Der
Schrecksenmeister
Ein kulinarishes Märchen aus Zamonien von
Gofid Letterkerl
Neu erzählt von
Hildegunst von Mythenmetz
Aus dem Zamonischen übersetzt
und illustriert von
Walter Moers
Am Ende meiner letzten Übersetzung eines Romans von Hildegunst von Mythenmetz habe ich die Leser gebeten, mir bei der Entscheidung behilflich zu sein, welches seiner Bücher ich als Nächstes übertragen soll: die Fortsetzung von Die Stadt der träumenden Bücher oder das zweite Kapitel seiner monumentalen Reiseerinnerungen eines sentimentalen Dinosauriers, welches in der Friedhofsstadt Dullsgard spielt.
Diese Abstimmung führte leider zu keinem eindeutigen Ergebnis. Viele Leser empfahlen, beide zu übersetzen – Reihenfolge egal. Um dem Dilemma zu entrinnen, entschied ich mich kurzerhand, das Problem einfach zu vertagen und mir ein ganz anderes von Mythenmetz’ Werken vorzunehmen. Ich muss gestehen, dass diese Auswahl recht willkürlich vonstatten ging. Ich trat vor die mit Mythenmetz’ Büchern überladenen Regale in meinem Arbeitszimmer, schloss die Augen und langte hinein.
Das Buch, das ich ergriff, war Der Schrecksenmeister, Mythenmetz’ meisterhafte Neudichtung eines Klassikers von Gofid Letterkerl.
Erst mitten in der Arbeit ging mir auf, dass mein Auswahlverfahren vielleicht etwas überlegter hätte sein können. Der Schrecksenmeister ist Mythenmetz’ Werk mit den meisten »Mythenmetzschen Abschweifungen«, und aus der Leserpost ist mir bekannt, dass diese stilistische Eigenheit des Meisters nicht jedermanns Sache ist. In diesem Fall musste ich nun selber zugeben, dass die Abschweifungen dem Lesefluss erheblich abträglich waren, mehr noch: Sie brachten mich derart auf die Palme, dass ich das Buch immer wieder wütend anschrie, es bespuckte und auf den Boden, ja einmal sogar im hohen Bogen aus dem Fenster warf. Das Werk stammt aus Mythenmetz’ schlimmster hypochondrischer Phase, was vielleicht mit dem Schauplatz des Romans, Sledwaya, der »krankesten Stadt Zamoniens«, zu tun hat. Die Abschweifungen darin waren seitenlange Beschreibungen von eingebildeten Wehwehchen oder lösten sich ab mit akribischen Angaben über Körpertemperatur und Pulsfrequenz, die Farbe des Urins und die Beschaffenheit des Stuhlgangs. Das war nun wirklich niemandem zuzumuten, und ich entschied mich, der üblichen Werktreue abzuschwören, sämtliche Abschweifungen herauszunehmen und das Buch um 700 Seiten zu kürzen.
Was sich nach einer Arbeitserleichterung anhört, war tatsächlich eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Die Anstrengung, die entstandenen Löcher und Brüche in der Übersetzung zu füllen und zu kitten, zwang mich, den eigentlichen Erscheinungstermin des Buches mehrmals zu verschieben.
Aber ich denke, es hat sich gelohnt, und wenn es nur aus dem Grunde ist, Gofid Letterkerl wieder einmal zu Aufmerksamkeit verholfen zu haben. Er ist einer der ganz Großen, nur ihm ist es zu verdanken, dass die kulinarische Dichtung ein Stilmittel der zamonischen Literatur wurde – ohne ihn hätte Mythenmetz seinen Schrecksenmeister nicht schreiben können. Allein dafür gebührt Gofid Letterkerl die Unsterblichkeit. »Von Letterkerl lernen heißt schreiben lernen«, sagt Hildegunst von Mythenmetz aus eigener Erfahrung. Lassen wir also diese meine Anmerkung – und dieses Buch – ausklingen mit einem Zitat des großen alten Meisters selbst. Es belegt Gofid Letterkerls souveräne Beherrschung der kulinarischen Dichtung und bezeugt nebenbei, wie der Humor eine Triebfeder seines Schaffens war. Es stammt aus einem Brief, den er einer Brieffreundin schrieb, die ihn benachrichtigt hatte, dass sie demnächst ein Kind gebären werde:
»Auf Ihr Kindchen freue ich mich, das wird gewiss ein allerliebstes Tierchen! Wenn es ordentlich genährt ist, so wollen wir’s braten und essen, wenn ich nach Gralsund komme, mit einem schönen Kartoffelsalat und kleinen Zwiebeln und Gewürznelkelein. Auch eine halbe Zitrone tut man dran!«
Walter Moers
Hildegunst von Mythenmetz
Wer mich und meine Schriften ein wenig kennt, weiß, dass ich aus meiner Hochachtung für Gofid Letterkerl nie einen Hehl gemacht habe. Sein Roman Zanilla und der Murch gehört für mich immer noch zu den herausragenden Leistungen der zamonischen Literatur. Auch die meisten seiner anderen Bücher stehen weit oben in meiner Wertschätzung.
In jungen Jahren hat mir mein Dichtpate Danzelot von Silbendrechsler immer wieder Letterkerls Echo, das Krätzchen vorgelesen, und seitdem hege ich eine besondere Vorliebe für diese schmale Märchennovelle. Ich will diese Vorliebe hier nicht rechtfertigen oder erklären, sondern die Geschichte, wie sie das geneigte Publikum jetzt lesen kann, für sich selbst sprechen lassen. Denn es geht mir einzig und allein darum, dass Letterkerls Novelle über Echo und den Schrecksenmeister von möglichst vielen gelesen werden soll.
Echo, das Krätzchen ist das erste von sieben sogenannten Kulinarischen Märchen, die Gofid Letterkerl geschrieben hat, welche alle in der zamonischen Stadt Sledwaya spielen. Das Kulinarische Märchen wiederum ist eine literarische Gattung, die Letterkerl ins Leben gerufen und die zahllose Nachahmer gefunden hat – man denke nur an Vlorian Gekkos Prinzessin in der Erbsensuppe, an Die unbeleidigte Leberwurst von Haimo von Pfirsing oder an Der Kartoffelkönig von Knulf Spakkenhauth. Aber Letterkerl begründete diese Gattung nicht nur, er brachte sie auch zur Hochblüte. Keinem seiner Nachahmer gelang jemals wieder eine solch engmaschige Verflechtung von Kulinarik und Literatur – und noch heute raten manche Ärzte ihren übergewichtigen Patienten ab, Sledwaya-Geschichten zu lesen, weil sie glauben, die Lektüre derselben mache dick.
Aber sehen wir der Sache ins Gesicht: Gofid Letterkerl ist ein, vielleicht der Klassiker der zamonischen Literatur. Er erreichte seine größte Popularität vor Hunderten von Jahren, und sein Stil war schon zu Lebzeiten – ich sage das mit aller Vorsicht und mit allem Respekt – so sperrig wie ein Kleiderschrank und so gewöhnungsbedürftig wie Trompaunenmusik. Mich hat dieser Stil immer in höchste Verzückung versetzt, weil in ihm das pure Orm greifbar ist. Aber bei unserem modernen Lesepublikum, und vor allem bei jungen Lesern, könnte ich mir vorstellen, dass Letterkerls sprachliche Exzentrik eher dazu angetan ist, es in die Arme von gewissen Trivialautoren zu treiben, deren Namen ich hier nicht nennen will – ich sage nur: »Prinz Kaltbluth«-Romane.
Ich habe mir deshalb erlaubt, Echo, das Krätzchen in ein etwas zeitgemäßeres Neuzamonisch zu übertragen, um die Novelle wieder ins kollektive Bewusstsein zu rufen und ihr hoffentlich zu frischer Popularität zu verhelfen. Geht hin und lest den Urtext, wenn es euch gefallen hat – es lohnt sich, denn von Gofid Letterkerl lernen heißt schreiben lernen!
Ich habe mir außerdem erlaubt, das Märchen geringfügig zu bearbeiten und mit einem neuen Titel zu versehen. Ich gestehe gerne, dass ich es auch der Verkäuflichkeit halber Der Schrecksenmeister genannt habe – denn wer kauft heutzutage schon ein Buch, weil es von einem harmlosen Krätzchen handelt? Ein Schrecksenmeister aber verheißt schon auf den ersten Blick mysteriöse Ereignisse, abenteuerliche Alchimie und haarsträubenden Grusel. Geben Sie es also ruhig zu, wenn Sie das Buch nur wegen des Titels in die Hand genommen haben! Und schämen Sie sich dafür, dass Sie ein Werk, das vom Orm nur so strotzt, bisher nicht angerührt haben, weil Ihnen der Titel nicht reißerisch genug war!
Darüber hinaus habe ich mir die Freiheit genommen, Gofid Letterkerls Erzählung hier und da ein wenig improvisierend zu ergänzen. Denn wo bliebe sonst die kreative Eigenleistung?
Und noch etwas, denn ich kann sie schon hören, die Kritiker, die mir angesichts meiner kühnen Bearbeitung Leichenfledderei und geistigen Diebstahl vorwerfen werden. Dazu nur so viel: Das Werk von Gofid Letterkerl ist rechtefrei! Und: Wie kann man etwas stehlen, das allen gehört?
Verklagt mich doch!
Stellt euch den krankesten Ort von ganz Zamonien vor! Eine kleine Stadt mit krummen Straßen und schiefen Häusern, über der ein schauriges schwarzes Schloss auf einem dunklen Felsen thronte. In der es die seltensten Bakterien und kuriosesten Krankheiten gab: Hirnhusten und Lebermigräne, Magenmumps und Darmschnupfen, Ohrenbrausen und Nierenverzagen. Eine Zwergengrippe, die nur Personen unter einem Meter Körpergröße befiel. Geisterstundenkopfweh, das Schlag Mitternacht begann und Punkt ein Uhr verschwand, jeweils am ersten Donnerstag jedes Monats. Phantomzahnschmerzen, die ausschließlich Leute bekamen, die schon Gebisse trugen.
Stellt euch eine Stadt vor, in der es mehr Apotheken und Heilkräuterläden, Quacksalber und Zahnklempner, Krückenschreiner und Mullbindenweber gab als sonst wo auf dem Kontinent! In der man sich mit »Ohwehohweh!« begrüßte und mit »Gute Besserung!« verabschiedete. In der es nach Äther und Eiter roch, nach Lebertran und Brechmitteln, nach Jod und Tod.
Eine Stadt, in der man nicht lebte, sondern vegetierte. In der nicht geatmet wurde, sondern geröchelt. In der niemand lachte, sondern jeder nur jammerte.
Stellt euch einen Ort vor, an dem die Häuser so krank aussahen wie seine Bewohner! Häuser mit buckligen Dächern und warzigen Fassaden, denen die Schindeln ausfielen und von denen der Kalk rieselte. Die sich gegeneinanderlehnten wie Schwindsüchtige, um nicht zusammenzubrechen. Die von Gerüsten mühsam aufrecht gehalten wurden wie von Krücken.
Könnt ihr euch das vorstellen? Gut. Dann seid ihr in Sledwaya.
In jener Zeit lebte in dieser Stadt eine alte Frau, die ein Krätzchen1 besaß, welches sie Echo nannte. Diesen Namen hatte sie ihm gegeben, weil es ihr, im Gegensatz zu all den gewöhnlichen Katzen, die sie vorher besessen hatte, mit menschlicher Stimme antworten konnte.
Als die alte Frau starb – an Altersschwäche übrigens, ganz friedlich und im Schlaf –, war dies das erste richtige Unglück, das Echo in seinem Leben widerfuhr. Er hatte bis dahin ein grundgemütliches Hauskratzendasein geführt, mit regelmäßigen Mahlzeiten, viel frischer Milch, einem Dach über dem Kopf und einem gepflegten Kratzenklo, das zweimal täglich gereinigt wurde.
Nun aber fand sich Echo auf der Straße wieder, ausgesperrt von den neuen Besitzern des Hauses, die so ganz und gar keine Kratzenfreunde waren. Und es dauerte nicht lange, da war das Krätzchen, dem jegliche kriminelle Energie fehlte, um sich im gnadenlosen Milieu der Straße durchzuschlagen, furchtbar heruntergekommen und abgemagert. Von allen Türschwellen verjagt, von streunenden Hunden gebissen und zerzaust, waren seine Lebensfreude, seine gesunden Instinkte, selbst sein glänzendes Fell dahingegangen, und es wirkte nur noch wie das Gespenst einer Kratze. Und wie Echo so erbärmlich auf dem Trottoir hockte mit seinen verdreckten Haaren, die ihm büschelweise ausfielen, und Passanten um etwas zu essen anflehte, da sah er sich auf dem tiefsten Punkt seines Daseins angekommen.
Aber die Leute von Sledwaya, egal, ob Mensch, Halbzwerg oder Rübenzähler, trotteten mitleidlos und mechanisch wie Schlafwandler an ihm vorbei, wie es von jeher ihre Art war. Ihre Haut war bleich und blutarm, ihre Augen von dunklen Ringen umschattet, ihr Blick glasig und freudlos. Sie gingen mit gesenkten Köpfen und hängenden Schultern, und manche machten den Eindruck, als würden sie gleich im Gehen oder Stehen ihr Leben aushauchen. Viele husteten schrecklich, röchelten oder niesten, schnieften in große, oft blutige Taschentücher, und manche trugen warme Wickel um den Hals. Aber das war ein normaler Anblick. In Sledwaya sahen alle Bewohner alle Tage so aus – und der Grund dafür kam gerade um die Ecke.
Denn als ob diese trostlose Szene noch einer Krönung bedurfte, kam der Stadtschrecksenmeister Eißpin des Weges. Wenn jemals ein Albtraum Gestalt annehmen und durch die wirkliche Welt spazieren wollte, dann würde er die von Eißpin wählen. Der Alte war eine wandelnde Vogelscheuche, eine entsprungene Geisterbahnfigur, vor der alles Lebendige floh, vom kleinsten Käfer bis zum kraftvollsten Krieger. Es schien, als stolziere er zu einer furchtbaren Marschmusik, die nur er selber hörte, und jedermann wich seinem sengenden Blick aus, um nicht geblendet, verflucht oder hypnotisiert zu werden. Eißpin wandelte im vollen Bewusstsein, von allen gehasst und gefürchtet zu werden. Er berauschte sich an diesem Wissen und ließ keine Gelegenheit aus, in den Straßen von Sledwaya Angst und Schrecken zu verbreiten.
Er hatte sich eiserne Platten unter die Schuhsohlen genagelt, damit man seinen strammen Schritt schon hörte, wenn er noch Straßenzüge entfernt war, und seine knöcherne Amtskette klapperte wie das Skelett eines Gehängten im Wind. Ein giftiger und galliger Geruch ging von ihm aus, ein Parfüm aus all den Essenzen und Säuren und Laugen, mit denen er seine unseligen Experimente veranstaltete. Diese Düfte, die jedem außer Eißpin selbst Atemnot und Übelkeit verursachten, hingen beständig in seinen Kleidern und eilten ihm genauso voraus wie sein Geklapper – eine Vorhut von unsichtbaren Leibwächtern, die für den Stadtschrecksenmeister den Weg frei machten.
Alle flüchteten aus der Straße, nur das hagere Krätzchen blieb sitzen und harrte aus, bis der schreckliche Eißpin um die Ecke kam und seinen stechenden Blick auf die einzige Kreatur heftete, die es wagte, ihm im Wege zu sein. Aber selbst vor diesem Blick floh Echo nicht, jede Angst war von ihm gewichen – bis auf die einzige, zu verhungern, welche nun all sein Handeln bestimmte. Selbst wenn ein Rudel wilder Werwölfe unter Anführung einer Waldspinnenhexe um die Ecke gekommen wäre, hätte Echo in der sinnlosen Hoffnung ausgeharrt, dass ihm einer von ihnen ein Bröckchen Essbares hinwerfen könnte.
So kam Eißpin immer näher, blieb schließlich vor dem Krätzchen stehen, beugte sich zu ihm herab und sah es lange und erbarmungslos an. Der Wind spielte mit seiner beinernen Kette, und in seinen Augen funkelte unverhohlen die Schadenfreude über die Leiden eines Geschöpfes, das so dicht an der Schwelle des Todes stand. Die Gerüche von Ammoniak und Äther, von Schwefel und Petroleum, von Blausäure und Leichenkalk drangen wie spitze Nadeln in Echos empfindsames Näschen, aber er wich keinen Fingerbreit.
»Almosen, Herr Stadtschrecksenmeister?«, winselte Echo kläglich. »Ich habe furchtbaren Hunger.«
Eißpins Blick loderte noch dämonischer, und ein breites Grinsen erschien auf seiner bleichen Fratze. Er streckte seinen langen dürren Zeigefinger aus und kratzte damit über Echos hervortretende Rippen.
»Du kannst sprechen?«, fragte er. »Dann bist du gar keine gewöhnliche Katze, sondern ein Krätzchen. Eines der letzten Exemplare deiner Gattung.« Eißpins Augen verengten sich kaum merklich. »Wie wäre es, wenn du mir dein Fett verkaufst?«
»Das ist mächtig komisch, Herr Stadtschrecksenmeister«, erwiderte Echo höflich. »Macht ruhig Eure Scherze über einen, der mit einer Pfote im Grab steht, denn ich habe etwas übrig für schwarzen Humor. Seht mir aber bitte nach, dass ich darüber im Moment nicht lachen kann. Mir ist das Lachen im Hals stecken geblieben, und da habe ich es runtergeschluckt, weil ich so großen Hunger habe.«
»Ich scherze nicht!«, sagte Eißpin scharf. »Ich scherze nie. Ich rede auch nicht von dem Fett, das du jetzt nicht auf den Rippen hast, sondern von dem, das du dir anfressen sollst.«
»Anfressen?«, fragte Echo irritiert, aber plötzlich voller Hoffnung. Allein das Wort kam ihm nahrhaft vor.
»Es verhält sich so …«, sagte Eißpin und veränderte seine Stimme derart, dass sie beinahe liebenswürdig klang. »Kratzenfett ist in der Alchimie ein probates Mittel. Es konserviert Pestgeruch dreimal besser als Hundefett. Leidener Männlein, mit Kratzenfett imprägniert, halten doppelt so lang wie die gewöhnlichen. Es schmiert ein Perpetuum mobile besser als jedes Maschinenöl.«
»Freut mich zu hören, dass meine Gattung zur Herstellung eines solchen Qualitätsproduktes in der Lage ist«, hauchte Echo kaum vernehmlich. »Aber im Augenblick kann ich nicht mit einem einzigen Gramm dienen.«
»Das sehe ich selbst«, sagte Eißpin, jetzt wieder streng und von oben herab. »Ich werde dich mästen.«
»Mästen«, dachte Echo. Das Wort kam ihm noch nahrhafter vor als anfressen.
»Ich werde dich füttern, wie du noch nie gefüttert worden bist. Ich werde die Speisen höchstpersönlich für dich zubereiten, denn ich bin nicht nur ein Virtuose der Alchimie, sondern auch ein Meister des Kochlöffels. Ich rede von den raffiniertesten Leckereien – nicht von ordinärem Kratzenfutter. Ich rede von Parfaits und Soufflés. Von verlorenen Wachteleiern und Froschzungensülze. Von Thunfischtatar und Vogelnestersuppe.«
Echo lief das Wasser im Mund zusammen, obwohl er von solchen Speisen noch nie etwas gehört hatte. »Und was muss ich dafür tun?«
»Wie gesagt: das Fett. Wir Alchimisten brauchen es, aber es funktioniert nur, wenn wir es auf freiwilliger Basis bekommen. Wir können nicht einfach so losmarschieren und ein paar Kratzen abmurksen. Leider.« Eißpin seufzte und zuckte mit den spitzen Schultern.
»Ja«, sagte Echo, »leider.« Ihm schwante nun, worauf der Schrecksenmeister hinauswollte.
»Wir schließen einen Vertrag, wir zwei Freunde der Nacht. Heute ist Vollmond. Ich verpflichte mich, dich bis zum nächsten vollen Mond – dem Schrecksenmond – zu mästen, und zwar auf allerhöchstem Niveau. Parfaits und Soufflés. Verlorene Wachteleier und …«
»Ich habe verstanden«, unterbrach Echo. »Komm bitte zur Sache.«
»Na ja, und dann bist du an der Reihe, deinen Teil des Vertrages zu erfüllen. Es gibt leider noch keine Methode, einer Kratze das Fett zu entfernen, ohne sie … na ja, du weißt schon.«
Eißpin deutete unter seinem Kehlkopf einen scharfen Schnitt mit dem langen Nagel seines Zeigefingers an.
Echo musste schlucken.
»Aber ich garantiere dir eins!«, trumpfte Eißpin auf. »Die Zeit bis zum Schrecksenmond wird die schönste deines Lebens! Ich werde dich in eine Welt der Genüsse führen, die noch keine Kratze betreten hat. Ich werde dich auf einen Gipfel der Feinschmeckerei tragen, von dem aus du auf all deine Artgenossen und all die anderen Haustiere, die durchgedrehten Stockfisch aus dem Napf fressen müssen, herabsehen kannst wie auf Ungeziefer. Ich werde dir meinen geheimen Garten zeigen, der auf dem höchsten Dach von Sledwaya gedeiht – wo es übrigens die verführerischsten Winkel und Verstecke für eine Kratze gibt, die du dir erträumen kannst. Dort kannst du deine Verdauungsspaziergänge absolvieren und von magenfreundlichen Kräutern knabbern, wenn dir vom guten Essen einmal der Magen verstimmt ist – damit du umgehend mit dem Schlemmen fortfahren kannst. Da wächst auch die köstliche Kratzenminze.«
»Kratzenminze«, stöhnte Echo wollüstig.
»Aber das ist noch nicht alles. Oh nein! Du wirst auf den dicksten Kissen schlafen, hinter dem wärmsten Kachelofen der Stadt. Ich werde in jeder Hinsicht für dein Wohlbefinden sorgen. Und für deine Unterhaltung! Ich verspreche, dass dies die kurzweiligste Zeit deines Lebens sein wird. Die abenteuerlichste. Die lehrreichste. Du darfst mir bei der Arbeit zusehen, selbst bei den geheimsten Experimenten. Ich werde dich in ein exklusives Wissen einweihen, nach dem sich selbst erfahrenste Alchimisten die Finger lecken. Du wirst ja nichts mehr damit anfangen können.« Eißpin lachte grausam. Dann richtete er wieder seinen bohrenden Blick auf Echo. »Nun«, sagte er, »was ist?«
»Ich weiß nicht«, zögerte Echo. »Ich hänge ziemlich am Leben …«
»Ihr Kratzen habt doch acht Stück davon, sagt man«, grinste Eißpin und entblößte dabei sein giftgelbes Gebiss. »Ich will nur ein einziges.«
»Verzeihung, aber ich glaube nur an ein Leben vor dem Tod, nicht an eins danach«, sagte Echo.
Ein Ruck ging durch den Stadtschrecksenmeister, und er fuhr klappernd hoch wie eine Gliederpuppe.
»Ich verschwende hier meine Zeit«, schnappte er. »Es gibt noch andere verzweifelte Tiere in dieser Stadt. Auf Wiedersehen! Nein – auf Nimmerwiedersehen! Adieu! Ich wünsche dir einen langsamen und qualvollen Hungertod. Drei Tage, schätze ich. Höchstens vier. In schlimmster Agonie. Es wird sein, als würdest du dich selber auffressen, von innen nach außen.«
Dieses Gefühl hatte Echo bereits seit mehreren Tagen. »Moment mal …«, sagte er. »Volle Verpflegung? Bis zum nächsten Vollmond?«
Eißpin hielt in seiner Kehrtwendung inne und warf einen Blick zurück über die Schulter.
»Jawohl! Bis zum nächsten Schrecksenmond!«, raunte er verführerisch. »Feinschmeckerküche. Ach was: Feinstschmeckerküche! Ein See aus Milch, mit gebratenen Fischen darin. Menüs mit so vielen Gängen, dass du das Zählen vergisst. Das ist mein letztes Angebot.«
Echo überlegte. Was hatte er denn zu verlieren? Binnen drei qualvollen Tagen mit leerem Magen zu sterben oder in dreißig mit vollem Bauch – das war die Alternative.
»Kratzenminze?«, fragte er leise.
»Kratzenminze!«, versprach Eißpin. »In voller Blüte.«
»Abgemacht«, sagte Echo. Und er reichte dem Schrecksenmeister sein zitterndes Pfötchen.
Die Stadt Sledwaya war voller merkwürdiger Häuser, in denen sich merkwürdige Dinge ereigneten, aber das Haus des Stadtschrecksenmeisters Eißpin war das merkwürdigste, und die Dinge, die sich darin ereigneten, waren die allermerkwürdigsten. Man hatte es in uralter Zeit auf einem Hügel errichtet, sodass sein Anwesen nun über der Stadt thronte wie ein Adlerhorst. Von dort war ganz Sledwaya zu überschauen, und es gab keinen einzigen Flecken im Ort, von dem aus einem der Anblick der schaurigen Burg erspart blieb – ein ewiges Mahnmal für die Allgegenwart des Schrecksenmeisters.
Das Schloss war aus schwarzem Gestein gemauert, dem man nachsagte, es sei aus dem Herzen der Finsterberge geschlagen, und es war so krumm und schief, dass es aussah wie ein monströses Gewächs aus einer anderen Welt. Alle Fenster waren unverglast. Eißpin liebte es, wenn der Wind durch seine Burg pfiff und darauf spielte wie auf einer Dämonenflöte – selbst im eisigsten Winter, denn er empfand keine Kälte. In etlichen der dunklen Löcher standen seltsam krumme Fernrohre, mit denen der Schrecksenmeister jeden Flecken der Stadt ausspionieren konnte, wann immer ihm danach war. In Sledwaya kursierte das Gerücht, dass Eißpin die Linsen dieser Teleskope derart raffiniert geschliffen hatte, dass sie ihn um alle Ecken, durch die Schlüssellöcher der Türen und selbst durch die Kaminschlote in die Stuben spähen ließen.
Man mochte kaum glauben, dass dieses scheinbar planlos ineinandergeschobene Gestein in all den Jahrhunderten nicht irgendwann zusammengebrochen war. Aber wenn man wusste, dass seine Baumeister dieselben waren, die auch die uralten Buchimistenhäuser in der Schwarzmanngasse von Buchhaim errichtet hatten, dann verstand man, dass dieser Baustil tatsächlich für die Ewigkeit ersonnen war. Dieses Schloss stand schon an seinem Platz, als es noch gar keine Stadt mit dem Namen Sledwaya gab.
Eißpin hatte den geschwächten Echo unter seinem Mantel geborgen die gewundenen Straßen zum Haus hochgetragen, wobei das Krätzchen vor Erschöpfung eingeschlafen war. Dort angelangt, kramte er einen rostigen Schlüssel aus seinem Umhang und öffnete die mächtige hölzerne Eingangstür.
Dann eilte er mit seiner federleichten Last durch hohe, von Fackeln und Kerzen beleuchtete Korridore, an deren Wänden Gemälde in staubbedeckten Holzrahmen hingen. Auf ihnen waren ausnahmslos Naturkatastrophen dargestellt, Vulkanausbrüche, Riesenwellen, Wirbelwinde, Mahlströme, Erdbeben, Feuersbrünste und Lawinenabgänge, alles mit größter Sorgfalt und Detailversessenheit in Öl gepinselt – denn eine von Eißpins zahlreichen Begabungen war die Katastrophenmalerei.
Als er den nächsten Korridor betrat, erwarteten ihn dort drei erschreckende Gestalten: ein Grauer Schnitter, eine Haselhexe und eine Zyklopenmumie. Dies waren drei der gefährlichsten Kreaturen, die die zamonische Natur zu bieten hatte, und die Wahrscheinlichkeit, ihnen an ein und demselben Ort zu begegnen, war etwa so hoch wie die, von einem Blitz, einem Meteor und einem Vogelschiss zur selben Zeit getroffen zu werden. Aber Eißpin beachtete sie nicht einmal und hetzte mit wehendem Umhang unbehelligt an ihnen vorbei. Denn sie waren erfreulicherweise tot – und mit größter Kunstfertigkeit ausgestopft, weil auch die Gruseltaxidermie, das Ausstopfen von furchteinflößenden Daseinsformen aller Art, eines der zahlreichen Steckenpferde des Schrecksenmeisters war. Etliche düstere Winkel des Anwesens waren bevölkert von solchen höchst lebendig wirkenden Kreaturen, denen man weder im Dunkeln noch im Hellen gerne begegnete, nicht einmal in mumifizierter Form. Eißpin aber schätzte ihre stumme Gesellschaft über alles und fügte seiner Sammlung immer neue Exemplare hinzu.
Er stürmte eine gewundene steinerne Treppe hinauf, eilte durch eine Bibliothek mit modrigen buchimistischen Büchern, durch eine Halle, die vollgestellt war mit lakenverhangenen Möbeln. Im unruhigen Licht von flackernden Kerzen harrten sie aus wie Gespenster von Sesseln und Schränken. Eißpin durchquerte einen verwaisten Speisesaal, unter dessen hoher Decke Schwärme von Ledermäusen2 abenteuerliche Kunstflüge veranstalteten. Aber auch seine schaurigen Untermieter beachtete er nicht, sondern stieg eine weitere steinerne Treppe hinauf, die ihn in eine zugige Halle führte mit Käfigen aller Art, vom Vogelbauer aus Bambus und Draht über den Hundezwinger aus Eichenholz bis hin zum Bärengefängnis aus poliertem Stahl. Je höher Eißpin kam, desto stärker blies der Wind durch die Fensteröffnungen und sorgte für unablässig wehende Vorhänge und wirbelnden Staub. Aus den Kaminen drang hin und wieder ein Stöhnen und Heulen wie von sterbenden Schlosshunden, die in geheimen Kerkern zu Tode gefoltert wurden.
Schließlich gelangte der Schrecksenmeister an eine steinerne Pforte mit eingemeißelten alchimistischen Symbolen – dies war der Eingang zum großen Labor des Hauses, wo er die meiste Zeit verbrachte. Hier, so munkelte man, machte er das schlechte Wetter, das so häufig in Sledwaya herrschte, hier züchtete er Erreger für Grippeepidemien und Kinderkrankheiten, für Keuchhusten und Nesselfieber, mit denen er die Brunnen vergiftete. Hier standen Säcke voller Pollen von giftigen Pflanzen, die er aus den Fenstern seiner Burg schüttete, um den Leuten Kopfschmerzen und Albträume zu bereiten. Hier dichtete er Bannflüche und schuf Leidener Männlein, nur um sie zu quälen. Hier komponierte er die grausige Musik, die des Nachts aus seinem Haus drang und die Bewohner von Sledwaya um den Schlaf und manchmal sogar um den Verstand brachte – es soll welche gegeben haben, die sich, völlig übernächtigt, erhängten, um endlich Ruhe zu finden.
Denn Eißpin war der eigentliche Herrscher der Stadt, ihr ungekrönter Tyrann, ihr schwarzes Herz und krankes Hirn zugleich. Und der Bürgermeister, der ganze Stadtrat und sämtliche Bewohner von Sledwaya waren nur willenlose Marionetten, die an Fäden hingen, die vom Schrecksenmeister gezogen wurden.
Echo erwachte erst wieder, als er aus dem dunklen Umhang geholt wurde, und er erblickte schlaftrunken das erstaunliche Laboratorium. Der Raum war festlich von zahlreichen Kerzen erleuchtet, die zwischen Reagenzgläsern und Eisenkesseln, auf Bücherstapeln und in vielarmigen Leuchtern brannten und lange Schatten auf die Wände warfen. Ein vielstimmiges, verhaltenes Seufzen und Stöhnen lag in der Luft, aber Echo konnte kein lebendiges Wesen ausmachen, welches diese Laute hätte hervorbringen können. Daher schrieb er es dem Wind zu, der durch die Fenster hereinwehte.
Das Labor lag im obersten Stockwerk des Gemäuers. Im Zentrum des Raumes hing ein gewaltiger rußschwarzer Kupferkessel über einem Kohlenfeuer, eine darin kochende Suppe warf dicke Blasen und verbreitete einen unangenehmen Geruch. Die krummen und schiefen Wände wurden teilweise von morschen Holzregalen verdeckt, welche mit wissenschaftlichen Apparaten, Büchern, Pergamenten und ausgestopftem Getier überladen waren.
Hier und da hingen auch Eißpinsche Werke der Katastrophenmalerei oder von alchimistischen Zeichen bedeckte Schiefertafeln sowie Karten mit astronomischen Konstellationen und mathematischen Diagrammen. Über allem wölbte sich eine Decke, die sich von dem Rauch und den chemischen Dämpfen, die in all den Jahren emporgestiegen waren, zu einem welligen schwarzen Holzmeer verzogen und verfärbt hatte. Von ihr herab hingen an Schnüren und Ketten Planeten- und Mondgloben, astronomische Messgeräte, ausgestopfte Vögel und präparierte Reptilien. Überall lagen uralte dicke Schwarten herum, mit Umschlägen aus narbigem Leder und Schlössern aus angelaufenem Metall, viele waren mit Notizzetteln gespickt und mit Staub und Spinnweben überzogen. Dazwischen standen zahllose leere sowie mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten oder Pulvern gefüllte Glasbehälter in allen Größen und Formen, manche mit Leidener Männlein darin, die gegen ihre gläsernen Gefängniswände klopften. Aus der ganzen Unordnung ragte ein rostiger Alchimistischer Ofen hervor, wie ein Krieger aus Metall, der über ein Schlachtfeld wachte.
Echo wusste gar nicht, wohin er schauen und wovor er sich als Erstes fürchten sollte, nachdem Eißpin ihn auf dem Boden abgesetzt hatte. So viele befremdliche und bedrohliche Dinge unter einem einzigen Dach hatte er noch nie gesehen. Als er in einem der unteren Wandregale einen ausgestopften Zwergfuchs erblickte, der lebensecht das Gebiss fletschte, stellte er den Schwanz hoch, krümmte den Buckel und begann zu fauchen.
Eißpin lachte. »Der kann dir nichts mehr tun«, sagte er. »Ich habe ihn ausgeweidet, sein Fett ausgekocht, ihn mit Holzwolle und Spänen gefüllt und mit siebenhundert Stichen wieder zugenäht. Um den Gesichtsausdruck hinzukriegen, musste ich ein Drahtgerüst im Kiefer einziehen. Dein Fauchen sagt mir, dass ich gute Arbeit geleistet habe.«
Echo fröstelte bei dem Gedanken, dass der Schrecksenmeister auch ihn aufschneiden, ausweiden, entfetten und mit Holzwolle füllen würde, wenn endlich Vollmond war. Vielleicht würde er auch bei ihm ein Drahtgerüst einziehen, um ihn mit aufgestelltem Schwanz und rundem Buckel auszustellen, zur Erinnerung an diesen denkwürdigen Augenblick.
»Nun der Vertrag«, sagte Eißpin, und er zog aus einem Papierstoß ein Pergament hervor, das mit alchimistischen Zeichen bedeckt war. Er nahm Feder und Tinte und begann unter Kratzgeräuschen auf der freien Rückseite zu krakeln. Ihm beim Aufsetzen des Kontraktes zuzusehen bereitete Echo alles andere als Vergnügen. Der Schrecksenmeister murmelte bei der Niederschrift der Klauseln so wonnevoll vor sich hin und seine Augen funkelten derart vor schamloser Bosheit, dass es wohl kaum zum Vorteil des Krätzchens sein konnte, was er da festhielt. Echo hörte nur immer wieder Formulierungen wie »verpflichtet sich unwiderruflich«, »unauflösliche juristische Bindung«, »strafrechtlich unbarmherzig verfolgt« und Ähnliches. Aber eigentlich war es ihm völlig gleichgültig, welche Unzumutbarkeiten der Schrecksenmeister da hinschrieb – wenn es nur bald etwas zu essen gab.
»Da«, sagte Eißpin endlich. »Unterschreib!«
Er hielt Echo ein rotes Stempelkissen hin, und der drückte sein Pfötchen erst darauf und dann unter den Text des Vertrages. Bevor er auch nur einen Blick auf das Geschriebene werfen konnte, hatte Eißpin das Papier weggerissen und in einer Schublade verstaut.
»Sieh dich um – das ist jetzt dein Zuhause!«, kommandierte er und wies mit einer dramatischen Geste über den Raum. »Dein letztes Zuhause in diesem Leben, also rate ich dir, jeden Augenblick ganz bewusst und intensiv auszukosten. Stell dir einfach vor, du lägest im Sterben, aber ohne die Unannehmlichkeiten einer schrecklichen Krankheit, ohne Schmerzen und Auszehrung! Du kannst essen, was du willst, während du stirbst. Du darfst dich glücklich schätzen, die wenigsten haben so einen schönen Tod. Ich werde mich bemühen, es so kurz und schmerzlos wie möglich zu machen, wenn der Augenblick gekommen ist. Darin habe ich Übung.« Er blickte versonnen auf seine dürre Hand, die er erhoben hatte wie ein Henker, der dem Delinquenten das Todeswerkzeug zeigt. »Nun lass uns gleich mit dem Mästen beginnen, wir wollen keine weitere Sekunde deiner wertvollen Zeit mehr verschwenden.«
Echo erschauderte bei Eißpins herzloser Rede, aber er tat wie angewiesen und nahm seine neue – seine letzte! – Wohnstatt in Augenschein. Er versuchte seine Gefühle und Ängste unter Kontrolle zu bekommen, um sich vor dem Schrecksenmeister keine weitere Blöße zu geben. Er wollte alles genauestens unter die Lupe nehmen, denn er wusste aus Erfahrung, dass die Angst schneller schwand, wenn man den gefürchteten Dingen ins Gesicht sah.
Als er seinen Blick schweifen ließ, fiel ihm auf, dass sich die Schatten an den Wänden von der Stelle bewegt hatten. Die mächtige Silhouette des Alchimistischen Ofens etwa, die eben noch ein Bücherregal bedeckt hatte, lag jetzt auf einer grauen Schiefertafel, die mit mathematischen Formeln bekritzelt war. Wie konnte das sein? Führten die Schatten in Eißpins Reich ein eigenes Leben? Echo hielt in diesem merkwürdigsten aller Häuser von Sledwaya mittlerweile so ziemlich alles für möglich. Aber Kratzen sind von nüchternem Verstand, und so machte er sich daran, der Sache auf den Grund zu gehen. Wurden die Lichtquellen vielleicht auf irgendeine mechanische Weise bewegt? Er stieg vorsichtig über wurmstichige Bücher hinweg, zwängte sich zwischen Stapeln aus vergilbten Papieren hindurch und drückte sich um die verstaubten Bäuche von dicken Glasflaschen herum. So schlich er immer näher an eine der Kerzen heran – um plötzlich vor einem tellergroßen Brennglas, das auf dem Boden stand, stehenzubleiben. Echo erstarrte. Sein Vorsatz, keine Anzeichen von Furcht mehr zu zeigen, war wie weggewischt. Denn was er durch diese schmutzige Linse sehen musste, war so verblüffend, so erschreckend und unwirklich zugleich, dass es all die anderen Sensationen des Laboratoriums übertraf: Er sah eine grotesk vergrößerte Kerze, die ein schmerzverzerrtes Antlitz aus wächsernen Tränen trug. Und zu seinem größten Entsetzen bemerkte er, dass sie kaum vernehmlich seufzte und stöhnte und sich mühsam kriechend mit dem Tempo einer Schnecke vorwärtsbewegte.
»Schmerzenskerzen«, erläuterte Eißpin, der in einer großen Schüssel rührte, nicht ohne Stolz in der Stimme. »Eine meiner nebensächlichen alchimistischen Kreationen. Sie entstehen, wenn man Kerzenwachs, ein Leidener Männlein und Weinbergschnecken vom Gargyllener Bolloggschädel auf kleiner Flamme ganz langsam einkocht. Ein paar alchimistische Ingredienzen spielen natürlich auch noch eine Rolle. Der Docht ist aus dem Rückgrat einer Blindschleiche und dem Nervensystem eines Ochsenfrosches geflochten. Diese Kerze empfindet den Schmerz ihres Abbrennens sehr intensiv und verbringt ihr ganzes Dasein in außerordentlicher Qual. Stell dir vor, dein Schweif stünde in Flammen, solange du lebst. Von dieser Art von Qual rede ich.«
»Und was passiert, wenn man die Flamme löscht?«, fragte Echo, dem die Betrachtung der gepeinigten Kreatur größtes Unbehagen bereitete. Er sah jetzt, dass sich etliche der Kerzen des Laboratoriums auf ähnlich qualvolle Weise fortbewegten, und wenn er die Ohren spitzte, konnte er ihr leises Gestöhn von überall her hören.
»Dann würde sie natürlich nicht mehr leiden«, sagte Eißpin schroff. »Aber was habe ich von einer Kerze, die nicht brennt? Und was von einer Schmerzenskerze, die nicht ordentlich stöhnt vor Schmerz?«
Er fragte dies in einem Ton, als sei Echo nicht ganz richtig im Oberstübchen, und stellte ihm kopfschüttelnd die Schüssel hin, in der er gerührt hatte. Sie war gefüllt mit süßer Sahne. Er nahm eine Phiole aus einem Regal, aus der er nur wenige Tropfen einer glasklaren Flüssigkeit in die Sahne fallen ließ – und schon roch sie herrlich nach Vanille. Selbst dieser simple Trick kam Echo wie Zauberei vor. Er riss sich vom Anblick der Schmerzenskerze los und fiel über die Schüssel her wie ein Verdurstender.
»Vorsicht, Vorsicht!«, warnte Eißpin, nachdem das Krätzchen ein paar Schlucke zu sich genommen hatte. »Nicht zu viel auf nüchternen Magen! Die Sahne soll nur der Appetitanregung dienen.« Er nahm die Schüssel wieder weg und stellte sie auf ein hohes Regal.
»Wir wollen ganz systematisch vorgehen. Man kann aus allem eine Wissenschaft machen, auch aus dem Mästen. Also: Zähl mir zunächst einmal deine Lieblingsspeisen auf, in der genauen Reihenfolge. Nummer eins: Was magst du am allerliebsten?«
Eißpin nahm ein Blatt Papier und einen Bleistift und blickte Echo mit strenger Miene an. Das Krätzchen warf die Stirn in Falten und forschte in seinem Gedächtnis nach seinen Lieblingsspeisen.
»Am allerliebsten?«, fragte es. »Gebratene Mäuseblasen. Am allerliebsten mag ich Gebratene Mäuseblasen von der Pinkelmaus.«
»Gut«, sagte Eißpin und notierte. »Gebratene Mäuseblasen von der Pinkelmaus. Nicht gerade anspruchsvoll. Was noch …?«
Als Stadtschrecksenmeister hatte Eißpin das Schrecksenwesen von Sledwaya zu verwalten. Seine Herkunft war unbekannt und legendenumwittert. Einige behaupteten, er komme aus den Friedhofssümpfen, ein Nachtschattengewächs, das auf Leichendünger gewuchert habe. Manche glaubten, er sei einer der mysteriösen untoten Bewohner der Friedhofsstadt Dullsgard, die kein Lebender betreten konnte, ohne selbst zum wandelnden Leichnam zu werden. Es gab das Gerücht, er sei jener legendäre fünfte Apokalyptische Reiter, der sich von den anderen vier getrennt hatte, um sich selbständig zu machen. Manche schworen, er stamme gar nicht aus Zamonien, sondern sei von einem fremden Kontinent über das Meer geflogen, auf seinen schwarzen Schwingen, die er nur entfalte, wenn niemand zusah. Wieder andere behaupteten, Eißpin stamme geradewegs aus Untenwelt, jenem legendären Reich der Finsternis unterhalb Zamoniens, aus dem er an die Oberfläche gestiegen sei, um den Boden vorzubereiten für eine Invasion des Bösen, die bald bevorstünde. So verschieden diese Theorien über Eißpins Herkunft waren, eines war ihnen allen gemein: Nicht ein einziger Bürger von Sledwaya hätte es jemals gewagt, sie in Gegenwart des Schrecksenmeisters zu äußern.
Die meisten Gerüchte aber kursierten über Eißpins legendäre Sammlung von Fetten. Dies waren keine pflanzlichen Fette, keine Oliven- oder Distelöle, auch nicht die von Nüssen, Raps, Dreikraut, Rafunkel oder Mondblumenkernen – um in Eißpins Sammlung aufgenommen zu werden, musste ein Fett von einem Lebewesen stammen. Und selbst wenn es diese Voraussetzung erfüllte, war der Schrecksenmeister immer noch sehr wählerisch. Ordinäres Schweinefett, Rindertalg oder Entenschmalz suchte man in dieser exklusiven Kollektion vergeblich. Denn Eißpin ließ nur Fette von Kreaturen zu, deren Verzehr man allgemein ablehnte. Und je größer die Ablehnung war, je rarer die Gattung, desto leidenschaftlicher begehrte der Schrecksenmeister sie für sich.
So manch einer wird sich nur mit viel Widerwillen an den Gedanken gewöhnen können, dass eine Krötenspinne3 Fettreserven besitzt, und noch mehr wird er sich gegen die Vorstellung sträuben, wie man sie aus dem Körper des Untiers gewinnt. Wenn man aber einmal verinnerlicht hat, dass so etwas und noch hundertmal furchtbarere Dinge zu Eißpins alltäglichen Beschäftigungen gehörten, dann glaubt man gern, dass die Ereignisse im Haus des Schrecksenmeisters die merkwürdigsten von ganz Sledwaya waren.
Der Stadtschrecksenmeister besaß das Fett von raren Schmetterlingen und Murchen, von Trollferkeln, von Laub- und Werwölfen, von Krallamandern, Leuchtameisen, Schneeschwalben, Sonnenwürmern und Mondanbeterinnen, von Lochkrokodilen, Kraterkröten, Tiefseesternen, Quellenquallen, Tunneldrachen, Mumienzecken und Stinkbären, von Ubufanten und Zamingos. Man brauchte nur ein Tier zu nennen, dessen Vorkommen auf der Speisekarte eines Restaurants allgemeine Empörung hervorrufen würde – und man konnte sicher sein, dass Eißpin dessen Fett sein Eigen nannte. Er kannte zahllose Methoden der Fettgewinnung, von der alchimistischen Absaugung über die chirurgische Amputation bis hin zur primitiven mechanischen Fettpresse. Aber die liebste war ihm immer noch das Auskochen. Und so brodelte in seinem Laboratorium Tag und Nacht der mächtige Fettkessel und erfüllte das Haus ohne Unterlass mit unappetitlichen Gerüchen.
Der Schrecksenmeister benötigte die Fette hauptsächlich zur Konservierung von extrem flüchtigen Dingen. Dazu gehörten neben Gerüchen noch Dämpfe, Nebel, Schwaden und Gase. Auch den Wrasen, die nebulöse Mischung aus Dampf und Fett, die sein Kochkessel unablässig absonderte, konnte Eißpin mit seinen alchimistischen Apparaten bei Bedarf einfangen und konservieren. Er besaß abgesaugte Proben der berüchtigten Qualle von Nebelheim, die er in Schnarkenfett eingelegt hatte; in seiner Sammlung befanden sich Leichengas aus den Friedhofssümpfen, Aurapartikel von Irrlichtern, Mundgerüche von Stollentrollen und Fürze von Schwefelunken. Eißpin hatte Tausende von flüchtigen Stoffen eingefangen und eingelegt, einen jeden in einem anderen, seiner Meinung nach einzig passendem Fett.
Auf einer Holzbühne, die man über eine kurze Treppe betreten konnte, stand das beeindruckendste Gerät des Laboratoriums, ein kühnes Konstrukt aus Glasballonen, die teilweise mit brodelnden Flüssigkeiten, teilweise mit Tierpräparaten gefüllt waren. Es bestand aus kupfernen Spiralröhren, knisternden alchimistischen Batterien, Brennern, silbernen und goldenen Armaturen, Messingbehältern, Baro- und Hygrometern, Drucktöpfen, Blasebälgen und goldenen Ventilen. Das war der Eißpinsche Konservator, seine bislang größte Erfindung, mit der flüchtige Substanzen eingefangen, konzentriert und schließlich mit Fett ummantelt wurden.
Jedes Mal, wenn der Alchimist ein neues Präparat darin konserviert hatte, röchelte und hustete die Maschine minutenlang und spuckte zum Schluss eine Fettkugel aus, die etwa so groß war wie eine Orange. Eißpin schritt damit feierlich die steinernen Treppen hinab in den Keller des Schlosses, wo es einen niedrigen, aber weitgestreckten und grabeskühlen Raum gab, in dem er all seine Fettkugeln säuberlich geordnet auf gemauerten Regalen lagerte, wie Weinliebhaber ihre edlen Tropfen.
Echo kannte die Gerüchte über diese Sammlung, aber im Augenblick dachte er nicht darüber nach, und schon gar nicht darüber, welch exklusive Stellung er selbst bald darin einnehmen sollte. Vorläufig strich er nur hungrig, neugierig und staunend durch das Laboratorium, während Eißpin an seinen alchimistischen Geräten hantierte. Echo versuchte, die Schmerzenskerzen zu ignorieren, weil ihr Anblick ihn frösteln machte. Wenn man diese bedauernswerten Geschöpfe nicht näher betrachtete, wurden sie fast wieder zu ganz normalen Kerzen, da sie sich derart langsam fortbewegten, dass man es mit unaufmerksamem Auge gar nicht wahrnahm. Nur ihr leises Seufzen und Stöhnen drang gelegentlich an Echos Ohren, je nachdem, in welchem Winkel er sie gerade aufstellte.
Aber es gab noch so viel anderes zu entdecken in diesem merkwürdigsten Raum im merkwürdigsten Haus von Sledwaya. Echo nahm eines der vollgekramten Bücherregale näher in Augenschein. Pergamente, Briefe, Notizblätter, Bücher und Tierpräparate waren hier unsystematisch eingelagert, und da sein Frauchen ihm früh das zamonische Alphabet beigebracht hatte, konnte er mühelos die Buchtitel des untersten Regals lesen:
Rektifikation für Fortgeschrittene
Die Siebenzahl der Sublimationen
Die Brennöfen der Seele
Sulfur, Salpeter, Salmiak – die drei großen S
der Alchimistenkunst
Golemkuchen und Alraunenauflauf – Die schönsten Rezepte
für den Alchimistischen Backofen
Antimon – Schlimmstes Gift und beste Medizin
Zoltepp Zaan – Leben und Werk
Mythos »Prima Zateria«
Schmerzempfindliche Metalle und der zartfühlende
Umgang damit
Zamomin – Fluch oder Segen?
Plötzlich hielt Echo inne. Er las:
Tabu Schrecksenverbrennung – von Succubius Eißpin
Ein Buch, von Eißpin selbst geschrieben? Da, noch eins:
Geständnissack und Glühender Gustav
Die besten Verhörtechniken für renitente Schrecksen
Von Succubius Eißpin
Dass der Schrecksenmeister einen Vornamen hatte, war Echo noch gar nicht in den Sinn gekommen, weil ihn alle immer nur Eißpin nannten. Er wusste in der Tat sehr wenig über seinen unheimlichen Gastgeber. Aber noch weniger wusste er über Schrecksen.