerden begleiten.
Ab 6 Jahren.

Kösel

Für meine Tochter Annika, ohne die ich nie von
gefühlsstarken Kindern erfahren hätte

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Copyright © 2019 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt München

Umschlagmotiv: © plainpicture / Daniel Waschnig Photography | BildNR. p300m982031f

Lektorat: Dr. Daniela Gasteiger, München

ISBN 978-3-641-24994-6
V001

www.koesel.de

Inhalt

Vorwort:
Große Kinder, große Gefühle

Erstes Kapitel
Manches wird leichter – und vieles einfach nur anders: Gefühlsstarke Kinder werden größer

Gefühlsstärke ist keine Phase

Ist mein Kind nun wirklich gefühlsstark? Acht typische Eigenschaften

Gefühlsstarke Kinder: Am äußersten Ende des Spektrums der Temperamente

Das alte Rätsel der Menschheit

Gefühlsstärke ist angeboren – aber entwicklungsfähig

Vom Temperament zur Persönlichkeit

Gefühlsstärke ist und bleibt eine riesige Herausforderung

Wenn gefühlsstarke Kinder älter werden: Was anders wird

Die zwei großen Rettungsanker: Selbstregulation und Selbstfürsorge

Zweites Kapitel
Umbaumaßnahmen im Gehirn: Gefühlsstarke Kinder beim Erwachsenwerden begleiten

Die Schaltzentrale verändert sich

Einmal alles neu programmieren: Was in der späten Kindheit passiert

Wie Eltern das Gehirn ihrer Kinder prägen

Unzerbrechliche Kinder gibt es nicht

Vorsicht, Scharlatane: Wenn Hoffnung zum Geschäftsmodell wird

Gefühlsstark Plus: Wenn zu einem besonderen Temperament eine medizinische Diagnose kommt

Schluss mit den Vorurteilen! Was jeder über gefühlsstarke Kinder wissen sollte

Drittes Kapitel
Von Bedürfnissen und Wünschen: Gefühlsstarke Kinder besser verstehen

Die Bedürfnisse hinter den Gefühlen sehen

Ich liebe dich! Ich hasse dich! Im Wechselbad der Gefühle

Neue Farben in der Palette: Welche Gefühle jetzt hinzukommen

Mit neuen Gefühlen umgehen lernen

Ich will Nähe, ich will Freiheit: Das Spannungsfeld menschlicher Bedürfnisse

Bedürfnisse in Balance

Der Weg durch das Nadelöhr: Von Bedürfnissen und Strategien

Sag mir doch einfach, was du brauchst! Warum das gefühlsstarken Kindern oft so schwerfällt

Aneinander dranbleiben – trotz allem

Nun sprich doch mit mir! Aktives Zuhören statt Druck und Vorwürfe

Zwischen Schützen und Schubsen: Der größte Balanceakt

So viel Neugier, so viel Kraft: Was in gefühlsstarken Kindern und Jugendlichen alles steckt

Viertes Kapitel
Viel Freiheit und ein fester Rahmen: Wie gefühlsstarke Kinder Selbstregulationsfähigkeit entwickeln

Wenn Kuscheln nicht mehr hilft: Neue Strategien für alte Probleme

Die eigenen Emotionen regulieren lernen

Selbstregulation trainieren – Fünf ganz praktische Tipps

Halt geben, Vertrauen schenken: Persönliche Grenzen vertreten

Abgrenzen – nicht ignorieren!

Der Unterschied zwischen Kooperation und Gehorsam

Nachgeben statt Aufgeben

Ideal und Wirklichkeit

Das Geheimnis von Authentizität

Zusammen schaffen wir das! Mit gefühlsstarken Kindern Krisen meistern

Fünftes Kapitel
Du treibst mich in den Wahnsinn! Strategien für den Alltag mit gefühlsstarken Kindern

Jeder Tag ein neues Drama

Das leidige Klamottenthema

Warum immer so laut? Unterschiedliches Lärmempfinden

Immer dieses Chaos! Warum gefühlsstarke Kinder sich mit Ordnung so schwertun

Ich kann aber nicht schlafen! Schlafprobleme – immer noch

Hier brennt die Luft: Gefühlsstarke Kinder und ihre Geschwister

Wer führt? Über den schmalen Grat zwischen Selbstbestimmung und Überforderung

Sechstes Kapitel
Gefühlsstarke Kinder und die Welt da draußen: Freizeit, Medien und soziale Beziehungen

Loslassen, aber nicht alleinlassen

Du brauchst doch ein Hobby, nun bleib doch mal dabei!

Computerverrückt und handysüchtig: Exzessiver Medienkonsum

Verprasst, verschenkt, verpfändet: Gefühlsstarke Jugendliche und ihr Umgang mit Geld

Von Freunden und Feinden: Gefühlsstarke Kinder und ihr soziales Netz

Zu laut, zu wild, zu übermütig: Wenn gefühlsstarken Kindern das Freunde Finden schwerfällt

Wenn aus Wut Gewalt wird: Wege aus der Aggressionsfalle

Siebtes Kapitel
So viel Schule, so viel Stress: Warum gefühlsstarke Kinder und Jugendliche in der Schule oft so zu kämpfen haben

Ein Pensum wie ein Vollzeitjob

Ist unser gefühlsstarkes Kind schulreif?

Eine passende Schule für unser gefühlsstarkes Kind

Der wichtigste Grundsatz: Die Schule darf nie zwischen uns stehen

Miteinander statt Gegeneinander: Wie Erziehungspartnerschaft gelingt

Typische Schulprobleme gefühlsstarker Kinder – und mögliche Lösungen

Vokabeln lernen macht mir Kopfweh: Geringe Stresstoleranz als Stressfaktor

Ein Ausweg aus der Ausweglosigkeit

Achtes Kapitel
Der Schlüssel zu neuer Kraft für Eltern: Warum es ohne Selbstfürsorge auf Dauer nicht geht

Die große Erschöpfung

Stimmen aus der Vergangenheit

Fürsorge für das Kind in mir

Nett zu uns selber sein

Fünf-Punkte-Plan für den Alltag

Selbst, aber nicht allein

Neuntes Kapitel
Wer bin ich und wer bist du? Was wir von gefühlsstarken Kindern über uns selbst lernen

Woher kommt nur meine Wut?

Bin ich eigentlich selbst gefühlsstark?

Hilfe für gefühlsstarke Erwachsene

Große Gefühle schweißen zusammen

Zum Schluss

Gemeinsam statt einsam

Anmerkungen

Bildnachweis

Zum Weiterlesen

Vorwort
Große Kinder, große Gefühle

Mein Kind ist anders als andere: sensibler und gleichzeitig wilder, ungestümer und verletzlicher, kuscheliger und fordernder. Von jedem Gefühl, jedem Bedürfnis scheint es nur die Extremvariante zu kennen, die keine Grenzen und keinen Aufschub kennt. Und weil es ständig wie unter Strom zu stehen scheint, kommt es nicht nur selbst kaum je zur Ruhe – es hält auch die ganze Familie permanent in Atem. Es war dieses Gefühl, das mich vor vielen Jahren dazu bewog, mich mit dem besonderen Temperament jener Jungen und Mädchen auseinanderzusetzen, die ich heute gefühlsstarke Kinder nenne. Aus dem Wunsch, mein eigenes Kind besser zu verstehen, erwuchs eine umfangreiche Recherche, deren wichtigste Ergebnisse ich schließlich in einem Buch zusammenfasste: »So viel Freude, so viel Wut«, das erste deutschsprachige Buch über gefühlsstarke Kinder, erschien im Frühsommer 2018 und eroberte die Köpfe und Herzen vieler tausend Eltern im Sturm.

»Endlich sind wir nicht mehr allein« – das ist die häufigste Rückmeldung, die mich seither von dankbaren Leserinnen und Lesern erreicht. Denn ein gefühlsstarkes Kind ins Leben zu begleiten, kann eine verflixt einsame Erfahrung sein. Schließlich kann kaum jemand nachvollziehen, wie es wirklich ist, mit so einem hochemotionalen Energiebündel zusammenzuleben. Statt Verständnis hagelt es deshalb meist eher Erziehungstipps: Sei strenger, greif härter durch, lass ihm das nicht durchgehen. Als wäre das besondere Temperament unseres Kindes unsere eigene Schuld, und seine Schwierigkeiten im Alltag die direkte Folge unserer mangelhaften Erziehung. Dabei ist glasklar bewiesen: Kinder werden nicht gefühlsstark gemacht, sie kommen bereits mit dieser besonderen Spielart der Persönlichkeit zur Welt. Die besondere Kombination aus Wildheit und Verletzlichkeit ist keine Störung, kein Anzeichen einer Krankheit, kein Fehler im System. Sondern vielmehr eine gesunde, natürliche, angeborene individuelle Eigenschaft, die mit besonderen Herausforderungen einhergeht – aber auch mit besonderen Stärken und Potenzialen.

In »So viel Freude, so viel Wut« habe ich den Grundstein dafür gelegt, dass gefühlsstarke Kinder in Deutschland heute in einem neuen Licht betrachtet werden: nicht als verhaltensauffällige Problemkinder, sondern als die spannenden und vielseitigen Persönlichkeiten, die sie in Wirklichkeit sind. In »Du bist anders, du bist gut« führe ich diesen Gedanken nun weiter und erkläre, wie sich Gefühlsstärke mit den Jahren verändert und entwickelt und welche Folgen daraus innerhalb und außerhalb der Familie erwachsen. Ein gefühlsstarkes Schulkind braucht andere Eltern als ein gefühlsstarker Teenager. Und weil Gefühlsstärke auch im Erwachsenenalter nicht einfach verschwindet, ist es wichtig, zu verstehen, wie der besondere Mix explosiver Persönlichkeitsmerkmale auch dann in Familien wirkt, wenn Eltern und Großeltern gefühlsstark sind – auch wenn sie es als Kinder vielleicht nie sein durften.

Erstes Kapitel
Manches wird leichter – und vieles einfach nur anders: Gefühlsstarke Kinder werden größer

Gefühlsstärke ist keine Phase

»Ach, das verwächst sich«, bekommen Eltern oft zu hören, wenn sie über schrullige oder anstrengende Eigenheiten ihrer Kinder sprechen. Und oft stimmt das tatsächlich: Hartnäckige Strumpfhosen-Verweigerer ziehen sich einige Jahre später oft problemlos an, kleine Gemüse-Hasser können zu gänzlich unkomplizierten Essern heranwachsen, und aus bockigen Wutzwergen sind zehn Jahre später nicht selten sanftmütige, kompromissbereite Jungen und Mädchen geworden. Doch bei gefühlsstarken Kindern hilft das Mantra von der schwierigen Phase, die garantiert vorbeigeht, oft nicht weiter. Zwar durchlaufen selbstverständlich auch sie verschiedene Entwicklungsstufen und dabei wird manches mit der Zeit ganz von selber leichter – aber ihr intensives, hochreaktives Temperament wächst sich eben nicht aus, sondern bleibt eine Herausforderung, auch dann noch, wenn in anderen Familien längst wieder Ruhe eingekehrt ist. Denn so, wie gefühlsstarke Kinder häufig von einer großen, wilden, alles umfassenden Emotion in die nächste springen, so löst bei ihnen oft auch eine herausfordernde Phase die nächste ab. Da verwundert es nicht, dass eines der häufigsten Themen in der Gruppe für Eltern gefühlsstarker Kinder auf Facebook die bange Frage ist: Wird es für uns denn niemals leichter? Darauf gibt es keine einfachen Antworten. Denn Fakt ist: Gefühlsstärke ist und bleibt eine Charaktereigenschaft, die sich nicht einfach verwächst, sondern lebenslang Chance und Herausforderung zugleich bleibt – für die Betroffenen ebenso wie für ihr Umfeld.

Doch das heißt nicht, dass das Leben mit einem gefühlsstarken Kind nicht trotzdem mit den Jahren leichter werden kann. Denn was gefühlsstarken Kindern so schwerfällt – sich selbst zu regulieren – ist eine Fähigkeit, die sie mit der richtigen Begleitung zuverlässig lernen können. Und sobald sie diesen Dreh raus haben, wird der Familienalltag tatsächlich um ein Vielfaches unkomplizierter. Die gute Nachricht ist: Die Selbstregulationsfähigkeit ihres gefühlsstarken Kindes stärken können Eltern von der Babyzeit an. Die schlechte: Sie brauchen dafür einen verflixt langen Atem. Denn viele Jahre der geduldigen, beständigen Co-Regulation sind nötig, bis sich im Gehirn gefühlsstarker Kinder jene Strukturen ausgeprägt haben, die ihnen ermöglichen, sich ihren heftigen Gefühlsausbrüchen selbstwirksam zu stellen. Umso wichtiger ist es, auf diesem Weg die kleinen Erfolge zu sehen und zu feiern: Jede Enttäuschung, die nicht zu einem völligen Ausrasten geführt hat. Jeder Kindergeburtstag, der nicht in die Hose ging. Jedes Innehalten, Durchatmen, Ruhigwerden. Vielen Eltern gefühlsstarker Kinder gelingt dies jahrelang sehr gut. Nachdem sie verstanden haben, warum ihr Kind so ist wie es ist, schöpfen sie aus ihrem neuen Verständnis die Kraft, für ihr kleines Emotionsbündel da zu sein, ohne es mit Druck und Strafen verändern zu wollen.

Doch irgendwann, wenn ihr Kind im Grundschulalter ist, erreichen viele Eltern den Punkt, an dem sie das Gefühl haben: Jetzt ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Jetzt begleiten wir unser Kind schon so lange so verständnisvoll durch seine ganzen wirbeligen Emotionen, und es ist immer noch oft so wütend, so anstrengend, so kompliziert. So kann es einfach nicht länger weitergehen! Mit sieben, acht, neun, zehn Jahren muss ein Kind doch langsam mal in der Lage sein, nicht um jede Kleinigkeit ein Drama zu machen! Dazu kommt, dass auch das Verständnis aus dem Umfeld immer weiter sinkt. Mag ein willensstarkes Kleinkind noch ganz süß sein, geht ein gefühlt ständig bockiger Neunjähriger ohne niedlichen Babyspeck vielen Menschen schlicht tierisch auf die Nerven. »Das muss doch in dem Alter nicht mehr sein« – viele Eltern gefühlsstarker Kinder trifft dieser Vorwurf, mal abschätzig gemurmelt, mal unausgesprochen im Raum stehend, mitten ins Herz. Denn sie zweifeln ja selbst immer mehr an ihrem Weg, ihrer Erziehung, ihrem Kind. Deshalb ist es so wichtig, dass genau an dieser ganz typischen Klippe im mittleren Grundschulalter jemand steht und sagt: Keine Angst – das ist alles ganz normal. Die Wutausbrüche, immer noch. Die Verletzlichkeit, die Angst, die Tränen. Die Wechselhaftigkeit, die düsteren Gedanken, das Gefühl, dass nichts einfach mal leicht sein kann. Die Verzweiflung darüber, die Sorge, etwas falsch gemacht zu haben. All das gehört dazu, wenn gefühlsstarke Kinder größer werden in einer Welt, die nicht für sie gemacht ist und die sie und ihre Eltern so oft missversteht. Unzählige Familien sind vor uns durch diese schwierige Zeit gegangen, und unzählige werden es nach uns tun. Wir sind nicht allein. Und der Weg raus aus der Panik und dem Stress führt nicht über mehr Strenge und Härte, wie uns oft eingetrichtert wird. Sondern – wie auch schon in der Baby- und Kleinkindzeit – über Klarheit und Verständnis. Je besser wir begreifen, was in unseren gefühlsstarken Kindern vor sich geht, wenn sie älter werden, und was sie in diesen stürmischen Zeiten von uns brauchen, desto leichter wird es uns fallen, unseren Weg als Familie ruhig und selbstbewusst weiterzugehen. Und zwar nicht im Kampfmodus, in einem ständigen Gegeneinander. Sondern in dem guten Gefühl, mit unserem gefühlsstarken Kind allen Widerständen zum Trotz gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Zusammen meistern wir den Kraftakt, an einem gesunden, selbstwirksamen Umgang mit starken Gefühlen zu arbeiten, ohne sie dabei unterdrücken oder auslöschen zu wollen. Denn unser Kind ist richtig und gut, so wie es ist. Es hat nur die Lebensaufgabe, seine heftigen emotionalen Hochs und Tiefs in sozial verträgliche Bahnen zu lenken. Dabei sind wir Eltern seine wichtigsten Lehrmeister und Wegbegleiter, von der Kleinkindzeit bis zum Erwachsenwerden.