Klavierstunde



Joan Weng

Über die Kurzgeschichte

Ich bin des Mordes schuldig, und noch heute, nach all den Jahren, stehe ich manchmal starr im Angesicht meiner Sünde, frage mich nur eines: Warum? Wieso? Wie konnte es soweit kommen?
Eine Kindheit in den 50er Jahren und eine Schuld, die nie verjährt.

Ich bin des Mordes schuldig, und noch heute, nach all den Jahren, stehe ich manchmal starr im Angesicht meiner Sünde, frage mich nur eines: Warum? Wieso? Wie konnte es soweit kommen?

Die Morde ereigneten sich zu einer Zeit, als kleine Mädchen noch steife Schleifen im Blondhaar trugen, Ballett lernten und eben Klavierstunden nahmen. Ich war damals zehn Jahre alt und da mein Vater der Notar unserer Kleinstadt war, ging ich gemeinsam mit der Tochter des Arztes, der Tochter des Dentisten und der Tochter des Warenhausbesitzers Zeidler zu Fräulein Vogel, auf dass sie unsere kleinen, plumpen Körper in Plié und Passé zwänge.

Klavierstunden hingegen nahmen wir alle bei Herrn Büchle, einem kriegsversehrten Konzertpianisten, der manchmal mitten im Unterricht innehielt, uns einen Moment aus panisch aufgerissenen Augen anstarrte und dann einfach weitermachte, als sei nichts geschehen.

Ich sage „wir alle“, aber es waren natürlich nicht „wir alle“. Wäre es so gewesen, ich wäre frei von Schuld.

Lotte Zeidler war die Außenseiterin in unserem Vierergespann. Zum einen lag es daran, dass sie die Hübscheste von uns war, die Einzige, deren Körper sich zu Fräulein Vogels Melodien geschmeidig zu biegen und drehen verstand, die Einzige von uns, deren Schürzenkleid auch nach wilder Jagd durch die Trümmer nie schmutzig wurde oder gar zerriss.

Zum anderen aber lag es an Vicki Zeidler, ihrer Mutter. Während unsere Mütter sich gegenseitig beständig zu kunstvoll mit Madeirakirschen verzierten Kuchen und Bohnenkaffee einluden, gemeinsam den Weihnachtsbasar ausrichteten und sich fortgesetzt mit meine Teure ansprachen, ließ Frau Zeidler sich fremdsprachige Bücher kommen und trug Kleider, die sie weder selbst genäht noch im Warenhaus ihres Gatten gekauft hatte. Man munkelte sie seien von Breuninger oder gleich aus Paris.

Und dann ihr Name – Vicki! Unsere Mütter hießen Inge, Wilhelmine und Irmgard, so wurden sie auch gerufen, zumindest von unseren Vätern, wir nannten sie natürlich einfach Mama.

Ich bemitleidete Lotte immer ein wenig. Beispielweise kam es angeblich vor, dass sie nach der Schule zu Hause kein Mittagessen vorfand, ja manchmal nicht einmal ihre Mutter. Ich sage „angeblich“, denn Lotte erzählte nie von ihrer Familie und ich hatte mein Wissen aus erlauschten Gesprächsbrocken. Meine Mama, die sonst eine sehr sanfte Frau mit leicht besorgtem Mund war, flüsterte oft heftig mit ihren Freundinnen über diese Person, und obwohl sie stets verstummten, wenn sie meiner Gegenwart gewahr wurden, entnahm ich diesem Getuschel, dass Frau Zeidler sich für etwas Besseres hielt.

Es wird schon etwas an der Behauptung dran gewesen sein, denn eines Tages ging Lotte nicht mehr zu unserem ewig hustenden Herrn Büchle und seinem uralten Klavier.

Stattdessen brachte ihr der Bus nun jeden Mittwoch einen ziemlich langhaarigen Pianisten, der sich volle zwei Stunden einzig um Lottes Fingerspiel zu kümmern hatte.

Unsere Mütter fanden seine Frisur wie auch sein Auftauchen im Allgemeinen ausgesprochen unpassend und dabei ahnten sie ja nicht im Entferntesten, was noch kommen würde.

Es muss Anfang Juli gewesen sein, denn ich hatte Romy schon. Romy war meine Geburtstagspuppe, ein sehr elegantes Porzellangeschöpf mit zarten Rosenlippen, blauen Glasaugen hinter Klappklapplidern und blondem Kunsthaar. Ich sehe noch meine sonnengebräunten Kinderhände, wie sie versuchten, dieses unnatürlich glatte, glitschige Haar in einen französischen Zopf zu zwingen und im Hintergrund ganz plötzlich Lottes Frage: Gehen wir nächsten Mittwoch an den Neckar baden?

Ich war verblüfft, ja, verblüfft trifft es. Verblüfft, aber nicht mehr. Die Tragweite des Gesagten war mir keineswegs bewusst und ungerührt flocht ich weiter, nickte stumm, wollte dann wissen: Hast du keine Klavierstunden? Ich glaube, Lotte hat genickt, mir vielleicht sogar ins Gesicht gelogen. Ja, ich bin fast sicher, sie hat behauptet, der Unterricht falle aus. Wäre sie nicht so eine grässliche Lügnerin gewesen, ihre Mutter hätte nicht sterben müssen. 

Mein eigenes Klavierspiel machte indessen durchaus Fortschritte.

Als ich mich das erste Mal fehlerfrei durch Für EliseSehr gut, Trudi! Sehr gut!