Ist das, was wir wahrnehmen, die Wirklichkeit? Können wir unseren Geist trainieren und Achtsamkeit lernen? Ist Liebe steuerbar? Und wie können wir ein erfülltes, selbstbestimmtes Leben führen, wenn Hirnstrukturen unsere Entscheidungen vorzeichnen?
In diesem Buch treten Wolf Singer, einer der weltweit führenden Hirnforscher und streitbarer Bezweifler der Willensfreiheit, und Matthieu Ricard, Molekularbiologe, buddhistischer Mönch und Bestsellerautor, in einen Dialog über Kernfragen unserer Existenz – über Glück, Selbstkontrolle und die Macht von Gefühlen.
Auf den ersten Blick sind Singers westliche Neurowissenschaft und die Meditationstechniken des Buddhismus denkbar gegensätzliche Positionen. Die Neugier und Offenheit der beiden Gesprächspartner für die Perspektive des anderen bewirken jedoch, dass unerwartete Verbindungen sichtbar werden. Wissenschaftlich fundiert und auf der Basis jahrzehntelanger Erfahrungen denken sie – wie schon in ihrem Bestseller Hirnforschung und Meditation – gemeinsam darüber nach, was wir tun können, um gute und glückliche Menschen zu werden.
Wolf Singer, geboren 1943, ist emeritierter Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main und derzeit am dortigen Ernst Strüngmann Institute for Neuroscience tätig, dessen Gründungsdirektor er ist. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Zülch-Preis, dem Hessischen Kulturpreis und der Cothenius-Medaille der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina. Im Suhrkamp Verlag sind u. a. erschienen: Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung (stw 1571) und Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirnforschung (stw 1596).
Matthieu Ricard, geboren 1946, war als Molekularbiologe am Institut Pasteur in Paris tätig, bevor er buddhistischer Mönch wurde. Seit 40 Jahren lebt er im Himalaya und ist Autor mehrerer internationaler Bestseller, u. a. Glück (2009), Meditation (2011) und Weisheit (2013).
Wolf Singer
Matthieu Ricard
Jenseits des Selbst
Dialoge zwischen einem Hirnforscher und
einem buddhistischen Mönch
Aus dem Englischen von Friederike Moldenhauer,
Susanne Warmuth und Wolf Singer
Suhrkamp
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2017.
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2017
© Wolf Singer, Matthieu Ricard
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN 978-3-518-74792-6
www.suhrkamp.de
Prolog
1 Meditation und Gehirn
2 Unbewusste Prozesse und Emotionen
3 Woher wissen wir, was wir wissen, und welche Realität nehmen wir wahr?
4 Das Selbst erforschen
5 Freier Wille, Verantwortung und Gerechtigkeit
6 Das Wesen des Bewusstseins
Schlussbemerkung und Dank
Anmerkungen
Wolf Singer Matthieu, lass mich zur Eröffnung dieser Dialoge kurz die Umstände unserer Treffen schildern. Wir beide lernten uns 2005 in London anlässlich eines Dialogs über Bewusstsein kennen. Noch im selben Jahr sahen wir uns dann in Washington, D. C., wieder, wo wir im Rahmen einer Konferenz des Mind and Life Institute1 die neuronalen Grundlagen der Meditation diskutierten. Danach trafen wir uns häufiger in verschiedenen Teilen der Welt, 2007 auch einmal in der Residenz des Dalai Lama in Dharamsala in Indien.2 Im Laufe dieser Treffen diskutierten wir ein breites Spektrum an Fragen, von der Astrophysik bis hin zu ethischen Problemen. Dabei versuchten wir, die westliche und östliche – oder, besser gesagt, die wissenschaftliche und die kontemplative – Sicht auf die Beschaffenheit des Selbst und die Natur des Bewusstseins miteinander zu vergleichen: einerseits jene, die man aus der Ich- oder Erste-Person-Perspektive durch Introspektion und geistige Übungen gewinnt, und andererseits jene, die man aus der unpersönlichen Perspektive, also der Dritte-Person-Person-Perspektive wissenschaftlicher Ansätze ableiten kann.
Meiner Auffassung nach besteht zumindest in der westlichen Welt eine bemerkenswerte Diskrepanz zwischen unseren Intuitionen darüber, wie das Selbst beschaffen ist, und der wissenschaftlichen Sicht darauf, wie unser Gehirn organisiert ist. Bis vor kurzem verteidigten die meisten abendländischen Philosophien auf der Grundlage von Introspektion und logischer Schlussfolgerungen einen ontologischen Dualismus, die Dichotomie von Geist und Materie. Das ist nicht immer so gewesen. Schon die Stoiker – und später, im Gefolge der Aufklärung, auch zahlreiche andere wissenschaftliche und philosophische Schulen – haben eher monistische, naturalistische Standpunkte vertreten. Jedoch wurden dualistische Ansätze zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Tradition idealistischer philosophischer Schulen wieder aufgenommen, und zurzeit sind Philosophen und Naturwissenschaftler wieder sehr damit befasst, die Beziehungen zwischen ihren Positionen zu diskutieren. Wie du noch ausführen wirst, schlägt der Buddhismus einen nichtdualistischen Ansatz vor, der auf dem Konzept des »Fehlens einer intrinsischen Existenz« beruht und sowohl auf äußere Phänomene als auch auf das Bewusstsein angewandt wird. Die Folgen dieser Diskussionen werden aller Wahrscheinlichkeit nach weitreichend sein: Zum einen werden sie eine Veränderung unseres Selbstverständnisses nach sich ziehen, zum anderen wird es praktische Konsequenzen hinsichtlich unserer Vorstellungen von Willensfreiheit, Verantwortung und Ethik geben.
Wir kommen später auf einige dieser Aspekte zu sprechen. Doch zunächst konzentrieren wir uns vor dem Hintergrund unserer gemeinsamen Expertise und Erfahrung auf die Beziehungen zwischen Hirnforschung und mentalen Praktiken. Wir möchten untersuchen, welche Antworten die Neurowissenschaften auf die Frage geben können, inwiefern unterschiedliche Bewusstseinszustände, die sich durch geistige Übung und Meditation erlangen lassen, mit neuronalen Prozessen zusammenhängen.
Matthieu Ricard Ich bin hocherfreut, dass unsere Freundschaft und unser gemeinsames Interesse zu diesen Gesprächen geführt haben. Und ich möchte gleich zu Beginn betonen, dass sich ein Dialog zwischen westlicher Wissenschaft und Buddhismus durchaus von typischen Dialogen zwischen Wissenschaft und Religion unterscheidet. Solche Dialoge hat es schon zuhauf gegeben, und meist ist beiden Seiten nicht ganz wohl dabei zumute. Doch der Buddhismus ist keine Religion im herkömmlichen westlichen Sinn des Wortes. Er basiert weder auf der Vorstellung eines Schöpfers noch auf Gottvertrauen. Vielmehr könnte man ihn als »Wissenschaft vom Geist« bezeichnen und als einen Weg der Transformation von Täuschung in Weisheit, von Leid in Freiheit. Wie die Naturwissenschaften, untersucht auch der Buddhismus den Geist auf empirische Weise, und das schon seit über 2500 Jahren. Er betont dabei die Erfahrungen aus der Erste-Person-Perspektive, die von erfahrenen Meditierenden durch Introspektion gewonnen werden.
Hunderte von Büchern und Artikeln beschäftigen sich mit Erkenntnistheorie, Meditation, der Auffassung vom Selbst, der Bedeutung von Emotionen, der Existenz des freien Willens und dem Wesen des Bewusstseins. Wir möchten an dieser Stelle keinen Überblick über die zahlreichen bereits existierenden Standpunkte und Argumente geben. Wahrscheinlich sind einige der Ansichten, die wir hier präsentieren, schon hinlänglich diskutiert, vielleicht sogar bereits widerlegt worden. Wir wollen hier, in einem intimen und lebendigen Gespräch, zwei Perspektiven einander gegenüberzustellen, die auf reichen empirischen und philosophischen Traditionen sowie auf lebenslanger persönlicher Erfahrung beruhen – auf buddhistischer Philosophie und kontemplativer Übung auf der einen Seite, auf den Neurowissenschaften und westlicher Erkenntnistheorie auf der anderen. Wir hoffen, dass dieses Gespräch uns dabei helfen wird, unser eigenes Verständnis zu vertiefen, und wir laden auch unsere Leserinnen und Leser dazu ein, von dieser jahrelangen ernsthaften Beschäftigung mit einigen der wichtigsten Lebensfragen zu profitieren.
Wir sind uns darüber im Klaren, dass wir die zahlreichen zusätzlichen Fragen, die uns während unserer Begegnungen durch den Kopf gingen, nicht genau und erschöpfend genug behandelt haben. Ebenso ist uns bewusst, dass wir uns immer wieder von Themen, die uns am Herzen liegen, haben mitreißen lassen, was manchmal zu abrupten Richtungswechseln unserer Debatte oder zu Wiederholungen geführt hat. Wir haben davon abgesehen, diese Textabschnitte gründlich zu redigieren, um die Authentizität unseres Austausches zu erhalten, und möchten uns für das, was möglicherweise als Nachlässigkeit erscheint, entschuldigen. Hoffentlich ist es uns gelungen, einige der Einsichten zu vermitteln, zu denen wir in unseren Diskussionen gelangt sind. Wir verstehen unseren Dialog als einen kleinen Beitrag zu dem umfassenden Projekt der Erforschung des menschlichen Geistes. Und das dabei offenkundig gewordene Ausmaß unserer Unwissenheit lehrt uns Demut.