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MARTIN BUBER

Die Erzählungen
der Chassidim

Neuausgabe mit Register und Glossar

Nachwort von Michael Brocke

MANESSE VERLAG
ZÜRICH

VORWORT

Dass Chassidim sich von ihren «Zaddikim», von den Führern ihrer Gemeinschaften, Geschichten erzählen, das gehört zum innersten Leben der chassidischen Bewegung. Man hat Großes gesehen, man hat es mitgemacht, man muss es berichten, es bezeugen. Das erzählende Wort ist mehr als Rede, es führt das, was geschehen ist, faktisch in die kommenden Geschlechter hinüber, ja das Erzählen ist selber Geschehen, es hat die Weihe einer heiligen Handlung. Der «Seher» von Lublin soll einmal aus einer «Klaus» einen Lichtglanz haben aufsteigen sehn; als er eintrat, saßen Chassidim drin und erzählten sich von ihren Zaddikim.

Nach chassidischem Glauben ist das göttliche Urlicht in die Zaddikim eingeströmt, es strömt aus ihnen in ihre Werke ein, und aus diesen strömt es in die Worte der Chassidim, die sie erzählen. Dem Baalschem, dem Stifter des Chassidismus, wird der Spruch zugeschrieben, wenn einer das Lob der Zaddikim erzähle, so sei dies, als befasse er sich mit dem Mysterium des von Ezechiel geschauten Gotteswagens. Und ein Zaddik der vierten Generation, ein Freund des «Sehers», Rabbi Mendel von Rymenow, fügt erklärend hinzu: «Denn die Zaddikim sind der Gotteswagen.»1 Aber die Erzählung ist mehr als eine Spiegelung: Die heilige Essenz, die in ihr bezeugt wird, lebt in ihr fort. Das Wunder, das man erzählt, wird von Neuem mächtig. Kraft, die einst wirkte, pflanzt im lebendigen Worte sich fort und wirkt noch nach Generationen.

Man bat einen Rabbi, dessen Großvater ein Schüler des Baalschem gewesen war, eine Geschichte zu erzählen. «Eine Geschichte», sagte er, «soll man so erzählen, dass sie selber Hilfe sei.» Und er erzählte: «Mein Großvater war lahm. Einmal bat man ihn, eine Geschichte von seinem Lehrer zu erzählen. Da erzählte er, wie der heilige Baalschem beim Beten zu hüpfen und zu tanzen pflegte. Mein Großvater stand und erzählte, und die Erzählung riss ihn so hin, dass er hüpfend und tanzend zeigen musste, wie der Meister es gemacht hatte. Von der Stunde an war er geheilt. So soll man Geschichten erzählen.»

Neben der mündlichen Überlieferung hat es schon früh Ansätze zu einer schriftlichen gegeben, von der sich aber, jedenfalls aus den ersten Generationen, nichts mehr rein erhalten hat. Etliche von den Zaddikim sind in ihrer Jugend darauf bedacht gewesen, die Taten und Äußerungen ihrer Lehrer niederzuschreiben, und zwar im Wesentlichen, wie es scheint, nur für ihren eigenen Gebrauch, nicht zur Übergabe an die Öffentlichkeit. So hören wir über den volkstümlichsten von allen, den Berditschewer Rabbi, aus zuverlässiger Quelle, er habe, was sein Lehrer, der «große Maggid», Rabbi Dow Bär von Mesritsch, tat und sagte, auch alle weltliche Rede, in ein Schreibbuch eingetragen, in dem er immer wieder mit Anspannung der Seele las und immer von Neuem den Sinn jedes Spruches zu erfassen trachtete. Von seinen Aufzeichnungen hat sich nichts, von denen anderer sehr wenig erhalten.

Die Legende, diese Spätform der Sage, ist in den Weltliteraturen zumeist in einem Zeitalter entstanden, in dem die Ausbildung der literarischen Erzählungsform sich neben ihr vollzieht oder gar sich entscheidend bereits vollzogen hat. Im ersten Fall wird sie von jener beeinflusst, im zweiten von ihr bestimmt. Die buddhistische Legende und das indische Kunstmärchen, die franziskanische Legende und die früh-italienische Novelle gehören zusammen.

Mit der chassidischen Legende verhält es sich ganz anders. Eine literarische Erzählungsform hat sich im Judentum der Diaspora, das in der volkstümlichen verharrt, erst in unserem Zeitalter auszubilden begonnen. Was sich die Chassidim zum Preis ihrer Meister erzählten, konnte sich an keine schon ausgebildete oder in der Bildung begriffene Form anschließen, aber auch den Anschluss an die Volksdichtung konnte die Legende hier nur teilweise vollziehen. Zumeist war ihr inneres Tempo zu überstürzt für die gelassene Form der Volkserzählung, sie wollte zu viel sagen, als dass sie an ihr hätte Genüge finden mögen. So ist sie formlos geblieben.

Wir können am Beispiel der Baalschem-Legende verfolgen, wie die legendäre Überlieferung im Chassidismus sich entwickelt. Familienlegende und Schülerlegende umfließen als Andeutungen geheimnisvoller Vorgänge schon den Lebenden und verfestigen sich nach seinem Tode zu Erzählungen, von denen manche in Handschrift und im Druck kursieren, bis ein Vierteljahrhundert danach bestimmte Gruppen davon gesammelt in Büchern erscheinen: die Familienlegende in den Geschichten, die der vom Baalschem selber erzogene Enkel, Rabbi Mosche Chajim Efraim, in sein Werk «Die Lagerfahne Efraims» eingestreut hat, die Schülerlegende in den Geschichten, die etwa gleichzeitig in die erste Auswahl von Sprüchen des Baalschem, die «Krone des guten Namens», Aufnahme gefunden haben. Aber ein weiteres Vierteljahrhundert vergeht, bis die große legendäre Biographie, die «Lobpreisungen des Baalschemtow» veröffentlicht wird, worin jedes Stück auf einen Erzähler aus dem nächsten Umkreis der Freunde und Anhänger zurückgeführt wird. Daneben laufen noch besondere Traditionen, wie die in der Familie des großen Maggid, die in der Familie des Rabbi Meïr Margaliot oder die in der Schule von Korez erhaltene, die sich mit den frühen Sammlungen kaum berühren und mündlich, wie die beiden erstgenannten, oder schriftlich, wie die letzte, ihr Sonderleben bewahren. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beginnt dann die literarische Korruption, die überlieferte Motive geschwätzig verarbeitet und mit erdichteten zu einer niedrigen Art volkstümlicher Belletristik zusammenflickt. Erst in unseren Tagen (etwa seit 1900) hat die kritische Sichtung und Gliederung begonnen. Solche und ähnliche Entwicklungsprozesse haben sich in der chassidischen erzählenden Überlieferung jeweils vollzogen.

Wenn man die Erzeugnisse der literarischen Korruption ausscheidet, aus denen die ursprünglichen Motive oft gar nicht mehr herauszuretten sind, bleibt uns in den Händen eine ungefüge Masse größtenteils fast ungeformten Materials: entweder (das ist der günstigere Fall) knappe Notizen ohne gestaltende Bewältigung des Vorgangs oder, weit häufiger, unbeholfene und verworrene Versuche, ihn zu erzählen, entweder zu wenig oder zu viel. Echte epische Erfassung ist eine seltene Ausnahme. Wer wie ich es sich zum Ziel gesetzt hat, aus dem vorgefundenen schriftlichen Material (nebst einigem mündlichen) Bildnisse der Zaddikim und ein Bild ihres Lebens zu formen, legendär und wahr zugleich, muss seine Hauptaufgabe darin sehen, die fehlende reine erzählerische Linie herzustellen. Ich habe im Lauf einer langen Arbeit keinen besseren Weg dazu gefunden, als die mir vorliegende Scheinform mit ihrer Dürftigkeit oder Umständlichkeit, ihren Dunkelheiten und ihren Abschweifungen zunächst aufzugeben und den gemeinten Vorgang (wo immer es angeht, unter Verwendung von Varianten und anderem verwandten Stoff) so genau wie möglich zu rekonstruieren und ihn in der ihm seiner Art nach angemessenen Form so klar wie möglich zu erzählen, dann aber auch die überlieferten Aufzeichnungen wieder heranzuziehen und was sich darin an geglücktem Ausdruck findet, in die endgültige Fassung aufzunehmen. Eine Ausgestaltung ins Breitere und Vielfältigere, wie sie zum Beispiel die Brüder Grimm an den von ihnen aus dem Volksmund niedergeschriebenen Märchen vorgenommen haben, habe ich im Allgemeinen weder als mir erlaubt noch auch als hier erwünscht empfunden. Nur in einzelnen Fällen, wo lediglich Fragmentarisches vorlag, habe ich durch Verschmelzung mit anderen Fragmenten und durch Ausfüllung der verbleibenden Lücken aus verwandtem Element ein zusammenhängendes Ganzes zu bilden unternommen.

Es gibt zwei Gattungen der Legende, die man nach zwei Gattungen der erzählenden Literatur bezeichnen kann, an die sie sich in ihrer Form lehnen: die legendäre Novelle und die legendäre Anekdote. Man vergleiche etwa die Legenda aurea mit den Fioretti di San Francesco oder die klassische Buddhalegende mit den Mönchsgeschichten der ostasiatischen Zen-Sekte. Auch das formlose chassidische Material tendiert zu diesen Formen. Zum größten Teil besteht es aus – angelegten – legendären Anekdoten. Novellen sind hier selten, es gibt auch eine trübe Zwischengattung. Das Überwiegen der Anekdote geht zunächst auf die allgemeine Tendenz des jüdischen Diaspora-Geistes zurück, Vorgänge der Geschichte und der Gegenwart «pointiert» zu fassen: Die Vorgänge werden so berichtet, ja bereits so erlebt, dass sie etwas «sagen», aber nicht dies allein, sondern der Vorgang wird so herausgeschält und angeordnet, dass er in etwas wirklich Gesagtem kulminiert. Das wird nun freilich im Chassidismus durch die Tatsachen selber begünstigt: Der Zaddik äußert die Lehre, unbewusst oder bewusst, in Handlungen, die als sinnbildlich wirken, und sie gehen oft in einen Spruch über, der sie ergänzt oder zu ihrer Deutung beiträgt. Novelle nenne ich die Erzählung eines Schicksals, das sich als eine einzige Begebenheit darstellt, Anekdote die Erzählung eines einzelnen Vorgangs, der ein ganzes Leben erleuchtet. Die legendäre Anekdote geht darüber hinaus: In dem einen Vorgang spricht sich der Sinn des Daseins aus. Ich kenne in der Weltliteratur keine andere Gruppe legendärer Anekdoten, in der dies in solchem Grade mannigfaltig und einheitlich zugleich geschähe wie in der chassidischen.

Wie die Novelle so ist auch die Anekdote eine Gattung der «verdichteten», das heißt leibhaft umrissenen Erzählung. Das gilt in gesteigertem Maße von der auf das Sagen intendierten Anekdote. Wie alles Psychologische, so ist ihr auch alles Ornamentale fernzuhalten; je nackter sie ist, umso mehr erfüllt sie ihre Aufgabe.

Dadurch war auch mir vorgezeichnet, wie ich mich dem überkommenen Material gegenüber zu verhalten hatte.

Aber der Zaddik soll nicht bloß in Handlungen gezeigt werden, die dazu neigen, in Sprüche überzugehen, sondern auch in seinem lehrenden Sprechen selber, das wesentlich zu seinem Handeln gehört. Darum tritt in diesem Buch, wenn auch nur in beschränktem Maße, zu der legendären Anekdote eine andere Gattung, die ich als «Antwortsprüche» bezeichnen möchte. Der Lehrer, der Zaddik, wird gefragt, nach der Bedeutung eines Schriftverses, nach dem Sinn eines Brauchs, er gibt Auskunft, und indem er sie gibt, lehrt er mehr, als der Fragende zu lernen hoffte. Diese Gattung liegt in den Texten, die ich bearbeitet habe, oft nicht in der Form des Gesprächs vor, sondern die Frage ist der Antwort einverleibt; ich habe zumeist – überall da, wo sie unverkennbar war – die Urgestalt wiederhergestellt; nur etlichen Stücken, in denen der Fragecharakter nicht in die Erscheinung tritt, die mir aber doch hierhergehörig schienen, habe ich die reine Vortragsform gelassen. Dazu kommen mehrere Lehrreden und Predigten, die ich um ihrer Wichtigkeit willen wiedergegeben habe. Doch ist kein Stück der reichen theoretischen Literatur des Chassidismus entnommen, alle entstammen den Volksbüchern, wo sie das aus dem Leben der Zaddikim Erzählte ergänzen; alles hat hier also einen mündlichen Charakter.

Bei all diesen unmittelbar der Lehre dienenden Stücken habe ich den überlieferten Wortlaut stets so weit zu bewahren gesucht, als es die Pflicht des klaren Äußerungsstils gestattete. Manches ist auch hier so undeutlich tradiert, so mit fremden Elementen verquickt, dass man zuweilen eine ganze Schicht von offenkundigen Zutaten abtragen muss, um zu dem echten Spruch des Meisters zu gelangen.

Aus dem von mir gesammelten Material ist in dieses Buch weniger als der zehnte Teil aufgenommen worden. Die erste Voraussetzung für die Aufnahme eines Stückes war selbstverständlich seine Bedeutsamkeit sowohl an sich wie besonders für die Erkenntnis chassidischer Existenz. Aber vieles, was so betrachtet als geeignet erschien, musste ausgesondert werden, denn entscheidend war naturgemäß, wie sich ein Stück der Darstellung eines der Zaddikim einfügte, deren Person und Leben zu zeigen dem Buch aufgegeben war.

Es galt also, aus den zahlreichen Legenden, die fast von jedem überliefert sind, diejenigen zur Erzählung zu wählen, in denen sich der Weg und die Art dieses Zaddiks charakteristisch aussprechen; und sodann die erzählten je zum Bild eines persönlichen Lebens zusammenzufügen. Manchmal hat sich mir das Legendenmaterial so geboten, dass sich der essenzielle Aufbau dieses Lebens in den gewählten Geschichten und Sprüchen fast restlos darstellen konnte; andere Male sind Lücken geblieben, zu deren Ausfüllung ich durch das, was ich in der Einleitung des Buches von diesen Zaddikim aus anderem Material berichte, beizutragen versucht habe; in einigen Fällen musste ich mich, von der Kargheit des Stoffes genötigt, statt des «dynamischen» Bilds eines Menschenlebens mit dem «statischen» Bild eines Menschen begnügen. Innerhalb der einzelnen Abschnitte habe ich die Stücke in einer zwar biographischen, aber nicht chronologischen Reihenfolge angeordnet, da die chronologische das Erscheinen des Bildes, um das es mir zu tun ist, eher gestört als gefördert hätte. Das Bild eines Menschen und seines Wegs kann aus dem Material, wie es ist, eher komponiert werden, wenn man die verschiedenen Prinzipien seines Wesens und Werks, jedes für sich, womöglich jedes in seiner besondern Entwicklung, sichtbar macht, sodass all dies sich zu einer Art innerer Biographie zusammenschließt. So folgen hier zum Beispiel in dem Abschnitt über den Baalschem diese Gegenstände aufeinander: 1. Die Seele des Baalschem, 2. Bereitung und Offenbarung, 3. Ekstatik und Frömmigkeit, 4. Die Gemeinschaft, 5. Mit den Schülern, 6. Mit allerhand Menschen, 7. Kraft des Schauens, 8. Heiligkeit und Wunder, 9. Das Heilige Land und die Erlösung, 10. Vor dem Tode und nach dem Tode. Jedes Stück steht an seinem bestimmten Platz, mitunter notwendigerweise außerhalb der chronologischen Folge, und die Lehrsprüche ergänzen die Geschichten, wo dies erwünscht ist.

Innerhalb des Ganzen werden sich beim flüchtigen Lesen (dem das Nichtlesen weitaus vorzuziehen ist) einige Wiederholungen zu ergeben scheinen; in Wahrheit sind es keine, und wo man das gleiche Motiv wiederkehren zu sehen meint, steht es in gewandeltem Sinn und Zusammenhang. Man wird zum Beispiel der Vorstellung der «Chassidim des Satans», das heißt der falschen Chassidim, die sich den echten anschließen und die Gemeinschaft zu verderben drohen, mehrfach begegnen; aber wer aufmerksam liest, merkt jedes Mal die veränderte Situation und den veränderten Ausdruck.

Meine Arbeit an der Neugestaltung der chassidischen Legende hat etwa 45 Jahre vor dem Erscheinen dieser Publikation begonnen. Ihre ersten Früchte waren die Bücher «Die Geschichten des Rabbi Nachman» (1906) und die «Legende des Baalschem» (1907), deren Bearbeitungsmethode dem überlieferten Material gegenüber ich später, als allzu frei, verworfen habe. Die neu gewonnene Anschauung von Aufgabe und Mitteln ist in den Büchern «Der große Maggid und seine Nachfolge» (1921) und «Das verborgene Licht» (1924) angewandt worden. Deren Inhalt habe ich fast gänzlich in dieses Buch (vorher in den Sammelband «Die chassidischen Bücher», 1928) übernommen, dessen weit größerer Teil aber erst in meinen Jerusalemer Jahren, seit 1938, entstanden ist.

Auch den Antrieb zu der neuen umfassenden Komposition verdanke ich der Luft dieses Landes. Die talmudischen Weisen sagen, sie mache weise; ich habe von ihr etwas anderes empfangen – die Kraft zum Neubeginn. Auch dieses Buch ist, nachdem ich meine Arbeit an der chassidischen Legende für abgeschlossen gehalten hatte, aus einem Neubeginn hervorgegangen.

Die Wiedergabe der biblischen Namen ist die übliche, die nachbiblischen Eigennamen sind nach der sephardischen Aussprache transkribiert. Die slawischen Ortsnamen stehen überwiegend in der der jüdischen Bevölkerung geläufigen Form; die slawische ist zumeist beibehalten worden, wo die Differenz zwischen beiden unerheblich ist.

Anmerkungen und Stellenangaben sind auf das Wichtigste beschränkt worden. Ausführlicheres ist in meinem Buch «Die chassidischen Bücher» (1927, S. 681–704) und in meinen sonstigen Publikationen über den Chassidismus zu finden.

1Zitat aus Midrasch Genesis rabba LXXX 117, vgl. Raschi zu Gen. 17,22.