Bevor Friedhelm Schwarz 1994 Buchautor und Ghostwriter wurde, arbeitete er in der Werbung und als Journalist. Nach vierzig Jahren Erfahrung als Mieter in zehn Mietverhältnissen in vier Städten, unzähligen Wohnungsbesichtigungen, immer neuen Gerichtsurteilen zum Mietalltag und nicht zuletzt angesichts eines großen, durch Vermieter und Nachbarn entnervten Freundeskreises ist dieses Buch einfach fällig.
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Originalausgabe 09/2013
Copyright © 2013 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Redaktion: Hannah Schrott
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz: C. Schaber, Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-10026-1
V002
www.heyne.de
Inhalt
1. Vorwort
2. Der Höhlenmensch von nebenan
Mehr als nur ein Dach über dem Kopf
Revierkämpfe
Ich bin, was ich habe
Der Wunsch, fair behandelt zu werden
Die alltägliche Irrationalität
Übersteigertes Selbstvertrauen
Vorsätzliche Nachlässigkeit
Die Wahrnehmung des anderen ignorieren
Denken auf kurze Sicht
Der Ankereffekt
Unsinniges Beharren
Siegen um jeden Preis
Alternativen ignorieren
Sich ins Bockshorn jagen lassen
Die fünf (Wohn-)Verhaltensmuster des Menschen
Fliehen
Standhalten
Anpassen und Verändern
Umdeuten
Homo reciprocans oder: Wie du mir, so ich dir?
Die gelenkte Aufmerksamkeit
Die Logik des Augenblicks
3. Traumwohnung in bester Lage
Solventer Nachmieter gesucht
Auf der Suche nach geeigneten Opfern
Gespräch mit einer Insiderin
Privilegiertes Wohnen
Die Genossenschaftswohnung – eine gute Idee
Was ging in den Köpfen der Beteiligten vor?
4. In der Eigentümerhölle
Relaxen in der Badewanne
Hausmusik als Waffe
Im Stehen pinkeln
Die Standuhr
Mietminderung
Das ist mein Garten
Die Grillparty
Der Verdacht und seine Folgen
Katzenfreunde
Sex auf dem Balkon
Die Rache der Sylvia B.
Der Ausgang der Streitigkeiten
Was ging in den Köpfen der Beteiligten vor?
5. Der Blockwart von Köln
Im Wald der Parabolantennen
Wenn Mieter glauben, dass ihnen alles gehört
Was vom Hausmeister erwartet wird
Fensterdekoration
Der Alkoholiker
Wenn Mieter zu Nervensägen werden
Der Hilfssheriff
Keine Extrawürste
Was ging in den Köpfen der Beteiligten vor?
Kleine Typologie der Mieter aus Hausmeistersicht
6. Immobilienhaie im Schanzenviertel
Wenn der Besitzer die Wohnung modernisiert
Wenn aus einer Mietwohnung eine Eigentumswohnung wird
Was ging in den Köpfen der Beteiligten vor?
7. Pommes und mehr
Der Imbiss unter der Wohnung
Wenn Vermieter und Nachbar gemeinsam agieren
Was ging in den Köpfen der Beteiligten vor?
8. Neues vom Trixxer
Der Trick mit der Sorge um die Mieter
Das Trixxer-Imperium wächst
Die Kick-back-Masche
Im Preis versteckt sich der Gewinn
Mietermobbing mit System
Mehr Geld um jeden Preis
Schnäppchen für Handwerker
Was ging in den Köpfen der Beteiligten vor?
9. Friedliche Bürger mit Häuschen und Garten
Kühe, die beim Nachbarn fressen
Das sind meine Äpfel
Schuhkarton mit Spitzdach
Wenn es quietscht und knarzt
Katzen und Hunde im Garten
Wenn aus dem Bauernhof ein Ferienhaus wird
Was ging in den Köpfen der Beteiligten vor?
10. Individualität in Reih und Glied
Wenn Baumaßnahmen die Nachbarn stören
Die Neuen müssen sich anpassen
Ärger mit den Außenjalousien
Die Einliegerwohnung
Der Gartenteich
Was ging in den Köpfen der Beteiligten vor?
11. Ist das Schloss Dracula oder wohnen hier wirkliche Menschen?
Die möblierte Wohnung
Die Frage der Sicherheit
Was ging in den Köpfen der Beteiligten vor?
12. Alles Verhandlungssache
1.Vorwort
Der Wunschtraum vieler Menschen ist, ihr Leben frei zu gestalten und niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen für das, was sie tun oder auch nicht tun. Das kann man nur in den eigenen vier Wänden, egal ob sie Eigentum oder gemietet sind. Der Rückzug ins Private, zu Hause zu sein, die Wohnungstür oder das Gartentor hinter sich zu schließen und alle störenden Einflüsse auszusperren, steht auf der Werteskala der Deutschen ganz weit oben.
Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Der alltägliche Kampf um Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung endet weder am Gartenzaun noch im Treppenhaus. Mieter und Vermieter, Miteigentümer und Nachbarn stehen sich verfeindet gegenüber und versuchen ihre Interessen mit allen Mitteln durchzusetzen.
Gründe genug für dieses Buch, aus der Alltagskampfzone des »Schöner Wohnens« zu berichten, wo mit ungleichen und unfairen Mitteln agiert wird und juristische Ratgeber manchmal auch nicht weiterhelfen, sondern nur noch der Psychiater.
Wie denken Mieter und Vermieter, Miteigentümer und Nachbarn wirklich? Warum verhalten sie sich oft so irrational? Und warum sind wir selbst manchmal auch nicht besser als die anderen? Wohnen wir alle in einem großen Irrenhaus, oder ist Normalität nur eine Fiktion?
In einer unterhaltsamen Mischung von Geschichten aus der Wirklichkeit des Wohnens, einer gesunden Portion Alltagspsychologie und Beispielen, wie Juristen den alltäglichen Wahnsinn beherrschen wollen, öffnet dieses Buch die Augen für ein harmonischeres Miteinander.
Auch wenn die Geschichten teilweise skurril oder sogar unrealistisch wirken mögen – sie haben sich wirklich ereignet.
2.Der Höhlenmensch von nebenan
Bevor unsere Vorfahren vor 11000 Jahren damit begannen, sesshaft zu werden, Häuser zu bauen sowie Landwirtschaft und Viehzucht zu betreiben, lebten sie 200000 Jahre als Jäger und Sammler in kleinen Gruppen in den Savannen der Erde an offenen Lagerplätzen. Die Evolutionspsychologie ist sich sicher, dass die genetische Anpassung an die Lebensbedingungen der Urzeit auch noch unser heutiges Verhalten mitbestimmt.
Allerdings versetzt uns unser Gehirn durchaus in die Lage, uns auch flexibel an unsere heutige Umwelt anzupassen beziehungsweise diese selbst zu gestalten. Doch viele Elemente des täglichen Lebens in der menschlichen Entwicklung sind so »neu«, dass wir mit ihnen noch gar nicht richtig umgehen können. Dazu gehören nicht nur Dinge wie zum Beispiel Geld, sondern auch das Zusammenleben mit fremden Menschen auf vergleichsweise engem Raum.
Ein Haus oder die Wohnung als Ersatz für die Wohnhöhle der Urzeit zu definieren ist falsch. Auch wenn wir gern die Menschen der Steinzeit als Höhlenmenschen bezeichnen, lebten sie damals nicht in Höhlen. Wie die Wissenschaft bewiesen hat, wurden diese allenfalls als Kultstätten genutzt. Die Vorstellung, dass diese Menschen damals in Höhlen gelebt haben, entstand im 19. Jahrhundert und hat sich, etwa durch Comicfiguren wie zum Beispiel Fred Feuerstein, bis in die Gegenwart gehalten.
Mehr als nur ein Dach über dem Kopf
Wohnen ist aus sozialpsychologischer Sicht eine höchst komplexe und komplizierte Angelegenheit. Das liegt unter anderem daran, dass dabei nicht nur unterschiedliche Persönlichkeiten aufeinandertreffen, sondern auch Denkmuster, Verhaltensweisen und Werte, die ihren Ursprung in der Frühzeit des Menschen haben.
Wahrscheinlich haben die Menschen schon sehr früh bestimmte Territorien oder Reviere abgesteckt, die sie exklusiv zum Jagen und Sammeln nutzten. Für andere Menschen war der Zutritt entweder ganz verboten oder nur unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Wir kennen dieses territoriale Verhalten alle aus den Wildwestfilmen, wenn es hieß: »Hier beginnt das Land der Apachen. Seid jetzt besonders wachsam.«
Es gibt übrigens zwei Arten von Wildwestfilmen. Die einen spielen vor 1873, als der Westen noch ein freies Land von unendlicher Weite war, und die anderen in den Jahren danach. 1873 wurde nämlich der Stacheldraht erfunden, um die riesigen Rinderweiden einzuzäunen. Danach war es vorbei mit der Freiheit. Die ersten Auseinandersetzungen um Zäune und Grundstücksgrenzen begannen. Der Name der Indianer für Stacheldraht war übersetzt »Teufelsschnur« (englisch Devil’s Rope). Stacheldraht wird auch heute noch gern eingesetzt, wenn es um Streitigkeiten zwischen Hausnachbarn geht, auch wenn er vielerorts verboten ist.
Revierkämpfe
Sein eigenes Revier abzustecken, zu verteidigen und vielleicht selbst auszuweiten, indem man seine Nachbarn überfiel und sie umbrachte, mag in der Steinzeit sinnvoll und vielleicht sogar notwendig gewesen sein, um das eigene Leben zu sichern. Heute ist dieses Revierdenken die Hauptursache für Nachbarschaftsstreitigkeiten. Hausbesitzer stecken ihr Revier mit Zäunen, Hecken, Mauern oder Sichtschutzpalisaden ab, und wehe, es wächst auch nur eine Wurzel über diese Grenze. Sie wird gnadenlos herausgerissen.
Oft herrscht ein Nulltoleranzprinzip.
Wer sich etwas zivilisierter gibt, handelt mitunter unnachgiebig nach dem Motto »Wehret den Anfängen«, was im Endeffekt aber auf das Gleiche herauskommt: Kompromisse? Fehlanzeige. Die Angst, dass die Nachbarn den Respekt vor einem verlieren und ihre »Übergriffe« immer dreister werden, lässt viele Hausbesitzer zu unverhältnismäßigen Verteidigungsmaßnahmen greifen. So mancher würde vielleicht gern Selbstschussanlagen installieren, wenn diese nicht verboten wären.
So behilft man sich mit anderen Maßnahmen der Grenzsicherung, wie Videoüberwachung oder mit an Bewegungsmelder gekoppelten Scheinwerferbatterien, die schon bei der kleinsten Annäherung an die Grenze des eigenen Territoriums das Nachbarhaus in gleißendes Licht tauchen.
Es sind nicht nur Pflanzen, die bei ihrem Wachstum die Grenzen verletzen. Es können auch Bienen sein, die zu den Blumen des eigenen Gartens fliegen, sowie akustische Beeinträchtigungen und Gerüche. Selbst optische Eindrücke, wie die Farbe einer neu gestrichenen Wand, können als Übergriff gedeutet werden und heftige Gegenreaktionen hervorrufen. Andererseits ist derjenige, der sich bedroht fühlt, durchaus bereit, sein eigenes Revier bis zur Grenze auszuweiten oder am liebsten auch noch ein ganz klein wenig darüber hinaus. Ein paar Zentimeter vom Nachbargrundstück zu nutzen ist für ihn dann so, als hätte er einen neuen Kontinent erobert.
In Mehrfamilienhäusern liegt die Kampfzone in der Regel auf den Balkons, im Treppenhaus oder in den Kellerräumen. Seinen Balkon durch Glasscheiben zum Ganzjahressitzplatz aufzurüsten gilt ebenso als Ausweitung des eigenen Territoriums wie die Dekoration des Treppenhauses mit Bildern und Pflanzen oder das Aufstellen eines Schuhregals. Im Keller beansprucht man mehr Raum, indem man Fahrräder, Kinderwagen oder Kinderspielzeug auf den Allgemeinflächen abstellt. Das Revierverhalten ist im Prinzip eine Sonderform des Besitzdenkens.
Ich bin, was ich habe
Das Besitzdenken ist nicht auf Grund und Boden beschränkt. Es zieht sich durch unser ganzes Leben und bestimmt auch unser Denken und Handeln im Zusammenhang mit dem Wohnen. Dabei geht es nicht nur um Eigentum und um die Verletzung von Eigentum, sondern ganz wesentlich auch um Status, Sicherheit und Angst vor Verlusten und Einbußen.
Den eigenen Status für andere Menschen sichtbar zu machen und ihn nach Möglichkeit noch zu verbessern ist eine ganz wesentliche menschliche Triebkraft. Ausgelöst wird sie vom Belohnungssystem, einer Hirnregion, die uns immer dann mit guten Gefühlen versorgt, wenn wir etwas geleistet oder ein Ziel erreicht haben. Im Prinzip ist das Belohnungssystem eine gute Einrichtung, die das Lernen und die Leistungsbereitschaft fördert. Sie hat aber auch ihre dunklen Seiten, wenn es um Gier, Neid oder um eine übersteigerte Selbstwahrnehmung geht.
Die Kehrseite des Besitzdenkens ist die Verlustangst. Wenn wir etwas besitzen, schätzen wir es deutlich wertvoller ein, als wenn es uns nicht gehören würde. Die Angst, es zu verlieren, kann uns zu ziemlich irrationalen Verhaltensweisen treiben.
Der Wunsch, fair behandelt zu werden
Seit Urzeiten in der Natur des Menschen verankert sind nicht nur egoistische Verhaltensweisen, sondern auch der Wunsch nach Fairness. Das Belohnungssystem gibt uns gute Gefühle, wenn wir uns fair verhalten, wenn wir fair behandelt werden und auch dann, wenn wir unfaire Mitmenschen für ihr Verhalten altruistisch bestrafen. Altruistisches Bestrafen heißt, dass wir selbst Nachteile in Kauf nehmen oder Zeit und Geld einsetzen, um das Verhalten eines anderen zu korrigieren. Zu diesem Mittel greifen wir auch, wenn wir uns von unseren Nachbarn oder vom Vermieter unfair behandelt fühlen.
Dieses altruistische Bestrafen hat den Zweck, die Funktion sozialer Gruppen zu erhalten und Normen durchzusetzen, die das Zusammenleben stärken.
Allerdings kann es auch hier zu Fehlinterpretationen und Fehlverhalten kommen. Besonders schwierig wird es, wenn Menschen Kränkungen oder Verletzungen des Selbstwertgefühls erfahren müssen. Dabei ist es gleichgültig, ob diese nur subjektiv wahrgenommen werden oder tatsächlich objektiv vorhanden sind und dann zu unvorhersehbaren und unkalkulierbaren Reaktionen führen, die jedes Maß aller Dinge überschreiten.
Viele Menschen glauben, dass sie heute alle Konflikte und Probleme auf juristischem Wege lösen können. Das ist jedoch ein Irrtum. Recht und Gesetz beziehen sich immer nur auf Fakten und nicht auf die dahinterliegenden Gefühle und Emotionen. Irrtümer darüber, was erlaubt und verboten ist, und erst recht, was erlaubt oder verboten sein sollte, gibt es zur Genüge. Problematisch wird es immer dann, wenn jemand Sonderrechte für sich in Anspruch nehmen möchte und Regeln aufstellt, die bevorzugt für andere zu gelten haben.
Die alltägliche Irrationalität
In nahezu allen Konfliktfällen zwischen Vermietern, Mietern und Nachbarn argumentieren und verhalten sich die Beteiligten so, als wenn es um objektiv überprüfbare Fakten gehe, die auf sachlich rationaler Ebene zu klären wären. Tatsächlich spielen aber kognitive Verzerrungen bei der Wahrnehmung des Kontrahenten und bei der Entscheidung über das eigene Vorgehen in mindestens 80 Prozent aller Fälle eine entscheidende Rolle. Schauen wir uns die Fehlerquellen an, die uns selbst dazu bringen, Konflikte in Gang zu setzen und eskalieren zu lassen.
Übersteigertes Selbstvertrauen
Viele Menschen glauben, dass das, was sie selbst für gut und richtig befinden, auch von allen anderen so gesehen wird. Das ist aber keineswegs immer der Fall. Jemand, der zu sich selbst auf Distanz gehen kann, ist eher die Ausnahme. Mir sagte einmal ein Nachbar: »Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters.« Damit wollte er andeuten, dass er sich durchaus bewusst war, dass die Gartenzwerge in seinem Garten nicht jedem gefallen.
Gartenzwerge werden von den Gerichten zu den »ästhetischen Immissionen« gezählt. Das sind optische Eindrücke außerhalb des eigenen Grundstücks, die das ästhetische oder geschmackliche Empfinden des Bewohners stören. Tatsächlich gibt es zum Thema Gartenzwerge zahlreiche und sich durchaus widersprechende Urteile. Das betrifft besonders Gärten von Eigentümergemeinschaften. Einmal wurde die Entscheidung der Wohnungseigentümerversammlung, Gartenzwerge zu entfernen, für rechtswidrig erklärt, ein anderes Mal wurde eine übermäßige Nutzung und Beeinträchtigung des optischen Gesamteindrucks festgestellt.
In vielen Fällen geben sich die beteiligten Parteien keineswegs mit einer Entscheidung in der ersten Instanz zufrieden, da sie felsenfest davon überzeugt sind, dass ihr Geschmacksempfinden dem der Nachbarn überlegen ist. Diese Nachbarn werden dann von der Gegenseite als »Geschmackslegastheniker« tituliert, was dem nachbarschaftlichen Frieden sicherlich nicht zuträglich ist.
Manchmal müssen die Gartenzwerge auch Stellvertreterkriege führen. Dann werden sogenannte »Frustzwerge« aufgestellt, die dem Nachbarn das blanke Hinterteil zeigen. Der Nachbar wiederum beschafft sich im Gegenzug einen Zwerg, der mit einem Messer im Rücken dahingemeuchelt worden ist. Inzwischen gibt es wohl eine ganze Kollektion von Gartenzwergen, die von ihren Besitzern als Botschafter der Respektlosigkeit aufgestellt werden.
Aber nicht nur in solchen Fällen zeigt sich das überzogene Selbstvertrauen mancher Menschen. Viele sind der festen Überzeugung, genau zu wissen, was richtig und falsch ist, was in den Gesetzen steht oder was zumindest in den Gesetzen stehen sollte. Und nach dem, was sein sollte, handeln sie dann auch. Es werden Begriffe wie »gerecht« und »ungerecht« verwendet, die aber oft nichts mit den per Rechtsprechung durchsetzbaren Ansprüchen zu tun haben.
Zu dem übersteigerten Selbstvertrauen zählt auch ein unrealistischer Optimismus, das gewünschte oder bevorzugte Ergebnis zu erreichen.
Diese Haltung findet man auch bei Juristen. Sie lassen sich auf die Forderungen ihrer Mandanten ein und ziehen für diese in die Schlacht. Natürlich klären sie jene über die Kosten und die Chancen eines Rechtsstreits auf, doch diese Warnungen werden von den Mandanten meist in den Wind geschlagen, da sie sich absolut im Recht sehen. Außerdem gibt es noch die Rechtschutzversicherung, die zumindest das finanzielle Engagement auf ein erträgliches Maß senkt oder sogar ganz übernimmt.
Dass auch Anwälte vor Selbstüberschätzung nicht gefeit sind, zeigte sich bei einem Rechtsanwalt, der der Aufforderung der Anwaltskammer nicht nachkam, seinen Geisteszustand vom Amtsarzt untersuchen zu lassen, weil ihm sonst die Zulassung entzogen werden würde.
Der Anwalt hatte im Namen eines Mandanten acht Jahre lang zahlreiche Institutionen mit Schreiben überzogen, in denen er argumentierte, dass »angemessenes warmes Wohnen« zu einem steuerfreien Grundbetrag gehöre, der grundrechtlich geschützt sei. Gegen die Ablehnung durch die Finanzbehörden und Gemeinden führte er Rechtsstreitigkeiten in sämtlichen Gerichtszweigen und durch alle Instanzen. Zweimal verhängte das Bundesverfassungsgericht gegen ihn eine Missbrauchsgebühr, und auch der Petitionsausschuss des Bundestages half ihm nicht weiter.
Als der Rechtsanwalt dann auch noch eine Strafanzeige erstattete wegen »Bedrohung der inneren Sicherheit der Bundesrepublik durch eine kriminelle Vereinigung in erster Linie von Richtern des Bundesverfassungsgerichts, des Bundesfinanzhofs und des Bundesverwaltungsgerichts zur verfassungswidrigen Verweigerung steuerlicher Absetzungsmöglichkeiten tatsächlich entstandener Aufwendungen« war das Maß so ziemlich voll. Er beantragte außerdem Haftbefehle, Durchsuchungen, Beschlagnahmungen und Telefonüberwachungen.
Insgesamt befand man, dass er die von einem Rechtsanwalt zu erwartende Sachlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Ergebnisorientierung zum Wohl der Mandanten vermissen ließ. Durch die Vorlage untauglicher Unterlagen würde er nur vermeidbare Kosten für seinen Mandanten produzieren. Sein Verhalten ließ am Ende den Schluss zu, dass er so stark auf das Thema der steuerlichen Absetzbarkeit fixiert war, dass man von einer krankhaften Besessenheit sprechen konnte. Damit war seine Karriere beendet. Offensichtlich hatte dieser Anwalt in seinem Mandanten aber auch einen Partner gefunden, der im Kampf für eine vermeintliche Gerechtigkeit jedes Maß aus den Augen verloren hatte.
Vorsätzliche Nachlässigkeit
Wir sind ständig dabei, zwischen wichtig und unwichtig zu unterscheiden. Unwichtigen Aufgaben, die nur Zeit kosten und die wir als lästig empfinden, widmen wir weniger Aufmerksamkeit. Bei Vermietern zählt die Erstellung einer Betriebskostenabrechnung zu diesen unwichtigen und auch unbeliebten Aufgaben. Die damit verbundene Arbeit wird ihm nicht bezahlt, er muss auf viele Details achten, und außerdem wird dem Vermieter auch noch deutlich vor Augen geführt, dass er einen Teil der im Laufe des Jahres entstandenen Kosten, nämlich die Instandsetzungskosten, nicht weitergeben darf. Das schmerzt.
Anders lässt es sich kaum erklären, dass so viele Betriebskostenabrechnungen Fehler enthalten, und zwar zu Ungunsten des Mieters. Wenn ein Vermieter einmal eine Grundstruktur für die Abrechnung der Betriebskosten erstellte und sich auch im kommenden Jahr an diese Struktur hielte, hätte er viel weniger Arbeit und anschließend auch viel weniger Ärger mit den Mietern, die seine Zahlen nachrechnen.
Aber viele Vermieter versuchen auch immer wieder, mehr für sich herauszuholen, als ihnen zusteht. Würde jeder Vermieter seine Nebenkostenabrechnung unter dem Gesichtspunkt erstellen, sich anschließend zusätzliche Nacharbeiten zu ersparen, würde eine Menge Arbeit nicht nur für Vermieter und Mieter, sondern auch für Rechtsanwälte und Gerichte einfach entfallen.
Die Wahrnehmung des anderen ignorieren
Unnachgiebig auf seiner eigenen Sichtweise zu beharren ist einer der Hauptgründe für Konflikte zwischen Nachbarn, Vermietern und Mietern. Es fällt vielen schwer, sich in andere Mitmenschen hineinzuversetzen, besonders dann, wenn diese eine Gegenposition vertreten, die mit Nachteilen für einen selbst verbunden ist. Beschwert sich ein Mieter über Schimmel in den Zimmerecken und fordert entsprechende bauliche Maßnahmen, wird der Vermieter ihm erst einmal unsachgemäßes Lüften unterstellen. Entweder lüftet der Mieter zu viel oder zu wenig, zu den falschen Zeiten oder auf die falsche Art und Weise.
Der jeweiligen Gegenpartei werden oft Absicht und böser Wille unterstellt. Wenn jemand auf dem Balkon oder im Garten grillt, dann tut er dies wahrscheinlich, weil er das schöne Wetter genießen will, weil er Gäste hat und in geselliger Runde etwas essen möchten. Er tut dies mit größter Wahrscheinlichkeit nicht, um seine Nachbarn mit Gerüchen zu belästigen oder um diese mit Qualm einzuräuchern.
Den Bratenduft in der eigenen Küche wird der Nachbar wahrscheinlich als lecker und appetitanregend empfinden, den Duft nach Gebratenem vom Grill des Nachbarn aber als Belästigung. Deshalb ist es oft nicht nur ratsam, den Nachbarn vorher über den geplanten Grillabend zu informieren, sondern ihn am besten auch gleich einzuladen. Wenn er kommt, ist es in Ordnung, wenn er nicht kommt, war es immerhin seine Entscheidung, und es gibt weniger Grund, sich zu beschweren.
Denken auf kurze Sicht
Diesen Fehler findet man besonders häufig in Wohnungseigentümergemeinschaften, bei denen die Eigentümer selbst nicht im Objekt wohnen. Sie haben ihre Wohnung vermietet, um Rendite zu machen. Deshalb versuchen sie, die Kosten für Instandhaltungsmaßnahmen und Reparaturen so niedrig wie möglich zu halten, und sie stimmen bei Eigentümerversammlungen gegen die vom Verwalter empfohlenen Maßnahmen. Ob es sich nun um Risse im Mauerwerk handelt, die untersucht und beseitigt werden müssten, um die Substanz langfristig zu erhalten, oder ob es um den Ersatz eines alten Heizkessels durch einen neuen geht, damit nicht jeden Monat ein Handwerker für Reparaturen kommen muss, sie sind immer dagegen.
Dass diese Wohnungsbesitzer so den Gesamtwert des Eigentumsobjekts mindern und damit auch den möglichen späteren Verkaufspreis ihrer Wohnungen, interessiert sie bei ihrer kurzfristigen Sichtweise nicht. Auch nicht, dass ihre Mieter die Miete mindern könnten. Natürlich wäre es besser, kurzfristige und langfristige Interessen gegeneinander abzuwägen. Aber es gibt genügend verhaltensökonomische Experimente, die zeigen, dass Menschen und sogar Tiere einen zeitnahen kleineren Vorteil gegenüber einem größeren Vorteil, den sie allerdings erst später haben werden, bevorzugen.
Der Ankereffekt
Damit ist die Tendenz gemeint, eine einmal eingenommene Position nicht zu korrigieren, selbst wenn diese sich als falsch herausstellt.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie stark die Wirkung von gedanklichen Ankern ist, auch dann, wenn man sich selbst dessen gar nicht bewusst ist. Dies gilt besonders dann, wenn es sich um Preise dreht.
Folgendes Beispiel: Der Eigentümer einer Wohnung möchte diese verkaufen und dabei den höchstmöglichen Preis erzielen. Er hat allerdings nur eine unklare Vorstellung davon, wie hoch dieser Preis sein könnte. Deshalb lässt der Eigentümer mehrere Makler kommen, die das Objekt besichtigen und einschätzen sollen. Der erste Makler ist vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen. Er behauptet, die Wohnung innerhalb von vier Wochen verkaufen zu können, und zwar zu einem Preis von 350000 Euro. Der zweite Makler ist eher vorsichtig. Er sieht bei dem Objekt auch Nachteile, schätzt den Verkaufspreis auf 250000 Euro ein und glaubt, ein halbes Jahr zu brauchen, um diesen Preis zu erzielen.
Was glauben Sie, welcher Makler wohl den Auftrag erhält? Bei dem Verkäufer haben sich die Summe von 350000 Euro und die Erwartung, dass der Verkauf aus dem Stand heraus schnell erfolgen kann, als Anker im Kopf festgesetzt. Also erhält Makler Nummer eins den Zuschlag und das exklusive Verkaufsrecht. Dumm nur, dass weder Zeit noch Preis realistisch waren, sondern nur den Zweck hatten, den Kunden zu gewinnen. Erst nach einem halben Jahr, nachdem er etliche Kaufinteressenten abgewiesen hatte, verkaufte der Eigentümer seine Wohnung für 260000 Euro. Das wäre ohne die Anker wahrscheinlich schneller gegangen.
Unsinniges Beharren
Ein Hausbesitzer ärgerte sich jedes Jahr, wenn im Herbst das Laub von den Bäumen des Nachbargartens auf sein Grundstück wehte. Eines Tages beauftragte er einen Anwalt, seine Interessen gegenüber dem Nachbarn zu vertreten. Der Anwalt wies ihn allerdings darauf hin, dass der Laubfall in seinem Garten wahrscheinlich nur eine unwesentliche Beeinträchtigung darstelle, die sein Mandant hinnehmen müsse. Er könne keinen finanziellen Ausgleich für das Beseitigen der Blätter verlangen. Schließlich wohne er in einer Gegend, in der es viele Gärten, Bäume und Sträucher gebe.
Doch der Mandant des Anwalts beharrte auf der Durchsetzung seiner Entschädigungsforderung. Das Verfahren zog sich hin. Inzwischen war die Zeit ins Land gegangen, und im Frühling zog der Mann, der sich über den Laubfall so geärgert hatte, aus seinem Haus aus. Doch damit hatte sich die Sache für ihn noch nicht erledigt. Er bestand darauf, dass der Anwalt seine Interessen weiterverfolgte.
Ein halbes Jahr nach seinem Auszug kam es dann zu einer Gerichtsverhandlung, in der festgestellt wurde, dass der Kläger keinen Anspruch auf Entschädigung hatte. Die Kosten des Verfahrens musste er tragen. Hätte er spätestens beim Auszug das Thema zu den Akten gelegt, wäre dies für ihn besser gewesen.
Siegen um jeden Preis
Den Willen, unbedingt zu siegen, kann man besonders gut auf Wohnungseigentümerversammlungen beobachten. Unabhängig vom jeweiligen Thema stehen sich einzelne Eigentümer unversöhnlich gegenüber. Sie wollen alles verhindern, was eine andere Partei will, und alles durchsetzen, was die anderen ablehnen. Gelegentlich sind es auch Gruppierungen nach Hauseingängen oder nach Etagen, Erdgeschoss gegen Dachgeschoss, die sich mit allen Mitteln bekämpfen.
Es gibt natürlich noch weitere Konstellationen. Familien mit Kindern wollen Spielgeräte aufstellen lassen und den Sand der Sandkiste austauschen, weil dort Katzen hineingepinkelt haben. Kinderlose Eigentümer halten das für überflüssig. Eigentümer mit Auto wünschen sich eine neue Schließanlage für die Tiefgarage, Eigentümer ohne Auto, die ihren Stellplatz vermietet haben, sehen die Notwendigkeit dafür nicht ein.
Aber auch Bewohner von Einfamilienhäusern lassen sich gelegentlich einiges einfallen, um in einem Streit triumphieren zu können. So soll in einem Fall ein Hund immer wieder sein Geschäft auf dem Rasen des Nachbarn verrichtet haben. Daraufhin wurde der Hund nur noch an der Leine geführt. Aber die Nachbarn beharrten darauf, dass ihr Zierrasen durch Kot dieses Hundes verunreinigt wurde und deshalb Schadensersatz geleistet werden sollte.
Als der Streit so weit eskaliert war, dass der Amtsrichter einen Besichtigungstermin anordnete, geschah Folgendes: Die Rasenbesitzer sammelten am Tag vor der Besichtigung überall auf den Straßen der Umgebung Hundekot ein, um ihren Rasen damit entsprechend zu dekorieren.
Dumm war nur, dass sie dabei von verschiedenen Nachbarn beobachtet worden waren. Auch dem Richter erschien es sehr merkwürdig, dass ein einzelner Hund so unterschiedliche Haufen produziert haben sollte. Dass die Rasenbesitzer den Prozess mit Pauken und Trompeten verloren, ist kaum erstaunlich. Die Einsicht, dass man keine Beweise beschaffen darf, wenn keine vorhanden sind, nur um zu gewinnen, fehlte ihnen bis zuletzt.
Alternativen ignorieren
Das Thema Grundstücksabgrenzung treibt oft die wildesten Blüten, wenn Nachbarn in blindem Besitzdenken darauf verzichten, miteinander zu sprechen, weil es vielleicht in der Vergangenheit aus anderem Anlass schon Streit gegeben hatte. So kommt es häufig vor, dass ein Hausbesitzer auf seinem Grundstück einen Zaun zieht, der den Vorschriften entspricht.
Im Gegenzug errichtet nun auch der Nachbar auf seiner Seite einen Zaun, mit der Begründung, er bräuchte nun den hässlichen Zaun an der Grenze seines Grundstücks nicht mehr zu sehen. Einfacher wäre es gewesen, wenn man sich gemeinschaftlich auf eine Art von Zaun geeinigt hätte, doch diese Alternative wurde ignoriert.
Sich ins Bockshorn jagen lassen
Vermieter, aber auch Nachbarn, entwickeln ein sehr feines Gefühl dafür, welcher der Mieter oder der neben einem Wohnenden ängstlich, leichtgläubig oder schwach ist. Diese Defizite werden oft schamlos ausgenutzt. Man stellt illegitime Forderungen und versucht, den anderen einzuschüchtern, indem man mit Anwalt und Gericht droht. Häufig kann der so Bedrohte die Situation nicht richtig einschätzen und lässt sich überrumpeln. Vermieter versuchen auf diese Weise immer wieder, Mieter zur Zahlung unberechtigter Forderungen zu bewegen oder ungerechtfertigte Mieterhöhungen durchzusetzen. Besonders beliebte Opfer sind alleinstehende Frauen, Alleinerziehende oder sozial Schwache.
Hier möchte ich die Liste irrationaler Denkweisen zunächst abschließen. Tatsächlich ist sie noch viel länger, und ich werde an gegebener Stelle immer wieder auf die Wirkung kognitiver Verzerrungen hinweisen.
Die fünf (Wohn-)Verhaltensmuster des Menschen
Im Rahmen der Evolution des Menschen haben sich fünf grundlegende Verhaltensmuster entwickelt: Fliehen, Standhalten, Anpassen und Verändern, Umdeuten.
Diese lassen sich problemlos auf das Wohnverhalten übertragen, da sie zeigen, wie Menschen auf Konflikte reagieren.
Fliehen
Die Flucht ist sicherlich das älteste Verhaltensmuster des Menschen überhaupt. Es war in der Anfangszeit der Menschheit immer günstiger abzuhauen, als gefressen zu werden. Nur wenn Flucht unmöglich war, entschied sich der Mensch, standzuhalten oder in Vorwegnahme einer ungünstigeren Verteidigung auch anzugreifen.
Unsere Gesellschaft wertet Flucht häufig nur negativ als bequemes Ausweichen. Dagegen gilt in der Regel als erfolgreich, wer andere in die Flucht schlägt. »Angriff ist die beste Verteidigung« wird gerade beim Nachbarschaftsstreit besonders gern zur goldenen Regel gemacht.
Flucht ist in der Regel die Reaktion auf eine ganz bestimmte Situation, die man nicht mehr rational kontrollieren kann. Man flieht immer dann, wenn es keine anderen Optionen mehr gibt, zumindest aus subjektiver Sicht. Niemand flieht ohne Grund oder wenn er noch einen anderen Ausweg sieht.
Jede Flucht sollte als Chance für einen Neubeginn betrachtet werden. Aber Fliehen sollte keine dauernde Lebenshaltung darstellen oder gar zur Gewohnheit werden. Im Bezug auf das Wohnen bedeutet Fliehen meist Wegziehen, das heißt, die Wohnung oder das Haus eventuell unter Verlusten aufzugeben und in eine neue Umgebung oder eine neue Stadt zu wechseln.
Fliehen funktioniert aber auch genau umgekehrt: Man igelt sich ein und reagiert nicht mehr auf Signale von außen. Dieser Rückzug nach innen kann spätestens dann fatale Folgen haben, wenn derjenige, der sich zurückgezogen hat, die Miete und seine Rechnungen nicht mehr bezahlt. Allerdings muss man sehr genau differenzieren, ob eine solche Flucht nach innen schon krankhafte Züge hat und auf der Unfähigkeit, das eigene Leben zu meistern, beruht oder eine bewusst gewählte Form der Verteidigung darstellt.
Standhalten
Die Alternative zum Fliehen ist standzuhalten. Wer standhält, stellt sich einer Auseinandersetzung und handelt zielorientiert, fokussiert und kontrolliert. Aber wie die Flucht muss dieses Verhalten nicht immer rational begründet und zweckmäßig sein. Standzuhalten kann auch auf Sturheit und Uneinsichtigkeit beruhen. Gerade wer nach dem Motto »Viel Feind, viel Ehr« in Nachbarschaftsstreitigkeiten allen die Stirn bietet, sollte sich fragen, ob er noch auf dem richtigen Weg ist.
Anpassen und Verändern
Anpassen und Verändern sind zwei Seiten derselben Medaille. Die Anpassung an äußere Gegebenheiten gehört wie die Flucht zu den ältesten Verhaltensweisen des Menschen. Anpassung beruht auf der Orientierung an der Gegenwart und verlangt eine gewisse Flexibilität. Zieht man in ein neues Wohnumfeld, dürfte zumindest eine teilweise Anpassung an die dortigen Gepflogenheiten die beste Strategie sein.
Verändern als aktives und gestaltendes Verhalten wird in der Regel durchaus als positiv gesehen. Etwas nicht hinzunehmen, neue Lösungen zu suchen und diese durchzusetzen rückt das Verändern in die Nähe des Standhaltens. Veränderungen beruhen auf der Fähigkeit zu lernen und auf der Umsetzung eigener Vorstellungen. Wer allerdings nach einem Umzug seinen neuen Nachbarn mit der Haltung »Alles hört jetzt auf mein Kommando« begegnet, wird wahrscheinlich Schiffbruch erleiden. Wer etwas verändern möchte, sollte dies klug und nicht brachial in die Tat umsetzen. Kommunikation statt Konfrontation dürfte wie fast immer die erste Wahl sein.
Umdeuten
Allerdings hat das Umdeuten auch negative Seiten. Wenn der Nachbar auf seinem Grundstück eine Wäschespinne aufstellt und Bettlaken zum Trocknen aufhängt, dann kann man das einfach als Teil der Haushaltsarbeit betrachten. Man kann dies aber auch Umdeuten und dem Nachbarn unterstellen, dass er dies nur tut, um einem die Aussicht zu nehmen, also aus purer Bösartigkeit oder Gehässigkeit.
Wenn ein Nachbar auf die Südseite seines Dachs eine Solaranlage setzt, dann tut er das wahrscheinlich, um billigen Strom zu beziehen oder um sich langfristig eine zusätzliche kleine Einnahme zu verschaffen. Er tut es sehr wahrscheinlich nicht, um seinem Nachbarn zu zeigen, dass er sich etwas leisten kann, wofür dieser kein Geld hat oder was wegen der Lage seines Hauses auch gar nicht zu realisieren ist.
Homo reciprocans – oder: Wie du mir, so ich dir?
Der Bonner Neuroökonom Armin Falk hat den Begriff Homo reciprocans kreiert, als er in seinen Experimenten feststellte, dass die Menschen nicht rational und nur zu ihrem eigenen Vorteil handelten, sondern sich mehrheitlich reziprok verhielten. Die meisten seiner Probanden richteten sich danach, wie sich die anderen Teilnehmer verhielten. Wer von einem Spielpartner fair behandelt wurde, behandelte diesen ebenfalls fair, auch wenn er durch die Spielregeln nicht dazu gezwungen war. An unfairen Spielpartnern »rächten« sich die anderen Teilnehmer, indem sie ebenfalls unfair handelten. Sie orientierten sich bei ihren Entscheidungen nicht an den Vorteilen, die diese bringen würden, sondern reagierten nur darauf, wie sie selbst behandelt wurden.
So ist es in der Regel sehr schwer festzustellen, was die ursprüngliche Ursache eines Nachbarschaftskonflikts war. Jede der beteiligten Personen wird den Beginn anders interpretieren. War es ein Geräusch aus der Nachbarwohnung, das unsere Aufmerksamkeit auf sich zog? Oder war unsere eigene Sensibilität für dieses Geräusch die Ursache für den Beginn der Streitigkeiten?
Die gelenkte Aufmerksamkeit
Schuld daran ist die Formatio reticularis, eine Gehirnregion, die unter anderem dafür zuständig ist, unsere Aufmerksamkeit zu steuern und Weckreize zu erzeugen. Man kann sie sich ungefähr vorstellen wie einen Scheinwerfer in einer Zirkuskuppel. Wenn dieser Scheinwerfer eingeschaltet wird, richtet er mit seinem Lichtkegel die Aufmerksamkeit der Zuschauer ganz gezielt auf einen Artisten oder ein Ereignis, während alles andere darum herum in Dunkelheit versinkt.
Wie im Beispiel beschrieben, wird die Nachbarin aus der oberen Wohnung ihre Gewohnheiten nicht ändern, also nicht aufhören zu baden. Das hat zur Folge, dass die ältere Dame, die sich durch die Badewannengeräusche gestört fühlt, sich reziprok verhält: Sie greift zum Akkordeon, um auf die fremde Störung zu reagieren. Die Eskalation der Ereignisse nimmt so ihren Anfang.
Man kann die Spirale der Eskalation beenden, indem man Konfrontation durch Kommunikation ersetzt. Doch auch das ist leichter gesagt als getan. Der erste und wichtigste Schritt, um zu kommunizieren und zu verhandeln, ist, sich darüber klar zu werden, warum man eigentlich das will, was man glaubt, selbst zu wollen. Im zweiten Schritt muss man sich in den anderen hineinversetzen und versuchen herauszufinden, was dieser aus welchen Gründen will und warum er das tut, was er tut. Dann kann man überlegen, welche Lösungen beiden Interessen am ehesten gerecht werden.
Die Logik des Augenblicks
Die gegenwärtige Situation hat fast immer eine unheimliche Macht über uns. Es fällt uns einfach schwer, sich vorzustellen, dass alles, was jetzt ist, sich nicht linear weiterentwickelt, sondern sich ändern kann und sich wahrscheinlich auch ändern wird. Der Grund dafür ist das, was die Wissenschaft Dysrationalität nennt.
Wie wir uns verhalten, entscheidet zu 95, manche sagen sogar zu 99 Prozent, das Unbewusste. Auch das Verhältnis zwischen Nachbarn, Vermietern und Mietern wird vom Unbewussten gesteuert. Es gibt drei Einflussgrößen, die unser unbewusstes Denken lenken.
Die zweite ganz wesentliche Einflussgröße, die unser Denken lenkt, sind andere Menschen, die durch Mimik und Körperhaltung Signale aussenden, die wir zwar unbewusst wahrnehmen und mit ins Kalkül ziehen, die aber nie oder zumindest fast nie das Bewusstsein erreichen.
Was wir also für richtig oder falsch, für fair oder unfair halten, hängt ganz wesentlich von diesen drei Einflussgrößen ab und eben auch davon, in welcher Verfassung wir uns in einem bestimmten Augenblick befinden. Das Unbewusste teilt uns zwar mit, welche Entscheidungen wir treffen sollen, aber es sagt uns nicht, warum.