Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien / MA7
Wissenschafts- und Forschungsförderung
Brodnig, Ingrid: Der unsichtbare Mensch –
Wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert / Ingrid Brodnig
Wien: Czernin Verlag, 2014
ISBN 978-3-7076-0484-9
© 2014 Czernin Verlags GmbH, Wien
Lektorat: Josef Rabl
Umschlaggestaltung: Sensomatic
Foto: Heribert Corn
Satz: Burghard List
Produktion: www.nakadake.at
ISBN E-Book: 978-3-7076-0484-9
ISBN Print: 978-3-7076-0483-2
Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe
in Print- oder elektronischen Medien
Demokratie braucht Debatte. Sie lebt von der Einmischung der Bürgerinnen und Bürger. Ohne diese ist sie verloren; degeneriert zu einem dumpfen Abstimmungsformalismus, in dem das Zählen der Stimmen die Auseinandersetzung um den Kurs der Gesellschaft ersetzt hat. Wahlen sind nicht der Gipfel der Demokratie – der ist, was davor passiert: die persönlichen Gespräche und öffentlichen Debatten, in denen Meinungen nicht nur aufeinandertreffen, sondern durch den Austausch geschärft, aber auch geformt werden.
Damit Demokratie funktioniert, müssen die Menschen offen miteinander reden können, ihre Meinungen auch öffentlich äußern können, ohne Angst. Es mag uns nicht immer bewusst sein, aber jede Meinungsäußerung ist ein Akt von Courage. Denn wer sich äußert, macht sich angreif- und damit verwundbar. Wer sich äußert, legt den Panzer der Indifferenz ab, der die Einzelnen zu schützen scheint, aber die Demokratie unterminiert.
Wenigstens das Grundrecht auf Meinungsfreiheit garantiert uns für unsere geäußerten Ansichten in der Regel, nicht vom Staat verfolgt zu werden. Aber kein Recht der Welt kann diese Verwundbarkeit gänzlich verhindern. Indem wir Stellung beziehen und unseren Standpunkt einnehmen, geben wir anderen die Möglichkeit, uns dafür anzugreifen.
Der Meinungsstreit mit offenem Visier funktioniert freilich nur so lange, wie eine Gesellschaft den Wert erkennt, der in der durchaus auch scharf formulierten Äußerung des Einzelnen liegt. Ist das nicht mehr der Fall, drängt eine Gesellschaft andere Meinungen an den Rand. Dann zwingt sie die kritischen Mitmenschen, ihre Visiere zu schließen, sich nicht mehr kenntlich, sondern nunmehr anonym einzubringen.
Wo Anonymität von immer mehr Menschen als notwendig empfunden wird, ist in Wahrheit der demokratische Prozess in Schieflage geraten und wird seiner Aufgabe nicht mehr gerecht, permissive Plattform für Vielfalt zu sein.
Früher nahmen die Bergleute Kanarienvögel mit, wenn sie unter Tage gingen. Denn die Vögel starben bei vergifteter Luft zuerst. Sie waren ein effektives Frühwarnsystem bei Gefahren im Bergwerk.
Anonymität ist ein effektives Frühwarnsystem unserer Demokratie. Je mehr Menschen gerade auch in digitalen Medien anonym bleiben wollen, desto schlechter geht unsere Gesellschaft mit Meinungsvielfalt um, und desto stärker ist unsere Demokratie in akuter Gefahr.
Denn das Problem ist nicht die Anonymität. Wer glaubt, sie bekämpfen zu müssen, kümmert sich lediglich um das Symptom, und lässt dabei die zugrunde liegende Ursache außer Acht. Dass trotzdem in so vielen Gesellschaften über die Einschränkung, ja das Verbot der Anonymität vor allem in digitalen Medien debattiert wird, zeigt, in welcher Schieflage unser Verständnis von Demokratie bereits ist.
Genau deshalb ist das vorliegende Buch von Ingrid Brodnig so wichtig: weil es um viel mehr geht als um die Frage, ob in Zukunft jemand mit Klarnamen online posten muss oder nicht. Es geht um nichts Geringeres als den Fortbestand unserer Demokratie. Erst wenn die Bürgerinnen und Bürger mit offenem Visier streiten wollen, sind wir als Demokratie am Ziel. Bis dahin erfüllt die Anonymität eine notwendige Funktion in unserer Gesellschaft und verdient in entsprechendem Umfang unsere Achtung.
Viktor Mayer-Schönberger, Oxford Internet Institute
Quelle: xkcd.com
Nehmen wir an, wir würden das Internet heute von Grund auf neu erfinden: Würden wir dann erneut Anonymität einprogrammieren? Oder würden wir das Experiment des anonymen Internets für gescheitert erklären und stattdessen ein Identifikationssystem einführen, bei dem jeder seinen Namen angeben muss, ehe er online irgendetwas tut oder postet?
Was wäre, wenn wir jede einzelne Website, die die Menschheit bisher kreiert hat, neu erfinden würden: Wäre dann erneut überall die Verwendung von Pseudonymen erlaubt? Oder würden viele Seiten die Klarnamenpflicht umsetzen, also vorschreiben, dass alle Mitglieder der Community ihren echten Namen angeben müssen?
Diese Fragen sind gar nicht so absurd, wie sie sich anhören mögen. Das Konzept der anonymen Kommunikation im Web wird immer mehr hinterfragt, sowohl von Bürgern als auch von Staaten. Viele Menschen sind entsetzt, was online unter dem Deckmantel der Anonymität alles geschrieben wird und welche Gemeinheiten verbreitet werden. Gleichzeitig haben Geheimdienste, Staaten und auch Internetkonzerne ein großes Interesse daran, zu wissen, wer sich hinter einem Onlinepseudonym versteckt. Das nützt der nationalen Sicherheit oder auch den eigenen wirtschaftlichen Interessen. Würde heute das Internet komplett neu erfunden, wäre es sehr fraglich, ob wir dann noch gleich viel Anonymität hätten.
Die Anonymität nimmt bereits ab: Der große Erfolg von Facebook erklärt sich auch dadurch, dass man dort unter seinem echten Namen verkehrt. Zunehmend denken große Medien und Onlinedienste über eine Abkehr von der Pseudonymität nach. Im August 2013 kündigte Arianna Huffington, Gründerin der »Huffington Post«, an, dass ihr Onlinemedium anonyme Kommentare verbieten wird. »Die Meinungsfreiheit soll Menschen dienen, die zu ihrer Meinung stehen und die sich nicht hinter der Anonymität verstecken«, erklärte sie, »wir müssen eine Plattform entwickeln, die die Bedürfnisse des erwachsen gewordenen Internets erfüllt.«1
1 Darrow, Barb: Huffington Post to end anonymous comments, online unter http://gigaom.com/2013/08/21/huffington-post-to-end-anonymous-comments/ (Stand: 26. September 2013, Übers. ins Deutsche von I. B.).
Das Internet hat sich verändert, es lässt sich nicht mehr von unserem Alltag trennen. Was Menschen online tun und sagen, hat wesentlich mehr Konsequenzen als noch vor 20 Jahren. Das wirft die Frage auf, ob wir online nicht auch mehr Rechenschaft benötigen und weniger Anonymität. Es ist also eine logische Konsequenz des heranreifenden Internets, dass wir nun die Klarnamendebatte führen, dass wir also darüber streiten, ob wir online unseren realen Namen angeben sollen beziehungsweise müssen. In Wahrheit ist aber auch die Klarnamendebatte nur ein Stellvertreterkrieg: Im Kern geht es darum, wie wir das menschliche Miteinander in digitalen Zeiten regeln wollen, wie wir ein Mindestmaß an Respekt wahren können.
Mit Sicherheit braucht es online einen respektvolleren Umgang, weil wir sonst als Gesellschaft die Fähigkeit verlieren, miteinander zu kommunizieren. Dieses Buch ist jedoch keine Brandschrift gegen die Anonymität. Ich plädiere weder für null noch für hundert Prozent Anonymität, sondern für eine komplexere Auseinandersetzung mit diesem Thema. Auch die Forschung zeigt, dass nicht allein die Namenlosigkeit für den Hass und die Respektlosigkeit im Netz verantwortlich ist – sie ist ein Faktor, aber nicht der einzige. Anhand von wissenschaftlichen Studien und konkreten Beispielen werde ich zeigen, wie sich das Gefühl der Unidentifizierbarkeit auf unser Verhalten auswirkt, wie es uns mitunter aggressiver, manchmal auch selbstloser macht.
Anonymität ist im Laufe der Geschichte zu einem Kampfbegriff geworden. Sehr oft geht es bei der Auseinandersetzung damit um ein viel tiefer liegendes Unbehagen am gesellschaftlichen Wandel. Um dies fundiert zu erklären, will ich zunächst den kulturgeschichtlichen Hintergrund beleuchten. In Kapitel 1 beschreibe ich die Geschichte des Wortes »Anonymität«, das über große Teile der Menschheitsgeschichte kaum Beachtung fand. Wie auch? Die meisten Menschen konnten nicht einmal lesen oder schreiben, da war eine korrekte Namensnennung wohl nicht das größte Problem. Mit der Zeit wurde das Thema Anonymität aber emotional aufgeladener, und im 18. und 19. Jahrhundert findet sich so manche Parallele zur gegenwärtigen Klarnamendebatte.
In Kapitel 2 gehe ich dann näher auf diesen Streit ein, erkläre, warum die Anonymität den frühen Internetpionieren so wichtig war und in welchen Fällen die Verhüllung des eigenen Namens auch heute von großer gesellschaftlicher Bedeutung ist. Dabei wird zum Beispiel der chinesische Cyberdissident Michael Anti zu Wort kommen, der sich im Netz eine neue Identität zugelegt hat und dadurch zu einem bedeutenden Kritiker der kommunistischen Führung wurde.
Gerade in einer Zeit, in der manch ein Staat ungeheure Überwachungsapparate aufbaut, ist es doch sehr gewagt, allzu sorglos auf Anonymität und Bürgerrechte zu verzichten. Das muss klargestellt sein, ehe ich in Kapitel 3 ein paar sehr dunkle Orte im Web aufsuche und die Verhaltensweisen des digitalen Mobs beschreibe. Die holländische Künstlerin Tinkebell etwa erhielt 100.000 Hass-Mails, die ihr mit dem Tod, der Vergewaltigung und anderem drohten, nachdem sie ihrer todkranken Katze für ein Kunstprojekt den Hals umgedreht hatte. Beispiele wie dieses und einige wissenschaftliche Studien sollen veranschaulichen, welchen Einfluss die Anonymität auf das menschliche Verhalten hat. Die Untersuchungen manch eines Forschers können auch Phänomene wie den Erfolg der Web-Enzyklopädie Wikipedia oder des Online-Kollektivs Anonymous erklären.
Die wichtigste Erkenntnis ist jedoch, dass Anonymität im Netz tatsächlich zu einem radikaleren Konzept wird. Man ist nicht nur namenlos, sondern auch gesichtslos. David Pogue, der bekannte frühere Technikkolumnist der »New York Times«, erklärte mir in einem Interview: »Online sieht einen niemand, hört einen niemand. Man ist anonym. Wenn man inmitten dieser Abermillionen Stimmen gehört werden will, neigt man dazu, zu schreien, schriller zu werden in seinen Aussagen. Mich betrübt das. Ich wünschte mir zutiefst, Menschen würden online mehr Räson annehmen.«2
2 Brodnig, Ingrid: »Online neigt man dazu, schriller zu werden, zu schreien«, in: Falter 38/12, 19. September 2012, S. 24.
Die ausschließlich textbasierte Kommunikation führt zu einem Gefühl der Unsichtbarkeit. Der Gesprächspartner weiß in der Regel nicht, wie man aussieht, wie man spricht, welche Gesten man macht und welchen Gesichtsausdruck man gerade hat. Gerade dieses Fehlen nonverbaler Signale führt dazu, dass Menschen harscher oder ungezügelter werden. Der Augenkontakt zum Beispiel hat eine aggressionshemmende Wirkung, er fördert sozusagen die Empathie. Eine der spannendsten Zukunftsfragen lautet daher: Wie können wir online Signale einbauen, die herkömmliche nonverbale Gesten ersetzen, und somit Menschen ermutigen, freundlicher auf ihr Gegenüber einzugehen?
Es ist nicht egal, ob Menschen online übereinander herfallen oder ob sie konstruktiv bleiben. Denn Hass hat eine extrem ansteckende Wirkung, wie ich in Kapitel 4 schildern werde. Vielerorts ist das Klima tatsächlich verseucht, wobei das oft auch an der Architektur des Webs liegt. Den Websites und ihren Nutzern fehlen die Tools, um die destruktiven User auszublenden und die konstruktiven Stimmen in den Vordergrund zu bringen. Noch.
Es findet nämlich gerade ein Umdenken statt. Immer mehr Medien und Onlinedienste wollen die Störenfriede nicht länger hinnehmen und vor allem auch zeigen, wie viele intelligente und sogar witzige Meinungen man online findet. Damit beschäftige ich mich in Kapitel 5, das konkret der Frage nachgeht, was der Staat, was Websitebetreiber oder jeder Einzelne tun kann, um online den Ton zu verbessern, und welche Rolle die Anonymität dabei spielt.
Wie können wir den Umgangston im Netz verbessern? Die Antwort lautet nicht, die Anonymität abzuschaffen, sondern mehr Verantwortung zu übernehmen. Websitebetreiber müssen sich dafür verantwortlich fühlen, was in ihren digitalen Räumen passiert, und jeder Einzelne muss lernen, seine eigenen Worte ernst zu nehmen und auf seinen Namen stolz zu sein – selbst wenn dieser Name nur ein Pseudonym ist. Das Internet ist auf dem Weg erwachsen zu werden. Teil dieses Prozesses ist, dass wir alle uns die Frage stellen, wie wir uns denn ein faires Miteinander online vorstellen.
Im Netz wird heute leidenschaftlich über Anonymität gestritten, die einen fordern das Ende der Namenlosigkeit, die anderen meinen, dass dies zu Zensur und Selbstzensur führen würde. Es handelt sich um eine der bedeutenden Debatte des 21. Jahrhundert, da es darin im Kern um die Frage geht: Wie soll öffentliche Rede in Zeiten des Internets aussehen?
Interessanterweise ist unsere Vorstellung von Anonymität ein vergleichsweise neues Konzept. Über große Teile der Geschichte war Anonymität kein Thema, weil sie Normalität und damit gar nicht groß der Rede wert war. Gerade in mündlich geprägten Kulturen spielte der eigene Name – und vor allem die Konservierung des eigenen Namens für spätere Generationen – keine große Rolle. Das beste Beispiel dafür ist das Mittelalter: Der Großteil der Bevölkerung konnte weder schreiben noch lesen. Nachnamen wurden erst langsam eingeführt, als die Menschen mobiler wurden.3 Bis auf ganz wenige Ausnahmen legten sogar die gefeierten Dichter keinen großen Wert darauf, ihren Namen für die Nachwelt zu verewigen. Urheberrecht und Autorenschaft waren den Menschen fremd. So schreibt der Minneforscher Harald Haferland: »Wenn die Sänger von Heldendichtung nicht mehr singen, verlieren sie die Rechte an einem Lied, das sie vielleicht selbst schon übernommen haben und dessen Stoff sie allemal zu übernehmen gewohnt sind.«4
3 Die Historikerin Gabriela Signori erklärt etwa: »In den spätmittelalterlichen Städten reichten die Vornamen nicht mehr aus, um den Einzelnen zu identifizieren. Mit der Größe der Städte hat dies wenig zu tun, obschon dies in der Forschung häufig zu lesen ist; ausschlaggebend für die Entwicklung war unseres Erachtens primär die hohe Mobilität, die die spätmittelalterlichen Städte auszeichnete.« Aus: Universität Konstanz: Im Gespräch mit Prof. Dr. Gabriela Signori und Dr. Christof Rolker, online unter http://www.aktuelles.uni-konstanz.de/im-gespraech-mit/archiv-2009/namen-in-spaetmittelalterlichen-stadtgesellschaften/ (Stand: 3. August 2013).
4 Haferland, Harald: Wer oder was trägt einen Namen? Zur Anonymität in der Vormoderne und in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Pabst, Stephan (Hrsg.): Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit. De Gruyter, Berlin 2011, S. 54.
Relevant wird die Anonymität erst, als breite Bevölkerungsschichten alphabetisiert wurden und sich ein neues Autorenverständnis entwickelte. Das ist etwa ab dem 18. Jahrhundert der Fall, einer Phase, die von Freiheitsdenken und bürgerlichen Aufständen geprägt war, ausgehend von der Französischen Revolution im Jahr 1789. In vielen Forderungen ging es damals um das Recht auf Privateigentum sowie auf Meinungsfreiheit. Viele Bürger wollten zu ihrer Meinung stehen können, ohne den Staat fürchten zu müssen. Zunehmend wollten auch die Schriftsteller Anerkennung und Geld für ihre Wortschöpfungen. Da immer mehr Menschen lesen konnten, entstand langsam eine Art Buchmarkt.5
5 Man muss sich das so vorstellen, dass das Verlagswesen auch lange Zeit eine Art Raubrittertum war, bei dem Verleger ohne groß nachzufragen fremde Werke druckten und sehr schludrig mit dem Geschriebenen umgingen.
Ab dem 18. Jahrhundert ändert sich also der Umgang mit Anonymität; der Philosoph Michel Foucault teilte in seinem berühmten Vortrag »Was ist ein Autor?« die Geschichte in zwei Epochen: Das Zeitalter der Namenlosigkeit und das darauf folgende Zeitalter des Autors. Der wesentliche Unterschied: »Die Rede war am Ursprung unserer Kultur (…) kein Produkt, keine Sache, kein Gut.«6
6 Foucault, Michel: Was ist ein Autor? In: ders.: Schriften zur Literatur. Nymphenburger Verlag, München 1974, S. 18.
Ganz offensichtlich befinden wir uns heute in einer Phase, in der Worte ein extrem wichtiges Gut sind. Bei der Debatte um Anonymität geht es längst nicht nur um Meinungsfreiheit oder Schutz vor staatlicher Zensur, sondern auch um Eitelkeit und um Stolz. Die Anonymität wurde im Laufe der Geschichte zurückgedrängt, weil immer mehr Menschen Anerkennung für ihr geistiges Schaffen (und auch an diesem verdienen) wollten.
Dieser Stolz auf die eigenen Worte ist übrigens einer der Gründe, warum Journalisten oft kein Verständnis für anonyme User im Internet haben. »Warum stehen die denn nicht mit ihrem Namen zu ihrer Meinung?«, heißt es dann. Eine spannende Frage, auf die ich noch eingehen werde. Die Geschichte zeigt jedenfalls, dass wir mit dem Schlagwort »Anonymität« sehr viele unterschiedliche Dinge ausverhandeln – etwa den Umgang mit Autorschaft oder unsere Haltung gegenüber neuen Medien.
Anonymität ist auch ein Kampfbegriff, was den gesellschaftlichen und technologischen Wandel betrifft. Ursprünglich signalisierte das griechische Wort »anonymos« lediglich, dass die Quelle eines Textes unbekannt war.7 Mit der Zeit dehnte sich der Begriff aber aus und wurde zum Symbol für fehlende menschliche Nähe. Ist heutzutage von der »Anonymität in der Großstadt« die Rede, hat wohl jeder sofort ein Bild im Kopf, zum Beispiel von gesichtslosen Menschenmassen, die über das Trottoir spazieren, freilich ohne Augenkontakt.
7 Vgl. Ferry, Anne: Anonymity. The Literary History of a Word. In: New Literary History. Jahrgang 33, Nummer 2, 2002, The Johns Hopkins University Press, Baltimore, S. 193.
Derartige Bilder stammen aus der Kunst. Ab dem 19. Jahrhundert äußerten viele Schriftsteller ihre Skepsis gegenüber dem unpersönlichen Leben in der Großstadt. Darin kann man auch ein generelles gesellschaftliches Unbehagen erkennen, das manch ein Zeitzeuge der Industrialisierung verspürte. Die Anonymität wurde also zu einem Begriff, mit dem der gesellschaftliche Wandel kritisiert wurde. Menschen zogen vom Dorf in die Stadt, wer einst auf dem Feld arbeitete, werkte nun vielleicht an Maschinen in riesigen Fabriken.
Aus vielen Texten spricht ein Gefühl der Entfremdung und Vermassung, der deutsche Schriftsteller Kurt Tucholsky etwa schrieb 1930 in seinem Text »Augen in der Großstadt«:
»Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider –
Was war das? vielleicht dein Lebensglück …
Vorbei, verweht, nie wieder.«8
8 Tucholsky, Kurt: Ausgewählte Werke. Parragon Verlag, Bath 2006, S. 825 – interessanterweise schrieb Tucholsky das Gedicht selbst unter einem seiner Pseudonyme. Dieter Lamping hat in der »FAZ« eine sehr schöne Analyse des Textes verfasst. Siehe http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/bilder-und-zeiten/frankfurter-anthologie/gedicht-interpretation-lesung-augen-in-der-grossstadt-von-kurt-tucholsky-12039094.html
Derartige Gedichte prägten das gesellschaftliche Verständnis von Anonymität. »Dieses linguistische Ereignis läutete die Institution der Anonymität ein als Codewort für ein kulturelles Motiv«, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Anne Ferry.9 Ab nun wurde also in den spröden Begriff »anonymos« viel mehr hineininterpretiert, es ging plötzlich auch um Fragen wie diese: Wie wollen wir überhaupt leben? Möchten wir den Namen unserer Nachbarn kennen? Fühlen wir uns in der Masse der Menschen noch erkennbar?
9 Ferry, S. 205 (Übers. ins Deutsche von I. B.).
Es gab damals sogar Kampfschriften gegen die Anonymität. Der amerikanische Journalist Henry Seidel Canby sprach zum Beispiel im Jahre 1926 von einem »Strudel der ununterscheidbaren Atome« und der »tödlichen Anonymität des modernen Lebens«.10
Der Philosoph Karl Jaspers meinte 1931: »Jeder Mensch als mögliche Existenz ist als Einzelner mehr als nur Glied der Masse, erfährt unübertragbare Ansprüche an sich selbst und darf sich nicht in der Masse verlieren, weil er damit sein Menschsein verliert.«11
10 Siehe: Ebd., S. 199 f. – Bezeichnenderweise lautete der Titel seines Textes »Anon is dead«, also »Anonymus ist tot«.
11 Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit. De Gruyter, Berlin 1999, S. 68.
Diese Warnungen klingen heute total überzogen, genau betrachtet passiert aber das Gleiche erneut. In der aktuellen Debatte um die Anonymität fließt häufig eine allgemeine Skepsis gegenüber dem Internet mit ein, oder zumindest gegenüber den unschönen Seiten des Netzes. Hier wird vieles vermengt, bei dem es nicht rein um Fragen der Namenlosigkeit geht, sondern um grundlegendere Dinge, etwa: Wie verändert das Netz die öffentliche Debatte und wie stehen wir dem gegenüber? Warum schimpfen viele Menschen so viel online und was können wir dagegen tun?
Offensichtlich ist: Menschen werden online nicht automatisch rücksichtsvoller. Im Gegenteil, oft findet man im Netz nur umso mehr Hass und Häme. Anonymität im Web ist in der Tat ein Faktor, der manchen die Entgleisung erleichtert. Anonymität kann auch als Waffe dienen oder als Mittel des Schwachen, um sich Gehör zu schaffen.
Neu ist das nicht. Der sowjetische Dichter Wladimir Majakowski (1893–1930) hielt in seinem Poem »150.000.000« bewusst den eigenen Namen zurück, um als Sprachrohr einer riesigen Bewegung, der arbeitenden Klasse, zu fungieren: »Hundert und fünfzig Millionen: so heißt der Meister dieses Poems (…). Hundert und fünfzig Millionen sind Herren meines Lippen-Signalsystems.«12
12 Pabst, Stephan: Anonymität und Autorschaft. Ein Problemaufriss. In: ders. (Hrsg.): Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit. De Gruyter, Berlin 2011, S. 23.
Anonymität diente mitunter auch zur Selbstüberhöhung. Der deutsche Publizist und Revolutionär Georg Forster (1754–1794) brachte 1793 die »Neue Mainzer Zeitung« heraus und behauptete, zwölf Autoren würden an dem Blatt mitarbeiten, tatsächlich schrieb er es ganz allein. Aber es wirkte, als spräche hier kein Einzelner, sondern einer von vielen, die für ein neues Europa, für eine Revolution in etlichen europäischen Staaten eintraten.13
13 Vgl. ebd., 29 f. – Diese frühe Form des »Hoax«, also der Irreführung, war aber auch deswegen möglich, weil die »Neue Mainzer Zeitung« keine klassische Zeitung nach heutigem Maßstab war. Sie erschien dreimal wöchentlich mit einem Umfang von vier Seiten, die Forster selbst befüllte, mit Berichten über die Revolution und Kämpfe in ganz Europa. Siehe: Lepenies, Wolf: Freiheit, das Riesenkind, online unter http://www.sueddeutsche.de/kultur/aufmacher-xv-freiheit-das-riesenkind-1.423586 (Stand: 2. Juli 2013).
Eine theatralische Inszenierung der eigenen Anonymität erleben wir auch heute im Internet, vor allem das Online-Kollektiv Anonymous spielt leidenschaftlich damit: Anonymität kann eine Strategie sein, um Aufmerksamkeit zu erheischen.
Das Fiese an anonymen Gegnern ist, dass sie unangreifbar wirken. Man weiß nicht: Steckt einer dahinter, oder sind es hundert? Ist es jemand, der mir nahesteht, oder ein Fremder? Genau das machte auch schon Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) zu schaffen. Der Philosoph war ein labiler, misstrauischer, leicht reizbarer Mensch, als er dann auch noch anonym von seinem Intimfeind Voltaire angegriffen wurde, trieb ihn das regelrecht zur Paranoia. Zunehmend verschwamm für ihn die Grenze zwischen Freund und Feind. In seiner Biografie, den »Bekenntnissen«, schreibt er:14
14 Vgl. Pabst, S. 28.
»Hier beginnt das Werk der Finsternis, in die ich mich seit acht Jahren versenkt fühle, ohne daß es mir aller Anstrengungen ungeachtet möglich gewesen wäre, ihr schreckliches Dunkel zu durchdringen. In dem Abgrund von Elend, der mich verschlungen hat, fühle ich die Schläge, die wider mich geführt werden, gewahre ich das unmittelbare Werkzeug derselben, vermag aber weder die Hand, welche sie leitet, noch die Mittel zu erkennen, welche sie aufbietet. Schmach und Leiden fallen wie von selbst, und ohne daß man es sieht, über mich her. Wenn meinem zerrissenen Herzen Seufzer entschlüpfen, habe ich den Anschein eines Menschen, der grundlos klagt, und die Urheber meines Untergangs haben die unbegreifliche Kunst entdeckt, das Publikum zum Mitschuldigen ihrer Verschwörung zu machen, ohne daß dasselbe es nur ahnt und die Wirkung davon merkt.«15
15 Die deutsche Übersetzung der »Bekenntnisse« kann übrigens jeder auf der »Projekt-Gutenberg«-Seite des »Spiegel« einsehen, in dem Werke zu finden sind, deren Urheberrecht erloschen ist. Siehe: Rousseau, Jean Jacques: Rousseau’s Bekenntnisse. Zweiter Theil – Kapitel 18, online unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/3812/18 (Stand: 24. Juni 2013).
Es ist ein Dokument, das die Macht des anonymen Angreifers belegt. Auch im Web erleben wir anonyme Kritik, allerdings noch wesentlich ausgeprägter. Die Mobilisierungsmöglichkeiten des Internets nutzen sowohl Cyberdissidenten und Demonstranten in arabischen Staaten als auch Normalbürger, die Dampf ablassen wollen.
Einige großartige Beispiele zeigen, wie die Anonymität online überaus produktive Dinge und Kollaboration ermöglicht, Stichwort: Wikipedia. Die Kehrseite davon ist aber eine Art digitale Hexenjagd. Diese ist insbesondere in jenen Ländern zu beobachten, in denen der Staat seine Bürger nicht vor fiesen Attacken anderer Bürger beschützt.
Anonymität wird im Netz tatsächlich zu einem neuen, radikaleren Konzept. Man könnte auch von einem Gefühl der Unsichtbarkeit sprechen: Die Person hinter der Tastatur ist nicht erkennbar, Herkunft, Größe, Statur oder auch der soziale Status bleiben verborgen. Das ist etwas anderes, als wenn wir zum Beispiel anonym in der Straßenbahn fahren. Meist kennen die anderen Passagiere dann auch nicht unseren Namen, man ist aber als Person greifbar und sichtbar.
Dazu ein Gedankenspiel aus dem antiken Griechenland: In seinem Werk »Politeia« ging der Philosoph Platon der Frage nach, wie sich wohl ein Individuum verhalten würde, wäre es unsichtbar und könnte es alles Mögliche tun, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.
In dem platonischen Dialog wird die Sage des lydischen Königs Gyges erzählt. Gyges war ursprünglich Hirte, bis er einen goldenen Ring fand, der ihn unsichtbar machte. Drehte er den Ring nach innen, konnte ihn niemand mehr sehen; drehte er ihn nach außen, wurde er wieder sichtbar. Gyges nutzte diesen Trick, um in der Gesellschaft aufzusteigen, er wurde zum Vertrauten des Königs, bis er dessen Ehefrau verführte und den König ermordete.
In der »Politeia« heißt es: »Wenn es nun zwei solcher Ringe gäbe und den einen der Gerechte sich ansteckte, den andern der Ungerechte, so wäre (…) wohl keiner von so eherner Festigkeit, daß er bei der Gerechtigkeit bliebe und es über sich gewänne, fremden Gutes sich zu enthalten und es nicht zu berühren, trotzdem daß er ohne Scheu sogar vorn Markte weg nehmen dürfte, was er wollte, und in die Häuser hineingehen und beiwohnen, wem er wollte, und morden und aus dem Gefängnis befreien, wen er wollte, und überhaupt handeln wie ein Gott unter den Menschen.«16
16 Dazu muss man sagen, dass in der »Politeia« nicht Platon selbst diese Worte spricht, sondern sie im Rahmen des Dialogs seinem älteren Bruder Glaukon in den Mund legt. Er schildert damit quasi die landläufige Vorstellung, was einen Menschen gerecht oder ungerecht werden lässt. Siehe: Platon: Der Staat. Zweites Buch, online unter http://www.zeno.org/Philosophie/M/Platon/Der+Staat/Zweites+Buch (Stand: 9. September 2013).
Die Sage von Gyges ist nur eine von vielen Überlegungen, mit denen sich Platon in der »Politeia« der Frage der Gerechtigkeit nähert.17 Aber sie eignet sich als Parabel für die aktuelle Netzdebatte.
17 Konkret entwickelt er in der »Politeia« seine Idee vom idealen Staat, die wir heute wohl kaum begrüßen würden: ein totalitäres System, das dem Menschen ab Geburt eng vorgibt, welche Rolle er in der Gesellschaft einzunehmen habe.
Was mich zu einer meiner wichtigsten Thesen in diesem Buch führt: Nicht die Anonymität ist das Kernproblem der Aggressivität im Netz, sondern das Gefühl der Unsichtbarkeit. Weil die Kommunikation oft so konsequenzenlos und der Gesprächspartner fern scheint, werden viele Aussagen unachtsam hingeschleudert, und etliche User neigen zu einer harscheren, enthemmteren Sprache. Es ist fast so, als hätten sie das Gefühl, der Ring des Gyges stecke an ihrem Finger. Übrigens ein großer Trugschluss: So anonym sind wir Internetuser meist gar nicht.
Diese scheinbare Unsichtbarkeit führt zu vielen Problemen, aber es sind Probleme, die man lösen kann. Sehr viele verbale Entgleisungen oder Hexenjagden ließen sich verhindern, wenn sich die User nicht so unsichtbar fühlten. Sie könnten weiterhin anonym bleiben, nur das Individuum sollte sichtbarer werden. Im Kern geht es darum, persönliche Verantwortung auch online einzufordern, so wie wir es offline ja auch tun. Das kann auch mit Anonymität gelingen.
Die Geschichte beginnt im Jahr 1993 mit einem berühmten Comic aus dem »New Yorker«. Man sieht einen Hund vor dem Computer, der zu einem anderen Hund sagt: »On the internet, nobody knows you’re a dog.« Im Internet weiß niemand, dass du ein Hund bist.18
18 Der Cartoon stammt vom Illustrator Peter Steiner, der Satz »On the internet, nobody knows you’re a dog« wurde mittlerweile zu einem geflügelten Wort. Siehe: Cavna, Michael: »NOBODY KNOWS YOU’RE A DOG«: As iconic Internet cartoon turns 20, creator Peter Steiner knows the joke rings as relevant as ever, online unter http://www.washingtonpost.com/blogs/comic-riffs/post/nobody-knows-youre-a-dog-as-iconic-internet-cartoon-turns-20-creator-peter-steiner-knows-the-joke-rings-as-relevant-as-ever/2013/07/31/73372600-f98d-11e2-8e84-c56731a202fb_blog.html (Stand: 9. September 2013).
Damals wurde vielen Menschen klar: Im Netz kann man mit seiner Identität spielen, ein neues Ich entwerfen. Der Körper ist für den Chatpartner nicht sichtbar, das Individuum wird auf einer sehr abstrakten Ebene wahrgenommen, meistens nur mit einem Namen, einem Pseudonym, das man selbst gewählt hat. Ich habe mit vielen Menschen über dieses Phänomen gesprochen, mit Forenpostern, Wissenschaftlern und Community-Managern. Am meisten beeindruckt hat mich die Erfahrung des chinesischen Cyberdissidenten Michael Anti und was die Anonymität für ihn bewirkte.
Anti ist ein mutiger Mann, er hat sich mit einem mächtigen Regime angelegt: China. Der heute 38-Jährige hat online über die Zensur geschrieben und die kommunistische Führung immer wieder bloßgestellt.19 Sein furchtloses Vorgehen machte ihn zu einem der berühmtesten Blogger Chinas. Dann drehte Microsoft Ende 2005 sein Blog ab, offensichtlich kooperierte der amerikanische Konzern mit den chinesischen Zensoren. Der Fall löste eine Debatte aus, wie westliche Firmen mit dem Regime kooperieren und die Zensur mit ermöglichen.20 Anti ließ sich trotzdem nicht einschüchtern und schrieb weiter. Heute lebt er in den USA und plädiert für ein freies Web. Denn er verdankt seinen Mut auch dem Internet, wie er selbst sagt.
19 Zum Beispiel indem er enthüllte, wie Journalisten der Tageszeitung »China Youth Daily« mundtot gemacht wurden, siehe: http://www.washingtonpost.com/wp-dyn/content/article/2006/02/20/AR2006022001304 pf.html
20 Wer sein Blog auf Microsofts Onlinedienst MSN ansteuerte, erhielt die Fehlermeldung: »This space is temporarily unavailable. Please try again later.« Dies wurde in einem Blogeintrag von Rebecca MacKinnon dokumentiert: http://rconversation.blogs.com/rconversation/2006/01/microsoft_takes.html
Michael Anti heißt eigentlich gar nicht so. Es ist ein Kunstname, der zur neuen Identität des Cyberbloggers wurde. Bei seinem Namenswechsel ging es nicht darum, sich vor den Zensoren zu schützen, denn im chinesischen Web gibt es keine echte Anonymität; die Behörden wissen, wer man ist. Antis Namenswechsel steht für eine andere Stärke des Internets, das Spiel mit der Identität – dass man sich gewissermaßen online neu erfinden kann. Weil das Interview sehr aussagekräftig dafür ist, will ich einen Auszug daraus wiedergeben21:
21 Das Gespräch fand im Mai 2013 via Skype statt (Übers. ins Deutsche von I. B.).
I. B.: Sie wurden unter dem Namen Michael Anti sehr bekannt. Warum wählten Sie dieses Pseudonym?
Michael Anti: Michael Anti heißt »anti« (dagegen, Anm. I. B.). Ich will ein Dissident sein, ich will die Regierung stürzen. Also nannte ich mich Anti, anti-establishment. Das ist ein deutliches Signal, nicht nur an meine Freunde, sondern auch an mich. Es sagt mir: Seitdem du Michael Anti bist, wirst du nicht, wirst du niemals mit der Regierung zusammenarbeiten.
I. B.: Wären Ihre Aktionen, Ihre Kritik auch möglich gewesen, wenn Sie dabei Ihren echten Namen verwendet hätten?
Michael Anti: Ja klar. Ich kann meinen richtigen Namen verwenden, aber das will ich nicht. Ich wollte meine Identität wechseln. Das Internet eröffnet uns die Möglichkeit, wiedergeboren zu werden, eine neue Identität anzunehmen.
I. B.: Inwiefern macht Sie Ihre neue Identität denn zu einem besseren Dissidenten?
Michael Anti: Mein echter Name ist Zhao Jing. Jing heißt leise. Es ist ein typisch weiblicher Name. Wenn ich Leuten zum Beispiel sagte, wie ich heiße, waren sie stets überrascht, dass ich ein Mann bin. Als ich mich selbst in Michael Anti umbenannte, konnte ich mir eine Art neue Identität schaffen als tapferer Mann, der sich auflehnt. Das hat geradezu mein neues Leben begründet. Alles was ich schreibe, die Kritik an der Regierung, alle meine Errungenschaften im Journalismus, im Bloggen und der Politik bauen auf diesem Namen auf. Das ist der Grund, warum ich diesen Namen verwenden will. Es ist auch logisch, da wir in China eine lange Tradition haben, bei der Schriftsteller einen Namen wählen und die Leute sie nur unter diesem Pseudonym kennen.
I. B.: Als Sie damals als Michael Anti anfingen, waren Sie da noch richtig anonym?
Michael Anti: Es ging nicht um Anonymität, es ging um diese neue Identität. Wenn man unaufhörlich seinen Namen für politische Aussagen einsetzt, macht man sich bereits zu einer öffentlichen Person. Aber man tut das unter einer anderen Identität. Was man dabei verheimlichen will, ist nicht, wer man ist oder wo man wohnt, es ist ein Teil von einem selbst, etwa mein früherer Charakter, mein Verhalten. Denn ich war schwach. Manchmal scheint mir, dass ich als Student nicht so mutig war. Als ich meinen Namen wechselte, wurde ich immer mutiger. Warum sollte ich diesen Namen also nicht weiter einsetzen? Ich will nicht, dass mich Menschen bei meinem alten Namen nennen, denn das ist jetzt mein neues Leben.
I. B.: Spannend an Ihrem Pseudonym ist, dass Sie nicht wirklich anonym sind. Die Leute wissen auch Ihren Geburtsnamen, man kann Sie leicht ausfindig machen.
Michael Anti: Anonymität bedeutet unterschiedliche Dinge in unterschiedlichen Ländern, unterschiedlichen Kulturen. Anonymität bedeutet nicht nur, seinen echten Namen zu verbergen, sondern manchmal auch, dass man für sich selbst eine neue Identität entworfen hat. In China gibt es Menschen wie mich, die sich ein neues Leben erschaffen, nicht nur online, sondern auch offline. Das ist eine Chance. Das Internet kann einem ein neues Leben geben, ein zweites Leben auch für die reale Identität. Ich glaube, das passierte in ganz vielen Fällen in China, in meinem Fall und auch in jenem von Freunden. Einen Online-Namen zu haben, verschafft einem auch eine neue Vorstellungskraft, eine neue Identität, neue Perspektiven. Man kann etwas verstecken – zwar nicht hundert Prozent seiner Offline-Identität, aber manchmal will man auch nur einen Teil seiner Offline-Identität verstecken.
I. B.: Damit ich Sie richtig verstehe: Haben Sie das Pseudonym auch aus Angst vor der Regierung gewählt, also um sich selbst zu schützen? Oder spielte das gar keine Rolle?
Michael Anti: Ich glaube nicht, dass es darum ging. Die Regierung weiß ohnehin, wer du bist, egal welchen Namen du annimmst. Das ist anderswo anders, dieses Phänomen Anonymität variiert von Land zu Land. In China ist Anonymität kein Thema, weil die Regierung dich sowieso kennt. Das kommunistische Regime weiß alles. Aber in anderen Ländern ist das nicht der Fall, zum Beispiel in Thailand, wo die Regierung nicht so mächtig ist wie die kommunistische Führung (Chinas, Anm. I. B.). Womöglich ist es dort ein großes Thema, den Namen zu hundert Prozent offline und versteckt zu halten. Wenn ich in China hingegen den Namen Michael Anti einsetze, ist das mehr als Signal zu verstehen – als öffentliches Signal, als Botschaft, die ich an die Gesellschaft und die Regierung senden will. Ich bin Anti.
Michael Anti lebt mittlerweile in den USA, hat namhafte Stipendien der Universitäten Cambridge und Harvard erhalten. Auf seinem Harvard-Zeugnis steht nicht sein Geburtsname, sondern »Michael Anti«.
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