LISA RENEE JONES
Deep Secrets
Hingabe
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Michaela Link
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Lisa Renee Jones bei LYX
Impressum
LISA RENEE JONES
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Michaela Link
Zu diesem Buch
Kann er seine Mauern einreißen? Kann er mich sein wahres Ich sehen lassen? Kann er mich so lieben, wie ich ihn liebe? Ich weiß nur, dass ich mich nicht mit weniger begnügen kann. Alles oder nichts …
Die erotischen Tagebücher der geheimnisvollen Rebecca haben die junge Sara McMillan fasziniert und zugleich schockiert. Nun hat sie endlich Gewissheit über das Schicksal, das Rebecca ereilt hat. Zutiefst erschüttert beschließt Sara, ihr Leben in den USA hinter sich zu lassen und mit ihrem Geliebten, dem attraktiven Künstler Chris Merit, in Paris noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Chris ist der einzige Mann, dem Sara sich je voll und ganz hingegeben, dem sie je ihr Herz geöffnet hat. Doch die beiden müssen schnell feststellen, dass sie auch in Paris nicht vor den dunklen Geheimnissen ihrer Vergangenheit davonlaufen können. Viel zu viel zwischen ihnen ist unausgesprochen, die tiefe Leidenschaft, die sie füreinander empfinden, längst nicht mehr genug. Ihre Beziehung wird zudem auf eine harte Probe gestellt, als Saras Freundin Ella spurlos verschwindet. Droht ihr ein ähnliches Schicksal wie Rebecca? Sara ist bereit, alles zu tun, um Ella zu retten. Doch auf der Suche nach ihr gerät sie schon bald selbst in höchste Gefahr …
Für Diego
Mittwoch, 11. Juli 2012
Es ist Mitternacht, und ich sitze auf einem Hotelbalkon auf Maui. Das Rauschen des Meeres, das Dröhnen, mit dem die Riesenwellen auf den Strand krachen, ist wie eine Droge und beruhigt den Aufruhr in mir ein wenig. Es ist schwer zu glauben, dass ich jetzt eine Weltreisende und Kunstexpertin bin – statt einer Barfrau, die sich müht, sich über Wasser zu halten. Ich. Rebecca Mason. Eine Weltreisende. Es ist ebenso schwer zu glauben wie das meiste von dem, was mir in diesem letzten Jahr widerfahren ist.
Mein neuer Mann ist nur einige Schritte entfernt, nackt und zauberhaft unter den Laken unseres Hotelbetts, gesättigt von einem Abend mit Essen, Drinks und leidenschaftlichem Sex. Sex. So muss ich es nennen. Ich kann es nicht Liebe nennen, obwohl er das tut. Ich wünschte, ich könnte es. Oh, wie sehr ich mir das wünsche.
Warum bin ich nicht im Bett und schmiege mich an seine sehnigen Muskeln, schwelge in seiner männlichen Sinnlichkeit? Ich sollte es tun, aber das Handy auf meinem Schoß ist der Grund, warum ich es nicht mache. »Er« hat mir die Nachricht hinterlassen, dass ich ihn anrufen soll. Er, den ich einfach nicht vergessen kann. Nach dem ich nicht aufhören kann, mich zu sehnen: nach seiner Berührung, seinem Kuss, nach dem verruchten Hieb einer Peitsche auf meiner Haut, Wonne und Schmerz gleichzeitig.
Ich kämpfe gegen den Drang, seine Nummer zu wählen, und sage mir wieder und wieder, dass ich es lassen sollte. Mein neuer Mann verdient etwas Besseres – genau wie ich etwas Besseres verdient habe als das, was mein Meister mir jemals angeboten hat. Wenn ich ihn zurückriefe, wäre ich dem neuen Menschen in meinem Leben gegenüber respektlos, und auch mir selbst gegenüber. Wenn seine Bitte nur nicht so verzweifelt geklungen hätte … was Wahnsinn ist. Der Mann, den ich kannte, war niemals verzweifelt.
Die letzten Wochen waren eine wunderbare Reise der Leidenschaft, sowohl im Schlafzimmer als auch rund um die Welt. Ich sollte mich an diesen Dingen ergötzen, und an dem Mann, der sie möglich macht. Er ist gut aussehend und erfolgreich und sexy auf jede erdenkliche Weise, obwohl es nicht sein Geld ist, das mich anzieht. Es ist seine Leidenschaft dafür, wie er dieses Geld verdient, wie er sein Leben lebt, wie er mich liebt. Er ist so selbstbewusst, entschuldigt sich für nichts und mag sich, wie er ist, und doch … er ist nicht derjenige, den ich früher einmal »Meister« genannt habe, und ich würde ihn auch nie als solchen ansehen. Ich verstehe, warum ich nicht in ihn verliebt bin. Ich verstehe nicht, warum ich mich ihm niemals unterwerfen würde, selbst wenn er mich fragte (und das würde er nicht).
Wenn ich ehrlich bin, ist der Grund, warum ich mich nicht ganz in diese neue mögliche Liebe fallen lassen kann, einfach. »Er« ist immer noch mein Meister, in meinem Herzen und meiner Seele, sogar in meinem Kopf.
Aber er liebt mich nicht. Er glaubt nicht einmal an Liebe. Er hat es mir zu viele Male gesagt, als dass ich es ignorieren könnte.
Ich habe ihm Auf Wiedersehen gesagt, und ich werde ihn nicht anrufen. Ich weiß, wenn ich es tue, wäre es mein Untergang, und sein Zauber würde mich wieder einfangen. Ich wäre wieder … verloren.
Nein. Kein Reden. Kein Zwischendrin. Alles oder nichts, Sara. Ich biete es dir an, und du musst entscheiden, ob du es wirklich willst. Ich habe bei American Airlines einen Platz auf deinen Namen reserviert. Ich werde in dem Flugzeug sein. Ich hoffe, du auch.
Chris hat mir dieses Ultimatum gestellt und mich auf dem Bett meiner verschwundenen besten Freundin sitzen lassen. Von dort aus starre ich die offene Tür an, in der er noch Momente zuvor gestanden hat. Widerstreitende Gefühle kommen hoch und verknäueln sich in mir. Er hat mich aufgesucht, er hat mich hier gefunden. Nach unserem vernichtenden Streit gestern Nacht will er immer noch, dass ich mit ihm nach Paris fliege. Er will »uns« wiederfinden. Aber wie kann er verschwinden und von mir erwarten, von einer Sekunde auf die andere aufzubrechen? Ich kann nicht einfach fortgehen – aber … er geht fort.
Bei dem Gedanken daran, ihn zu verlieren, bekomme ich keine Luft und tief in meinem Innern weiß ich, dass ich ihn, wenn ich ihn fortgehen lasse, verlieren werde. Wir müssen reden. Wir müssen uns darüber klar werden, was in der vergangenen Nacht passiert ist, bevor wir nach Paris aufbrechen.
Mit einer ruckartigen Bewegung greife ich nach meinem Handy und drücke auf die Kurzwahltaste für Chris. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, während ich darauf warte, dass er rangeht.
Es klingelt und klingelt.
Dann füllt seine Stimme, tief und rau und sexy, die Leitung. Es ist seine Mailbox. Ich raufe mir mein langes braunes Haar, und eine Welle der Hilflosigkeit schlägt über mir zusammen. Nein. Nein. Nein. Das ist nicht wahr. Das kann nicht wahr sein. Nachdem ich gestern Nacht beinahe von Ava getötet worden wäre, ist das jetzt einfach zu viel. Wie ist es möglich, dass Chris nicht weiß, dass das alles im Moment zu viel für mich ist? Ich will das Handy anschreien.
Ich wähle wieder, höre ein ums andere Mal den unerträglichen Klingelton und werde erneut auf seine Mailbox geleitet. Verdammt! Ich werde versuchen müssen, ihn zu Hause zu erwischen, bevor er zum Flughafen aufbricht.
Ich springe auf die Füße und eile zur Tür, und meine Hand zittert, als ich die Wohnung abschließe. Ich bete, dass Ella sicher von ihrer Europareise zurückkehrt. Ich kann nicht umhin, ihr Schweigen mit dem Rebeccas zu vergleichen. Schaudernd trete ich in den dunklen Flur vor Ellas Apartment und wünschte, ich läge in Chris’ Armen. Wünschte, ich könnte den höllischen Verdacht vergessen, dass Ava Rebecca getötet haben könnte und dann versucht hat, mich umzubringen.
Sobald ich auf dem Parkplatz bin, betrachte ich das Apartmentgebäude, und mein Magen verkrampft sich. »Ella geht es gut«, rede ich mir ein, während ich meinen silbernen Ford Focus aufschließe und hineinschlüpfe. Und mir ist klar, dass ich zwei Gründe habe, nach Paris zu gehen: Chris und Ella. Und es sind beides gute Gründe.
Die Fahrt zu dem Apartment, das ich mir mit Chris teile, dauert weniger als fünfzehn Minuten, aber es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Als ich in der Einfahrt vor dem eleganten Hochhaus vorfahre, bin ich das reinste Nervenbündel. Ich reiche meine Schlüssel dem Türsteher, einem neuen Mann, den ich nicht kenne. »Lassen Sie meinen Wagen bitte hier.« Ich sage das, damit ich sofort zum Flughafen fahren kann, falls ich mich dafür entscheide.
Selbst wenn ich es tue, rede ich mir ein, bedeutet es nicht, dass ich in das Flugzeug steige. Noch nicht. Nicht so. Ich werde Chris davon überzeugen, die Reise zu verschieben.
Ich sehe die Lobby kaum, während ich hindurcheile und in den Aufzug trete. Die Türen schließen sich, und bei dem Gedanken, ihn zu sehen, bin ich plötzlich lächerlich nervös. Es ist Wahnsinn. Es handelt sich um Chris. Ich habe keinen Grund, bei ihm nervös zu sein. Ich liebe ihn. Ich liebe ihn, wie ich noch nie zuvor ein anderes menschliches Wesen geliebt habe. Doch die Fahrt in den zwanzigsten Stock ist qualvoll, und ich wünschte, ich hätte den Türsteher gefragt, ob Chris zu Hause ist.
»Bitte, sei hier«, flüstere ich, als ich mich meinem Ziel nähere. »Bitte, sei hier.«
Der Aufzug macht pling, und die Türen gleiten auf. Einen Moment lang starre ich nur in den offenen Eingangsbereich unserer Wohnung. Unserer Wohnung. Aber wird es noch unsere sein, wenn ich ihn nicht nach Paris begleite? Erst letzte Woche hat er sich von mir zurückgezogen. Nach Dylans Tod hat er sich abgeschottet, statt mir zu erlauben, ihm durch den Schmerz zu helfen. Er hat mir das Gefühl gegeben, dass mein »Zuhause« bei ihm verschwunden ist. Und er hat geschworen, dass das nie wieder geschehen wird, dass ich in Zukunft nie wieder das Gefühl haben werde, ihn verloren zu haben – aber die Zukunft ist jetzt, und ich habe genau dieses Gefühl.
Verloren zu sein ohne ihn.
»Chris«, rufe ich und trete in den Eingangsbereich, wo mir Schweigen entgegenschlägt. Zwei Schritte in die Wohnung hinein, und ich bin innerlich so leer, wie ich es noch niemals war. Er ist nicht hier. Er ist fort.
Langsam drehe ich mich zu dem tiefer liegenden Wohnzimmer und den deckenhohen Fenstern um, hinter denen sich das erste Morgenlicht über die Stadt ergießt. Erinnerungen kommen mir in den Sinn, so viele Erinnerungen an Chris und mich in diesem Raum, in dieser Wohnung. Ich kann ihn riechen, kann ihn beinahe schmecken. Ihn fühlen. Ich muss ihn fühlen.
Nachdem ich eine kleine Lampe eingeschaltet habe, fällt mein Blick auf etwas, das am Fenster klebt. Ein Brief, und es wird mir eng in der Brust, als mir klar wird, dass es genau die Stelle ist, an der Chris es einmal mit mir getan hat und mich Hitze und Leidenschaft hat fühlen lassen, und ja, die Furcht zu fallen.
Ich gehe die Stufen hinunter, vorbei an den Möbeln, und ziehe den Brief vom Fenster.
Sara –
unser Flug geht um neun. Du musst eine Stunde vorher da sein, um durch die Sicherheitskontrolle zu kommen, und internationales Gepäck hat eine strikte Abgabefrist. Es ist ein langer Flug. Zieh dich bequem an. Jacob wird unten sein, um dich um sieben zu fahren, was Spielraum für den Verkehr lässt. FALLS du beschließt mitzukommen.
Chris
Kein »Ich liebe dich«. Kein »Bitte komm«.
Aber andererseits würde es das sowieso nicht geben. So ist Chris nun einmal, und obwohl ich nicht all seine Geheimnisse kenne, kenne ich doch ihn. Ich weiß, dies ist einer seiner Tests. Ich weiß, es ist ihm wichtig, dass es meine Entscheidung ist, dass ich nicht von seinen Worten beeinflusst werde. Deshalb ist er nicht hier.
Die Erkenntnis trifft mich mit Macht: Ich weiß das. Ich weiß, was er denkt. Ich kenne ihn. Diese Gedanken sind tröstlich. Ja, ich kenne ihn, und zwar in den Belangen, die wichtig sind.
Ich drehe mich um, sehe auf die Uhr vor der Küche und schlucke heftig. Es ist jetzt fast sechs. Ich habe eine Stunde, um mich zu entscheiden, ob ich mit Chris das Land verlasse – und um zu packen.
Ich lasse mich auf den Boden sinken und lehne mich an das Fenster, an dem ich in jener ersten Nacht gelehnt habe, als er mich hergebracht hat. Ich bin erschöpft und fühle mich genauso nackt und ungeschützt wie damals.
Eine Stunde. Ich habe eine Stunde, bis ich zum Flughafen muss, falls ich beschließe, mit ihm zu gehen. Meine Jeans sind schmutzig, weil ich mich auf dem Boden gewälzt habe, während eine Verrückte versuchte, mich zu töten, und mein Haar fühlt sich an wie ein langer dunkler Vorhang, ebenso schwer wie mein Herz. Ich brauche eine Dusche. Ich brauche Schlaf.
Und ich muss eine Entscheidung treffen, sofort.
Bekleidet mit einem Jogginganzug aus weichem schwarzem Samt und mit einer Tasche über der Schulter starre ich auf das Gate mit der Aufschrift DFW/Dallas und Paris. Das Herz schlägt mir bis zum Hals.
Ich bin hier. Ich habe eine Tasche über der Schulter. Ich habe eine Bordkarte. Ich hole mühsam Luft und stehe kurz davor zu hyperventilieren, etwas, das ich in meinem ganzen Leben nur zweimal getan habe. Einmal, als ich hörte, dass meine Mutter an einem Herzinfarkt gestorben war, und einmal, als ich in Rebeccas Lagerraum war und das Licht ausging. Warum es mir jetzt so geht, weiß ich nicht. Ich habe einfach das Gefühl, so verdammt wenig Kontrolle zu haben.
Mein Name wird über Lautsprecher ausgerufen. Ich muss an Bord gehen.
Irgendwie trete ich vor und hebe die Hand, um die Frau am Schalter wissen zu lassen, dass ich hier bin. Ich reiche ihr mein Ticket, ohne sie wirklich zu sehen, und meine Stimme ist rau, als ich auf Fragen antworte, an die ich mich zwei Sekunden später nicht mehr erinnere. Ich muss dieses komische Atmen unter Kontrolle bekommen, bevor ich noch ohnmächtig werde, denn ja, ich hyperventiliere definitiv. Ich hasse meine eigene Schwäche. Wann hört das endlich auf?
Mit wackeligen Knien hebe ich meine Louis-Vuitton-Reisetasche hoch. Chris hat sie mir gekauft, als wir nach Napa gereist sind, um seine Paten zu besuchen.
Endlich habe ich es in die Gangway geschafft. Ich komme um die Ecke, und mein Herz setzt einen Schlag aus. Chris steht an der Tür des Flugzeugs und wartet auf mich, und er sieht so männlich aus und ist einfach Chris in seinen Jeans, seinem dunkelblauen T-Shirt und den Bikerstiefeln. Mit seinem Eintagebart und dem langen blonden Haar, das wunderbar wild aussieht, als hätte er es gerade mit den Fingern durchgestrubbelt. Alles andere verblasst neben ihm, und alles in meiner Welt ist richtig.
Ich laufe auf ihn zu, und er kommt mir auf halbem Weg entgegen und zieht mich in seine warmen, starken Arme. Sein kraftvoller erdiger Duft, nach dem ich süchtig bin, betört meine Sinne, und ich fühle mich lebendig, atme frei, stehe fest mit beiden Beinen auf dem Boden, ohne den geringsten Zweifel in mir. Ich gehöre zu Chris.
Ich umarme ihn und drücke mich an seinen harten Leib. Sein Mund senkt sich auf meinen herab, und sein Geschmack, würzig und männlich, überwältigt mich mal wieder.
Ich bin zu Hause. Ich bin zu Hause, weil ich bei ihm bin. Und ich küsse ihn, als würde ich ihn nie wieder küssen, als würde ich verdursten und er sei alles, was meinen Durst stillen kann. Und so ist es wohl. Er war immer die Antwort auf die Frage, was in meinem Leben fehlte, noch bevor ich ihn kennengelernt habe.
Er reißt seinen Mund von meinem los, und ich will ihn zu mir zurückziehen, um ihn nur noch ein kleines Weilchen länger zu kosten. Ich atme wieder heftig, aber jetzt vor Verlangen und Leidenschaft.
Er streicht mir mein seidiges, frisch gewaschenes Haar aus dem Gesicht und schaut mit ernsten grünen Augen auf mich herab. »Sag mir, dass du hier bist, weil du hier sein willst, nicht weil ich dich dazu gezwungen habe.«
»Du musst nicht ohne mich fortgehen«, verspreche ich ihm, und ich hoffe, er versteht, was ich meine. Ich habe nicht gesagt, dass er nicht fortgehen muss. Ich habe gesagt, er muss es nicht ohne mich tun.
Dass er versteht, zeichnet sich sofort in seiner Miene ab und zeigt sich in der Tiefe seines tastenden Blicks. »Ich will dich nicht zwingen«, sagt er, und seine Stimme klingt rau, gequält. Dieser Mann lebt in einem gepeinigten Zustand, von dem ich mir sehnlichst wünsche, ihn beenden zu können. Er zögert. »Ich brauchte nur …«
»Ich weiß, was du brauchtest«, flüstere ich und lege einen Finger auf sein Kinn. Endlich verstehe ich, was ich schon vorher hätte verstehen sollen. »Du musstest wissen, dass ich dich genug liebe, um dies für dich zu tun. Du musstest das wissen, bevor du mich das hier entdecken lassen kannst – und alles, was ich in Paris entdecken werde.«
»Mr Merit, Sie müssen jetzt an Bord gehen«, ruft eine Stewardess von der Tür aus.
Keiner von uns reagiert. Wir schauen einander an, und ich sehe Gefühle über Chris’ Gesicht huschen, Gefühle, die er nur mich sehen lässt. Und das bedeutet mir alles. Er will, dass ich sehe, was er niemals irgendjemandem sonst gezeigt hat.
»Die letzte Chance, noch zu verschwinden«, sagt er leise, und da liegt ein rauer, zögerlicher Ton in seiner Stimme und eine Prise von etwas in seinen Augen, von dem ich glaube, es ist Furcht. Furcht, dass ich mich umdrehe und wegrenne?
Ja, so ist es, aber da ist noch mehr. Er hat auch Angst davor, dass ich nicht wegrenne, Angst davor aufzudecken, was er noch nicht offenbart hat. Und es ist schwer, sich davor nicht zusammen mit ihm zu fürchten, da ich bereits etwas von Chris’ ziemlich dunkler Seite gesehen habe. Was erwartet uns in Paris? Was wird mich erschüttern, wenn ich es entdecke?
»Mr Merit …«
»Ich weiß«, sagt er scharf, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Es wird Zeit. Sara …«
»Was es auch ist«, sage ich, »ich werde damit fertig. Wir werden damit fertig.« Ich denke daran, wie er mit meinem Ex und meinem Vater für meine Ehre gekämpft hat. Chris gibt mir, was ich will, indem er die geschlossenen Türen seines Lebens und seiner Gefühle öffnet, und ich werde dafür sorgen, dass es ihm nicht leidtut. Ich werde für ihn kämpfen – und für uns.
Ich schiebe meine Hand in seine. »Lass uns nach Paris fliegen.«
Im Flugzeug wird meine Hoffnung auf etwas Privatsphäre schnell zunichtegemacht, als wir vor der ersten Reihe stehen bleiben und ich eine ältliche Frau in einer leuchtend roten Bluse entdecke, die auf dem Gangplatz neben uns sitzt. Sie schenkt mir ein Lächeln, ebenso keck und freundlich wie ihre Bluse. Ich schaffe es, ihr Lächeln zu erwidern, obwohl ich ziemlich durcheinander bin, ganz zu schweigen davon, dass ich mich in Flugzeugen generell unwohl fühle.
Chris bedeutet mir weiterzugehen, und ich setze mich ans Fenster, während er meine Tasche ins Gepäckfach legt. Ich bin fasziniert von diesem Mann, der zu meiner Welt geworden ist. Mein Blick zeichnet die attraktiven Linien seines Gesichts nach, die breiten Schultern und Muskeln unter seinem eng anliegenden T-Shirt. Und allein der Gedanke daran, wie herrlich kräftig er aussieht, wenn er nichts als das leuchtende Drachentattoo aus Rot-, Gelb- und Blautönen trägt, jagt Hitzewellen durch meinen Körper. Ich liebe diese Tätowierung und die Verbindung, die sie zu der Vergangenheit darstellt, die ich nun zur Gänze entdecken werde. Ich liebe ihn.
Nachdem er das Gepäckfach geschlossen hat, sagt Chris irgendetwas zu unserer ältlichen Platznachbarin. Sie lächelt zur Antwort, und auch ich lächele, bis ich einen Moment der Trostlosigkeit in Chris’ Augen erhasche, der mich an den Schmerz erinnert, den er unter all seinem sexy Charme versteckt. Meine Entscheidung, mit ihm nach Paris zu reisen, war absolut richtig. Irgendwie werde ich dafür sorgen, dass dieser Schmerz weggeht.
Als sich Chris auf den Sitz zwischen mir und unserer Reisegefährtin setzt, betrachte ich das Pflaster auf seiner Stirn und den Verband um seinen Arm. Ich wusste, dass er gestern Abend einen Streifschuss am Kopf abbekommen hat, aber von seinem Arm wusste ich nichts.
Mir wird flau. Als er sein Bike auf den Rasen geworfen hat, um mir das Leben zu retten, hätte er leicht selbst sterben können. »Wie geht es dir?«, frage ich und berühre sanft den Verband.
»Die Kopfverletzung ist weniger schlimm, als ich dachte. Das am Arm hatte ich erst gar nicht gemerkt, aber einige Stiche, und es war in Ordnung.« Seine Hand bedeckt meine – groß und warm und wunderbar. »Und die Antwort auf deine Frage ist: Mir geht es hervorragend. Du bist hier.«
»Chris.« Sein Name kommt als ein seidiges Knistern aufgestauter Gefühle aus meinem Mund. Es gibt so viel Unausgesprochenes zwischen uns. Eine solche Anspannung, die von dem Streit herrührt, den wir hatten, bevor ich zu Marks Haus aufgebrochen bin und er mir gefolgt ist. »Ich …« Gelächter aus der Reihe hinter uns lässt mich verstummen und ruft mir ins Gedächtnis, dass wir nicht allein sind. »Wir müssen …«
Er beugt sich vor und küsst mich, eine sanfte Liebkosung seiner Lippen auf meinen. »Reden. Ich weiß. Und das werden wir auch. Wenn wir nach Hause kommen, werden wir alles regeln.«
»Nach Hause?«
»Baby, ich habe es dir doch gesagt.« Er fädelt seine Finger zwischen meine. »Was mein ist, ist dein. Wir haben ein Zuhause in Paris.«
Natürlich hat er ein Zuhause in Paris. Ich habe bisher nur nicht darüber nachgedacht. Dann senke ich den Blick auf unsere verschlungenen Finger und frage mich: Wird sein Zuhause in Paris auch zu meinem werden?
Chris berührt mich am Kinn, und ich sehe ihn an. »Wir werden alles regeln, wenn wir dort sind«, wiederholt er.
Ich schaue ihm forschend ins Gesicht und suche nach der Sicherheit in seinem Versprechen, die ein Mann, der immer alles unter Kontrolle hat, ausstrahlt, finde sie aber nicht. Sein verhangener Blick zeugt von Zweifeln. Chris ist sich nicht sicher – und weil er es nicht ist, bin ich es auch nicht.
Aber er will es so, und ich will es auch. Seine Worte müssen fürs Erste genügen, aber wir beide wissen, dass es nicht genug für die Zukunft ist. Nicht mehr.
Freitag, 13. Juli 2012
Ich habe ihn angerufen.
Ich hätte ihn nicht anrufen sollen, aber ich habe es getan, und es war beinahe mein Untergang. Allein schon zu hören, wie er mit dieser vollen samtigen Stimme »Rebecca« gesagt hat. Morgen soll ich nach Australien aufbrechen, und ich bin mir nicht sicher, ob ich es kann. Ich bin mir nicht sicher, ob es meinem neuen Mann gegenüber fair wäre – nicht, da ich nun weiß, dass ich immer noch in meinen Meister verliebt bin.
Und heute Nacht war er anders. Er war mehr als ein Meister. Heute Nacht war er ein Mann, der mich als Frau zu erkennen schien, nicht nur als Sub. Ich habe Verletzlichkeit in seiner Stimme gehört. Ich habe nackte Bedürftigkeit wahrgenommen und sogar ein Flehen. Kann ich wagen zu glauben, dass er bereit ist zu entdecken, dass Liebe existiert?
Jetzt schwimme ich im Meer seines Versprechens, dass sich alles ändern wird, wenn ich nach Hause komme. Er hat in San Francisco angerufen und in seinem Haus, meinem Zuhause. Er will, dass ich wieder bei ihm einziehe. Es wird keinen Vertrag zwischen uns geben. Es wird nur uns geben.
Ich will uns. Ich brauche uns. Warum also beschleicht mich diese beängstigende Ahnung, dieses tiefe ungute Gefühl? Dasselbe Gefühl, das ich hatte, als ich diese schrecklichen Albträume von meiner Mutter hatte? Was gibt es nach meiner Entscheidung, zu ihm zu gehen, anderes als Kummer zu befürchten? Und es ist ein wenig Kummer wert, die Wahrheit über uns herauszufinden. Herauszufinden, ob wir das sein können, was wir immer geglaubt haben.
Ich blinzele mich wach und bin noch ganz schlaftrunken, als ich Chris schlummernd neben mir liegen sehe. Der Schall irgendeiner Ankündigung durchdringt meine Benommenheit, und ich erinnere mich daran, dass ich in der ersten Klasse des Flugzeugs sitze, das wir vor vielen Stunden in Dallas bestiegen haben. Eine der Flugbegleiterinnen ist auf Französisch durch den Lautsprecher zu hören, und das einzige Wort, das ich verstehe, ist »Paris«.
Ich konzentriere mich auf Chris, dessen sinnlicher Mund entspannt ist; sein Haar ist ein zauberhaftes Chaos. Ich muss lächeln, wenn ich daran denke, wie er reagieren würde, wenn man ihn zauberhaft nennt, und meine Finger wandern zu seiner Wange und zeichnen sanft sein starkes Kinn nach. Er ist so schön – nicht auf klassische Weise wie Mark, sondern rau und so vollkommen männlich. Ich weiß nicht mal, ob ich Mark noch immer gut aussehend finde. Ich bin mir überhaupt nicht mehr sicher, was ich über Mark denke.
Chris’ Lider heben sich, und seine strahlend grünen Augen finden meine. »Hey, Baby.« Er ergreift meine Hand, mit der ich ihm über die Lippen gestrichen habe, und küsst meine Handfläche. Die Berührung erzeugt ein Kribbeln meinen Arm hinauf und über meine Brust. Es lässt sich tief in meinem Bauch nieder.
»Hey«, antworte ich. »Ich glaube, wir werden gleich in Paris landen.« Die Flugbegleiterin beginnt englisch zu sprechen, und bestätigt, was ich vermutet hatte. »Die Ankündigung davor war auf Französisch, und wie du weißt, spreche ich kein Französisch.«
»Das werden wir ändern«, verspricht er mir, während wir unsere Rückenlehnen aufrecht stellen.
Ich stoße ein gedämpftes Schnauben aus. »Mach dir keine Hoffnungen. Der Fremdsprachenteil meines Gehirns funktioniert nicht.« Ich streiche mir das Haar aus dem Gesicht und bin überzeugt, dass ich wie ein Wrack aussehe. Wäre da nicht die Tatsache, dass Chris gesehen hat, wie ich mich übergeben habe und mich trotzdem liebt – vielleicht würde ich mich unsicher fühlen. Andererseits bin ich wahrscheinlich zu müde, um unsicher zu sein.
»Du wirst überrascht sein, wie leicht du die Sprache aufgreifst, wenn du erst im Land bist«, verspricht er mir. »Wie wär’s, wenn ich dir eine kleine Lektion erteile, während wir zum Landeanflug ansetzen? Ich weiß, das ist der Teil des Flugs, den du am meisten hasst. Es wird dich von der Landung ablenken.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin zu müde, um Angst vor dem Abstürzen zu haben, und zu müde, um mit einer Französischlektion fertigzuwerden.«
»Je t’aime.«
»Ich liebe dich auch«, sage ich, denn ich habe genug ferngesehen, um zu wissen, was diese Worte bedeuten. Aber das ist auch schon mein ganzes Französisch.
Er verzieht die Lippen auf diese typische erotische Art. »Montrez-moi quand nous serons rentrés.«
Die Art, wie die Worte von seiner Zunge rollen, sendet einen Schauer purer weiblicher Anerkennung über meinen Rücken. Ich habe einen triftigen Grund gefunden, die französische Sprache zu mögen. »Ich habe keine Ahnung, was du gerade gesagt hast, aber es klang höllisch sexy.«
Chris beugt sich vor, bis er mir ganz nahe ist, und lässt die Lippen über meinen Hals wandern. »Woraufhin ich wiederhole«, murmelt er, »montrez-moi quand nous serons rentrés. Zeig mir, dass du mich liebst, wenn wir nach Hause kommen.«
Auf einmal bin ich nicht mehr annähernd so müde wie zuvor, sondern freue mich auf dieses neue Zuhause. Was soll hier in Paris schon schiefgehen? Es gibt Kunst und Kultur und Geschichte. Es gibt neue Abenteuer. Es gibt das Leben zu leben. Und ich bin bei Chris.
Als wir aus dem Flugzeug steigen, zwinge ich mich, Aufregung darüber zu empfinden, in Paris zu sein, der Stadt der Lichter und der Romantik, aber es gelingt mir nicht. Ich bin müde bis in die Knochen, und dieses Gefühl überrollt mich. Selbst Chris gibt zu, dass er Ruhe braucht. Ich kann aufrichtig sagen, dass ich mich darauf freue, sehr bald mit Chris in einem richtigen Bett zu schlafen.
Wir steigen die Gangway hinunter und betreten den Flughafen, der so ziemlich aussieht wie jeder andere. Schilder auf Englisch und Französisch weisen uns den Weg. Zu Hause in den Staaten wären die Schilder auf Englisch und Spanisch, daher kommt es mir vertraut vor, und das ist tröstlich.
Dann treten wir an ein Transportband, das seltsam gewunden ist und aus einem Tunnel kommt.
Plötzlich sind unsere Taschen auf dem Transportband zu unseren Füßen, und Chris zieht mich an sich. Er beschützt mich mit seinen harten Muskeln. Ich sehe ihn nicht an, denn ich will nicht, dass er sieht, wie fertig ich bin. Außerdem ist er warm und wunderbar, und ich lege die Arme um ihn, atme seinen vertrauten Duft ein und rufe mir ins Gedächtnis, dass er der Grund ist, warum ich hier bin. Nur das zählt.
»Hey«, sagt er leise, lehnt sich zurück und legt mir einen Finger unters Kinn. Er erlaubt es mir nicht, seiner Inspektion zu entkommen.
Als ich ihm in die Augen sehe, sind sie voller Sorge. Es hört niemals auf, mich zu erstaunen und zu erfreuen, dass er einerseits so sanft und sensibel sein kann und andererseits ein Mann ist, der Schmerzen genießt.
Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und berühre kurz mit meinen Lippen seine. »Ich bin nur müde.« Meine Finger ersetzen meinen Mund auf seinem und zeichnen die sinnliche Kurve seiner Lippen nach.
Er greift nach meiner Hand und hält sie fest. »Du weißt, dass ich dir das nicht abkaufe, oder?«
Ich bringe ein erschöpftes Lächeln zustande. »Ich habe einfach Lust darauf, mit dir allein zu sein.« Und oh, wie wahr das ist.
Er streicht mir mit der Hand übers Haar, und seine Berührung ist schützend und besitzergreifend, und ich habe das Gefühl, dass er das Bedürfnis verspürt, mich festzuhalten, als könnte ich meine Meinung ändern und im nächsten Moment fortgehen. Er murmelt: »Dann wären wir schon zu zweit, Baby.«
Ich würde ihm versprechen, dass ich nirgendwohin gehe, aber ich bin mir nicht sicher, dass in diesem Punkt Worte eine Rolle spielen. Taten spielen eine Rolle, nämlich, dass ich hier bin. Dass ich den Sturm abwehre, den er kommen sieht, ohne das Schiff zu verlassen.
Sobald wir im Transitbereich sind, werden wir von Restaurants und Läden zu unserer Linken empfangen und von einer ewig langen Schlange vor den Sicherheitsschleusen, die sich scheinbar unendlich hinzieht. »Ich bin so unglaublich froh darüber, dass wir da nicht durch müssen«, schwärme ich erleichtert.
»Leider müssen wir genau das«, erwidert Chris grimmig. »Nämlich anstehen, damit unsere Pässe kontrolliert werden und wir die Haupthalle betreten können.«
Ich bleibe wie angewurzelt stehen und drehe mich zu ihm um. »Nein. Bitte sag mir, dass wir nicht in dieser Schlange stehen müssen, wenn ich so müde bin.«
Er rückt die Taschen auf seiner Schulter zurecht. »Es wird nicht so lange dauern, wie es aussieht.«
»Sagt die Empfangsdame in der gerammelt vollen Arztpraxis«, erwidere ich und seufze. »Ich muss zur Toilette, bevor ich mich in diese Schlange stelle.«
Er beugt sich vor und küsst mich auf die Stirn. »Klingt nach einem guten Plan. Ich werde auch gehen.«
Wir trennen uns vor den Toiletten. Vor mir ist eine Schlange von mindestens fünf Frauen, und es gibt nur zwei Waschbecken und zwei Kabinen. Das wird dauern.
Eine Frau unterzieht mich einer Musterung, während sie vorbeigeht, und ihr Blick verweilt auf meinem Gesicht. Ich frage mich, ob ich amerikanischer aussehe, als ich dachte. Nicht dass ich wüsste, wie eine Amerikanerin aussieht, aber ich sehe aus wie sie. Nehme ich an. Mein Handy piept, und ich ziehe es aus meiner Handtasche und finde eine Nachricht von meinem Provider vor, die mir im Wesentlichen mitteilt, dass ich ein kleines Vermögen ausgeben werde, wenn ich mein Telefon benutze, sofern ich es nicht umstelle. Eins der vielen Dinge, um die ich mich kümmern muss, fürchte ich.
Als sich die Schlange bewegt, schaue ich auf. Eine weitere Frau starrt mich an. Ist mir ein Malheur passiert, als ich mir im Flugzeug die Zähne geputzt und die Lippen geschminkt habe? Habe ich mir Lippenstift ins Gesicht geschmiert? Ich suche nach einem Spiegel, aber da ist keiner. Moment – kein Spiegel? Keine Amerikanerin würde sich so etwas gefallen lassen. Die Frauen in Europa können doch nicht so anders sein, oder?
»Gibt es hier irgendwo einen Spiegel?«, frage ich in die Runde und bekomme leere Blicke zur Antwort. »Spricht jemand von Ihnen Englisch?« Wieder nur leere Blicke und ein doppeltes Kopfschütteln. Na toll.
Davon überzeugt, dass ich verschmiert aussehe, seufze ich und wünschte, mein Kosmetikbeutel wäre in meiner Handtasche, zusammen mit einem Spiegel, statt in der Tasche, die Chris bei sich hat. Ich betrachte die Zeitanzeige auf meinem Handy und versuche erfolglos, mich auf die Zeitverschiebung einzustellen. Hier ist es früh am Morgen, und ich glaube, der Zeitunterschied zu San Francisco beträgt sechs oder acht Stunden. Oder sind es neun? Wie dem auch sei, wenn ich in absehbarer Zeit schlafen gehe, werde ich mich niemals an die Zeitveränderung gewöhnen.
Als ich den Waschraum endlich verlasse, tue ich es mit gehetzten Schritten und renne mit Volldampf gegen jemanden, der ziemlich hart und standfest ist. Aufkeuchend hebe ich den Blick, als starke Hände mich aufrichten, bevor ich falle. »Tut mir leid«, sage ich und blinzele einen großen Mann mit zerwühltem dunklen Haar und attraktiven Zügen an. Ich schätze ihn auf etwas über dreißig. »Ich wollte nicht …« Ich zögere. Spricht er überhaupt Englisch?
Er sagt etwas auf Französisch, dann fügt er ein »Pardon« hinzu, bevor er weitergeht.
Ein unbehaglicher Schauer rast über meinen Rücken, und das unerklärliche Verlangen, ihm zu folgen, lässt mich herumwirbeln. Da erblicke ich Chris.
Er zieht die Brauen hoch. »Stimmt etwas nicht?«
Ja. Nein. Ja. »Ich bin gerade mit einem Mann zusammengestoßen und …«
Chris flucht und greift nach meiner Handtasche, und als ich hinschaue, begreife ich, dass der Reißverschluss offen ist. Ich bin mir sicher, dass er vorher geschlossen war. »Oh nein«, sage ich und reiße die Tasche auf. Mein Portemonnaie fehlt. »Nein. Nein, nein, nein. Das kann nicht wahr sein. Er hat mein Portemonnaie gestohlen, Chris!«
»Was ist mit deinem Pass?«, fragt er gelassen und stellt die Taschen zwischen uns auf den Boden.
Meine Augen weiten sich, und ich wühle schnell nach meinem Ausweis. Mit einem Gefühl der Übelkeit schüttele ich den Kopf. »Er ist weg. Und jetzt?«
»Es ist okay, Baby. Ich habe vergessen, dir deine Versicherungskarte wiederzugeben; ich habe sie immer noch bei mir. Das wird uns mit ein klein wenig Aufwand die Einreise nach Frankreich verschaffen. Und du kannst die Karte im Konsulat benutzen, um einen neuen Reisepass zu bekommen.«
Ich hole tief Luft und stoße sie wieder aus. Die Art, wie er »uns« sagt, ist beruhigend. Ich bin nicht allein. Er ist auf jedem Schritt des Wegs bei mir, nicht nur hier und jetzt. Ich weiß das, und ich hätte zu gern, dass es sich nicht ändert. Es gehört zu den vielen Dingen, die mich heute auf den Flughafen geführt haben. »Gott sei Dank hast du meine Karte.«
Chris greift über die Taschen hinweg und liebkost meine Wange. »Ich hätte dich warnen sollen, wie schlimm die Taschendiebe hier sind.«
»Taschendiebe«, wiederhole ich. »Hier am Flughafen oder überall?«
»Überall da, wo Touristen sind.« Er hängt sich die Taschen wieder über die Schulter.
Willkommen im Land der Romantik, denke ich, aber andererseits hat es mir nie gutgetan, romantisch zu sein. »Ich muss meine Kreditkarten-Firmen anrufen, und ich habe keinen Handyvertrag, mit dem ich mir das leisten könnte.«
»Du kannst mein Handy benutzen, wenn wir durch die Kontrolle sind.«
Ich nicke, ziehe den Reißverschluss meiner Tasche zu, hänge sie mir schräg über die Schulter und halte sie fest. Mein Leben gerät außer Kontrolle, und ich bin dankbar dafür, dass Chris wie ein Fels ist, sonst würde ich vielleicht schlicht und einfach in Panik geraten. Es ist nicht so, dass ich zurück über die Grenze flitzen will, obwohl ich mir gar nicht sicher bin, ob ich sie technisch längst überschritten habe. Ich könnte jetzt nicht in die Staaten zurückkehren, wenn ich es wollte; ein Fremder hat mir diese Freiheit genommen. Und ich mache mir Sorgen, weil meine persönlichen Daten in den Händen einer unbekannten Person sind.
Ich tröste mich mit der Tatsache, dass er meine Pariser Adresse nicht hat; die habe ich noch nicht einmal selbst.
Dann schaue ich zu Chris auf, und mich durchfährt dieses vertraute Gefühl der Intimität zwischen uns. Also korrigiere ich die Feststellung. Doch, ich kenne meine Adresse. Sie ist bei Chris.
Nachdem wir eine Stunde lang von den Einreisebeamten in die Mangel genommen worden sind, haben Chris und ich unsere Taschen auf einem Wagen und sind bereit, den Flughafen zu verlassen. Wir bleiben an den Schiebetüren unter einem Taxischild stehen.
»Ich werde einen Limousinenservice mit Fahrer für uns suchen«, eröffnet Chris mir. »Du bleibst bei den Taschen.«
Ich schürze die Lippen. »Ja, Meister.«
Er zieht eine Augenbraue hoch. »Wie kommt es, dass ich dich immer nur dazu bringen kann, das sarkastisch zu sagen?«
»Weil du dir selbst zufolge«, rufe ich ihm ins Gedächtnis, »nicht willst, dass ich dich Meister nenne.«
»Willst du damit sagen, du würdest es tun, wenn ich es wollte?«
»Auf keinen Fall.«
Chris lacht kehlig, es ist sexy und Balsam für meine Nerven. »Themenwechsel«, sagt er und zieht mich an sich. Er hat einen Glanz in den Augen, den ich zu selten sehe. »Das Viertel, zu dem wir uns aufmachen werden, ist der Times Square von Paris. Du wirst es lieben.« Er beugt sich vor und küsst mich. »Ich bin gleich wieder da.«
Ich schaue ihm nach, beobachte seinen erotischen Gang und erwärme mich für die Entscheidung, hierhergekommen zu sein. Und ich weiß, wie sehr er auch letztlich fürchtet, wie es mit uns hier ausgeht – auch er brennt darauf, mir Paris zu zeigen. Und ich brenne darauf, es mit ihm zu sehen.
Ich warte begierig auf seine Rückkehr, um meine Aufregung mit ihm zu teilen, aber zu meiner Enttäuschung scheint es einige Minuten zu dauern. Seufzend schnappe ich mir mein Handy, um es umzustellen. Ich bin fast fertig, als Chris wieder herbeigeeilt kommt, mit einem Mann, von dem ich annehme, dass er der Fahrer ist. Allein zu beobachten, wie sich Chris bewegt, muskulös und selbstbewusst, lässt mein Herz einen Schlag aussetzen. Wahrscheinlich werde ich immer auf den ersten Moment reagieren, in dem ich ihn sehe, und das lässt mich lächeln.
»Bist du bereit?«, fragt er, während ich versuche, meine Handyumstellung zu Ende zu bringen. Der Fahrer übernimmt unseren Gepäckwagen, und wir folgen ihm. An der Autotür warte ich auf Chris, während er dem Fahrer hilft, unsere Taschen in den Kofferraum zu laden.
Als er sich zu mir gesellt und mir die Tür aufhält, umarme ich ihn, dann hebe ich den Kopf, um ihm in die Augen zu schauen. »Ich will dich nur wissen lassen, dass ich verstehe, warum du dies so regeln musstest – aber ich wäre in jedem Fall mitgekommen. Ich bin froh, dass ich hier bei dir bin.« Ich will ihn rasch und flüchtig küssen. Zu meinem Schreck – wenn man bedenkt, was für ein zurückhaltender Mensch er ist – fährt Chris mir mit der Hand ins Haar, legt sie um meinen Hals und drückt seinen Mund auf meinen. Ich stöhne, während seine Zunge meine liebkost und tief in meinen Mund vordringt.
»Ich bin auch froh, dass du hier bist«, versichert er mir, löst seinen Mund von meinem und schiebt mich von sich weg, als wäre er nicht mehr in der Lage dazu, wenn er noch länger wartete. Als wollte er mich gleich hier nehmen, jetzt sofort. Und nur er kann die einst konservative Lehrerin dazu bringen, sich genau das zu wünschen.
Ich befeuchte meine Lippen, und sein heißer Blick folgt meiner Zunge. Prompt kribbelt es überall, und mir wird innerlich und äußerlich heiß. Jemand ruft etwas auf Französisch, und Chris wendet sich dem Sprecher zu. Auch ich schaue hoch.
Ich sehe den Kopf des Fahrers über dem Autodach, als sei er eingestiegen und wieder herausgesprungen, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Chris antwortet ihm auf Französisch, dann richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. Seine Mundwinkel zucken, und seine Augen glitzern vor Erheiterung. »Er will wissen, ob wir bereit sind.«
Wir fangen an zu lachen. »Wir sind definitiv bereit«, sage ich und steige ein.
Fünfundvierzig Minuten später habe ich meine Kreditkarten sperren lassen, und unser Fahrer hat uns durch den morgendlichen Verkehr zur Avenue des Champs-Élysées geschleust, der berühmten Straße, die von imposanten alten Gebäuden voller Läden und Cafés gesäumt ist. Als wir am Arc de Triomphe vorbeifahren, mache ich mit meinem Handy Fotos. Seine spektakulären Ziselierungen sind beleuchtet und schimmern in dem Zwielicht der kurzen Pariser Wintertage. Und auch wenn ich schwören würde, dass ich eigentlich Gemälde Stahltürmen bei Weitem vorziehe, reiße ich die Augen auf, als der Eiffelturm in Sicht kommt, dessen Lichter vor dem tintengrauen Himmel funkeln. Es gab eine Zeit, da dachte ich, ich würde ihn niemals sehen … genauer gesagt dachte ich, ich würde überhaupt nicht viel von der Welt sehen.
Wir biegen in eine schmale Nebenstraße ein, die mit Sandsteinhäusern gesäumt ist, und ich runzele die Stirn, als ich all die winzigen Autos am Bordstein parken sehe. Sie wirken schrecklich klapprig.
»Bitte, sag mir, dass du keinen von denen fährst«, murmele ich.
»Nein«, versichert Chris mir und lacht lauthals. »Meine Harley ist das Kleinste, mit dem ich jemals fahre.«
Plötzlich sehe ich ihn vor mir, wie er auftaucht, nachdem er mich wochenlang aus seinem Leben ausgeschlossen hat, und mir befiehlt, auf seine Harley zu steigen, und das in einem Rock. Es ist eine unwillkommene Erinnerung, die ich beiseite schiebe. Ich gestatte mir keine Sorgen, dass er mir das noch einmal antun könnte. Vor allem nicht heute.
Ich bin am Leben, was ein Geschenk ist, das ich mehr denn je zu schätzen weiß.
Außerdem bin ich bei Chris.
Und ich bin in Paris, was ich ihm zu verdanken habe. Alle anderen hätten mich am liebsten eingesperrt.
Ich beuge mich vor und küsse ihn auf die Wange.
»Wofür ist der?«, fragt er und legt seinen starken Arm um meine Taille.
Mir fallen eine Million Antworten ein und eine Million Dinge, die ich sagen will, aber ich antworte nur: »Dafür, dass du du bist.«
Die Zärtlichkeit in seinem Gesicht lässt die letzten Überreste meiner bösen Erinnerung schmelzen. »Wenn das die Reaktion ist, die ich auf ein wenig Sightseeing bekomme, kann ich kaum erwarten, dass du die Kunstgalerien siehst. Du wirst durchdrehen, Baby.«
Sein Handy klingelt, und mit einem offensichtlichen Widerstreben, für das ich ihn liebe, lässt er mich los.
»Es ist Blake«, verkündet er, nachdem er auf das Display geblickt hat.
Der Name wirkt wie ein kalter Guss Wasser. Da Blake Nachforschungen über das Verschwinden von Rebecca und Ella angestellt hat, ist absolut unsicher, ob ich gute oder schlechte Nachrichten erwarten kann.
»Ganz ruhig, Baby«, murmelt Chris und streicht mir mit der Hand über den Arm, als spürte er mein plötzliches Frösteln. »Es ist alles gut.«
Aber das bezweifle ich. Wer hätte gedacht, dass die verschwundene Rebecca tot ist, ermordet von jemandem, den wir alle kannten? Wie soll ich jemals wieder annehmen, dass irgendetwas gut ist?
Chris legt mir die Hand aufs Bein, während er den Anruf annimmt, und seine beschützende Geste pflanzt mir einen Kloß in die Kehle. Ich sollte für ihn da sein, dabei benimmt er sich wie mein Prinz.
Und er ist mein Prinz. Mein dunkler, geschädigter, hinreißender Prinz. Meine Vorstellung von Perfektion. Jetzt muss ich nur noch ihn dazu bringen, das zu glauben.
»Erzählen Sie mir, dass Sie gute Neuigkeiten über Ella haben«, sagt Chris und lauscht, bevor er mich ansieht. Sein sinnlicher Mund wird schmal. »Weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes«, erklärt er mir.
Ich nicke und schaue aus dem Fenster, nehme aber nichts da draußen wahr. Es hat auch von Rebecca monatelang keine Neuigkeiten gegeben, und ihr Ende war Mord. Das einzige Ende, das Ella blühen soll, ist Glück bis in alle Ewigkeit, gemeinsam mit ihrem neuen Ehemann.
Mir kommt eine Idee, und ich kann kaum fassen, dass mir das Offensichtliche entgangen ist. Eine Hochzeit – Ella hatte eine Hochzeit! Dafür würde es einen Nachweis beim Standesamt geben. Ob Blake daran gedacht hat?
Ich berühre Chris am Arm.
»Check deine Nachrichten«, sagt er zu mir, bevor ich meine Frage stellen kann. »Schau, ob du eine übersehen hast.« Sein Ton ist nonchalant, aber die subtile Anspannung in ihm macht mich unruhig.
Ich runzele die Stirn und greife nach meinem Handy, außerstande, seinen Gesichtsausdruck in dem von Scheinwerfern durchflackerten Dämmerlicht des Fonds zu deuten. Als ich durch meine Nachrichten scrolle, bemerke ich eine unbekannte Telefonnummer aus San Francisco im Papierkorb. »Tatsächlich, ja, ich habe eine Nachricht bekommen, sie aber für Werbung gehalten, also habe ich sie nicht angehört.« Ich will auf Wiedergabe drücken, zögere jedoch, um auf das zu lauschen, was Chris sagt. Ich will dahinterkommen, was los ist.
»Sie wird es sofort tun«, versichert Chris Blake. »Und ja, ich gebe Ihnen Bescheid.« Er beendet den Anruf. »Der Beamte, der Rebeccas Fall federführend bearbeitet, will dir einige weitere Fragen stellen.«
Ich habe keine Ahnung, was ich von ihm zu hören erwartet habe, aber gewiss nicht das. Brüsk schüttele ich den Kopf und will mein Handy wegstecken. »Ich kann im Moment nicht darüber nachdenken. Ich werde ihn morgen anrufen, nachdem ich mich ausgeruht habe.«
»Anscheinend ist es dringend. Der Beamte ist bei uns vorbeigekommen und hat mit Jacob geredet. Jacob hat versucht, uns anzurufen, hat aber immer nur ein Besetztzeichen bekommen. Er und Blake haben seit Stunden versucht, uns zu erreichen.«
Ich befeuchte meine plötzlich ausgedörrten Lippen. »Was könnte so dringend sein? Sie haben mich vor weniger als einem Tag befragt.«
»Das ist nicht ungewöhnlich; sie werden sich so schnell wie möglich mit Ava beschäftigen wollen. Und die Anklage gegen sie wird sich nicht nur um Rebecca drehen. Sie werden sie auch wegen des Angriffs auf dich anklagen.«
Das weiß ich natürlich, aber ich habe mir bisher nicht gestattet, darüber nachzudenken, was es bedeutet. Es ist alles zu brutal, zu viel, gerade jetzt.
Glücklicherweise fährt der Wagen vor einem beeindruckend hohen eisernen Tor vor, eine willkommene Ablenkung von dem Gespräch über Ava.
Chris kurbelt sein Fenster herunter, um einen Code auf einem Zahlenblock einzugeben, dann kurbelt er es wieder hoch. »Du wirst höchstwahrscheinlich bei Avas Verhandlung aussagen müssen, und die Polizei muss eine wasserdichte Beweiskette zusammenstellen, um eine Verurteilung zu garantieren.«
»Na klar«, antworte ich. »Ja. Natürlich. Und ich will das auch. Ich werde dort anrufen.« Ich schaue auf meine Weltuhr und hoffe auf eine weitere Atempause. »In den Staaten ist es fast elf Uhr abends, nicht wahr?«
»Sie sind acht Stunden zurück, also ja, es ist spät, aber anscheinend arbeitet der Beamte in der Nachtschicht.«