Kapitel 1

Ezlain

Hexe.

Das ist das einzige Wort, das mir durch den Kopf rauscht, während ich meine beste Freundin anstarre, als würde ich sie zum ersten Mal sehen. Mein Verstand sperrt sich gegen das, was Drayce gerade gesagt hat – dass sie diejenige war, die ihn auf die Insel verbannt hat, die er wegen des Zaubers viele Jahre nicht verlassen konnte. Er muss sich irren! Das ist absolut unmöglich! Cressa ist doch keine Hexe! Sie ist … meine beste Freundin und war meine persönliche Sklavin, seit ich mich zurückerinnern kann. Ich kenne sie mein ganzes verdammtes Leben! Da hätte es mir doch auffallen müssen, wenn sie … eine Hexe wäre.

Unvermittelt stürmt Drayce vor – direkt auf Cressa zu, die noch immer mit beiden Händen an der eisernen Stange gefesselt ist.

»Nein!«, schreie ich, doch es gelingt mir nicht, auf die Füße zu kommen.

Als Halbdrache ist Drayce nicht nur bei Weitem größer und stärker als ich, sondern auch schneller. Mein Schrei ist noch nicht verklungen, da hat er sie schon erreicht. Hilflos muss ich dabei zusehen, wie er mit der krallenbewehrten Pranke ausholt und sie jede Sekunde auf Cressa niedergehen lassen wird.

Ich wage nicht zu atmen. Mein Herz scheint stillzustehen.

Kurz bevor Drayces seinen Angriff auf meine beste Freundin vollenden kann, schießt ein glühender Schmerz meinen rechten Arm hinauf, als hätte sich mein Blut in alles verzehrendes, flüssiges Feuer verwandelt. Als ich hinsehe, winden sich rote und schwarze Verzierungen um meinen Unterarm und fressen sich in meine Haut, wie damals, als ich in einer dunklen Höhle auf einer einsamen Insel Tropfen meines Blutes gegen Tropfen seines Blutes tauschte.

Als ich ihn dort zum ersten Mal traf, schloss ich einen Blutschwur mit ihm und verpflichtete Drayce dazu, mich bei der Suche nach und Rettung von Cressa zu unterstützen, weil ich allein weder ein noch aus wusste.

Und nun ist er kurz davor, sie zu töten.

Ich kreische auf, als ich die Schmerzen nicht mehr aushalte, die sich bis in meine Knochen fressen. Mitten im Schlag hält Drayce inne und wirbelt zu mir herum. Auch um seinen rechten Arm winden sich die Verzierungen, doch er scheint keine Schmerzen zu spüren. Langsam, als koste es ihn sämtliche Willenskraft, lässt er die Hand, mit der er eben noch Cressa zerfetzen wollte, sinken.

Im nächsten Moment verschwinden die Schmerzen ebenso schnell, wie sie gekommen sind, und auch die Verzierungen verblassen. Nur der wütende und zugleich tieftraurige Ausdruck bleibt in Drayces Blick bestehen, während er mich ansieht.

»Höchst interessant!«, sagt Ronnyd, den ich schon beinahe vergessen habe.

Kurz huscht mein Blick zu ihm. Selbst in seiner menschlichen Gestalt strahlt er so viel Kraft aus, dass ich ihn nicht lange ansehen kann. Vor wenigen Minuten noch stand er als Feuer speiender, riesiger und schwarz geschuppter Drache vor mir – und ich bin ein wenig stolz auf mich, dass ich bei seinem Anblick nicht vor Angst ohnmächtig wurde.

»Sie hat dir aufgebürdet, die kleine Hexe vor Schaden zu bewahren, nicht wahr? Welch Ironie, dass sie ausgerechnet die Frau ist, an der du dich für das, was dir widerfahren ist, rächen willst.«

Ich schlucke angestrengt. Als ich erfuhr, dass Drayce ein Halbdrache und von einer Hexe auf die Insel verbannt worden ist, auf der ich ihn kennengelernt habe, versprach ich, ihm dabei zu helfen, sich an ihr zu rächen. Sobald wir Cressa gefunden und gerettet hätten, versicherte ich ihm, würde ich ihn dabei unterstützen, die Hexe für die große Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war, büßen zu lassen. Die Verbannung und nicht zuletzt die bleibende Verletzung seines Flügels – all das hat sie zu verantworten. Die Hexe, die unmöglich meine beste Freundin sein kann!

»Das … Das ist nicht wahr«, krächze ich, während ich an Drayce vorbei zu Cressa schaue. »Sag mir, dass das nicht wahr ist! Du bist keine … Du hast ihn nicht …«

Mühsam krame ich in meiner Erinnerung nach Augenblicken, die mich auf diese Enthüllung hätten vorbereiten können, finde jedoch nichts. Wenn Cressa eine Hexe ist, wieso hat sie sich jahrelang als Sklavin ausgegeben? Sie hielt sich stets im Hintergrund und hatte scheinbar immer Angst vor Neuerungen. Als wir aus Ilgaron flohen, war sie derart verängstigt, dass ich sie beinahe dazu zwingen musste, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Richtig, ein paarmal war mir aufgefallen, dass sie mittels eines einzigen Blickes andere zur Räson bringen konnte, und selbst ich war das ein oder andere Mal vor ihr zurückgezuckt, wenn sie mich so durchdringend ansah. Aber abgesehen davon … ist sie nichts weiter als eine zierliche, junge Frau.

Drayce und Ronnyd müssen sich irren!

»Um auf meine Frage zurückzukommen«, säuselt Ronnyd, als er zu Cressa hinüberschlendert und sie dann grob am Kinn packt. »Warum lebt der Bastard des roten Drachen noch?«

Cressas Blick huscht zu Drayce, der ein bedrohliches Knurren von sich gibt. Die Flügel an seinem Rücken zittern – selbst der gebrochene linke –, so angespannt ist er. Ich kämpfe mich auf die Füße, wanke zu ihm und ergreife seine Hand, die in seiner veränderten Gestalt mehr als doppelt so groß ist wie meine. Seine Haut ist heißer als erwartet, doch ich ziehe meine Hand nicht zurück.

Obwohl ich selbst noch nicht begriffen habe, was hier vor sich geht, werde ich für Drayce die Stütze sein, die er im Moment dringend braucht.

Cressa zieht die Augenbrauen zusammen, als sie Drayce und mich mustert – den Blick starr auf unsere verschränkten Hände gerichtet – und anschließend eine Verwünschung ausstößt. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«

»Also?«, grollt Ronnyd.

»Ich habe das getan, was du mir aufgetragen hast«, entgegnet Cressa, nicht im Mindesten eingeschüchtert.

Auf mich wirkt Ronnyd selbst in seiner menschlichen Gestalt derart angsteinflößend, dass ich mich am liebsten hinter Drayces breitem Rücken verstecken würde, doch ich bleibe tapfer an Ort und Stelle stehen.

»Du hast während unseres Blutschwurs verlangt, dass ich den Halbdrachen ›verschwinden‹ lassen soll«, zischt Cressa. »Und das habe ich getan. Ich erschuf eine Insel, die nicht gefunden und von niemandem betreten werden konnte, und verbannte ihn dorthin. Von töten war nie die Rede.«

Ronnyds Finger bohren sich so fest in Cressas Wangen, dass sie den Mund verzieht. »Und wie kann er dann hier sein, wenn er auf ewig verbannt sein sollte?«

»Wegen …«, presst Cressa undeutlich hervor, »… ihr.«

Drayces Griff um meine Hand verstärkt sich und so unauffällig wie möglich schiebt er mich hinter sich, ehe er die Schwingen ausbreitet, um mich vor Ronnyds Blick abzuschirmen. Ich stelle mich dennoch auf die Zehenspitzen und schaue über seine Schulter.

»Geht das etwas genauer?«, knurrt Ronnyd.

»Ich musste … meine letzte … Kraft einsetzen … um sie … zu retten …«

Mir schwirrt der Kopf; was ich in den letzten Minuten erfahren habe, ist zu viel, um es bereits jetzt begreifen zu können. Meine beste Freundin, die an meiner Seite war, seit ich ein Kind bin, soll nicht nur eine Hexe, sondern auch einen Blutschwur mit einem Drachen eingegangen sein. Das glaube ich einfach nicht …

Mit einem angewiderten Schnauben lässt Ronnyd endlich von Cressa ab, die sogleich kraftlos an den Ketten zusammensackt. »Du enttäuschst mich, Hexe«, grollt er. »Eine Weile warst du nützlich, aber nun, da du deine letzte Kraft verbraucht hast, bist du es nicht mehr. Obendrein hast du deine Aufgabe nur unzureichend erfüllt. Da aber offenbar keiner von uns beiden mit den Konsequenzen eines gebrochenen Schwurs zu kämpfen hat, scheint er bereits aufgelöst worden zu sein.« Sein stechender Raubtierblick aus nahezu kohlschwarzen Augen richtet sich direkt auf mich. »Was mich zurück zu dem Mädchen mit der Herzschuppe bringt.«

Cressas Kopf ruckt nach oben. »Lass sie in Ruhe!«

Unbeeindruckt von ihr gleitet Ronnyds Blick zu Drayce. »Die Herzschuppe stammt von dir, ist es nicht so?« Mit einem lang gezogenen Seufzen schüttelt er den Kopf. »Du bist keinen Deut besser als dein Vater.«

Drayces Oberkörper vibriert unter einem bedrohlichen Knurren. »Sie hat nichts damit zu tun!«

Ronnyd legt den Kopf schief. »Ach nein? Du hast sie doch mit hineingezogen in die ganze Sache, indem du einen Blutschwur mit ihr eingingst und ihr obendrein noch deine Herzschuppe geschenkt hast. Und da sie sie angenommen hat …«

»Sie kennt unsere Bräuche nicht!«, fällt ihm Drayce ins Wort.

Ein Zucken unter Ronnyds rechtem Auge ist die einzige Warnung, die wir bekommen. Nur einen Sekundenbruchteil später stürmt er bereits auf uns zu – so schnell, dass ich seinen Bewegungen kaum folgen kann. Drayce stößt mich hart zur Seite und fängt Ronnyds Schlag ab, der wahrscheinlich für mich bestimmt war. Mit den teilweise bereits wieder zu Klauen verwandelten Händen hätte Ronnyd mir die Haut vom Leib gerissen. Selbst in der menschlichen Gestalt, die er anscheinend nach Belieben teilweise anpassen kann, wohnt ihm eine solche Stärke inne, dass Drayce sogar als Halbdrache Schwierigkeiten hat, sich gegen ihn zu behaupten. Mit angehaltenem Atem muss ich hilflos dabei zusehen, wie Drayce unter der schieren Kraft seines Gegners beinahe in die Knie gezwungen wird.

Unvermittelt schießen Ronnyds nachtschwarze Schwingen aus seinem Rücken heraus und verdecken die Sonne. Es ist, als wäre von einem Herzschlag auf den anderen die Welt in drückende Dunkelheit gehüllt worden. Ronnyds Schwingen sind fast doppelt so ausladend wie Drayces.

»Gib dich nicht der Illusion hin, dass du gegen mich bestehen könntest, Halbling!«, grollt Ronnyd und bleckt die Zähne. »Wenn ich es darauf anlege, besiege ich dich mit nur einer Hand vor den Augen deiner rwy’nary.«

Alles in mir schreit danach, Drayce zu Hilfe zu kommen, doch meine nackten Füße scheinen fest mit dem gepflasterten Stein unter mir verwachsen zu sein. Was könnte ich schon ausrichten? Ich bin nichts weiter als ein Mensch – eine Frau – und ohne Waffen obendrein. Was kann ich einem echten Drachen entgegensetzen, wenn sogar Drayce beinahe scheitert? Ronnyd würde mich innerhalb eines Wimpernschlags zerfetzen.

Aber … ich kann doch nicht einfach hilflos dabei zusehen, wie er Drayce schadet! Ich könnte es mir nie verzeihen, wenn er …

Allein die Vorstellung, dass Drayce etwas geschehen könnte, versetzt mir einen solchen Stich, dass ich nach Luft schnappe. Ich muss nicht darüber nachdenken, was sein Verlust mit mir anstellen würde – ich weiß es. Ich weiß, dass ich danach nie wieder dieselbe wäre.

Ohne weiter zu zögern, mache ich einen Schritt nach vorn.

Kapitel 2

Drayce

Verdammt, Ronnyd ist viel zu stark! Ich habe schon fast vergessen, welche Kraft einem reinblütigen Drachen innewohnt. Er hat nicht geprahlt, als er behauptete, er könne mich spielend leicht mit nur einer Hand besiegen; es ist die Wahrheit. Selbst in meiner anderen und stärkeren Gestalt bin ich ihm kaum gewachsen. Vorhin, als ich überraschend in die Situation platzte und Ezlain vor ihm rettete, konnte ich ihn überrumpeln, aber das wird mir kein zweites Mal gelingen.

Meine Muskeln zittern protestierend, während ich mich abmühe, seinen Arm festzuhalten, doch ich darf nicht loslassen! Wenn ich es tue, wird sich sein nächster Angriff wieder gegen Ezlain richten.

Und dann bin ich vielleicht nicht schnell genug, um sie zu beschützen.

»Du langweilst mich, Halbling«, grollt Ronnyd.

Das ist seine einzige Vorwarnung, im nächsten Augenblick stößt er mich so schwungvoll zurück, dass ich taumele und das Gleichgewicht verliere. Unsanft und äußerst ungelenk lande ich auf dem harten Boden und reagiere zu spät, als er bereits seinen rot leuchtenden Mund aufreißt. Auch in seiner teilweise menschlichen Gestalt kann er auf all seine Kräfte zurückgreifen.

Als Halbdrache trage ich selbst genügend Feuer in mir, um hitzeunempfindlich zu sein. Auch sein zerstörerisch schwarzes Drachenfeuer kann mich nicht in ein Häufchen Asche verwandeln – und Ronnyd weiß das. Doch es wird wehtun und die Stellen an mir, die nicht mit schützenden Schuppen bedeckt sind, werden Verbrennungen davontragen … Vor allem im Gesicht – um die Augen und den Mund – werde ich …

Während ich noch krampfhaft darüber nachdenke, ob ich meinen ohnehin verkrüppelten linken Flügel dazu nutzen sollte, Ronnyds Feueratem abzufangen, steht plötzlich Ezlain vor mir. Ich schnappe nach Luft – entweder um zu schreien oder um sie anzubrüllen, dass sie verdammt noch mal verschwinden soll –, aber sofort versengt mir die Hitze des Drachenfeuers fast die Lungen. Alles geschieht so schnell … Ich schaffe es nicht, auf die Füße zu kommen, strecke trotzdem die Hand nach ihr aus, um sie irgendwie aus der Gefahrenzone zu manövrieren, doch da hat uns das Feuer bereits erreicht.

»Ez!« Mein Schrei ist schrill und panisch.

Sie wird verschlungen werden … Das Feuer wird ihr die Haut vom Leib brennen, denn sie verfügt über keinerlei Schutz. Die Vorstellung, dass von ihr, der mein Herz gehört, gleich nichts weiter als verkohlter Staub übrig sein wird, lässt mich fast den Verstand verlieren.

Wenn ich vorhin nicht auf die Hexe losgegangen wäre … Wenn ich Ezlain einfach geschnappt und mit ihr geflohen wäre … Irgendwohin. Ich hätte sie retten können. Wir hätten …

Sämtliche Gedanken wirbeln so schnell und unsortiert durch mich hindurch, dass ich das Gefühl für Raum und Zeit komplett verliere und wie gelähmt dem Unausweichlichen ins Auge sehen muss. Sie wird sterben und ich kann nichts dagegen tun. Ich bin genauso nutzlos wie eh und je – selbst für Ezlain.

Es vergehen mehrere Sekunden, die sich für mich jedoch wie eine Ewigkeit anfühlen, bis mir aufgeht, dass ich die Hitze des Feuers kaum spüre. Und dass auch Ezlain … noch vor mir steht, als würden die Flammen einfach an ihr abprallen.

Aber wie kann … das sein?

Als Ronnyd seinen Angriff endlich einstellt, starre ich ungläubig auf den Rücken der Frau, die mit ausgebreiteten Armen schützend vor mir steht und deren kupferrotes Haar in der Sonne glänzt wie flüssige Bronze. Ohne Vorwarnung explodiert eine Vielzahl von Gefühlen in mir, die ich über die letzten Wochen immer stärker wahrgenommen habe – jedes einzelne davon ausgelöst allein durch Ezlain.

Und kein einziges verdiene ich.

Sie dreht den Kopf zu mir und fragt über die Schulter hinweg: »Bist du in Ordnung?«

Mehr als ein Nicken bekomme ich nicht zustande. Warum hat sie sich vor mich gestellt? Sie hätte verbrennen müssen! Wie kann sie …?

»Diese vermaledeite Herzschuppe!«, grollt Ronnyd.

Meine … Ich blinzele mehrmals, bin jedoch weiterhin außerstande, den Blick von Ezlain zu nehmen. Meine Herzschuppe soll sie beschützt haben? Aber das … ist unmöglich! Das funktioniert nur bei …

»Wenn du ihm schaden willst«, zischt Ezlain, »musst du erst an mir vorbei!«

Mein Hals ist wie zugeschnürt, während ich zum Zusehen verdammt bin, weil ich keinen einzigen Muskel rühren kann. Zu viele Fragen stürmen auf mich ein; Fragen, deren Antworten ich nicht wahrhaben will, weil sie alles verändern könnten. Alles, was ich kannte. Alles, was ich zu wissen glaubte.

Und ich weiß nicht, ob ich bereit dafür bin.

Oder es je sein werde.

Ronnyd gibt ein glucksendes Lachen von sich. »Du kleines Menschlein willst dich mir in den Weg stellen? Geh zur Seite oder ich werde keine Rücksicht auf dich nehmen!«

Da eine direkte Attacke dank der Herzschuppe also keine Wirkung auf Ezlain hat, schlägt Ronnyd ein paarmal mit seinen riesigen schwarzen Schwingen und erzeugt so einen solchen Windstoß, dass Ezlain Mühe hat, stehen zu bleiben. Die Arme schützend vor das Gesicht erhoben versucht sie, dem Wind zu trotzen.

Ich springe auf die Füße, ziehe sie an meine linke Seite und schirme uns mit dem rechten Flügel vor den schneidenden Luftstößen ab. Ezlain presst sich so fest an mich, dass ich ihren Herzschlag und das Zittern, das ihren ganzen Körper erfasst hat, spüren kann. Sie kommt mir so fragil und zerbrechlich vor, dass ich sie am liebsten vor allen Widrigkeiten der Welt abschirmen möchte – nicht nur jetzt, sondern … für immer.

Ich lehne die Stirn an ihre und atme ihren Duft ein, während um uns herum ein Sturm tobt. Für einen Moment kann ich vergessen, was jenseits meiner schützend um uns ausgebreiteten Schwingen lauert.

»Warum?«, raune ich über den tosenden Wind hinweg. »Warum hast du dein Leben für meines riskiert?«

Ezlain hebt die Hand und fährt so sanft an der Kante meiner spitz zulaufenden Ohren entlang, dass ich wohlig erschaudere. Genauso so zärtlich streichelt sie über die Schuppen an meiner Wange, am Hals und an der Brust. Schließlich lässt sie ihre Hand auf der Stelle ruhen, unter der sie meinen Herzschlag spüren kann.

»Du hast mir gestern gesagt, dass du mir dein Herz schenkst, wenn ich der Meinung bin, dass meines beschädigt ist. Dass ich darüber gebieten kann, wie es mir beliebt.« Ihr glühender Blick hält meinen gefangen. »Und ich beschütze, was mir gehört.«

Ich stoße den Atem aus, den ich die ganze Zeit über angehalten habe, und lege vorsichtig die in Krallen endende Pranke auf die Herzschuppe, die um ihren Hals hängt.

Als ich sie ihr vor ein paar Tagen schenkte, hielt ich es nicht für möglich, dass sie bei ihr wirken könnte oder überhaupt einen Sinn hätte. Es war mir einfach nur … wichtig, sie ihr zu geben. Es fühlte sich richtig an.

Und das tut es jetzt mehr denn je. Nicht, weil Ezlain dadurch Ronnyds Angriffe überlebt hat – denn das habe ich nicht mit Sicherheit wissen können. Sondern weil ich nun weiß, dass Ezlain ähnlich fühlen muss wie ich.

»Ich schwöre, ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht«, presse ich hervor.

»Ich weiß«, wispert sie so leise, dass ich sie kaum verstehen kann. »Aber ich würde es vorziehen, wenn wir alle lebend hier rauskommen.«

Als der Wind endlich abflaut, senke ich nur zögerlich den Flügel. In einem offenen Kampf wäre ich Ronnyd gnadenlos unterlegen. Unsere einzige Chance ist, unser Heil in der Flucht zu suchen. Er kann Ezlain zwar nicht direkt durch seine Angriffe oder das Drachenfeuer schaden, aber bei einem indirekten Angriff – wie eben mit dem Wind – beschützt sie auch die Herzschuppe nicht. Doch mit meiner verkrüppelten linken Schwinge kann ich Ezlain unmöglich sicher von hier fortbringen. Wie das enden würde, haben wir bereits im Steinlabyrinth erlebt, wo wir beim Absturz vom Felsen beinahe draufgegangen wären. Der Turm der Wellen ist um einiges höher als die Klippe und mit der Stadt unter uns finde ich keinen ebenen Platz, um halbwegs sicher zu landen. Wir würden ungeschützt in die Häuser krachen …

Nein, ich muss einen anderen Weg finden! Es widerstrebt mir zwar, mit dem schwarzen Drachen zu verhandeln, aber um Ezlains Leben zu retten, werde ich dieses Opfer bringen.

»Was willst du, Ronnyd?«, knurre ich, während ich Ezlain so gut es geht weiterhin vor ihm abschirme.

Allein, dass er sie ansieht, macht mich rasend. Am liebsten würde ich meine Klauen quer über sein Gesicht ziehen, doch die Vernunft hält mich zurück – noch.

Der schwarze Drache in Menschengestalt verzieht den Mund. »Bis vor gut 15 Jahren wollte ich deinen Tod, nach dem, was du mir und den Meinen angetan hast. Mittlerweile allerdings … stellt es sich als Glücksfall heraus, dass die Hexe den Schwur etwas zu wörtlich genommen hat. Ich könnte mich auf einen Kompromiss einlassen – wenn das Angebot stimmt.«

Jeder Muskel in meinem Körper scheint sich zu versteifen. Kompromisse mit Ronnyd, einem Mitglied des Drachenrates, einzugehen, war noch nie eine gute Idee. Diesen Fehler habe ich schon einmal gemacht und bitter dafür bezahlen müssen. So dumm werde ich kein zweites Mal sein!

Aber mir gehen die Alternativen aus. Was ist geschehen, dass Ronnyd den Hass auf mich zurücksteckt und mir stattdessen einen Handel anbietet? Noch bevor ich seine Antwort höre, weiß ich, dass sie mir nicht gefallen wird. Dennoch gebe ich ihm mit einem knappen Nicken zu verstehen, dass er mir seinen Teil des Kompromisses mitteilen soll.

Sein Blick fällt auf die Frau in meinen Armen. »Nimm ihr die Herzschuppe ab und komm zurück.«

Ich stoße ein Grollen aus. Ein »Niemals!« liegt mir bereits auf der Zunge, doch ich schlucke es schnell hinunter und presse so fest die Zähne zusammen, bis mein Kiefer knackt, damit es mir nicht doch noch entschlüpfen kann.

Ich weiß nicht, welcher Teil seiner Forderung schlimmer ist. Ezlain die Herzschuppe abzunehmen, kommt überhaupt nicht infrage. Genauso wenig setze ich je wieder einen Fuß ins Reich der Drachen, schließlich hatte ich gute Gründe, von dort zu verschwinden.

Als ich mich nicht rege, verdreht Ronnyd seufzend die Augen und schlendert hinüber zur gefesselten Hexe. Sofort gibt Ezlain ein Keuchen von sich und windet sich aus meinen Armen. Ich greife nach ihrer Hand, um sie zurückzuhalten, doch sie ist schneller.

Entschlossen marschiert sie auf Ronnyd zu, der ihre beste Freundin bedroht.

»Lass sie in Ruhe!«, knurrt Ezlain.

Ich bin stolz auf sie und ihre Furchtlosigkeit, möchte sie jedoch am liebsten wieder zu mir ziehen. Und ihr anschließend den Hals für ihre Leichtsinnigkeit umdrehen! Sich mit einem reinblütigen Drachen anzulegen, kommt einem Selbstmord gleich – erst recht für einen Menschen.

In diesem Augenblick kämpfen so viele verschiedene Empfindungen in mir, dass ich keine davon greifen kann. Der Stolz auf meine Partnerin, die ohne Angst einem reinblütigen Drachen die Stirn bietet. Der Drang, sie zu beschützen, obwohl ich weiß, dass Ronnyd ihr nicht direkt schaden kann.

Und ein dunkler Teil von mir will keinen Finger rühren; wenn Ronnyd die Hexe töten will, soll er sich keinen Zwang antun. Zwar würde ich gern selbst derjenige sein, der ihr Leben auslöscht, doch ich gebe mich auch damit zufrieden, dass sie durch die Hand eines anderen stirbt. Hauptsache, es geschieht nicht zu schnell. Sie soll genauso leiden, wie ich all die Jahre über allein in der Höhle gelitten habe.

Allein mit den alles verzehrenden Schmerzen eines gebrochenen Flügels, der ohne Hilfe nur verkrüppelt zusammenwachsen konnte.

Allein mit quälendem Hunger und Durst, die mich die Jahre über begleiteten, ohne dass ich daran zugrunde gehen konnte.

Eingepfercht in der Höhle, wusste ich irgendwann nicht mehr, wie der Himmel aussieht. Wie es sich anfühlt, wenn der Wind über meine Haut streift. Wie die Welt da draußen riecht oder sich anhört. Alles, was ich noch kannte, war der modrig feuchte Geruch meines Gefängnisses und das stetige Wassertröpfeln, das mich beinahe in den Wahnsinn trieb.

Und dann kam sie. Als frecher Farbklecks in der tristen Dunkelheit stolperte sie nicht nur in die Höhle, sondern auch in mein Leben, das über Jahre hinweg nur aus dem Wunsch nach Rache bestand. Mit ihrem frischen, minzigen Duft vernebelte sie mir augenblicklich die Sinne und meine auf Stille getrimmten Ohren lechzten nach jedem einzelnen Wort, das ihren Mund verließ.

Wenn ich ehrlich bin, wusste ich es damals schon. Ich wusste, dass sie anders war als alle Frauen, denen ich bisher begegnet bin. Ich wusste, dass sie etwas Besonderes ist.

»Wie mir scheint«, grollt Ronnyd, während er die Hände teilweise zu Drachenklauen wandelt und sie der Hexe an den Hals legt, »befinden wir uns in einer Pattsituation.« Ein breites Grinsen erscheint auf seinem Mund und ich unterdrücke nur knapp den Drang, ihn anzuknurren. »Du bist durch einen Blutschwur gebunden, die Frau zu retten, die du tot sehen willst, nicht wahr?« Er legt den Kopf schief. »Wie hat die Kleine das geschafft? Wie konnte sie dir das Versprechen abpressen, die Hexe zu beschützen? Was hat sie dir als Gegenleistung angeboten?«

Ich beiße fest die Zähne zusammen.

»Ooooh, es muss etwas sein, was sie bereits erfüllt hat, nicht wahr? Nur du bist noch an den Schwur gebunden.«

Er hat recht und darum treffen mich seine Worte hart. Ezlains Teil des Schwurs beinhaltete lediglich, einen Handel mit mir einzugehen und mich dadurch aus der Höhle zu befreien. Von mir hingegen verlangte sie, dass ich sie bei der Suche nach ihrer besten Freundin unterstützen und diese Freundin vor Schaden bewahren sollte.

Wie konnte ich damals ahnen, dass es sich dabei ausgerechnet um das einzige Wesen handelte, das ich unter allen Umständen leiden sehen will?

Und wenn ich es gewusst hätte, wäre ich dennoch den Handel mit Ezlain eingegangen? Oder hätte ich sie fortgeschickt?

»Willst du mich nicht aufhalten?«, fragt Ronnyd mit einem breiten Grinsen. »Du weißt, was mit dir und ihr geschieht, wenn ich die Hexe töte. Der Schwur wird dadurch hinfällig, weil du nur danebengestanden und zugesehen hast.«

Ohne weitere Vorwarnung lässt Ronnyd die klauenbewehrte Hand auf die Hexe niedersausen. Meine Beine scheinen mit dem Boden verwachsen zu sein, denn ich rühre keinen Finger. Ich verspüre nicht einmal den Drang dazu.

Sie war es … Sie hat mich verbannt und mir viele Jahre meines Lebens geraubt! Und wofür? Nur weil ich diese verdammte Stadt verwüstet habe? Sie soll genauso leiden, wie ich gelitten habe!

Erst als Ezlain aufschreit, gelingt es mir, mich durch den Nebel aus Rache und Hass zu kämpfen. Sie ist auf die Knie gesunken und umklammert ihren rechten Unterarm, um den sich rot und schwarz glühende Verzierungen ranken. Auch auf meinem Arm sind die Zeichen aufgetaucht, doch ich spüre den Schmerz kaum.

Ezlains Blut, das in meinen Adern pulsiert, drängt mich dazu, einzugreifen. Mein Verstand jedoch weiß, dass die Hexe schon zehnmal tot wäre, hätte Ronnyd es darauf angelegt. Er hält uns hin, spielt mit uns und will mich so dazu zwingen, seinem Kompromiss zuzustimmen. Solange er die Hexe in seiner Gewalt hat und sie bedroht, werde ich den Schwur, den ich – mehr oder weniger freiwillig – gegenüber Ezlain geleistet habe, nicht erfüllen können. Ein Versagen würde bei mir, wie bei meinem letzten Partner, einen kompletten Kontrollverlust hervorrufen. Ich würde mich für eine Zeit in eine Bestie verwandeln, die nur nach dem Blut desjenigen giert, der ihren Schwur zerbrochen hat.

Gegen Ronnyd hätte ich jedoch keine Chance und würde in einem sinnlosen Kampf den Tod finden.

Und Ezlain … Mein Herz zieht sich zusammen, als ich ihren schmerzerfüllten Gesichtsausdruck sehe. Ich weiß nicht, ob sie es überleben würde. Mein Blut in ihrem Körper würde so heiß werden, dass es sie von innen heraus verbrennen würde, wenn ich versage.

Ich muss etwas unternehmen … Ich darf nicht zulassen, dass Ezlain leidet! Aber … Ronnyd bin ich nicht gewachsen. Und es wäre kein Verlust, wenn die Hexe stirbt. Ganz im Gegenteil: Ich täte der Welt einen Gefallen. Ezlain ist stark. Sie wird …

»Drayce Demi-Draco!«, ruft mir Ezlain so laut zu, dass ihre klare Stimme in jedem Winkel meines Körpers widerhallt.

Wie von selbst ballt sich meine Rechte zur Faust; die Hand, über die ich in der Höhle die Klinge zog, um den Schwur mit Blut zu besiegeln. Ich lege sie mir an die Brust – direkt über die Stelle, wo eine Schuppe fehlt – und neige den Kopf. Ganz gleich, was sie mir jetzt aufträgt – ich werde es tun. Ich bin zweifach an sie gebunden, freiwillig und unfreiwillig, und würde nie zulassen, dass ihr etwas zustößt. Ihr Wunsch ist mir Befehl – auch wenn das bedeutet, dass ich meine schlimmste Feindin retten und einen aussichtslosen Kampf bestreiten muss.

»Rette Cressa und bring sie sicher von hier weg!«, lautet die Anweisung.

Für einen Moment schließe ich die Augen. Davor habe ich mich am meisten gefürchtet. Nicht davor, Ronnyd gegenüberzutreten oder über meinen Schatten zu springen und den Hass auf die Hexe hinunterzuschlucken. Sondern davor, dass sie mir befiehlt, sie zurückzulassen. Ezlain weiß genau, dass ich unmöglich zwei Menschen während eines Gleitflugs vom Turm der Wellen halten kann. Selbst mit einer der beiden Frauen werde ich ins Trudeln geraten und abstürzen, aber diesen Sturz könnte ich abfangen.

Vielleicht.

Ich werfe Ezlain einen flehentlichen Blick, zu in der Hoffnung, dass sie ihre Meinung ändert, doch das entschlossene Glimmen in ihren grünen Augen ist unübersehbar. Die Gewissheit, dass ich sie zurücklassen muss, brennt sich wie Säure durch mich hindurch, doch jeder Tropfen Drachenblut in mir rebelliert gegen die bloße Vorstellung, den direkten Befehl meiner Partnerin zu verweigern.

Ich fixiere Ronnyd, blecke die Zähne und stürme auf ihn zu.

Kapitel 3

Ezlain

Die Schmerzen, die mir den Arm hinaufschießen und sich wellenartig im restlichen Körper ausbreiten, rauben mir beinahe die Sinne. Warum erscheinen plötzlich die Zeichen, die sich in meine Haut einbrannten, als ich den Blutschwur mit Drayce geschlossen habe? Bis auf den Kampf gegen Feodors Crew in der Schatzhöhle waren sie unsichtbar und ich spürte sie nicht, doch nun sind sie da und ich schaffe es kaum, mich durch den Nebel aus Schmerz und Feuer zu kämpfen. Ich versuche, ein paarmal aufzustehen, sacke jedoch immer wieder auf die Knie. Aber ich muss Cressa helfen! Ich kann doch nicht nur dabei zusehen, wie der schwarze Drache sie tötet!

Ich schlucke einen erneuten Schmerzensschrei hinunter und wende mich Drayce zu, der wie erstarrt inmitten des Platzes steht. Selbst auf die Entfernung erkenne ich in seinem Blick eine dunkle Genugtuung, die mir den Atem stocken lässt. Ich habe bisher nicht verstanden, wie seine Verbannung in die Höhle und die Tatsache, dass Cressa eine Hexe sein soll, zusammenhängen, doch ich bin mir irgendwie sicher, dass er nicht eingreifen wird, selbst wenn Ronnyd meine beste Freundin Stück für Stück vor unseren Augen in Fetzen reißt.

Ich umklammere den vor Schmerzen pulsierenden Arm und rede, bevor ich länger darüber nachdenken kann. »Drayce Demi-Draco!«

Meine Stimme schneidet durch die unnatürliche Stille.

Sofort huscht Drayces Blick zu mir und der Ausdruck darin ändert sich schlagartig. Erstaunen, Stolz, aber auch Angst erkenne ich im tosenden Gold seiner Iriden.

Noch nie habe ich ihn auf diese Weise angesprochen. Noch nie habe ich ihm etwas befohlen. Ich bin nicht seine Herrin, stehe nicht über ihm. Ich will ihm auch jetzt keine Befehle aufbürden, aber mir bleibt keine Wahl.

Dennoch schlucke ich hart, als Drayce sich die Faust gegen die Brust drückt und ehrerbietig den Kopf vor mir senkt. Es ist falsch, ihn dazu zu zwingen …

Doch wenn ich es nicht tue, wird er nicht eingreifen.

»Rette Cressa und bring sie sicher von hier weg!«

Ich weiß, dass Drayce dem schwarzen Drachen unterlegen ist. Es hat keinen Sinn, Ronnyd direkt anzugreifen. Wir müssen für genügend Verwirrung sorgen, sodass Drayce mit Cressa fliehen kann. Ich bin mir sicher, dass er genauso gut auf sie achtgeben wird wie auf mich – zumindest hoffe ich das.

Der Schmerz in seinem Blick lässt mich beinahe aufkeuchen, doch ich zwinge mich dazu, keine Regung zu zeigen. Als Drayce schließlich Ronnyd fixiert, fletscht er die Zähne; diesen wilden und gefährlichen Ausdruck habe ich noch nie bei ihm gesehen und mir entgeht nicht, dass Ronnyd von Cressa ablässt, um sich auf Drayces Angriff vorzubereiten.

Das ist meine Chance! In dem Moment, als Drayce losstürmt, verschwinden die brennenden Schmerzen und auch die Verzierungen und ich komme wieder auf die Füße. Stumm flehe ich Drayce an, auf sich aufzupassen, als ich zu Cressa husche, die noch immer gefesselt ist.

»Ezlain«, haucht sie, während ich mich an den Ketten zu schaffen mache. »Was, bei allen Göttern, machst du immer noch hier?«

»Dich retten, was denn sonst?«, antworte ich knapp.

Dieses verdammte Vorhängeschloss! Wie soll ich es nur ohne den passenden Schlüssel aufkriegen?

»Du hättest verschwinden sollen«, murmelt Cressa. »Verdammt, du hättest gar nicht erst herkommen sollen! Ich bin freiwillig hier, immerhin musste ich mit Ronnyd …« Plötzlich gleitet ihr Blick über meine Schulter und ihre Augen werden groß. »Pass auf!«

Ich denke nicht darüber nach, sondern schlinge sofort beide Arme um sie und schirme ihren zierlichen Körper mit meinem ab. Verzehrende Hitze strömt über uns hinweg und ich wage nicht zu atmen. Cressas Schrei gellt mir in den Ohren, doch ich halte sie fest umklammert, bis das Drachenfeuer versiegt.

»Alles in Ordnung?«, frage ich gepresst.

Sie nickt, die Augen ungläubig aufgerissen, während sie mich nach Verbrennungen absucht. »Ja«, antwortet sie ungläubig. »Aber was … ist mit dir?«

Ich übergehe ihre Frage. Schnell wende ich mich um, fange Drayces sorgenvollen Blick auf und nicke ihm zu. Es geht mir gut. Er nickt ebenfalls und beschäftigt weiterhin Ronnyd, der in der harten und rauen Drachensprache auf ihn einredet. Zwar kann ich kein Wort verstehen, doch Ronnyds eindringlicher Tonfall lässt mich vermuten, dass er Drayce von irgendetwas überzeugen will. Und Drayce scheint das, was der schwarze Drache von sich gibt, ganz und gar nicht zu gefallen. Seine Angriffe werden vehementer, als wolle er Ronnyd durch schnellere Attacken davon abhalten, weiterzureden.

Erst als ich mich wieder Cressa zuwende, fällt mir auf, dass die Eisenstange, an der ihre Ketten befestigt waren, offenbar dem Drachenfeuer zum Opfer gefallen ist. Um ihre Handgelenke liegen zwar immer noch die eisernen Manschetten, die eine dicke Kette verbindet, aber sie ist frei! Um die Manschetten können wir uns später kümmern. Jetzt müssen wir einen Weg finden, den Turm zu verlassen.

Gehetzt sehe ich mich um, bis ich die Tür gefunden habe, durch die mich die Alte vorhin geführt hat. Ich packe Cressa am Arm und ziehe sie in die Richtung.

Durch den gesamten Turm nach unten zu fliehen, wird nicht einfach sein; im Inneren wimmelt es nur so von Soldaten und Wachen. Einige von ihnen werden mit den Opfern beschäftigt sein, die den leichteren Weg gewählt haben, doch die meisten werden nicht abgeneigt sein, sich zwei weiteren Frauen zu widmen, die sich in ihre Reichweite verirrt haben. Ohne Waffen und ohne Drayce werden Cressa und ich uns nicht gegen sie wehren können.

Aber es ist unsere beste Chance. Der andere Weg führt direkt nach unten: ohne Treppe oder Seil. Der Einzige, der es schaffen könnte, uns diesen Weg nach unten zu bringen, ist Drayce. Doch er kann uns unmöglich beide tragen. Durch den verletzten linken Flügel kann er selbst ohne zusätzlichen Ballast eher schlecht als recht gleiten.

Ich erreiche als Erste die Tür und rüttele am Griff. Abgeschlossen! So ein verdammter Mist!

»Was machen wir jetzt?«, piepst Cressa neben mir.

Ausgeschlossen, dass sie eine Hexe sein soll!, schießt es mir durch den Kopf. Sie ist so zart und fragil, so voller Angst vor allem Neuen. Sie kann unmöglich diejenige sein, die Drayce in die Höhle verbannt hat. Cressa könnte keiner Fliege etwas zuleide tun! Geschweige denn einem mächtigen Wesen wie einem Halbdrachen.

Doch ich habe jetzt keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Wieder und wieder stoße ich mit der Schulter gegen die verschlossene Tür, bis ich glaube, dass mir jeder weitere Stoß die Knochen brechen wird. Dann versuche ich es mit Tritten, doch auch die bewirken nichts.

Verdammt! Uns bleibt wohl doch nur der direkte Weg nach unten. Aber wie …?

»Pass auf!«, schreit Cressa.

Ich wirbele herum und hebe den Arm. Ronnyds ausgefahrene Klauen prallen ab, ohne mich zu berühren und mir Schaden zuzufügen. Doch der Blick aus seinen eiskalten, fast schwarzen Augen verursacht mir eine Gänsehaut.

Schnell ziehe ich Cressa hinter mich und zwinge meine Atmung zur Ruhe, während ich den schwarzen Drachen herausfordernd taxiere. Er kann mir im Moment zwar nicht direkt schaden, aber ich habe keine Lust, herauszufinden, wie lange das funktioniert. Vielleicht nutzt sich dieser plötzliche Schutzschild irgendwann ab? Mit seinen Krallen könnte mir Ronnyd mit einem Streich die Haut vom Leib reißen. Und wo ist Drayce? Ronnyd steht mir so nah, dass ich nichts außer ihm sehen kann; seine große menschliche Gestalt und die ausgebreiteten Flügel nehmen mir die Sicht.

Während ich fieberhaft überlege, wie ich ihm entkommen kann, legt sich ein rot geschuppter Arm von hinten um seinen Hals und drückt so fest zu, dass Ronnyd zu röcheln beginnt.

»Finger weg von ihr!«, knurrt Drayce.

Die Panik, die mich bis eben heimgesucht hat, weicht purer Erleichterung.

Doch Ronnyd benötigt nur einen Schlag mit seinen ausladenden Schwingen, um Drayce von sich zu schleudern. Hart schlägt er auf den Pflastersteinen auf und ich mache einen Schritt auf ihn zu. Bitte, steh wieder auf! Ich mache einen weiteren Schritt, während ich in Gedanken Drayce beschwöre, sich zu bewegen oder mich anzusehen.

»Willst du das wirklich tun?«, raunt Ronnyd so nah neben mir, dass ich erstarre. »Überlege deine nächsten Handlungen gut, Menschlein. Du wirst zwar durch die Herzschuppe geschützt, aber du kannst nicht beide vor meinen Angriffen abschirmen. Wen willst du also retten? Die Hexe? Oder doch lieber den Halbdrachen?«

Hinter mir höre ich Cressas Wimmern, während ich hilflos dabei zusehe, wie Drayce sich mühsam wieder aufrappelt. Sein Atem geht keuchend und an mehreren Stellen sickert Blut zwischen den Schuppen hervor. Er wird nicht mehr lange durchhalten. Und der Weg nach unten ist versperrt.

So ungern ich es auch zugebe, aber Ronnyd hat recht: Ich kann nicht beide retten. Aber mich zwischen Cressa und Drayce zu entscheiden, ist unmöglich! Egal wen von beiden ich wähle – den anderen zu verlieren, würde mich umbringen.

Ich schlucke die aufkeimende Panik hinunter und wende mich an Ronnyd. Mit gestrafftem Rücken begegne ich dem dunklen Drachen. »Du machst doch gern Geschäfte. Was willst du?«

Ein verschlagenes Grinsen erscheint auf seinem Gesicht. »Ah, bist du nun bereit, einen Handel mit mir einzugehen?«

»Nein«, entgegne ich. »Aber ich bin bereit, mir anzuhören, wie dein Vorschlag lautet. Du kannst mir nichts tun und ich bin es leid, dass du versuchst, meine Freunde gegen mich zu benutzen.«

»Ez, nicht!«, presst Drayce hervor.

Ein kurzer Blick in seine Richtung bestätigt mir, dass er kaum noch gerade stehen kann. Ich wusste von Anfang an, dass er Ronnyd nicht gewachsen ist. Dennoch habe ich ihn in den Kampf geschickt … Nur, um jetzt vor einer verschlossenen Tür zu stehen. Er musste meinetwegen leiden, ohne dass wir etwas erreicht haben. Ich hätte es ihm ersparen können …

»Es tut mir leid«, flüstere ich, ehe ich mich wieder dem schwarzen Drachen zuwende und das Kinn recke. »Also, was ist nun? Was verlangst du im Austausch für Cressas und Drayces Unversehrtheit?«

Ronnyd verengt die Augen. »Es ist der Halbdrache, den ich will.«

»Du bekommst ihn aber nicht«, knurre ich. »Weder ihn noch Cressa.«

Ronnyd stößt ein hartes Lachen aus. »So laufen Verhandlungen normalerweise nicht ab, Menschlein. Du wirst mir irgendwas bieten müssen. Ich werde nicht mit leeren Händen verschwinden.« Er macht einen Schritt auf mich zu und ich muss mich zwingen, nicht vor ihm zurückzuweichen, obwohl er noch mehrere Meter entfernt ist.

»Es muss«, ich schlucke angestrengt, »doch irgendwas anderes geben, was du willst.« Ich deute auf den Schmuck, mit dem mich die weisen Frauen des Turms der Wellen behängt haben. »Wie wäre es mit Gold?«

Ronnyd schaut mich an, als würde er ernsthaft an meiner Intelligenz zweifeln. »Du bietest mir unechten Schmuck im Austausch gegen den Halbdrachen an?« Er wendet den Kopf zu Drayce. »Tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber deine rwy’nary hält ziemlich geringe Stücke auf dich.«

Ich balle die Hände zu Fäusten. »Dann sag mir doch endlich, was du willst, verdammt noch mal!«, knurre ich. »Abgesehen von Drayce und Cressa.«

Ronnyds Blick huscht zu mir zurück und er mustert mich von oben bis unten, als sähe er mich zum ersten Mal. Ein Funkeln erscheint in seinen Raubtieraugen und ich schnappe nach Luft.

»Na schön.«

Ronnyd breitet die Flügel hinter sich aus und schirmt dadurch die Sonne von mir ab. Wie ein dunkler, Unheil bringender Schatten ragt er vor mir auf, doch ich weiche keinen Schritt zurück. Das Herz droht mir aus der Brust zu springen, aber ich halte dem Blick des schwarzen Drachen stand. Vorsichtig streckt er die Hand nach mir aus, doch ehe er mich mit der spitzen Kralle berührt, hält er inne.

»Dann will ich dich.«

Wie bitte? Das war nicht die Antwort, mit der ich gerechnet habe. Verwirrt runzele ich die Stirn und blende Drayces wütendes Grollen so gut es geht aus. Ich hatte angenommen, als Drache würde Ronnyd Gold und andere Schätze fordern, mit denen wir uns freikaufen könnten. Oder andere materielle Dinge, nach denen es Drachen normalerweise verlangt.

Aber doch nicht mich!

Was will er mit mir? Er kann mich nicht einmal berühren! Der einzige Nutzen, den er aus diesem Handel ziehen kann, ist, über mich an Drayce heranzukommen. Und Drayces wütende Miene lässt keinen Zweifel daran, dass er Ronnyd jetzt liebend gern in winzig kleine Stücke reißen würde. Doch ich gebe ihm mit einem knappen Kopfschütteln zu verstehen, dass er sich zurückhalten soll.

»Du hast Feuer in dir, Menschlein«, raunt Ronnyd. »Nicht viele Sterbliche haben es je gewagt, mir die Stirn zu bieten. Eine wie du würde sich gut bei uns machen.«

So ungern ich es auch zugebe, aber wenn Ronnyd nach mir verlangt, ist das für Drayce und Cressa die beste – wenn nicht gar die einzige! – Chance, zu entkommen. Wenn ich Cressa beschütze, wird sich Ronnyd Drayce schnappen. Wenn ich Drayce beschütze, wird Cressa es nicht lebend aus diesem Turm schaffen. Ich kann sie nicht beide retten, doch ich kann mich an ihrer Stelle opfern. Und bin ich nicht deswegen hier – um geopfert zu werden? Ich schnaube bei diesem Gedanken verächtlich und konzentriere mich wieder auf das Wesentliche.

Warum fällt es mir dann so schwer, das Richtige zu tun?

Drayces durchdringender Blick beschwört mich, bloß nicht zuzustimmen, doch ich habe nur Augen für das Blut, dass seine Brust und Arme hinunterfließt und zu Boden tropft. Ich darf nicht zulassen, dass er noch mehr verletzt wird!

»Was hast du mit mir vor?«, frage ich Ronnyd.

»Das, was ich mit allen ausgewählten Opfern tue: Ich bringe sie ins Reich der Drachen.«

»Und was geschieht dort mit mir?«

Ich erinnere mich daran, dass die Alte sagte, kein Opfer sei je zurückgekehrt. Gut möglich, dass ich für die Drachen als Festmahl dienen soll. Oder Schlimmeres. Dennoch warte ich vergeblich auf die Angst, die sich einstellen müsste.

Ich weiß, dass ich das Richtige tue. Ich weiß es und zögere trotzdem.

Nicht aus Angst vor Ronnyd oder den anderen Drachen, sondern aus Furcht davor, Drayce vielleicht nie wiederzusehen. Ich habe Cressa gefunden und kann sie retten, sofern ich Ronnyds Forderung zustimme. Nur meinetwegen ist sie in diesen Schlamassel geraten. Ich werde alles dafür tun, damit sie unversehrt bleibt.

Doch was ist mit Drayce? Mit dem Daumen fahre ich über die kleine Erhebung in meiner rechten Handfläche. Ich habe ihn beim Blutschwur übervorteilt und dazu gezwungen, Cressa mit mir gemeinsam zu suchen und zu retten. Wider Erwarten ist er mitgekommen, hat mich mehrmals beschützt und vor dem sicheren Tod bewahrt. Ohne ihn und seinen Tatendrang hätte ich mich pausenlos im Kreis gedreht, ohne je die richtige Richtung zu finden.

Aber das ist nicht alles. Nein, bei Weitem nicht.

»Das wirst du sehen, wenn du dort bist«, antwortet Ronnyd auf meine Frage und reißt mich aus meinen Gedanken. Er hebt seinen linken Flügel etwas an und verdeckt mir so die Sicht auf Drayce.

Ich beiße fest die Zähne zusammen. Seine Erwiderung kann alles beinhalten – von einem grausamen Tod bis hin zu einem Leben in Reichtum. Wobei Ersteres sehr viel wahrscheinlicher ist. Doch es ist mir egal. Solange Drayce und Cressa in Sicherheit sind, ist es mir gleichgültig, was mich im Reich der Drachen erwartet.

»Habe ich dein Wort, dass meinen Freunden nichts geschieht?«, frage ich, ohne den Blick zur Seite schweifen zu lassen.

»Tu das nicht, bitte!«, höre ich Drayce schräg hinter Ronnyd flehen.

Doch zum Glück verdecken ihn die Flügel des schwarzen Drachen. Wenn ich jetzt in sein Gesicht schaue, würde es mir das Herz zerreißen, das ich gerade mit Müh und Not zusammenhalte, so lange, bis ich allein sein werde und niemand meine Tränen sehen kann.

»Einverstanden«, schnurrt Ronnyd, wodurch er mich nur noch mehr an ein Raubtier erinnert. »Wenn du fügsam bist, wird weder der Hexe noch dem Halbdrachen etwas geschehen. Aber …«

Ich versteife mich sofort.

»Dir ist klar, dass es nicht lange so bleiben wird, nicht wahr?«

Ronnyd faltet die Flügel zusammen, sodass ich wieder freie Sicht auf Drayce habe. Beim Anblick seines schmerzverzerrten Gesichts stoße ich keuchend den Atem aus.

»Was … meinst du damit?«, zwinge ich mich zu fragen, ohne den Blick von Drayce zu nehmen.

»Er wird kommen, um dich zu holen«, antwortet Ronnyd schonungslos. »Du weißt das. Ich weiß das. Und der Halbdrache selbst weiß es auch.«

»Nein, das wird er nicht!«, knurre ich.

Ronnyd gibt ein rumpelndes Lachen von sich, für das ich ihm am liebsten den Hals umdrehen würde. »Es ist nicht so, als ob er eine Wahl hätte. Auch wenn er nur ein halber Drache ist, kann er sich gegen den Drang nicht wehren. Er wird immer deine Nähe suchen und dich notfalls aufspüren.« Er legt den Kopf schief. »Und du hast nicht einmal den Hauch einer Ahnung, welches Geschenk da um deinen Hals baumelt.«

Schnell lege ich eine Hand über die Drachenschuppe.

»Du siehst, am Ende bekomme ich das, was ich will«, fährt Ronnyd fort. »Ich bekomme immer das, was ich will – und diesmal habe ich noch dich als Dreingabe. Früher oder später wird der Halbdrache ganz von selbst zu mir kommen.« Er wendet sich Drayce zu, der die Zähne gebleckt hat, und macht einen Schritt auf ihn zu. »Du weißt doch noch, wo wir leben, oder?«

»Worauf du dich verlassen kannst!«, grollt Drayce.

»Nein!« Energisch mache ich einen Schritt auf ihn zu. »Was auch immer dieser Wahnsinnige von dir will – er wird es nicht bekommen!«

»›Dieser Wahnsinnige‹?«, kommentiert Ronnyd mit einem Glucksen meinen Ausbruch, doch ich ignoriere ihn.

»Nimm Cressa und geh!«, stoße ich gepresst an Drayce gewandt hervor. »Auf der Stelle!«

Ich habe keine Ahnung, was Ronnyd von Drayce will, aber ich will es auch nicht herausfinden müssen. Drayce wird einen Grund haben, warum er sich weigert, das Reich der Drachen erneut zu betreten. Warum der schwarze Drache sich schlussendlich darauf eingelassen hat, mit mir vorliebzunehmen, kann ich nicht sagen, doch ich werde diese Chance ergreifen und meine Freunde retten!

Drayces Blick hetzt wild zwischen mir und Ronnyd hin und her, während ich ihn stumm anflehe, endlich zu verschwinden. Mit wenigen großen Schritten ist er bei mir und zieht mich an sich. Schnell breitet er die Schwingen um uns aus, ehe er die Lippen auf meine presst. Hart, fordernd und viel heißer als in seiner menschlichen Gestalt. Als Drache scheint seine Haut zu glühen, meine zu versengen, wo immer er mich berührt, was ein noch heißeres Feuer in mir entfacht. Ich balle die Hände zu Fäusten, um mich davon abzuhalten, ihn noch näher zu mir zu ziehen und mich an ihm festzuklammern. Das darf ich nicht. Wenn ich jetzt einknicke und Schwäche zeige, werde ich ihn anflehen, mich nicht allein zu lassen.

»Halte durch!«, murmelt er, nachdem er sich ein Stück zurückgezogen hat. »Ich werde dich finden.«

Wie gern würde ich sagen, dass er es nicht tun, sein Leben nicht riskieren soll. Dass ich es nicht wert bin. Doch ich schlucke nur angestrengt und nicke. Die bloße Vorstellung, auf unbestimmte Zeit von ihm getrennt zu sein, nachdem ich mich so sehr an seine Nähe gewöhnt habe, bereitet mir mehr Angst, als mich auf Ronnyds Forderungen einzulassen. Ich stoße zittrig die Luft aus, woraufhin er die Stirn an meine lehnt. Umgeben von seinen Schwingen gelingt es mir für ein paar Sekunden, alles zu vergessen, was jenseits davon lauert.

Vorsichtig legt er eine Kralle an die Drachenschuppe, die um meinen Hals hängt. Ich lege ihm eine Hand an die Brust, direkt über sein Herz, wo die Schuppe fehlt und ein kleines, kaum wahrnehmbares Loch klafft.

»Lass … Cressa bitte nicht fallen«, wispere ich, als ich den Blick hebe.

Drayce stößt ein kurzes, schnaubendes Lachen aus. »Das kann ich dir leider nicht versprechen.«

Ich erwidere sein Schmunzeln nach kurzem Zögern. »Ich weiß, dass sie bei dir in guten Händen ist.«

Er verzieht den Mund. »Dann weißt du mehr als ich.«

»Seid ihr endlich fertig?«, tönt es jenseits des schützenden Kokons aus Schwingen. »Ich habe nicht den ganze Tag Zeit.«

Drayce verengt die Augen zu Schlitzen, als er Ronnyds Stimme hört. Dann huscht sein Blick zurück zu dem Anhänger. »Was auch immer geschieht, nimm sie auf keinen Fall ab!«, schärft er mir ein. »Kein Drache kann dir etwas tun, solange du die Schuppe bei dir hast.«

Ich lege die Hand über seine. »Keine Sorge! Niemand wird sie mir wegnehmen.«

Er schlingt beide Arme um mich und presst mich so fest an sich, dass ich beinahe nicht mehr atmen kann. »Zu’u rwy’n dy«, murmelt Drayce mir ins Ohr.

Ich erinnere mich daran, dass er das schon mehrmals zu mir gesagt hat. »Was?«

Er macht sich von mir los und schaut mich mit einem solch traurigen Lächeln an, dass es mir schier das Herz zerreißt. »Wenn ich dich wiederhabe, verrate ich dir vielleicht, was es heißt.«

Ich zwinge mich ebenfalls zu einem Lächeln, das aber garantiert mickrig ausfällt. »Nur vielleicht?«