Stefan König, 1959 in München geboren, gilt international als Bergexperte. Er leitet das FILMFEST ST. ANTON (www.filmfest-stanton.at) und hat Sachbücher und Romane zu alpinen Themen geschrieben: unter anderem die Biografie Luis Trenkers »Bera Luis«, die preisgekrönten Erzählungen »Sternstunden des Alpinismus«, den Himalaja-Thriller »Die Nanga-Notizen« und die dramatische Liebesgeschichte »Auf dem hohen Berg«. Stefan König lebt in Iffeldorf (Oberbayern) mit Blick auf die Berge. Im Emons Verlag erschienen »Schattenwand« und »Kalter Fels«.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.
© 2012 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagfoto: istockphoto.com/Jayne McCarthy
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-093-3
Alpen Krimi
Originalausgabe
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Eine alte Geschichte
Regen war angesagt. Regen in den Tälern, Schneefall in den Hochlagen über zweitausend Metern.
Dass es in den Bergen auch Ende September schon schneite, war so ungewöhnlich nicht. Oft hüllte ein Vorbote des Winters die Felsen, Wälder, Weiden und Wege in dichtes Weiß, ehe dann ein milder Herbst alles noch einmal abschmolz und ausapern ließ. Die Menschen, die in Tirol lebten, ließen sich von der Nässe und dem frühen Schnee nicht deprimieren: Sie lebten schließlich in der Hoffnung, dass der Sommer noch nicht gänzlich zu Ende sein würde.
Am Brennerpass hatte Reinhold Spiss seine blutjunge Begleiterin mit dem Schirm vom Wagen zur öffentlichen Toilette geleitet, die nasse Kälte war durch sein Jackett und das Hemd bis auf seine Haut und noch tiefer in ihn hineingekrochen. Ihn fröstelte fürchterlich während der paar Minuten, da er vor dem Klo stand. Im Licht der Scheinwerfer am Grenzübergang flirrte der Regen. Einen Moment lang beneidete er die italienischen Zollbeamten, die ihren stumpfsinnigen Dienst wenigstens in dicken Anoraks ableisten konnten. Und er hatte fast Mitleid mit Carla: Sie trug keine Strumpfhose, und ihr Mini reichte nicht einmal bis zur Mitte ihrer Oberschenkel.
Carla, dachte er, süßes, kleines Biest, du wirst dich verdammt erkälten, wenn wir nicht schnell wieder wegkommen von hier. Der Brennerpass ist nicht das Richtige für ein Mädchen, das fast nichts anhat. Nicht bei diesem Sauwetter.
Er schaute zurück. Die Straße, die von Süden den Pass heraufkommend den Ort durchzog, lag in nächtlicher Stille. Ein paar müde Straßenlaternen warfen orange Lichtscheine auf den schwarz glänzenden Asphalt. Linker Hand war das Bahnareal erleuchtet, und er konnte hören, dass Waggons rangiert wurden; es quietschte und donnerte, und in die Geräusche von Stahl auf Stahl mischte sich eine unverständliche Lautsprecherstimme. Klingt, als würde jemand durch ein Handtuch ins Mikrofon sprechen, dachte er.
Ganz hinten rechts drang Licht aus einer Bar. Als sie vorhin daran vorbeigefahren waren, hatte er gesehen, dass noch einige Gäste darin gewesen waren. Ein paar Autos parkten zu beiden Seiten der Straße. Jetzt kam wieder eines herangerollt, ein Lieferwagen oder Lastwagen, wie die Anordnung der Scheinwerfer vermuten ließ. Das Fahrzeug verlangsamte, der Blinker wurde gesetzt, es fuhr links ran, und kurz darauf stiegen zwei Leute aus und überquerten die Straße zur Bar hin.
Was Spiss nicht sah, war, dass keine zwanzig Meter von ihm entfernt ein Auto am Straßenrand stand, das ihm schon eine ganze Weile gefolgt war. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, das Innenlicht ebenfalls. Er bemerkte nicht, dass jemand hinterm Steuer saß und ihn beobachtete.
»Puh, saukalt!«
Spiss erschrak und musste dann aber gleich über sich selbst lächeln. Carla war lautlos zurückgekehrt, war plötzlich neben ihm gestanden, und er hatte sie erst bemerkt, als er ihre Stimme hörte.
»Komm!«, sagte er. Er drückte sie an sich, nahm sie in den Arm, beschirmte sie und hastete mit ihr zum Auto.
»Jetzt müssma aber schaun, dass wir nach Innsbruck kommen«, sagte sie. »Du weißt, ich muss um zwölf zu Haus sein.«
Sie schüttelte sich und rieb sich die Hände.
Spiss ließ den Wagen an und sagte: »Das schaffen wir.«
Er rangierte den Mercedes in die Straßenmitte und ließ ihn im zweiten Gang auf die Grenze zurollen.
Er blickte kurz zu ihr hinüber. Durch die grellen Scheinwerfer an der Grenze war es im Wagen hell genug, dass er eine Sekunde lang ihr rotbraunes Haar sah und wie wunderbar leicht es ihr auf die Schultern fiel. Dass der Schnitt ein bisschen bieder war, nicht sehr sexy, machte ihm nichts. Im Gegenteil – es reizte ihn doppelt.
Lächelnd nahm er wahr, wie Carla sich den kurzen Rock straff zog, sich ihren roten Mantel vom Rücksitz holte und über den Schoß legte.
»Passaporti, per favore«, sagte der Zollbeamte durchs halb heruntergekurbelte Seitenfenster. Es genügte ihm, einen kurzen Blick auf die Ausweise zu werfen, dann winkte er Spiss weiter.
Doch die Prozedur war noch nicht vorüber. Keine fünfzig Meter weiter trat ein österreichischer Grenzer aus seinem verglasten Häuschen, der Atem kam ihm als kleines Wölkchen aus dem Mund, er schlug den Kragen hoch, beugte sich zum Wagen herunter und erbat ebenfalls die Papiere. Er hatte eine Taschenlampe bei sich und leuchtete in den Innenraum des Fahrzeugs, woraufhin Spiss die Innenbeleuchtung anschaltete.
»Haben Sie was zu verzollen?«, fragte der Beamte. »Spirituosen, Tabak, Schmuck?«
Spiss lächelte ihn an und reichte ihm seinen Ausweis. »Nein, nichts. Wir haben nur einen Ausflug gemacht. Meine Nichte und ich. Bozen. Wir waren in Bozen.«
»Einen Augenblick«, sagte der Beamte. Er nahm den Ausweis und trat damit in sein verglastes Häuschen. Im kranken Neonlicht seines Arbeitsplatzes begutachtete der Beamte die Papiere. Aber er tat es wohl nur, weil ihm langweilig war.
»Der fadisiert«, sagte Spiss zu Carla.
»Deine Nichte …«, sagte sie und kniff ihn in den Oberschenkel. Und sie fasste ihm ganz kurz in den Schritt. »Mein Onkel.« Sie lächelte anzüglich und schob ihre Zungenspitze ein klein wenig zwischen den Lippen hindurch.
»Danke«, sagte der Beamte, reichte die Ausweise wieder zurück und wünschte »eine gute Fahrt noch«. Und in dem Augenblick, da Spiss den Automatikhebel auf N stellte, sagte der Mann noch: »Geben Sie Obacht, könnte glatt werden heut Nacht …«
Spiss dankte mit einem Nicken, dann fuhr er los: langsam und mit der Eleganz, die automatikgetriebenen Limousinen nun einmal eigen ist.
Er drehte die Heizung voll auf, um die Kälte, die am Grenzübergang ins Fahrzeug gedrungen war, schnell wieder in den Griff zu bekommen. Und natürlich wollte er, dass Carla den Mantel, der ihren Schoß und ihre Schenkel bedeckte, wieder weglegte. In einer guten halben Stunde würde er sie aus dem Auto steigen sehen, ein letztes Mal für lange Tage, gar Wochen. Er würde sie vermissen in jeder Stunde dieser Tage, und in den Nächten würde er von ihr träumen oder, in den seltenen Fällen, da dies noch geschah, würde er an sie denken, wenn er mit seiner Frau schlief.
Carla schien seine Gedanken zu erraten. Sie warf den Mantel auf den Rücksitz. Im Licht der ersten Ortschaft – Gries am Brenner –, durch die sie gerade fuhren, konnte er ihre helle Haut sehen.
Die Heizung war hochgestellt, und im Wagen war es während der wenigen Minuten, die sie vom Pass hierher gebraucht hatten, wohlig warm geworden.
»Du bist so schön«, sagte Spiss. »Ich möchte dich nicht heimbringen. Möchte dich immer bei mir haben.«
Carla lächelte ihn an. Sie sagte nichts.
»Weißt du, was das Allerschlimmste für mich ist?«, fragte Spiss.
Carla lächelte weiterhin, zog aber die Augenbrauen ein wenig in die Höhe.
»Das Schlimmste ist, dass ich nie ganz dein Mann sein kann. Selbst wenn ich mich von meiner Frau, meiner Familie trennen würde. Selbst, wenn wir irgendwohin gingen und ganz neu anfangen würden.«
Das Lächeln verschwand aus Carlas Gesicht. Sie sah ihn jetzt nur mehr fragend an.
»Schau mich nicht so an«, sagte er. »Bitte, schau nicht so.« Und nach einem Augenblick der Stille fügte er hinzu: »Du bist so jung. Ein Jahr jünger als Evelyn, meine Tochter …«
»Ich weiß«, sagte sie. »Aber was ist das Problem?«
Jetzt lächelte Spiss. Aber er spürte in seinem Lächeln die ganze Wehmut, die ihn immer dann befiel, wenn ein Treffen mit Carla zu Ende ging.
»Ich mache mir nichts vor, Kleines«, sagte er. »Jetzt bin ich interessant für dich. Und ich traue mir schon zu, das noch einige Zeit zu sein. Aber in ein paar Jahren …«
Er zögerte, sprach dann aber weiter: »In ein paar Jahren bin ich für dich alt. Du könntest dein Leben nicht mit mir verbringen, du würdest ausbrechen, davonfliegen. Ich bin dreiundvierzig. Du bist siebzehn, knapp – wir wären ein komisches Paar.«
Er merkte, dass ihn Carla unterbrechen, ihm widersprechen wollte. Er nahm die rechte Hand vom Lenkrad und drückte ihr mit zwei Fingern sanft die Lippen zu.
»Sag nichts. Glaub mir einfach. Es ist so, wie ich es sage.«
Als er aber die Finger von ihrem Mund nahm, sprach sie doch.
»Wir könnten einfach abhauen, du und ich. Am besten auf eine Insel in der Südsee. Hab erst neulich Fotos in einer Zeitschrift gesehen: tiefblaues Meer, der Sand am Strand ganz weiß, Kokospalmen und das ganze Jahr lang Sommer. Ich würde von früh bis spät nackt für dich herumlaufen – Ehrenwort.«
Und wie um ihm einen Beweis zu liefern, hob sie ihr Hinterteil an, rückte ihr Minikleid nach hinten und zog es sich dann mit etwas ungelenken Bewegungen über den Kopf.
»Schau!«, sagte sie. »So!«
Spiss sah sie nackt neben sich sitzen. Nackt bis auf die Schuhe, zierliche Ballerinas. Draußen war es dunkel, und im Wagen war es warm. Ihre Haut war weiß, alles andere war schwarz. Nur die Beleuchtung der Armaturen gab in Blau und Rot ein schwaches Licht ab.
Er schaute in den Rückspiegel. Weit hinten sah er ein Scheinwerferpaar. Wer auch immer darin saß, konnte nicht sehen, dass er ein nacktes Mädchen bei sich im Auto hatte. Die Schülerin Carla, deren Haut er sah, deren Körper er roch, die er vor Kurzem geliebt hatte, körperlich und zwei Stunden lang, und deretwegen er am liebsten rechts herangefahren wäre und das Gleiche noch einmal getan hätte.
»So wäre ich immer für dich da«, sagte Carla. Und sie strich ihm mit den Fingerspitzen über den Oberschenkel, ganz leicht nur und ganz langsam. Vor und zurück und dabei seinem Schritt immer näher kommend.
Einen Moment lang fragte sich Spiss, woher ein so junges und bis vor nicht allzu langer Zeit zweifellos unerfahrenes Mädchen derart viel sexuelles Selbstbewusstsein und so viel erotische Raffinesse nahm.
»Du kleine, süße Hexe«, sagte er. Und er hatte dabei Mühe, sich auf das Fahren zu konzentrieren. Er steuerte das Auto durch die Kurven zwischen Gries und Wolf, sah schon die Lichter von Steinach.
»Du musst dir wieder etwas anziehen«, sagte er zu Carla. »Da vorn kommt Steinach, da ist um die Zeit noch alles hell erleuchtet. Wenn dich jemand sieht …«
»Und wenn schon«, sagte sie.
»Wenn dich jemand so nackt sieht … So können wir doch nicht durch die Gegend fahren …«
»Dann fahr halt noch mal rechts ran«, sagte sie. »Nur zehn Minuten. Bitte.«
Wie ein schmollendes Kind, dachte Spiss. Wie ein Kind, das im Supermarkt so lange quengelt, bis es endlich bekommt, was es will.
Er sah wieder in den Rückspiegel. Da waren noch immer die Scheinwerfer des Wagens, der eine ganze Weile schon in etwa gleichem Abstand hinter ihnen fuhr.
Er überlegte ein paar Sekunden lang, wo die nächste Parkbucht oder wo eine Einfahrt in einen Waldweg wäre. Es erschien ihm sehr verlockend, sein Glück der letzten Stunden um einige weitere Minuten zu strecken, ihre Haut zu schmecken, ihre Haare zu riechen, sein Gesicht an ihre kleinen, festen Brüste und in ihren flaumigen Schritt zu drücken.
Wenn die Scheinwerfer nicht gewesen wären …
Es irritierte ihn, dass ein Fahrzeug hinter ihnen war. Dass es, sobald er verlangsamen und rechts ranfahren würde, an ihm vorbeizöge. Und dass dann der Fahrer oder die Fahrerin und alle Insassen dieses Wagens sehen würden, dass er, Spiss, mit einem splitternackten Mädchen durch die Nacht fuhr.
Er fasste nach ihrer Hand, schob sie sanft beiseite, sagte: »Heute nicht mehr, kleiner Schatz«, und trat fester aufs Gas. Was er gelernt hatte im Verlauf seines Lebens, war, dass man einen Genuss nicht größer machen konnte, indem man ihn zu verlängern versuchte.
»Wir kommen zu spät«, sagte er. Und er fingerte den Mantel vom Rücksitz und gab ihn Carla. »Zieh dir wenigstens den über.«
Er fuhr durch Steinach, schneller als erlaubt, die hell erleuchtete Straße war leer – kein Wagen, kein Passant, nichts rührte sich mehr. Nur weit hinter ihnen war weiterhin das Scheinwerferpaar zu sehen. Natürlich hätte er nicht sagen können, ob es sich immer noch um dasselbe Fahrzeug handelte. Und Carla bekam ohnehin von alldem nichts mit. Doch irgendwie beunruhigte es ihn. Und so beschleunigte er am Ortsende von Steinach stark und fuhr mit hoher Geschwindigkeit auf der langen Geraden nach Matrei.
* * *
Der fährt ja wie ein Verrückter, dachte Tinhofer. Der Tacho seines Opels stieg auf hundert, hundertzehn, hundertzwanzig.
»Das ist doch Wahnsinn, bei diesem Sauwetter«, maulte er vor sich hin. Sein Fahrzeug war bejahrt, der Motor röhrte laut bei solch einer Geschwindigkeit, und der Scheibenwischer schmierte mehr, als dass er reinigte.
Wenigstens kommt kaum noch ein Fahrzeug entgegen, dachte Tinhofer. Die Nässe, die schlechten Scheibenwischer – und wenn dann noch der Gegenverkehr blendet …
Die Kamera mit dem großen Tele hatte er neben sich auf dem Beifahrersitz liegen. Eigentlich hätte er mit der Ausbeute des Abends zufrieden sein können: Ein paarmal hatte er Spiss und das Mädchen zwar nicht küssend, aber doch in traulicher Umarmung »erwischt«. Und doch war er nicht sicher, ob die Bilder beim Entwickeln wirklich so viel zeigen würden, wie er brauchte, um einen guten Schnitt zu machen.
Er hoffte inständig, sie würden noch einmal wo anhalten, aussteigen, sich küssen. Oder sie würden in eine Nebenstraße hineinfahren und sich im Wagen befummeln. Er wagte gar nicht, darauf zu hoffen, dass dies geschehen würde und er sich hinschleichen könnte und Fotos bekäme, die einschlagen würden wie eine Bombe.
Das brächte Kohle, dachte er. Richtig Kohle.
Er sah die Titel in fetten Lettern vor seinem geistigen Auge: »Sex-Affäre: Reifen-Multi Spiss verführt Minderjährige« oder »Schülerin wird Millionär zum Verhängnis« oder auch »Lolita-Sex: Wie Reinhold S. Frau und Familie betrog«.
Tinhofer verscheuchte die Gedanken. Die Geschwindigkeit war hoch, und er spürte, dass er sich ganz aufs Fahren konzentrieren musste. Bei diesen Verhältnissen durfte man sich keinen Fehler erlauben. Weiß Gott nicht.
Vielleicht ist das, was ich hier mache, ja schon ein Fehler, dachte er. War es richtig, sein Zielobjekt zu verfolgen? Musste es Spiss nicht auffallen, dass er immer dasselbe Fahrzeug hinter sich hatte? Wäre es nicht besser, ihn ziehen zu lassen und den Faden ein anderes Mal neu aufzugreifen? Oder war es genau das Richtige, sich auf seine Fährte zu setzen und ein »Alles oder nichts« zu versuchen?
Lauter Fragen. Keine Antwort, die beruhigen konnte. Er tat, was er tat, wie so oft in seinem Job, aus dem Bauch heraus. Er verließ sich auf seinen Instinkt. Und dieser Instinkt sagte ihm, dass er heute noch ein starkes Bild bekommen würde.
* * *
Bald hinter Matrei begannen die Kurven. Eng geschnitten, zwischen Kilometer fünfzehn und Kilometer acht immer eine an die nächste gereiht, schon bei Tag und im Sommer mit einiger Vorsicht zu genießen. Früher, als der Verkehr hier noch stärker floss – bevor die Autobahn durchs Wipptal zum Brenner inklusive der 1963 fertiggestellten Europabrücke gebaut worden war –, hatte es hier reichlich Verkehrsunfälle gegeben.
Doch auch jetzt noch war die Strecke berüchtigt. In unschöner Regelmäßigkeit erwischte es hier Motorradfahrer, die sich selbst über- oder die Straße unterschätzten. Und dann waren da natürlich die überforderten Urlaubsreisenden, die sich auf dem Weg nach Süden oder auf dem Rückweg aus den Ferien die Autobahnmaut sparen wollten, dabei aber viel zu wenig Fahrroutine besaßen, um diesen durchaus anspruchsvollen Streckenabschnitt sicher bewältigen zu können. Die Autos wie die Motorräder schossen über die Kurven hinaus und sausten im Schatten der gewaltigen Europabrücke in den Abgrund.
»Wenn du weiterhin so schnell fährst …«, hauchte ihm Carla ins Ohr. Sie hatte den Mantel wieder zu Seite geschoben und drückte sich an ihn. »Wenn du weiter so schnell fährst, wirst du uns noch ins Verderben stürzen.« Sie sagte es, meinte es aber nicht ernst. Das spürte er.
»Ich hab doch gute Reifen«, sagte er lächelnd. »Reifen-Spiss ist doch ein erstklassiges Unternehmen.« Und er sagte lachend den Werbeslogan seines Unternehmens auf: »Sommerreifen. Winterreifen. Erstklassiges Profil. / Sicherheit und Qualität kosten gar nicht viel. / Reifen-Spiss. Innsbruck, Kufstein, Salzburg, Bregenz, Feldkirch, Linz / Und demnächst auch in Graz und Wien.«
Er sah zu ihr hinüber, sah ihre Brüste im Halbdunkel, sah die Knospen steif und lüstern, sah in Carlas junge Augen, die trotz des geringen Lichtes zu leuchten schienen, und er spürte, wie sie ihm sanft die rechte Hand vom Lenkrad nahm und an ihren Schritt führte. Ihren Flaum spürte er und die warme Feuchtigkeit, die er bei seiner Ehefrau schon lange vermisste.
Eine Lust stieg in ihm auf, wie er sie in seinem Leben nur mit Carla erfahren hatte, nie mit einer anderen Frau, schon gar nicht mit seiner eigenen. Eine Lust, die ihn berauschte und verzauberte, die ihn jedes Mal schweben ließ und ihn glauben machte, er würde für eine halbe Stunde den Boden unter den Füßen verlieren.
Und er verlor ihn wie noch nie.
* * *
Als der kurvige Streckenteil begann, verlangsamte Tinhofer die Geschwindigkeit. Die Straße war nass, die Temperatur nur knapp über null. Er befürchtete, dass sich hier im Wald stellenweise Glätte gebildet haben konnte, und das war nun doch zu viel.
Ich riskier doch nicht mein Leben, dachte er.
Und er sah seine kleine Tochter, die jetzt mit ihrem Kuschelteddy im Arm schlief, und seine Frau, die im fünften Monat schwanger war. Das stimmte ihn glücklich.
Er nahm den Fuß vom Gaspedal und ging mit nicht einmal fünfzig Stundenkilometer in die erste scharfe Rechtskurve. Die Rücklichter von Spiss’ Mercedes waren längst hinter der nächsten Biegung verschwunden. Es war fraglich, ob er ihn noch einmal einholen würde.
»Scheiß einfach drauf«, sagte Tinhofer halblaut zu sich selbst. Er fingerte sich eine HB aus der Packung, die halb voll neben der Kamera auf dem Beifahrersitz lag. »Halt, mein Freund! Wer wird denn gleich in die Luft gehen?«, rezitierte er den bekannten Werbeslogan der Marke. »Greife lieber zur HB, dann geht alles wie von selbst!«
Mit dem glimmenden Anzünder steckte er die Zigarette an, zog mehrfach kräftig und inhalierte den Rauch tief in die Lungen. Er liebte das Gefühl, wenn der Rauch rau durch seine Atemwege strömte, ihn wärmte und kühlte zugleich, und wenn er sich plötzlich leichter fühlte, so als wäre es ein Gas, das den Ballon zum Aufsteigen brachte.
Einen Moment lang sah er die Rücklichter von Spiss’ Wagen, doch schon Sekunden später waren sie wieder verschwunden.
Fährt auch langsamer jetzt, der geile Bock, dachte er. Und er musste schmunzeln. Die Chance war noch nicht ganz vertan.
Der Asphalt glitzerte nass im Licht seiner Scheinwerfer. Der Regen wurde wieder stärker. Und es war Weiß mit dabei – ein Hauch von Schnee. Die Scheibenwischer quietschten über das Glas. Hätte ich schon längst auswechseln sollen, dachte er. Es war nicht nur das Quietschen, das ihn störte, sondern auch der Schmierfilm, der entstand, wenn die Wischer den Regen mit dem Schmutz vermischten.
»Zum Kotzen, zum Kotzen, zum Kotzen«, maulte er.
Der Wischer quietschte und schmierte. Ein Lieferwagen kam entgegen, und die schlecht eingestellten Scheinwerfer blendeten, und das Licht brach sich an der verschmutzten Scheibe. Tinhofer musste die Augen zusammenzwicken, um nicht über die Maßen geblendet zu werden.
Intuitiv ging er vom Gas. Hätte er das nicht getan, wäre er gegen die Felsen gedonnert, die linker Hand die Straße begrenzten. So aber brachte er den Wagen gleich wieder unter Kontrolle.
Hektisch stäubte er die heruntergefallene Glut der Zigarette von seiner Hose. Er atmete schwer, und seine Finger zitterten. Er wusste, dass er gerade noch einem Unglück entgangen war. Und wieder sah er das Gesicht seiner kleinen Tochter und die Augen seiner Frau. Beruhigen konnte ihn das nicht.
Er verfluchte seinen Job, und er verfluchte die Redakteure, die rauchend in ihrem Großraumbüro saßen und nicht Kopf und Kragen riskieren mussten, um ihr Geld zu verdienen. Und er bedauerte sich selbst, nicht Reise- oder Modefotograf geworden zu sein, sondern nur ein gottverdammter Paparazzo, der angesehenen Geschäftsleuten nachspionierte, die Schulmädchen fickten.
Der Adrenalinstoß hatte ihn hellwach gemacht. Es war ihm, als hätte er drei Caffè corretto con Cognac hinuntergekippt und wäre jetzt in der Lage, die ganze Nacht und den folgenden Tag pausenlos durchzufahren. Doch aus Erfahrung wusste er, dass dieser Zustand nicht ewig anhalten würde. Im Gegenteil, bald würde der überstandene Schrecken seinen Tribut fordern. Zum Glück war es nicht mehr weit.
In einer halben Stunde bin ich zu Hause, dachte er. Und dann leg ich mich ins Bett, kuschle mich an ihren warmen Körper und lass mich vom Rest der Welt am Arsch lecken.
Wie hätte er ahnen können, dass er vom Adrenalin, das wie eine Droge wirkte, noch eine Überdosis abbekommen sollte?
* * *
Die Straße war feucht, und die Nacht war kalt. So kalt, dass die Nässe in einigen waldbeschatteten Kehren zu gefrieren begann. Spiss ließ den Wagen elegant durch die Annemarie-Moser-Pröll-Kurven gleiten. Er selbst hatte dieser weichen Kurvenfolge unterhalb der Europabrücke den Spitznamen gegeben: Sie waren in ihrer Aneinanderreihung so gleichmäßig wie die Schwünge der prominenten Skifahrerin auf einem steilen Hang.
Spiss genoss es jedes Mal, sein Auto durch diese Kurven zu steuern, Riesenslalom zu fahren und zu spüren, wie der starke Motor den schweren Wagen durch die Biegungen schob. Er genoss es sehr, und an diesem Abend noch mehr als sonst. Es war ein ganz besonderes Gefühl, neben sich ein nacktes Mädchen sitzen zu haben und ihre Hand an seinen Genitalien zu spüren.
Spiss war stolz auf sich. Er hatte es zu etwas gebracht. Firma, Familie, Erfolg, Vermögen. Und eine Geliebte, von der andere aus seiner Generation nur träumen konnten.
Er dachte ein paar Augenblicke an die Zeit, als er sechzehn oder siebzehn gewesen war, heftige Akne im Gesicht, die Haare widerspenstig gegen jede Art angesagter Frisur – ein junger Kerl, der bei den Mädchen kaum Chancen hatte, selbst Elli mit den schlechten Zähnen und der Knollennase hatte ihm einen Korb gegeben, damals beim Tanzkurs im Stadtsaal. Standardtänze: Samba, Bossa nova, Walzer natürlich. Und Tango. Den kapierte er überhaupt nicht – und genoss ihn dennoch, bot er doch die für ihn seltene Gelegenheit, einen Mädchenkörper so dicht an seinem zu spüren. Er roch das Haar des Mädchens und einen Hauch von Parfüm und den Schweiß in den Achseln. Ellis Brüste streiften seinen Oberarm, ihr harter Blick traf den seinen – die unattraktive Elli erregte ihn und war doch unerreichbar.
Spiss’ nur Momente währende Träumerei ließ ihn die nötige Achtsamkeit vergessen. Im selben Augenblick, da sein Auto ins Schlingern geriet, war ihm klar, dass mit Glatteisgefahr zu rechnen gewesen wäre, wie der Grenzer es gesagt hatte. Er erfasste in aller Deutlichkeit, worin sein Fehler lag. Und er erkannte, dass er die Herrschaft über sein Fahrzeug verloren hatte. Über sein Fahrzeug und auch über sein und Carlas Leben.
* * *
Tinhofer fuhr vorsichtig in jene Kurvenabfolge ein, von der er nicht wusste, dass Spiss sie nach einer Skirennfahrerin benannt hatte. Er fuhr höchstens fünfzig, meist sogar noch langsamer. Ein gutes Stück vor ihm, einige sanfte Biegungen weiter, sah er die Rücklichter des von ihm observierten Autos. Und er merkte, dass irgendetwas nicht stimmte.
Er sah für den Bruchteil einer Sekunde Funken aufsprühen, sah Bremslichter aufleuchten, sah dann die Lichter ihre Richtung verlieren, schlingernd über die Straße tanzen. Keine Frage: Spiss’ Wagen schleuderte, stieß rechts gegen die Leitplanken, wurde zurückkatapultiert und rammte auf der anderen Seite die Felsen, die hier die Fahrbahn begrenzten.
Tinhofer verlor das erschreckende Schauspiel in der nächsten Biegung aus den Augen. Doch danach war er dem außer Kontrolle geratenen Wagen näher gekommen, sah mit noch größerer Deutlichkeit, was da vor ihm geschah. Und sogar die Insassen des Wagens meinte er erkennen zu können: Spiss, den Fahrer, und den Kopf des Mädchens, der hin und her gewirbelt zu werden schien.
Später hätte er nicht sagen können, was Realität und was Einbildung gewesen war. Später war nur mehr Chaos in seinem Kopf, Bilder zerborstenen Metalls, zersplitternden Glases, verdrehter Gliedmaßen und von Blut, Blut, Blut.
Er sah das Auto nicht abstürzen. Er merkte nur, dass die Lichter plötzlich verschwunden waren. Hinter einer weiteren Kurve? Tinhofer fuhr, die Glatteisgefahr höchst vorsichtig beachtend, weiter, hielt Ausschau nach dem Wagen, nach den roten Lichtern, die wie zwei glühende Pupillen in die Nacht geleuchtet hatten.
Zugleich suchte er im Licht der eigenen Scheinwerfer nach Spuren des Crashs, der sich vor wenigen Sekunden hier ereignet haben musste. In Schrittgeschwindigkeit fuhr er durch die letzte Kurve. Und da wurde er fündig: Am Gestein linker Hand war eine lange weiße Kratzspur. Und gleich danach knirschten seine Reifen über Glas. Hier musste es passiert sein. Aber wo war das Auto? Wo war Spiss? Wo war das Mädchen?
Die Antwort fand sich fünfzig Meter weiter talwärts – da war neben der Straße ein diffuses Licht, rechts, dort, wo es steil bergab ging.
Tinhofer hörte sein Herz schlagen. Er biss die Zähne aufeinander und umfasste das Lenkrad ganz fest. Es war etwas passiert, etwas Schlimmes, dessen war er sich bewusst. Das Auto musste von der Straße abgekommen und über den Abhang hinabgestürzt sein. Es war nur noch die Frage, wie weit.
Und da war noch eine andere Frage: Was würde er dort vorfinden? Schwerverletzte? Tote?
Verdammt noch mal, dachte er, und er spürte, dass sein Atem gepresst kam. Verdammt noch mal, ich will damit nichts zu tun haben.
Er war schon bei zahllosen Unfällen als Fotograf vor Ort gewesen. Frontalzusammenstöße von Autos, schwer gestürzte Motorradfahrer, ein Eisenbahnunglück. Und einmal war er zu einem Flugzeugunglück gerufen worden. Eine zweimotorige Maschine war abgestürzt und dabei auseinandergebrochen. Wie schrecklich das alles auch gewesen sein mochte: Er hatte es immer nur als Fotograf gesehen, immer nur durch die Kamera wahrgenommen. Und ihm war so gewesen, als hätte er mit jedem Druck auf den Auslöser die fürchterlichen Bilder gleichsam auf Film gebannt und gar nicht erst vordringen lassen bis in seine Seele und seine Gedanken.
Das Wichtigste dabei aber war stets, dass er nicht der Erste an einem Unfallort zu sein brauchte. Rettungskräfte, Polizei, Feuerwehr – alle waren bereits vor ihm da und hatten das Nötige veranlasst. Nie war er in die Verlegenheit gekommen, Ersthilfe leisten zu müssen. Nie hatte er einen verletzten Menschen anfassen müssen. Nie waren ihm Schmerz, Leid und Tod emotional wirklich nahegekommen. An den Unfallorten hatte er das in Blaulicht getauchte Geschehen stets als Titelfoto der Zeitungen gesehen – real nur als gedrucktes Bild.
Er fühlte Panik in sich aufsteigen. Die Fotos, die er gemacht hatte, bekamen für Sekunden ein Eigenleben, und in seinem Kopf wurden sie zu kleinen Horrorfilmen mit einem Soundtrack aus Schmerzensschreien und Martinshörnern. Er fuhr weiter, fuhr vorbei an der Stelle, wo keine Leitplanke den Absturz hatte verhindern können, fuhr vorbei an dem schwachen Lichtschein, der aus der Tiefe heraufleuchtete, fuhr nach Innsbruck.
* * *
Nein, nach Innsbruck fuhr er nicht! Er hatte es tun wollen, das ja. Aber er war Fotograf. Und in die Bilder des Entsetzens mischten sich Selbstbildnisse von ihm als Fotograf: wie er in jedem Chaos stand, die Kamera vor dem Gesicht, ruhig, sicher, eine Autorität, um die selbst Rettungssanitäter einen Bogen machten.
Er lenkte den Wagen an den Straßenrand, sodass er mit den rechten Rädern auf dem schmalen Bankett zum Stehen kam, schaltete die Warnblinkanlage ein, schnappte sich die Kamera vom Beifahrersitz und ging hinaus in die kalte Nacht.
Er atmete die eisige Luft tief ein und ganz langsam aus.
Ich bin Fotograf, dachte er. Ich mache meinen Job. Mache nur meinen Job.
Seine Hände zitterten noch, aber er wusste, dass er sie zum Fotografieren ruhig bekommen würde. Es war immer so gewesen, es würde heute so sein. Egal, was geschehen war.
Er musste mehr als dreihundert Meter zurückgehen. Die Warnblinkanlage seines Wagens warf ein pulsierendes Rotlicht auf den Asphalt. Die Straße war stellenweise glatt, die Nässe war gefroren, und er musste im grasigen und kiesigen Bankett laufen, damit es ihm nicht die Beine wegzog.
Nach ein paar Minuten stand er an der Absturzstelle des Wagens. Er sah Reifenspuren, die das Bankett tief durchpflügt hatten. Und er sah den Wagen, oder besser: was davon übrig war, etwa fünfzehn Meter tiefer verkeilt zwischen Bäumen. Das Rücklicht des Wagens brannte, und im Schein dieses Lichts konnte er sehen, dass irgendwas an dem Fahrzeug qualmte oder dampfte.
Wenigstens brennt es nicht, dachte Tinhofer.
Aber auch so war sein Vorhaben alles andere als einfach. Von dort, wo er stand, konnte er nicht einmal vom Fahrzeugwrack ein vernünftiges Foto schießen. Nicht jetzt bei Nacht. Und was hätte es ihm genutzt. Welche Zeitung will schon einfach nur einen Blechhaufen abbilden – und das, wo doch drinnen im Wrack ein Mann von zumindest lokaler Prominenz lag.
Ich muss da hinunter, dachte er.
Das Gelände brach steil ab. Der Boden machte einen beinharten Eindruck. Das lange Gras war feucht, und es würde rutschig sein. Ausgleiten würde er nicht dürfen. Denn Bäume wie die, wo sich das Auto daran verfangen hatte, gab es nicht viele hier. Lediglich dünnes Gesträuch wuchs an diesem Hang, und das Geäst bot den einzigen Halt beim Nach-unten-Steigen.
Tinhofer zögerte. Dann aber tat er den ersten Schritt.
Die Kamera hatte er sich umgehängt, nun ertastete er mit den Händen die biegsamen Zweige der Sträucher. Er hatte Glück: Das Gezweig war zäh, er konnte sich daran halten und ein Stück den Hang hinabrutschen. Und es hatte keine Dornen!
Nichtsdestotrotz war seine Vorgehensweise mühsam, anstrengend und gefährlich. Trotz der Kälte kam er ins Schwitzen. Und er wusste zugleich, dass es eine verdammt schwierige Angelegenheit werden würde, dort wieder hinaufzukommen.
Doch so weit war es noch nicht. Er musste noch ein paar Meter hinunter, ehe er sehen konnte, was mit den Insassen des Fahrzeugs geschehen war. Nicht etwa, dass er noch Zweifel gehabt hätte. Aber er dachte schon wieder in Bildern. In möglichen Bildern. Und so ein Unfall konnte schließlich so oder so aussehen. Er hatte schon Verunglückte fotografiert, die aussahen, als wären sie sanft entschlafen …
Als er beim verklemmten Wrack ankam, sich daran festhielt und langsam auf die aufgeklappte Beifahrertür zurutschte, sah er seine düsteren imaginären Bilder bestätigt. Es war schlimm. Nicht schlimmer als erwartet. Aber auch kaum weniger schlimm.
Er klammerte sich an die Beifahrertür, prüfte, ob der Wagen sich nicht etwa noch lösen konnte von den ihn haltenden Bäumen, merkte, dass da kaum Gefahr bestand. Er lehnte seine rechte Hüfte gegen die Tür, nahm die Kamera von der Schulter, entfernte die Objektivkappe und …
Droben hörte er ein Auto vorbeifahren, langsam, aber gleichmäßig, und er sah den Lichtkegel gelb kommen und rot verschwinden.
Irgendwie war er froh, ungestört zu bleiben. Aber er wunderte sich auch, dass jemand einfach so an einem mit Warnblinker abgestellten Fahrzeug vorbeifuhr.
Er nahm die Kamera vors Gesicht, justierte das aufgesetzte Blitzgerät und drückte ab.
Es war schrecklich!
Das Blitzlicht schuf für den Bruchteil einer Sekunde eine bizarre, grelle, schreiende Szenerie.
Das Mädchen war nackt. Sein Körper übersät von winzigen Glassplittern. Die leuchteten im Blitz auf, und es sah aus, als umhülle sie ein durchsichtiger, paillettenverzierter Stoff. Eine erotische Modefotografie. Wäre da nicht das Blut gewesen, das viele Blut. Und das fürchterlich entstellte Gesicht: Das Mädchen musste mit dem Kopf in die Scheibe oder den Fensterholm gekracht sein, als das Fahrzeug in die Bäume gerast war.
»Scheiße, scheiße, scheiße«, murmelte Tinhofer.
Die rechte Gesichtshälfte war eingedrückt. Der Mundwinkel zeigte verzerrt nach oben, aus der Augenhöhle kam ein Streifen Blut. Das meiste Blut aber kam aus dem Kopf, wo die Haut auseinanderklaffte. Das Blut rann ihr über die weniger versehrte Gesichtshälfte, zog dünne Spuren über den Hals und lief bis auf die Brust.
Tinhofer drückte den Auslöser.
Im Blitzlicht erkannte er weitere Details. Er wollte sie nicht sehen. Nicht hier, nicht jetzt. Erst in einer Stunde, wenn die Dunkelkammer ihn beschützen würde.
Ein Bein des Mädchens war unnatürlich nach innen geknickt, sodass das Knie über dem anderen Oberschenkel lag. Und im Unterschenkel hatten Knochen die Haut durchbohrt, ragten weiß aus dem Bein heraus.
»Gottverdammte Scheiße.«
Er spürte, wie wichtig es war, in dieser Minute seine eigene Stimme zu hören. Irgendwie beruhigte das, zumindest ein wenig.
Ein weiterer Druck auf den Auslöser. Und noch einer. Er bückte sich, um auch Spiss ins Bild zu bekommen.
Der Kopf war auf die Brust gesunken, die Hände lagen auf den Oberschenkeln, Blut war keines zu sehen. Spiss sah kaum anders aus als ein Mann, der auf einer Parkbank am Innrain einem Herzschlag erlegen war und den Tinhofer zu fotografieren gehabt hatte. Der Mann war schließlich prominent gewesen – ein Schauspieler am Landestheater. Ansonsten hätte ja niemanden das Bild eines Herzinfarktlers in der Zeitung interessiert. Er erinnerte sich daran, damals gedacht zu haben, wie schön dieser Tod gewesen sein musste: keine lange Krankheit, kein Dahinvegetieren auf einer Intensivstation, stattdessen Blick auf die Nordkette des Karwendelgebirges, das Rauschen des Flusses und das Rauschen des Verkehrs. Vielleicht ist gerade noch eine junge Frau in einem verdammt aufreizenden Minirock vorbeistolziert. Vielleicht hat er sich noch gedacht, wie das wäre, wenn er mit ihr … Und dann, ratzfatz, von einem Moment auf den anderen: Weg. Aus. Äpfel. Amen.
Tinhofer machte noch drei weitere Aufnahmen, und bei allen waren beide Opfer des Verkehrsunfalls ins Bild gesetzt: im Vordergrund das Mädchen, entstellt, nackt, blutig und zugleich glitzernd. Im Hintergrund der Unternehmer Reinhold Spiss, in sich zusammengesackt, die Brust leicht gegen das Lenkrad gedrückt. Tot.
Dann packte er die Kamera zusammen, hängte sie über die Schulter und wollte den Aufstieg zur Straße beginnen.
Droben fuhr wieder ein Auto vorbei, es fuhr Richtung Brenner.
Ich muss schauen, dass ich hier wegkomme, dachte er.
Doch als der Motorenlärm des vorbeifahrenden Wagens verklungen war, geschluckt von den Kurven und dem sie säumenden Wald, hörte er neben sich ein Röcheln.
Er hielt in seiner Bewegung inne, war körperlich wie psychisch schlagartig wie versteinert. Und er hoffte inständig, sich getäuscht zu haben.
Die Anzeigen am Armaturenbrett gaben nicht viel Licht, aber immerhin genug, dass er die beiden Verunglückten zumindest schemenhaft erkennen konnte. Ein zarter bläulicher Schimmer lag auf ihnen. Es sah gespenstisch aus. Tinhofer wollte nur weg.
Doch das Röcheln war keine Einbildung. Es kam leise und doch unüberhörbar aus der Tiefe des zerstörten Mädchenkörpers. Da war noch Leben.
Blödsinn, dachte Tinhofer. Leben! Das ist kein Leben mehr! Das ist nix mehr. Gar nix mehr.
Es sah, dass die rechte Hand des Mädchens, die aus der Tür heraushing, zuckte. Nichts sonst regte sich. Aus dem Motorraum des Fahrzeugs kam ein gleichmäßiges dünnes Pfeifen, so ähnlich wie bei einer Fahrradpanne, wenn die Luft eines Reifens ganz langsam durch ein winziges Loch entweicht. Aber sonst nichts. Keine Bewegung und auch kein Röcheln mehr.
Ich verschwinde.
Verschwinden war das Einzige, was er jetzt noch wollte. Weg, nur weg.
Er hastete bergauf, so schnell, wie es das steile Gelände nur zuließ. Er hangelte sich an den Büschen nach oben, rutschte weg, zerriss sich die Hose am Knie, spürte, dass er sich auch die Haut stark abgeschürft haben musste, aber er hielt nicht an, hastete weiter, als wäre ein wildes Tier hinter ihm her gewesen. Er keuchte, die Lungen schmerzten, und er verfluchte die Raucherei, die ein Übriges tat, dass er so schnell außer Atem geriet.
Fast wäre er auf den letzten Metern, kurz bevor die Fahrbahn erreicht war, noch einmal gestürzt. Aber er konnte sich aufrappeln, erreichte seinen Wagen und fuhr davon, ohne sich noch einmal umzuschauen.
Sein Hemd war vom Schweiß durchnässt, seine Hände zitterten wieder, und er hatte das Gefühl, dass ihn diese Nacht verfolgen würde bis an sein Lebensende.
Und er sollte recht behalten.
* * *
Die Rettungskräfte, die um zehn vor zwei am Morgen zum Unfallort kamen – alarmiert sonderbarerweise durch einen anonymen Anruf – sahen es ganz ähnlich: Verdammte Scheiße. Man musste kein Fachmann sein, um zu erkennen, dass es eine überaus schwierige Bergung werden würde.
Und sie wurde schwierig, schwieriger als erwartet. Denn rasch stellte sich heraus, dass es nicht darum ging, ein Wrack mit toten Insassen zu bergen – die Verunglückten, ein Mann in mittleren Jahren und eine nackte junge Frau – lebten. Noch …
Noch lebten sie!
Die vor die Münder gehaltenen Spiegelchen beschlugen, Puls war zu verspüren, der Mann, die Frau, beide waren ohne Bewusstsein, aber noch war der Tod nicht eingetreten. Noch gab es Hoffnung.
»Ob man bei ihr hoffen soll?« Der Notarzt meinte das nicht als Frage. »Was wäre das noch für ein Leben …«
In der Innsbrucker Uniklinik wurde alles Menschenmögliche getan, die beiden zu retten. Es gelang, Spiss’ Zustand zu stabilisieren. Eine Gehirnblutung wurde operativ entfernt, und er wurde in einen künstlichen Tiefschlaf versetzt.
Carla aber, Carla Manczic, siebzehn Jahre alt und Schülerin am Bundesrealgymnasium Innsbruck, hauchte um zehn vor halb sechs am Morgen ihr letztes Restchen Leben aus.
Ihre Eltern warteten auf kalten Stühlen im Vorraum der Intensivstation, weinend die Mutter, leise Gebete sprechend der Vater. Als ein Arzt durch die milchgläserne Schiebetür trat und auf sie zukam, wussten beide sofort, dass es vorbei war.
* * *
Tinhofer hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Zum einen, weil er seinen Job erledigen musste. Zum anderen, weil ihn diese Sache mehr aufgewühlt hatte als jede andere. Es ließ ihn nicht kalt, dass sich das Mädchen noch bewegt hatte. Nein, es trieb ihn um, ließ seine Hände noch zittern, als er schon in der Dunkelkammer zugange war. Zugleich war er sich bewusst, dass er sich einen großen Fisch geangelt hatte. Was er da wusste und schwarz-weiß auf Fotopapier hatte, war bares Geld wert. Viel Geld.
Morgens um fünf – als Carla im Sterben lag, was er freilich nicht wissen konnte – brühte er sich einen starken Kaffee. Die Abzüge hatte er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet. Er trank mit schlürfenden Schlucken und wandte seinen Blick nicht von den Fotos ab.
Er musste Entscheidungen treffen. Die Bilder gehörten der Tageszeitung, in deren Auftrag er sich auf die Spur von Spiss gesetzt hatte. Keine Frage. Aber auf die Informationen, die nur er haben konnte, hatten sie nicht automatisch ein Anrecht.
Tinhofer spürte, dass aus dieser Sache, wie beschissen sie auch immer sein mochte, mehr herauszuholen war.
Er zögerte. Doch er wusste auch, dass ihm dieses Zögern nichts nützen würde.
Die Zeitung bringt die Meldung erst morgen, dachte er. Im Radio wird schon vorher was berichtet werden. Über den Unfall sowieso. Und dann wird es nicht mehr lange dauern, bis sie auf Spiss kommen und auf seine junge Geliebte.
Um halb sieben Uhr morgens griff er zum Telefon und riss mit seinem Anruf einen Redakteur beim Rundfunk aus dem Schlaf. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk! Seriös. Geld konnte man aber auch da abzocken.
»Tinhofer …? Du hast wohl den Arsch offen! Weißt du, wie spät es ist …?«
Doch legte sich der Ärger beim Rundfunkmann schnell, als er erfuhr, was Tinhofer zu bieten hatte.
»Ja, klar. Ich hab die Bilder fertig. Die kannst du zwar nicht senden, aber sie dürften Beweis genug dafür sein, dass alles stimmt, was ich dir sage.«
Eine halbe Stunde später brachten die Nachrichten erste Meldungen zum tragischen Verkehrsunfall auf der Brennerstraße B 182.
* * *
Auf den langen Fluren der Innsbrucker Uniklinik begegneten sich, ohne voneinander zu wissen, die Eltern Carlas und die Ehefrau von Reinhold Spiss. Den einen stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Sie hatten ihre Tochter verloren, das war gewiss. Ungewiss war, warum sie nicht bei einer Freundin gewesen war, sondern auf der Brennerstraße verunglückte. Wie sie überhaupt in das Auto des Mannes gekommen war, was sie mit ihm zu tun hatte. Die Tochter war tot, und es gab nichts Schrecklicheres. Und doch konnten die Eltern noch gar nicht richtig trauern, weil diese Fragen ihre Gedanken quälten und sich in ihre Herzen und Seelen brannten.
Die Frau hingegen zeigte ein Gesicht, das auch voll Schmerz war, in dem es aber auch Hoffnung gab. Sie wusste noch nichts von dem Mädchen, hatte nur die Benachrichtigung erhalten, dass ihr Mann schwer verunfallt war, sehr schwer, und eilte mit sich jagenden und überstürzenden Gefühlen in die Klinik.
Die Hoffnung, dachte sie, und sie glaubte dabei sogar ihre Gedanken zittern zu spüren, die Hoffnung stirbt immer zuletzt. Wie abgedroschen, dachte sie. Und doch: wie wahr, wie wahr, wie wahr.
* * *
Vom Sender bekam Tinhofer achtunddreißigtausend Schilling für seine Information. Er musste sich verpflichten, dass er sie an diesem ersten Tag an keinen anderen Sender, egal, ob Hörfunk oder Fernsehen, weitergab.
Er hatte sich mehr ausgerechnet. Mit sechzigtausend war er in die Diskussion gegangen; fünfundvierzigtausend hatte er sich erhofft. Aber sein Gegenüber hatte natürlich auch gewusst, dass nicht viel Zeit blieb – und dass Tinhofer das Geld, auch wenn es weniger als gedacht war, sicher gut gebrauchen konnte.
Tinhofer war dennoch zufrieden. Hatte er doch bei der Zeitung, dem »Tiroler Stern«, zusätzlich zum vereinbarten Recherche- und Bildhonorar noch mal achtundzwanzigtausend Schilling für die exklusiven Fotos aushandeln können. Und er hatte auf Informantenschutz bestanden: Woher die News kamen, wer das Foto gemacht und geliefert hatte – kein Wort darüber. Tinhofer fürchtete, wegen unterlassener Hilfeleistung belangt werden zu können. Auch wenn er noch der Meinung war, dass sie das Mädchen nie und nimmer lebend gefunden haben konnten.
Wer würde sich schon Gedanken darüber machen, ob sie beim Unfall oder eine halbe Stunde später gestorben war?
Tinhofer stellte sich in die Badewanne und duschte lange, heiß und ausgiebig. Danach rasierte er sich über dem Waschbecken, schabte sich den Schaum samt den Bartstoppeln vom Gesicht und beobachtete sich selbst dabei im Badezimmerspiegel.
Er war allein. Seine Frau war zur Arbeit gegangen, das Töchterchen spielte im Kindergarten. Die Klinge schabte über die raue Haut, riss einen Pickel auf, Tinhofer verzog das Gesicht, ein wenig Blut färbte den Schaum rosa.
Ich sollte weniger rauchen, dachte er. Weniger rauchen, weniger Pickel.
Aber es war nicht der richtige Zeitpunkt, mit dem Rauchen aufzuhören. Ganz im Gegenteil. Sein Verlangen nach Zigaretten, nach Tabak und Nikotin, war selten größer gewesen.
* * *
Als am darauffolgenden Tag die Zeitung auf der Titelseite ein Foto vom Unfallfahrzeug brachte – man konnte Carla und Spiss darauf sehen, und wer sie kannte, vermochte sie unter Umständen auch zu erkennen –, wurde das in Innsbruck und dem Umland zum Tagesgespräch. Spiss war von überregionaler Prominenz, hatte aus der Kfz-Werkstatt seines Vaters einen Reifenfachhandel gemacht, um sodann erst Tirol und schließlich ganz Österreich mit gut gehenden Filialen zu überziehen. Spiss war ein Markenname. Und zugleich eine Persönlichkeit. Man kannte diesen Mann, der es aus eigener Kraft geschafft hatte, sich ein kleines Imperium aufzubauen. Man kannte ihn aus der Zeitung, aus dem Fernsehen, wusste, dass er jedes Jahr vor Weihnachten großzügig spendete, dass er oben in Hötting lebte, seit achtzehn Jahren verheiratet war und eine halbwüchsige Tochter hatte. Man wusste auch von Gerüchten, wonach er mehrfach in Rotlichtlokalen gesichtet worden sein sollte, wonach seine Ehe keine besonders gute wäre, wonach er und seine Frau nur den Schein wahrten. Wer hätte sagen können, was dran war an diesen üblen Nachreden?
Niemand konnte Gewissheit haben über die dunkle Seite des honorigen Herrn Spiss – bis zu diesem Tag, bis zu diesem Foto.
Die Zeitung weidete das Unglück gnadenlos aus. »Unternehmer S. rast mit Schülerin ins Verderben« – »Das tragische Ende einer (verbotenen) Liebesnacht« – »Tragödie nach Tête-à-Tête mit Schülerin – Innsbrucker Reifenhändler S. überlebt schwer verletzt« – so und ähnlich lauteten die Headlines und die Zwischenüberschriften am ersten Tag. Und was in den Lauftexten stand, war eine Mischung aus Bericht und Spekulation, immer wieder unter die Gürtellinie zielend. Leicht konnte man den Eindruck gewinnen, dass nicht der fürchterliche Unfall und der Tod des Mädchens die eigentliche Nachricht waren, sondern das Verhältnis des reifen Mannes mit der Schülerin, die ansonsten, so die Zeitung, »unauffällig gewesen ist, keinen Freund gehabt hat und bei den Klassenkameradinnen eher als graue Maus galt«.
Es war eine üble Geschichte.
* * *
Staatsanwalt Dr. Magnus Kröninger war außer sich. Er hatte am Morgen den noch nach Druckerschwärze riechenden »Tiroler Stern« auf den Tisch bekommen. Das Foto auf der Titelseite war groß. Es war nicht zu übersehen.
Seine Sekretärin erschrak. So hatte sie den jungen Staatsanwalt, für den sie seit gut eineinhalb Jahren arbeitete, noch nicht kennengelernt. Im Allgemeinen schien er seine Emotionen gut im Griff zu haben.
»Welches Arschloch hat dieses Bild gemacht und an dieses Schmierblatt gegeben?«
Kröninger leitete bei diesem Verkehrsunfall mit Todesfolge die Ermittlungen. Er hasste es, wenn die Medien während laufender Ermittlungen auf gleichem Wissensstand mit der Polizei waren – oder ihr gar noch voraus. Und noch mehr hasste er es, wenn Texte oder gar Bilder veröffentlicht wurden, wodurch die Würde betroffener Menschen verletzt werden konnte.
»Schaun S’ nicht so belämmert«, schnauzte er die Sekretärin an. »Ich will alle Beamten, die am Unfallort waren, hier in meinem Büro. Und zwar innerhalb der nächsten halben Stunde.«
Es ging nicht ganz so schnell, wie Kröninger es eingefordert hatte – zwei der vier Beamten, die am Unfallort gewesen waren, hatten gerade einen Einsatz. In einem Vorstadt-Beisl war es zwischen notorischen Trinkern zum Streit und zu handgreiflichen Auseinandersetzungen gekommen.
Aber nach eineinhalb Stunden waren dann alle da. Sie konnten glaubwürdig versichern, dass nicht einer von ihnen ein solches Foto gemacht habe. Foto ja, aber nur zum Zwecke der Dokumentation des Unfalls. Niemand hatte ein Bild an die Presse gegeben. Und es hatte auch keiner von ihnen beobachtet, dass einer der Sanitäter oder der Notarzt … Und als dann das Bergungsfahrzeug mit der Seilwinde kam, da waren die Verunglückten ja längst abtransportiert.
Kröninger glaubte den Polizisten. Keiner von ihnen suchte seinem strengen Blick auszuweichen. Keiner zeigte Anzeichen unangebrachter Nervosität. Er glaubte ihnen und schickte sie weg, zurück an ihre Arbeit.
»Machen Sie den Chefredakteur dieses Schmutzblattes ausfindig. Ich will ihn sprechen.« Er war noch immer wütend. »Stimmt nicht«, fügte er hinzu. »Ich will ihn nicht sprechen. Was ich wirklich will, ist ihm mit Anlauf in seinen platt gesessenen Arsch treten.«
Zehn Minuten später hatte er ihn in der Leitung. Marius M. Hellwage.
Ein Deutscher, dachte Kröninger. Mir bleibt auch nichts erspart. Ein arroganter Deutscher.
Er wusste, dass es ein Vorurteil war. Aber nach Fairness oder Neutralität war ihm an diesem Tag nicht zumute.
Kröninger verzichtete auf jegliche Höflichkeitsform, sagte weder Guten Tag noch Bitte und Danke. »Ich will wissen, vom wem das Foto stammt, das heute Ihre geschmacklose Titelseite ziert.«
Die mühsam unterdrückte Wut war ihm anzuhören.
Doch der Chefredakteur ließ sich davon nicht beeindrucken.