Charlotte Link
Am Ende des Schweigens
Roman
Blanvalet
Charlotte Link, Jahrgang 1963, gehört inzwischen zu den erfolgreichsten deutschen Autorinnen. Sie machte sich mit großen Gesellschaftsromanen (darunter die Bestseller-Trilogie »Sturmzeit«, deren TV-Verfilmung mit überwältigendem Erfolg ausgestrahlt wurde) ebenso einen Namen wie mit psychologischen Spannungsromanen in bester englischer Tradition. Charlotte Link lebt in Wiesbaden.
Phillip Bowen sah sich voll Erstaunen mit der Erkenntnis konfrontiert, daß er noch nie in seinem Leben wirklich gehaßt hatte. Auch wenn er natürlich früher schon einige Male geglaubt hatte, Haß zu empfinden - auf Sheila zum Beispiel, wenn er sie trotz all ihrer Versprechungen und Beteuerungen wieder und wieder mit der Nadel im Arm erwischt hatte -, so begriff er nun, daß diese Emotionen etwas mit Wut, Schmerz, Zorn und Trauer zu tun gehabt haben mußten, nicht aber mit Haß.
Denn den fühlte er jetzt, als er vor dem Haus stand, an dem ihm nicht ein einziger Ziegelstein gehörte, und es war ein so starkes, machtvolles Gefühl, daß er es als vollkommen neu und erstmalig in seinem Leben erkannte.
Das Haus war von einfacher Bauweise, schlicht und schnörkellos, mit geraden, klaren Linien und genau so, wie er sich sein Traumhaus immer vorgestellt hätte, wäre er irgendwann einmal in der Situation gewesen, darüber nachzudenken. Es gab ein Stockwerk und ein Dachgeschoß mit kleinen Gauben und Bleiglasfenstern. Neben der schweren Haustür aus Eichenholz kletterte Efeu empor und verlor sich dann irgendwo im schmiedeeisernen Gitter eines kleinen Balkons im ersten Stock.
Ging man um das Haus herum, so gelangte man zu der eindrucksvollen Terrasse. Sie erstreckte sich über die gesamte Breite und war von einer Sandsteinbalustrade eingefaßt, die sich nach vorn hin öffnete und einer großzügigen Treppe Raum bot. Vier langgestreckte Stufen führten in den Garten hinunter, der eigentlich ein Park war: weitläufig, Wiesen und Wälder umschließend, eingefaßt von einer sehr alten steinernen Mauer, die jedoch an so vielen Stellen zerbröckelt oder sogar ganz verschwunden war, daß sich die eigentliche Grundstücksgrenze über weite Strecken hin nicht feststellen ließ. Phillip hatte sich alles angesehen. Er hatte das ganze Areal umrundet, den ganzen Besitz, und er war fast vier Stunden unterwegs gewesen. Nun stieg er die Stufen zur Terrasse hinauf und versuchte sich vorzustellen, wie es sein mußte, sie tagtäglich lässig hinauf- und hinunterzuspringen und zu wissen, daß, so weit das Auge reichte, einem das alles selber gehörte.
In einer schattigen Ecke der Veranda entdeckte er große Terrakottatöpfe, in denen verdorrte Blumen steckten, ein Hinweis darauf, daß das Anwesen als Feriensitz genutzt und zwischendurch nur in großen Abständen von einem Gärtner und einer Putzfrau gewartet wurde. Auch der Rasen unten im unmittelbar anschließenden Teil des Parks stand ziemlich hoch. Im Dorf hatte man Phillip Auskunft erteilt. Er hatte mit der Besitzerin des Gemischtwarenladens gesprochen, und diese hatte nur zu gern ihr Wissen weitergegeben.
»Meine Schwester putzt dort, und sie sieht alle drei Wochen nach dem Rechten. Und bevor die Herrschaften anreisen, lüftet sie gründlich und wischt Staub, und manchmal stellt sie auch frische Blumen in die Räume. Und dann gibt es noch Steve, den Gärtner. Also, eigentlich ist er kein Gärtner, er arbeitet in Leeds bei irgendeiner Firma ... aber natürlich reicht das Geld nie, und so ist er immer dankbar, wenn er irgendwo etwas dazuverdienen kann. Na ja, und da mäht er eben den Rasen und kümmert sich ums Grundstück ...« Phillip hatte rasch eingehakt, denn die Geschichte von Steve dem Gärtner interessierte ihn nicht besonders.
»Es sind doch Deutsche, denen das Anwesen gehört?«
»Ja, aber sie sind sehr nett.« Die Gemischtwarenhändlerin war, wie Phillip schätzte, etwa fünfundsechzig Jahre alt, mußte den Krieg als Kind noch erlebt haben und mochte gewisse Vorbehalte gegenüber den Deutschen haben, wie aus ihrer Formulierung deutlich wurde. »Eigentlich kriegt man hier gar nicht so viel von ihnen mit. Sie kommen natürlich zum Einkaufen zu mir, aber sie suchen nicht gerade das Gespräch. Vielleicht liegt das auch an der Sprache. Es ist etwas anderes, ob man um Butter und Brot bittet, oder ob man eine richtige Unterhaltung führt, nicht wahr? Nur die eine Frau hat manchmal mit mir geredet ... Ich glaube, die wollte auch mal mit anderen Menschen sprechen, nicht immer nur mit den eigenen Leuten. War eine nette Person. Spanierin. Schwarzhaarig, sehr attraktiv. Aber die ist schon lange nicht mehr da… Steve hat mir irgendwann erzählt, daß ihr Mann sich von ihr hat scheiden lassen. Seit dem letzten Jahr ist er neu verheiratet. Mit einer sympathischen Frau, das muß man sagen.«
»Es sind drei Ehepaare, die hierherkommen?«
»Genau. Immer, in allen Ferien, und auch immer alle zusammen. Drei Mädchen sind noch dabei, aber zu wem die gehören … Die eine ist schon älter, ein großes, schönes Mädchen, vielleicht fünfzehn Jahre alt ... schon ziemlich ... na ja ...« Sie hatte mit beiden Händen einen üppigen Busen beschrieben; Phillip schloß daraus, daß dieses Mädchen schon recht gut entwickelt war.
»Einmal«, hatte die Frau mit gesenkter Stimme hinzugefügt, »ist sie zum Dorffest im Sommer gekommen, im letzten Jahr war das, glaube ich. Spät in der Nacht hat Rob - mein Sohn, müssen Sie wissen - sie mit dem jungen Keith Mallory in seiner Scheune erwischt, also in der Scheune, die zu Robs Hof gehört, und er war ganz schön wütend. Ob etwas passiert ist, konnte er natürlich nicht wissen. Dem Vater von Keith Mallory hat er jedenfalls Bescheid gesagt, und dann wollte er auch zu dem Vater von dem Mädchen gehen, aber ich habe gemeint, das solle er besser nicht tun. Schließlich geht es uns nichts an, und man weiß ja nicht … es sind Ausländer, keine Ahnung, welchen Ärger sie dem armen Keith machen könnten! Keith hatte sich vorher auf dem Festplatz ganz schön an das Mädchen rangeschmissen, das haben jedenfalls einige gesagt, die die beiden gesehen haben. Und offensichtlich ist die Geschichte ja auch ohne Folgen geblieben, sonst hätten wir das bestimmt gehört.«
Phillip interessierte sich wenig für derlei Geschehnisse, aber es war klar, daß sein Gegenüber genau solche Pikanterien genoß.
»Kennen Sie eine der Frauen näher? Sie heißt Patricia Roth.« Er sprach den Namen deutsch aus, denn das tat sie vermutlich auch. »Sie ist die Eigentümerin des Anwesens.«
» Ja, so sagt man. Eine etwas verworrene Erbschaftsgeschichte war das. Der alte Kevin McGowan wollte das Anwesen ja seinem Sohn vererben, der in Deutschland lebt, aber der war nicht interessiert, und so ging alles direkt an die Enkelin ... Das ist dann wohl die Frau, die Sie meinen. Patricia Roth«, sie überlegte, »ich glaube, ich weiß, welche das ist. So eine ganz Kleine, Zierliche. Meiner Ansicht nach ist sie die Mutter von den beiden anderen Mädchen. Die sind, schätze ich, zehn und zwölf Jahre alt. Niedliche Dinger. Sie begleitet sie manchmal zu Sullivans hinüber, das ist der Hof gleich am Dorfrand. Dort reiten sie auf den Ponys.«
Er dachte an dieses Gespräch, während er auf der Terrasse stand, an der Wand hochblickte und die Fenster zählte, ohne zu wissen, weshalb er das tat. Noch immer hatte er kein Bild von Patricia - daß sie sehr klein und zierlich sein sollte, brachte ihn vielleicht ein Stück weiter, verlieh ihr aber kein Gesicht, keine Stimme. Die Frau, von deren Existenz er bis vor fast zwei Jahren nichts gewußt hatte. Bis zu jenem Sommer, in dem seine Mutter plötzlich begonnen hatte zu erzählen …
In zwei Tagen, so hatte ihm seine Informantin im Gemischtwarenladen verraten, würden sie alle wieder eintreffen, für zwei volle Wochen Osterurlaub. Sie wußte das von ihrer Schwester, denn die war zum Putzen bestellt worden.
Sicher, überlegte er, während er sich umdrehte und in den Garten blickte, ist auch Steve der Gärtner angerufen worden.
Das Gras wucherte tatsächlich ziemlich hoch, es mußte dringend gemäht werden. Der März und auch die ersten zwei Aprilwochen hatten viel Sonne und Regen in raschem Wechsel gebracht. Die Natur explodierte.
West-Yorkshire. Brontë-Land. Er grinste. Unglaublich, daß es ihn hierher verschlagen hatte. Daß er vor einem Haus stand und es haben wollte. Er, der Londoner war mit Leib und Seele. Der sich nie hatte vorstellen können, irgendwo anders zu leben als dort, höchstens in einer anderen Metropole: New York oder Paris oder Madrid. In diesen drei Städten war er in bestimmten Lebensphasen zu Hause gewesen, hatte sich wohl gefühlt und sich dennoch nach London gesehnt, ein bißchen wenigstens, tief in seinem Herzen.
Und jetzt, mit einundvierzig Jahren, stand er in Stanbury, dem Dorf, das auf kaum einer Karte der Welt verzeichnet war, und verliebte sich in ein Haus und in die Vorstellung eines Lebensgefühls, von dem er nie gewußt hatte, daß es als Möglichkeit in ihm überhaupt existierte.
Er versuchte, durch eines der Fenster in das Innere des Hauses zu spähen, aber er konnte nichts erkennen; die schweren Vorhänge innen waren zugezogen. Tatsächlich spielte er bereits mit dem Gedanken, sich auf irgendeine Weise Zutritt zu verschaffen - vielleicht schloß eines der Kellerfenster nicht richtig, oder es gab eine Seitentür, deren Schloß leicht aufzubrechen war -, aber da hörte er, wie sich ein Auto über die Auffahrt näherte und auf der anderen Seite vor dem Hauptportal bremste. Rasch ging er um das Haus herum und sah eine ältliche Frau, die aus einem ziemlich klapprigen, kleinen Auto stieg. Sie trug eine geblümte Kittelschürze und hatte einen Korb mit undefinierbaren Utensilien in der Hand, und er vermutete, daß es sich um die Putzfrau handelte.
Er ging auf sie zu, sie erschrak sichtlich, musterte ihn dann mißtrauisch.
»Ja?« fragte sie, so als habe er etwas gesagt.
Phillip lächelte. Er wußte, daß er charmant und vertrauenerweckend wirken konnte.
»Wie gut, daß Sie kommen«, sagte er. »Sie machen hier sauber, nicht wahr? Ich habe schon mit Ihrer Schwester gesprochen ...«
Ihre Züge entspannten sich. Der Umstand, daß er mit ihrer Schwester bekannt war, ließ ihn offenbar sofort unbedenklicher erscheinen.
»Ich bin Phillip Bowen«, stellte er sich vor und streckte ihr die Hand hin, »ein Verwandter von Patricia Roth.«
»Ach? Ich wußte gar nicht, daß Mrs. Roth Verwandte in England hat.« Sie ergriff seine Hand. »Ich bin Mrs. Collins. Ich wollte jetzt das Haus putzen.« Sie wies auf den Korb, in dem sich, wie Phillip jetzt erkannte, alle möglichen Reinigungsmittel befanden. »Die Herrschaften kommen ja übermorgen.«
»Ich bin wirklich froh, daß ich Sie hier gerade treffe. Patricia hat mich schon vor Wochen gebeten, nach der Heizung zu sehen ... Irgend etwas hat da wohl nicht gestimmt während des letzten Urlaubs, und im April kann es ja durchaus sein, daß man sie noch mal braucht ...« Er lächelte wieder, jungenhaft und ein wenig schuldbewußt. Zu der langen Reihe von Versuchen, sich eine berufliche Existenz aufzubauen, gehörte auch der Besuch einer Schauspielschule, und obwohl er es natürlich auch dort nicht bis zu einem Abschluß geschafft hatte, war ihm von den Lehrern doch stets Talent bescheinigt worden - besonders was die Wandlungsfähigkeit seines Gesichtsausdrucks anging. »Aber, wie das so ist, ich habe es wieder einmal bis zum letzten Moment hinausgeschoben …«
Jetzt erwiderte sie sein Lächeln. »Ich kenne das. Man denkt immer, man hat noch so viel Zeit, und dann muß man sich plötzlich ganz furchtbar abhetzen. Sie sind Heizungsmechaniker?«
»Nein, nein. Aber ich verstehe ein bißchen was davon. Jedenfalls glaubt Patricia das!« Er wußte, daß er genau die schlichte Gesprächsebene getroffen hatte, die eine Frau wie Mrs. Collins mochte. »Das Problem ist nun ..., ich finde den Schlüssel nicht! Ich habe meine Taschen umgestülpt, ich habe mein Auto durchsucht - nichts!«
Mrs. Collins zog sich fast unmerklich wieder ein kleines Stück zurück. »Besitzen Sie denn einen Schlüssel?«
»Ja. Aber ich habe ihn noch nie benutzt. Ich dachte, er ist in meinem Wagen. Verflixt!« Er kratzte sich am Kopf. »Patricia wird ziemlich sauer auf mich sein! Wenn es plötzlich kalt wird, und die Heizung funktioniert nicht …«
»Sie möchten, daß ich Sie jetzt mit hineinnehme?« folgerte Mrs. Collins, und er hätte fast bravo! gesagt.
»Das wäre wirklich nett von Ihnen.«
» Ja ... ich weiß nicht …«
»Sie sind doch die ganze Zeit im Haus. Ich glaube kaum, daß es mir gelingt, Wertgegenstände an Ihnen vorbei hinauszutragen. Ich will wirklich nur schnell nach der Heizung sehen.«
Er sah ihrem Gesicht an, daß Bilder, die sie gesehen, und Geschichten, die sie gehört hatte, durch ihren Kopf zogen: von Männern, die sich das Vertrauen älterer Frauen erschlichen, ihnen dann einen Hammer auf den Kopf schlugen und sich mit allem aus dem Staub machten, was nicht niet- und nagelfest war. Er konnte es ihr nicht einmal verübeln. Die Zeitungen waren voll von Berichten dieser Art.
»Na ja«, sagte er, »ich will Sie nicht bedrängen. Sie kennen mich nicht, und sicher haben Sie recht, vorsichtig zu sein. Ich werde sehen ...« Er ließ den Satz unvollendet und wandte sich zum Gehen.
Sie gab sich einen Ruck.
»Halt. Warten Sie! Man sollte nicht jedem Menschen mißtrauen, oder?« Sie kramte ihren Schlüssel aus der Schürzentasche hervor. »Kommen Sie. Wir gehen hinein.«
Er war zuerst in den Keller gegangen und hatte sich laut klappernd im Heizungsraum zu schaffen gemacht, und nach einer Weile war er hinaufgekommen und hatte zu Mrs. Collins, die gerade im Eßzimmer Staub wischte, gesagt: »Ich muß in allen Räumen die Heizkörper aufdrehen. Ist das in Ordnung?«
Sie schien inzwischen keinerlei Vorbehalte mehr gegen ihn zu haben. »Ja, machen Sie nur«, sagte sie.
Er stellte fest, daß man hier im Haus keineswegs in Luxus schwelgte. Es gab ein paar schöne, alte Möbel, die der alte Kevin McGowan vermutlich noch gekauft und mit dem ganzen Besitz seinen Erben vermacht hatte, aber hauptsächlich hatte man das Haus mit eher einfachen Dingen eingerichtet: mit gemütlichen, aber ganz sicher nicht teuren Sesseln und Sofas, vielen Kissen und Leselampen und roh gezimmerten Regalen, die voller Bücher standen. Er konnte sich vorstellen, wie sie alle an kalten Wintertagen oder nassen, stürmischen Frühlingsabenden um den Kamin im Wohnzimmer saßen, lasen, sich leise unterhielten, ein paar Weingläser um sich herum stehen hatten. Vielleicht spielten die Kinder zu ihren Füßen, und …
Halt! Er verzog das Gesicht zu einem zynischen Lächeln, als ihm aufging, wie sehr ihn der Kuschelnest-Charakter dieses alten Landhauses bereits verführt hatte, in Gedanken das Bild einer völlig idiotischen Idylle zu malen. Vielleicht sah die Wirklichkeit bei weitem nicht so perfekt aus. Immerhin wußte er schon, daß eines der Mädchen nachts in fremden Scheunen herumknutschte, anstatt das Familienleben vor dem Kamin zu pflegen. Und möglicherweise waren auch die drei befreundeten Ehepaare gar nicht immer so glücklich miteinander. Das Haus war geräumig, aber dennoch saß man wochenlang aufeinander, und wenn es regnete, mußte es noch schlimmer sein. Es gab nur eine Küche, ein Eßzimmer, ein Wohnzimmer. Was bedeutete, daß die sechs Erwachsenen und die drei Kinder die Tagesabläufe im wesentlichen gemeinsam gestalten mußten.
»Ich gehe nach oben«, sagte er zu Mrs. Collins, und diese nickte, während sie den Eßtisch mit Politur bearbeitete.
Die Treppe führte von der großzügigen Eingangshalle nach oben. Es gab eine Galerie, von der mehrere Türen wegführten, und eine Art schmaler Hühnerleiter, über die man wohl in das Dachgeschoß gelangte.
Phillip öffnete aufs Geratewohl die Tür, die der Treppe am nächsten lag, und stand in einem äußerst romantisch eingerichteten Schlafzimmer mit Himmelbett, einer Menge Kerzen auf einem alten, sehr schön restaurierten Waschtisch und schweren Brokatvorhängen an den Fenstern. Im Schrank hingen einige exklusive Kostüme, die, wie er vermutete, eine schöne Stange Geld gekostet haben mußten. Kurz überlegte er, ob sie wohl Patricia gehörten, stellte aber rasch fest, daß dies nicht sein konnte. Patricia war ihm als besonders klein und zierlich beschrieben worden. Die Kostüme jedoch paßten einer sehr üppigen, dicken Frau.
Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte ihm, daß man von hier über den geschlängelten Weg schaute, der vom Haus weg in Richtung Dorf führte, zunächst an einer Wiese entlang, dann in einem verwilderten Wäldchen verschwindend, dessen wenige Bäume ein zartes Frühlingsgrün trugen.
Verdammt hübsches Schlafzimmer, dachte er, während er das Bad inspizierte, das durch eine diskrete Tapetentür erreichbar und äußerst modern und komfortabel war. Muß ein gutes Gefühl sein, hier am Morgen aufzuwachen, dem Vogelgezwitscher aus dem Park zu lauschen und dann nebenan eine schöne, warme Dusche zu nehmen.
Er sah sein eigenes Schlafzimmer vor sich, das diese Bezeichnung allerdings gar nicht verdiente, denn seine Wohnung in einer der schäbigsten Ecken Londons bestand nur aus einem einzigen Zimmer mit Kochnische, und wenn er schlafen wollte, mußte er das Sofa aufklappen und die Bettwäsche aus einem Schrank hervorkramen. Ein richtiges Bad hatte er überhaupt nicht, nur einen abgetrennten Verschlag unter der Dachschräge mit einer Dusche darin. Es gab eine Toilette im Treppenhaus, die er sich mit fünf anderen Parteien teilte. Ein Scheißleben, und nicht die kleinste Aussicht auf eine Verbesserung.
Doch. Eine ganz kleine. Jetzt schon.
Im nächsten Schlafzimmer, das gleich nebenan lag, stolperte er geradezu über Patricia, denn sie strahlte ihn von mindestens zwei Dutzend Fotos an den Wänden und auf Tischen und Regalen an. Nie alleine, stets war sie mit der kompletten Familie abgebildet: eine auffallend kleine, zarte Frau, sehr blond und sehr attraktiv, meist in die Arme eines großen, gutaussehenden Mannes geschmiegt, und daneben zwei kleine Mädchen, so hübsch und so blond wie die Mutter, die fast immer auf Ponys saßen oder mit tapsigen Hundewelpen kuschelten. Phillip betrachtete jedes Bild eindringlich. Nach seinem Gefühl handelte es sich nicht um Schnappschüsse, sondern um sorgfältig arrangierte Szenen, die das Bild der perfekten, glücklichen Familie in einer Intensität transportierten, die unglaubwürdig wirkte.
Sie will etwas darstellen, dachte er, um jeden Preis. Seht her, wie glücklich wir sind! In welch heiler Welt wir leben! Der perfekte Mann. Die perfekte Frau. Die perfekten Kinder.
Wann stellt man etwas derart demonstrativ zur Schau? überlegte er. Meist dann, wenn irgend etwas daran nicht stimmt.
Er studierte noch einmal die Züge der Frau. Sie mußte Anfang dreißig sein und hatte sicher kein Facelifting hinter sich, aber ihr Lächeln zeigte die Starre, die operierten Gesichtern häufig zueigen ist. Da war kein Strahlen in ihren Augen. Nur eiserner Wille. Harte Disziplin.
Sie würde keine leichte Gegnerin sein.
Er besichtigte das dritte Schlafzimmer, das ihm jedoch kaum Aufschluß gab über seine Bewohner. Keine Fotos, keine Kleider im Schrank. Ein einsamer weißer Morgenmantel hing an einem Garderobenständer. Irgendwie wirkte das Zimmer kahl und nüchtern - bis auf die roten Vorhänge an den Fenstern, die dem Raum ein wenig Farbe verliehen. Als habe jemand alles entfernt, was es vielleicht einmal wohnlich gemacht hatte, und es bislang versäumt, neue Gegenstände der Behaglichkeit herbeizuschaffen. Er mußte an den Mann denken, der geschieden und noch nicht allzulange wieder neu verheiratet war. Er hätte gewettet, daß es dieses Paar war, das in dem Zimmer wohnte.
Er schickte sich gerade an, die Hühnerleiter hinaufzuklettern, um auch noch einen Blick in die Unterkünfte der Kinder zu werfen, da klingelte unten in der Halle das Telefon.
Verdammt, dachte er.
Mrs. Collins begab sich eiligen Schrittes zu dem Apparat. Er konnte ihre Schuhe auf den Fliesen klappern hören.
»Ja, hallo?« hörte er sie sagen, dann gleich darauf: »Oh, Mrs. Roth …, wie geht es Ihnen? ... Ja ... ja …«
Sie lauschte eine ganze Weile in den Telefonhörer, sagte nur gelegentlich »ja« oder »in Ordnung«. Die perfekte Patricia ratterte vermutlich eine ganze Salve von Anweisungen herunter, wie das Haus in Ordnung zu bringen war und wie sie alles vorzufinden wünschte. Dennoch würde Mrs. Collins irgendwann die Information loswerden, daß der hilfsbereite Cousin oder Onkel oder Neffe oder Was-auch-immer gerade dabei war, die Heizung zu reparieren. Und zu diesem Zeitpunkt sollte er möglichst schon das Weite gesucht haben.
Außerdem, fiel ihm ein, wartete Geraldine auf ihn. Seit über einer halben Stunde schon. Sie war zwar das Warten gewöhnt, aber er mußte ihre Geduld nicht überstrapazieren.
So gleichmütig wie möglich ging er die Treppe hinunter. Mrs. Collins sah ein wenig wie ein Opferlamm aus. Phillip konnte nicht verstehen, was Patricia sagte, aber er konnte ihre Stimme aus dem Telefon hören. Sie sprach laut und klar und schnell.
Ich bin fertig, bedeutete er Mrs. Collins lautlos, ich gehe jetzt!
Natürlich konnte es die Schlampe nicht lassen. Vielleicht war sie auch einfach froh, eine Gelegenheit zu finden, Patricias Redeschwall zu unterbrechen.
»Mrs. Roth«, sagte sie hastig, »äh ... Mrs. Roth, Ihr Verwandter ist übrigens gerade da. Wegen der Heizung. Ich habe ihn hereingelassen. Er hat schon alles repariert.«
Offenbar war Patricia sprachlos, denn für einen Moment blieb am anderen Ende der Leitung alles still.
Dann sagte sie irgend etwas, und Mrs. Collins starrte entsetzt zu Phillip hinüber. »Wie?« fragte sie. »Sie haben keinen Verwandten in England?«
Phillip fand, daß das Gequake aus dem Hörer jetzt etwas hysterisch klang.
»Die Heizung ist gar nicht kaputt?« wiederholte Mrs. Collins. In ihre Augen war ein nervöses Flackern getreten. Offenbar erwartete sie, niedergeschlagen, erstochen oder vergewaltigt zu werden. Dabei, dachte Phillip, der schon fast die Haustür erreicht hatte, müßte sie eigentlich merken, daß ich nur weg will.
Sie ließ den Hörer sinken, aus dem noch immer Patricias Stimme drang. »Wer sind Sie?« fragte sie.
Er hatte seine Hand auf dem Türgriff und lächelte Mrs. Collins freundlich an. »Ich bin verwandt mit Mrs. Roth«, antwortete er. »Sie weiß das bloß noch nicht.«
Er ließ sie mit ihrem Staunen allein und trat hinaus in den warmen Frühlingstag.
Er hatte sich ein erstes Bild gemacht.