auf|ge|dirndl|t Adj. Entlehnt v. bair.
→ Dirndl bzw. hochdt. veraltet → Dirne.
Wortneuschöpfung d. 21. Jhds.
Bedeutung: aufgetakelt, aufgeputzt,
aufgemotzt, aufgebrezelt. Anwendung
v. a. auf auffällig hergerichtetes
Mädchen od. Frau.
Aus: Neues Wörterbuch des
Bairischen, Rosenheim 2012.
Dass man auf seinem morgendlichen Seespaziergang von einer im Wasser treibenden Frauenleiche aus seinen Gedanken gerissen wird, ist ein seltener Zufall. Eine derartige Erfahrung wird nur wenigen Menschen zuteil, selbst wenn ihnen Gott ein langes Leben schenkt. Natürlich war die Wahrscheinlichkeit, dass der Seebewohner Veit Höllerer, geboren am Weltfrauentag – ja, ausgerechnet! – des Jahres 1932, eine Wasserleiche zu Gesicht bekommen würde, größer als jetzt zum Beispiel bei einem Bewohner der Sahara, aber dennoch reagierte Höllerer überrascht.
Hätte er sich eine derartige Situation früher einmal ausgemalt, dann wäre das dabei entstandene Bild vermutlich grauenerregend, zumindest aber ekelhaft gewesen. Veit Höllerer hatte sich eine derartige Situation aber noch nie vorgestellt. Und so konnte er völlig unbefangen näher ans Ufer treten und schauen.
Seegang herrschte an diesem Tag keiner, der Wind wehte nur schwach, und so schipperte die Leiche eher gemächlich vor sich hin. Ihr Abstand zum trockenen Kies betrug knapp zwei Meter. Zu weit weg, um sie von Hand aus dem Wasser zu ziehen. Höllerer blickte um sich, und Sekunden später entdeckte er einen halb verrotteten armdicken Birkenast, der ihm von der Länge her geeignet schien, die junge Frau, die mit dem Gesicht nach unten im Wasser lag, ans Ufer zu ziehen. Es ging ganz einfach. Als er sie mit seinem Werkzeug nahe genug herangeholt hatte, scheute Höllerer nicht davor zurück, die Tote mit bloßen Händen anzufassen und ans Ufer zu ziehen. Als Freizeitjäger war Höllerer den Umgang mit dem Tod gewohnt. Sah man zudem einmal davon ab, dass sich der Körper der Frau kalt anfühlte, war diese ganze Sache alles andere als unappetitlich für den pensionierten Schneider. Die junge Frau war nämlich – dies trotz ihres Totseins – ein äußerst wohlgestaltetes Exemplar. Und weil sie nichts anhatte außer einem Spitzenhemdchen, das ihr fast bis zum Hals hinaufgerutscht war, konnte Veit Höllerer in Ruhe die feuchten, sich leicht kräuselnden Schamhaare des jungen Dings betrachten. Nur kurz war Höllerer irritiert, weil aus dem betörenden Venusdreieck des Mädchens rechts und links zwei schwarze Hörner hervorwuchsen. Vermutlich Tätowierungen, dachte sich der Pensionist und betrachtete interessiert die beiden Bögen, die sich zusammen mit dem kurz rasierten Schamhaardreieck zu einer Art Teufelskopf ergänzten. Nach einem Augenblick des Zögerns und ohne jedes schlechte Gewissen glitt Höllerers erfahrener Jägerblick dann aber gleich weiter auf die großzügig, jedoch gewiss nicht zu voluminös proportionierten Brüste und bewunderte schließlich die brustlangen dunkelblonden Haare, das markante Kinn, die schönen Lippen und die klare Stirn. Dieses Mädchen, dachte Höllerer sich, ist zu schön, um tot zu sein. Die Polizei muss her.
EINS
Einige Wochen früher
Aufgrund eines gekippten Fensters hörte Anne Loop ihren bärtigen Vorgesetzten, Kurt Nonnenmacher, bereits lautstark schreien, als sie am Morgen die Dienststelle erreichte. Die junge Polizeihauptmeisterin parkte gerade ihr Mountainbike vor dem Gebäude, als der Chef der kleinen Polizeiinspektion in den Morgen brüllte: »Sacklzement, ich möcht’ bloß wissen, was sich diese g’scherten Islamisten noch alles einfallen lassen!« Dann war es für einen Augenblick still. Aber schon schimpfte Nonnenmacher weiter. Seine Verzweiflung klang ehrlich wie das Röhren eines liebeskranken Hirschs: »Warum ausgerechnet bei uns? Warum geht der Ölscheich nicht nach Timbuktu oder Burkina Faso? Gehört der Araber nicht eh in die Wüste? Mir Bayern bleiben doch auch daheim und fahren nicht sonst wohin in der Weltgeschichte.«
Als Anne diese Worte tiefgründiger Verzweiflung hörte, wünschte sie sich zurück in ihren Garten und träumte davon, sich die Kleider vom Leib zu reißen und in den morgenfrischen Bergsee zu springen, beim Tauchen das Kitzeln ihrer langen Haare auf dem Rücken zu spüren, sich danach in den Strahlen der noch zaghaften Sonne zu trocknen und – was für eine Vorstellung! – den Nonnenmacher Nonnenmacher sein zu lassen. Ein schlecht gelaunter Oberbayer, das hatte Anne, die aus dem Rheinland stammte, gelernt, war unberechenbar wie eine Wildsau, die gerade Frischlinge geworfen hat. Von so einem hält man sich besser fern, denn seine Angriffslust erfreut sich nicht umsonst eines legendären Rufs.
Als Anne Nonnenmachers Dienstzimmer betrat, war sie erleichtert, dort ihren jungen Kollegen Sepp Kastner – blond, breite Nase, immer auf Frauensuche – vorzufinden. Der studierte als Nonnenmachers Untergebener bereits seit mehreren Jahren die Eigenheiten des Polizeichefs und wusste, wie und wann man sich idealerweise vor ihm in Sicherheit brachte.
Nonnenmacher saß an seinem Platz und schaufelte aus einer roten Plastikbrotzeitdose kalten Reis in sich hinein – eine von vielen Diäten, die die fürsorgliche Gattin dem sensiblen Magen des Dienststellenleiters verordnet hatte. Diese Fastenkur, an der Nonnenmacher nun schon eine ganze Weile festhielt, entstammte einer Frauenzeitschrift.
Kastner indes stand vor dem Schreibtisch der Reis verschlingenden Wildsau und las aufmerksam das Blatt Papier, das jene – also Nonnenmacher – ihm gereicht hatte.
»Ts, ts, ts«, kommentierte Kastner, was Anne kurz an die Pumuckl-CD erinnerte, die sie am Morgen mit ihrer siebenjährigen Tochter Lisa zum gefühlten zwölftausendsten Mal angehört hatte; jedes Wort kannte Anne auswendig. Der Ersatzvater des Kobolds, Meister Eder, machte auch immer »ts, ts, ts«, wenn er Zeitung las. Wie Pumuckl in dem Hörspiel fragte Anne Loop leicht genervt: »Was ›ts, ts, ts‹?«
Ehe Kastner antworten konnte, brach es aus Kurt Nonnenmacher hervor: »So ein scheiß Scheich aus Ada Bhai will den Sommer bei uns verbringen.« Er stierte Anne vorwurfsvoll an. »Ausgerechnet bei uns!«
»Na und?«, meinte Anne verständnislos, denn dass Scheichs an ihrem schönen See oder auch sonst in Bayern Urlaub machten, war vollkommen normal und insgesamt eher zu begrüßen als ein Atomkraftwerk.
»Na und, na und!«, bellte Nonnenmacher, wobei ihm ein Reiskorn auskam, welches nach einem eher flachen, bogenförmigen Flug auf Sepp Kastners Uniformhemd landete. Kastner warf seinem Chef einen genervten Blick zu und schnippte das Reiskorn auf den Boden. Währenddessen dachte er an seine alte Mutter, die das Hemd waschen und bügeln musste, denn Kastner wohnte trotz seiner achtunddreißig Jahre noch daheim.
Nonnenmacher ließ sich durch das Flugmanöver nicht aus der Wut bringen, sondern röhrte weiter: »Nix ›na und‹. Das ist nicht irgendein Ölscheich, sondern das ist der Raschid bin Dingsbums, seines Zeichens Emir von Ada Bhai, so schaut’s aus, mein lieber Herr Gesangsverein!«
Anne verstand noch immer nicht, was daran schlecht sein sollte, und meinte deshalb vorsichtig: »Aber das ist doch gut für unser Tal. Der Scheich wird sicher viel Geld ausgeben, und es werden weitere Urlauber aus dem Nahen Osten kommen, wenn es ihm hier gefällt.«
»Um Gottes willen!« Nonnenmacher stöhnte theatralisch, während er seine Reisdose in der Schreibtischschublade verschwinden ließ. Vor seinem inneren Auge zeichneten sich Bilder des Schreckens ab: Gebetsteppiche auf bayerischen Berggipfeln, mit zahllosen Minaretten bestückte Moscheen an bayerischen Seen und in Vorhangstoffe gehüllte Frauen mit dämonischen Augen, so dunkel wie die Grillkohlebriketts aus dem Baumarkt.
Als Sepp Kastner Annes fragenden Blick registrierte, erklärte er: »Der Kurt meint halt, dass da sehr hohe Sicherheitsvorkehrungen notwendig sein werden, wenn der Scheich da ist. Da werden mir den halben Ort absperren müssen. Jedenfalls will es das Innenministerium so. Hier steht« – Kastner las überdeutlich und mit wichtiger Miene aus dem ministeriellen Fax vor: »Es ist mit größter Sorgfalt dafür Sorge zu tragen, dass der hohe Staatsgast Raschid bin Suhail samt Familie und Dienerschaft mit allen den örtlichen Sicherheitskräften zur Verfügung stehenden Mitteln vor Gefahren, Risiken, Anschlägen et cetera geschützt wird. Raschid bin Suhail ist der Emir von Ada Bhai. In Bayern entspricht der Rang des Emirs dem eines Königs. Er ist somit mindestens unter Personenschutz der höchsten Gefährdungsstufe zu stellen, wenn nicht mehr.«
»Das ist schlimmer, als wie wenn jetzt der König Ludwig leibhaftig vom Himmel herunterfahren tät’ und mir ihn in einem Luxushotel bewachen müssten«, brummte Nonnenmacher, der sich nun wieder etwas gefangen hatte und jetzt eher beleidigt als zornig klang.
»Der Ludwig tät’ niemals in ein Luxushotel ziehen«, erwiderte Kastner überzeugt, »dem wär’ ein Schloss lieber, vielleicht sogar bloß eine feuchte Grotte.«
»Der Ludwig hat unser Tal sowieso immer verschmäht«, meinte jetzt Nonnenmacher empört. »Ich glaub’, der war kein einziges Mal da.«
Und Kastner ergänzte: »Es waren halt immer nur die Herzöge, denen unser Tal gut genug war.«
»Immerhin haben mir heut’ die Milliardäre«, merkte Nonnenmacher nicht ohne Stolz an, was widersinnig war, weil er den Geldadel, der seit Jahrzehnten alles dafür tat, die Naturschönheit des Sees durch ästhetisch waghalsige Bauten zu beeinträchtigen, insgesamt nicht riechen konnte.
Kurz darauf saßen die drei im Streifenwagen und fuhren auf der Nordstrecke zur anderen Seeseite hinüber. Das Hotel, das sich der Scheich ausgesucht hatte, lag nicht direkt am Seeufer, sondern thronte erhaben auf einem Hang oberhalb der Stadt. Eine Abschirmung des Komplexes würde hier oben leichter fallen, hatte Sepp Kastner fachmännisch festgestellt.
»Ich bin ganz froh, dass sich die Araber nicht da unten am See einquartieren, wo’s so saumäßig eng ist. Außerdem sind mir da droben auch weiter weg von der Seestraße mit dem vielen Verkehr.« Dann verfiel Kastner in dozierenden Tonfall: »Verkehr mag der Attentäter nämlich. Er sucht sich bevorzugt Orte aus, die von vielen Menschen frequentiert werden – Festzelt, Fußballstadion, Flohmarkt …«
»Schon, schon«, meinte Nonnenmacher unwirsch, »aber das Gelände ist sausteil, und direkt oberhalb vom Hotel fängt der Wald an. Wenn sich ein mutmaßlicher Attentäter von da her anschleicht, dann schauen mir fei alt aus.«
»Mir müssen das Areal halt komplett umstellen, dann ist es sicher«, versuchte Sepp Kastner seinen Chef zu beruhigen.
»Und wie sollen wir das mit unseren paar Hanseln von der Dienststelle machen?«, blaffte Nonnenmacher den Untergebenen an und schüttelte dabei den Kopf.
Sepp Kastner schwieg beleidigt, doch Anne Loop, die neben Nonnenmacher auf dem Beifahrersitz sitzen durfte, fragte naiv: »Ist das Hotel denn so groß?«
»Ja, das werden schon so vier, fünf Gebäude sein«, erwiderte Nonnenmacher gewichtig. »Sogar ein Schloss gehört dazu.«
»Jugendstil«, tönte Sepp Kastner aus dem Fond des Wagens.
»Als ob du Gscheithaferl wüsstest, was das ist«, höhnte Nonnenmacher.
»Zumindest weiß ich, dass es nix mit der Fußballnationalelf zum tun hat. Seit der Dings Trainer ist, ist da ja auch immer vom Jugendstil die Rede.« Nach einem Zögern fragte er: »Anne, weißt du zufällig, was das genau ist, Jugendstil?«
»Das war eine Zeit vor etwas mehr als hundert Jahren, als man geschwungene Verzierungen und Blumendekorationen mochte«, antwortete Anne.
»Aber warum ›Jugend‹?«, wollte Kastner wissen.
»Keine Ahnung«, erwiderte sie und verfiel in Schweigen.
Nach einer kurzen Pause, in der Kastner versonnen auf den See geblickt hatte, meinte er: »Soweit ich weiß, hat da in dem Schloss auch einmal die Kaiserin von Russland gewohnt.«
»So ein Schmarren«, bügelte Nonnenmacher ihn nieder. Als Kastner daraufhin jedoch noch beleidigter als schon vorher schwieg, fügte Nonnenmacher besänftigend hinzu: »Das war eine Großfürstin, allerhöchstens.«
»Kurt, da liegst jetzt aber, glaub’ ich, falsch, weil mir haben das in der Schule gelernt: In dem Schloss von dem Hotel, da war die Maria von Sachsen, und die hat, dafür leg ich meine Hand ins Feuer, irgendwas mit dem russischen Kaiserhaus zum tun gehabt, also jedenfalls jobmäßig oder so.«
»Ja!« Nonnenmacher lachte anzüglich. »Wahrscheinlich einen Minijob beim Kaiser!«
Anne Loop verzog angewidert das Gesicht. In solchen Augenblicken bereute sie zutiefst, dass sie sich von München aufs Land hatte versetzen lassen. Zwar gab es in der Großstadt auch genügend ruppige Kollegen, aber insgesamt ging es dort in Polizeikreisen etwas weltoffener zu als in dem engen Bergtal, wo man trotz der zugereisten deutschen Monetenaristokratie und der vielen Urlauber doch schon sehr im eigenen Saft schmorte. Etliche Ureinwohner, zu denen ja auch Nonnenmacher zählte, fanden, dass der Tourismus den See zwar reich gemacht habe, dass aber erstens viel zu wenige davon profitiert hätten und zweitens die Landschaft dadurch etwas von ihrer Ursprünglichkeit verloren habe. Jeder Einheimische konnte auf Anhieb mehr als eine Handvoll furchterregender Bausünden aufzählen, die man den Auswüchsen des Tourismus zu verdanken hatte. Es waren beileibe nicht nur Naturschützer, die sich ausmalten, wie der eine oder andere einst schöne Fleck im Tal wieder aussehen könnte, wenn sich ein Terrorist fände, der eine Bombe legte und alles wieder so aussähe wie früher. Aber einen derart revolutionären Gedanken auszusprechen, getraute sich in dieser Zeit nur der Kaiser des Fußballs.
Das Polizeifahrzeug arbeitete sich durch den Verkehr aus der Stadt heraus und erklomm die steile Straße zum Hotel. Nonnenmacher parkte das Fahrzeug vor dem Haupthaus, über dessen steinernem Torbogen das Wort »Reception« prangte. Seiner Meinung nach schrieb man das mit »z«, aber das mit dem Ausländischen im Bayerischen war eine Seuche, neulich erst hatte seine Frau gegenüber Bekannten ein hundsgewöhnliches Weißwurstfrühstück als »Brunch« bezeichnet. Ein Weißwurstfrühstück!
Die drei Polizisten stiegen aus und betraten das Gebäude, wo sie ins Büro des Hoteldirektors geführt wurden.
Christian Geigelstein war ein aparter Mann mittleren Alters mit schwarzen, nach hinten gegelten Haaren, der die drei nach kurzer Begrüßung bat, Platz zu nehmen.
Anne fühlte sich in den bequemen Sesseln gleich wohl, wohingegen man Nonnenmacher und Sepp Kastner anmerken konnte, dass sie sich auf den Holzbänken des örtlichen Bräustüberls wohler gefühlt hätten.
»So, und zu Ihnen kommt jetzt so ein Ölscheich«, begann Nonnenmacher etwas ungelenk das Gespräch.
»Nun, ich würde es etwas anders formulieren; Herr Raschid bin Suhail ist der Emir von Ada Bhai, einem relativ kleinen Wüstenstaat auf der Arabischen Halbinsel, aber mit großem Ölvorkommen«, antwortete Geigelstein höflich.
»Und der traut sich, jetzt in Urlaub zu fahren? Wo es in der gesamten arabischen Welt gerade lichterloh brennt?«, fragte der Dienststellenleiter mit schadenfrohem Unterton.
»Falls Sie auf die Unruhen und revolutionsähnlichen Vorgänge Bezug nehmen sollten«, erwiderte der Hoteldirektor vorsichtig und wischte mit einer eleganten Handbewegung ein für die drei Polizisten nicht sichtbares Staubkorn von der glänzenden Tischplatte seines Schreibtischs, »bitte ich Sie, Ihre Mitarbeiter dringend zu instruieren, dass das gegenüber der Herrscherfamilie mit keinem Wort erwähnt wird. Der Emir und seine Gattinnen sollen sich bei uns erholen und sich keinesfalls mit etwaigen politischen Problemen belasten müssen.«
»Das ist schon interessant, gell«, feixte Nonnenmacher jetzt derart unverfroren, dass Anne ihm am liebsten einen Tritt gegen das Schienbein verpasst hätte, »dass nicht nur der Bayer sich nicht unterdrücken lässt, sondern sogar der Araber. Der Mensch ist halt, ganz wurscht, woher er kommt, freiheitsliebend und mag es nicht, wenn irgend so ein daherstrawanzter Herrscher über ihn bestimmt.«
»Aber Kurt«, schaltete sich Sepp Kastner ein, »du bestimmst ja auch über uns, und mir lassen uns das ja auch gefallen, meistens jedenfalls.«
»Das stimmt natürlich«, meinte Nonnenmacher, »eine gewisse Führung ist sicherlich in vielen Bereichen nicht schädlich. Dies gilt insbesondere für so sicherheitssensible, wie die umfassenden Aufgaben und Zuständigkeiten der Polizei es sind.«
Anne schämte sich in Grund und Boden für das Bild, das ihre beiden Kollegen abgaben, und so versuchte sie, den Blick des Hoteldirektors einzufangen. Doch der ließ sich von ihren blauen Augen nicht bezirzen, sondern meinte, ohne auf Nonnenmachers und Kastners Zwiegespräch über die Freiheit einzugehen: »Das Emirat von Ada Bhai zählt zu den wohlhabendsten Staaten der Welt. Armut und Arbeitslosigkeit sind dort Fremdwörter. Meines Wissens sind die Menschen dort frei. Jedem Bürger steht der Weg offen zu einem Studium, zu bester gesundheitlicher Versorgung und zu …«
»Meinungsfreiheit?«, unterbrach Nonnenmacher den beflissenen Vortrag des Hoteldirektors.
»Ich denke, dass es dort auch so etwas wie Meinungsfreiheit gibt«, erwiderte Geigelstein etwas irritiert. »Um es aber noch einmal klipp und klar zu sagen: Sollten Sie oder einer Ihrer Mitarbeiter gegenüber einer Person der Entourage des Emirs ein kritisches Wort verlieren, werde ich intervenieren, notfalls an höchster Stelle. Da werden Sie große Probleme bekommen. Für unser Haus geht es hier um einen wichtigen und anspruchsvollen Auftrag.«
»Und um einen Haufen Geld«, stellte Nonnenmacher trocken fest.
»Vielleicht sollten wir jetzt lieber das Sicherheitskonzept durchsprechen, anstatt weltanschauliche Diskussionen zu führen«, schaltete Anne sich in das Gespräch ein und wurde dafür endlich mit einem interessierten Blick des Hoteldirektors belohnt, der ihnen nun erklärte, dass der Emir mit seiner Familie vor allem im Schloss wohnen werde. Dort habe Raschid bin Suhail alle sieben Suiten und auch die übrigen Räume angemietet. Restaurant, Bar und was sonst noch in dem Gebäude untergebracht sei, stehe für den gesamten Sommer allein der Herrscherfamilie aus Arabien zur Verfügung.
»Werden Sie dann die komplette Saison über gar keine anderen Gäste in Ihrem Hotel beherbergen?«, fragte Anne Loop erstaunt nach.
»Doch«, erklärte der Hoteldirektor, allerdings dürfe das Schloss tatsächlich nur von den arabischen Gästen betreten werden.
»Und was ist mit dem Spa-Bereich und den anderen Hotelgebäuden?«, erkundigte sich Anne.
»Das ist eine gute Frage«, antwortete Geigelstein, was Sepp Kastner ein stolzes Lächeln entlockte, war er doch immer noch heimlich in die alleinerziehende Anne Loop verliebt, die, wie er fand, blitzgescheit war und zudem aussah wie Angelina Jolie, wenn nicht sogar besser. »Natürlich werden der Emir und seine Familie auch unser Spa nutzen. Allerdings können wir unsere anderen Gäste nicht völlig aussperren. Da müssen wir eine Lösung finden. Womöglich werden wir mit Herrn Raschid bin Suhail Wochenpläne aufstellen, sodass die zeitliche Nutzung genau geregelt ist. Irgendein Weg wird sich da hoffentlich finden. Für Sie ist aber vor allem wichtig zu wissen, dass keine Personen in die Hotelgebäude hineindürfen, die nicht Gäste oder Mitarbeiter unseres Hauses sind.«
»Das heißt, wir postieren vor jedem Gebäude Wachen?«, wollte Anne wissen.
»Das wäre aus meiner Sicht sinnvoll«, antwortete Geigelstein.
»Das ist ja der reine Wahnsinn«, entfuhr es Nonnenmacher, der bisher nur zugehört hatte. »Da brauchen mir ja mindestens dreißig Einsatzkräfte. Wie stellst’n dir das vor?« Dass er den Hoteldirektor geduzt hatte, war zwar eine Entgleisung, allerdings war das Duzen in den ländlichen Gebieten Oberbayerns weiter verbreitet als in den Metropolen des Landes.
Anne Loop rechnete. »Wir haben vier Gebäude, vermutlich jedes mit mehreren Eingängen.«
»Mir müssen ja nicht alle Eingänge offen lassen«, warf Sepp Kastner ein, dem gefiel, dass nun endlich etwas voranging.
»Genau«, nickte Anne zustimmend. »Gehen wir mal davon aus, dass wir für jedes Gebäude zwei Kollegen einsetzen, dann macht das acht. Bei drei Schichten à acht Stunden brauchen wir pro Tag vierundzwanzig Einsatzkräfte.«
»Unmöglich!«, polterte der Dienststellenleiter. »Völlig unmöglich. Mir haben ja auch noch anderes zum tun als irgendwelche Islamisten zum schützen!«
Der Hoteldirektor Geigelstein quittierte Nonnenmachers Ausbruch mit einem entsetzten Blick. Doch der war jetzt erst richtig in Fahrt gekommen und fügte noch hinzu, dass man so einen Zirkus ja nicht einmal veranstaltet habe, wie der Franz Josef Strauß noch im Tal gewohnt habe. »Und der war immerhin Ministerpräsident von Bayern und nicht bloß von Arabien.«
Ohne auf den Inspektionschef einzugehen, ergänzte der Hoteldirektor, der seinen Blick nun wieder unter Kontrolle hatte, Annes Ausführungen: »Außerdem wäre es sinnvoll, am Anfahrtsweg zwei Polizisten zu postieren und zudem zwei Beamte permanent auf dem Gelände Streife gehen zu lassen.«
»Macht insgesamt sechsunddreißig Personenschützer«, hielt Anne lächelnd fest. »Das wird ein richtiger Großeinsatz, und das den ganzen Sommer über!« Sie freute sich riesig, dass am See endlich einmal etwas los war. Die immer gleichen Internetbetrügereien und Verkehrsunfälle, mit denen sich ihre Dienststelle vor allem herumzuschlagen hatte, hingen ihr schon lange zum Hals heraus. Ohne Rücksicht auf ihren Chef fragte Anne nun kess: »Und bekommen wir jetzt noch eine Führung von Ihnen durch das Hotel, Herr Geigelstein?«
Ohne sich anmerken zu lassen, ob er Nonnenmachers Auftreten als ungebührlich empfand, führte der Hoteldirektor die drei Beamten zunächst in das moderne Gebäude, in dem die Tagungsräume und der Spa-Bereich untergebracht waren. Als Nonnenmacher in dem eleganten Schwimmbad stand, in dem es nach die Sinne verwirrenden Substanzen roch, verstummte sogar er kurz angesichts des majestätischen Ausblicks durch das Panoramafenster über Stadt und See hinweg zum bewaldeten Hirschberg und hinüber zum Ochsenkamp.
»Die Saunas kann ich Ihnen jetzt leider nicht zeigen, weil da gerade Gäste sind«, entschuldigte sich Geigelstein.
»Das ist ja schön hier«, flüsterte Anne Loop.
»Schon«, meinte auch Sepp Kastner. »Es riecht gut – und alles ist so …«, er suchte nach einem Wort, »… modern.«
Nonnenmacher brummte nur, wenngleich nicht ablehnend. Als das Quartett gerade die Behandlungsräume mit den Massageliegen passierte – auch von hier aus eröffneten sich eindrucksvolle Ausblicke auf das Alpenpanorama –, meinte der Polizeichef: »Herr Geigelstein, ich habe eine Frage.« Der Hoteldirektor schenkte dem Dienststellenleiter einen erwartungsvollen Blick. »Die Scheichsfrauen, die haben ja immer solche Vorhangkleider an.«
»Burka nennt man diese traditionelle Bekleidung meines Wissens nach«, erwiderte der Hotelier vorsichtig.
»Wie man’s nennt, ist ja wurscht – Hauptsache, mir verstehen uns, und das tun mir ja, oder?« Geigelstein nickte zögerlich. Er war sich nicht sicher, ob er und Nonnenmacher sich tatsächlich verstanden. »Also«, fuhr der Dienststellenleiter fort, »die Kleider haben diese Scheichsfrauen ja, weil man nicht sehen darf, dass sie schön sind, falls sie schön sind, oder?«
»So könnte man das wohl formulieren, unter Umständen«, meinte der Hoteldirektor zaghaft.
»Manche von denen sind sicherlich auch schön«, mischte sich Kastner in der Absicht ein, die von Nonnenmacher verbreitete finstere Stimmung etwas aufzuhellen. Ein Versuch, der aus Annes Sicht mit dieser Aussage nur halb glückte.
Nonnenmacher war das egal: »Hin oder her, jetzt kommt meine Frage: Wie gehen die Scheichsfrauen dann eigentlich schwimmen, wenn man nix sehen darf von ihnen? Die werden ja wohl nicht mit so einem Vorhang ins Wasser steigen?«
»Ich denke, dass die Ehefrauen eines Emirs genauso schwimmen gehen wie zum Beispiel Ihre Frau, Herr Nonnenmacher«, sagte der Hotelier. Er war nun nicht mehr ganz so gelassen wie gerade eben noch. »Der Unterschied wird nur sein, dass Frau Nonnenmacher vermutlich im öffentlichen Strandband schwimmen geht, wohingegen sich die Frauen eines Emirs lediglich in völlig abgetrennten Bereichen, zu denen vor allem auch kein Mann Zugang hat, den Badefreuden hingeben.«
»Gut, dann müssen halt immer Sie mitgehen, Frau Loop, wenn die Frauen vom Ölscheich baden gehen«, meinte Nonnenmacher versöhnlich. »Mir wäre es in dem Schwimmbad auf Dauer eh zu heiß.« Er dachte kurz nach und meinte schließlich: »Ziehen’S dann halt auch so einen Vorhang an – vielleicht einen in Polizeigrün.«
»So, dann zeige ich Ihnen jetzt noch unser Schloss«, sagte Geigelstein, der nicht sicher war, ob Nonnenmacher seine letzte Aussage ernst gemeint hatte. Er führte die drei in den Barocksaal mit dem großen Banketttisch. Die drei Polizisten zeigten sich beeindruckt.
»Hier kann man heiraten!«, meinte Sepp Kastner anerkennend.
»Das stimmt«, sagte der Hotelier lächelnd, »wir sind fast jedes Wochenende ausgebucht.«
»Vorausgesetzt, man hat eine Frau, gell, Sepp«, zog Nonnenmacher seinen unfreiwillig ledigen Untergebenen auf.
Der Hoteldirektor ging auch auf diese Unverschämtheit nicht ein, sondern erklärte stattdessen: »Hier wird die königliche Familie ihre Mahlzeiten einnehmen.«
»Müssen’S denen fei schon auch einmal Weißwürscht machen, gell. Dass’ wissen, was gut ist«, merkte der Dienststellenleiter todernst an.
»Das werden wir sicherlich nicht tun, Herr Nonnenmacher«, antwortete Geigelstein, sparte sich aber eine Erklärung, weshalb man den Gästen aus dem Nahen Osten diese bayerische Spezialität garantiert nicht servieren würde.
So beschwingt wie an diesem Tag war Anne Loop schon lange nicht mehr vom Dienst nach Hause gekommen. Im Garten des Hauses, das sie gemeinsam mit ihrer Tochter Lisa und ihrem Lebensgefährten Bernhard, der nicht der Vater des Kindes war, bewohnte, blühten Blumen und Büsche in voller Pracht. Im Hintergrund schimmerte unschuldig der See. Komisch war nur, dass die beiden bei dem schönen Wetter nicht im Garten waren. Anne schloss die Tür auf und rief laut: »Hallo!« Doch niemand antwortete. Noch einmal rief Anne: »Haallooo!« Keine Antwort. Die Polizistin schaute kurz ins Wohnzimmer, doch auch da war niemand. Dann betrat sie die Küche des Anwesens, das eigentlich das Ferienhaus von Bernhards nach Spanien ausgewanderten Eltern war – in dieser teuren Lage hätten sich Bernhard, der an seiner Doktorarbeit schrieb, und Anne mit ihrem Polizistinnengehalt niemals ein Haus leisten können. Doch auch hier war niemand, und an der Stelle, an der sie üblicherweise die Nachrichten füreinander deponierten, war auch nichts zu finden.
»Fuck«, entfuhr es Anne, denn ihr schwante nichts Gutes. Ihr Freund Bernhard von Rothbach litt nämlich an einer psychischen Krankheit, die viele Menschen für einen Witz hielten, Anne aber das Leben zur Hölle machte: Bernhard plagten regelmäßig hypochondrische Schübe, während derer er sich für unheilbar krank hielt und sich dann entweder in eine tiefe Depression flüchtete oder aber mit Selbstmordgedanken kämpfte. Es kam auch schon vor, dass Bernhard einfach für Tage verschwand – und sich dann plötzlich, wie aus dem Nichts, wieder bei ihr mit der Mitteilung meldete, er sei in einer Klinik, weil man vermute, er habe einen Gehirntumor. Natürlich war an all den Tumoren und sonstigen Gebrechen nie etwas dran. Aber zum einen konnte sich Anne nie ganz sicher sein, ob sich Bernhard in seiner Verzweiflung über eine eingebildete unheilbare Krankheit nicht doch einmal das Leben nahm, zum anderen bereitete es ihr jedes Mal große Probleme, wenn er ohne Vorankündigung verschwand und sie mit Lisa allein dastand. Denn wenn Bernhard nicht da war, wer holte Lisa dann von der Schule ab? Wer machte mit ihr Hausaufgaben? Und: Wo war Lisa jetzt?
Anne überprüfte den Anrufbeantworter, aber der ließ nur die Nachricht erklingen, dass sie herzlich eingeladen sei, fürs Sommerfest der Schule einen Kuchen zu backen, und zudem solle sie beim Verkauf mithelfen. Bei dem angekündigten Festtag handelte es sich um einen Mittwoch, was Anne ein erneutes »Fuck« entlockte, denn das bedeutete, dass sie sich einen Tag Urlaub nehmen musste, um in der Schule mit dabei zu sein. Einen Tag Urlaub zum Kuchenverkaufen. Wie machten das eigentlich andere Alleinerziehende?
Nachdem Anne Loop das obere Stockwerk des Hauses und auch den Garten nach Lisa und Bernhard abgesucht hatte und ausschließen konnte, dass die beiden sich einen Spaß mit ihr erlaubten, wählte sie zuerst Bernhards Mobilnummer. Es tutete eine Weile, was Anne für einige Augenblicke Hoffnung schöpfen ließ, doch dann ging die Mailbox an. Warum habe ich mir nur diesen Idioten als Freund ausgesucht?, schoss es ihr durch den Kopf, und sie verspürte ob dieses Gedankens nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Natürlich war Bernhard irgendwie auch toll. Er war einfühlsam, gebildet, ein Familienmensch – wenn er gesund war. Aber wenn dann wieder diese verfluchte Hypochondrie die Macht übernahm … Als Nächstes wählte Anne die Nummer der Familie von Lisas bester Freundin Emilie. Die Siebenjährige ging gleich persönlich ans Telefon.
»Emilie Eberhöfer?«
»Hallo, Emilie, hier spricht Anne. Ist Lisa bei dir?«
»Ja.«
Anne spürte die Erleichterung am ganzen Körper.
»Gibst du sie mir mal?«
»Wieso?«
»Weil ich sie was fragen will.«
»Was?«
Unglaublich, wie selbstbewusst die Kinder heutzutage sind, dachte Anne kurz und antwortete mit liebevoller Strenge: »Geht dich nichts an. Gib mir jetzt die Lisa!«
Kurz darauf war Lisa Loop am Apparat: »Hallo, Mama!«
»Hallo, Lisa, warum bist du bei Emilie?«
»Weil Bernhard weg musste.«
»Hat er dich von der Schule abgeholt?«
»Ja, aber dann hat er gesagt, ich soll mit Emilie mitgehen.«
»Wieso?«, fragte Anne verständnislos.
»Keine Ahnung. Er hat nur gesagt, dass er weg muss. Du, wir malen gerade.«
Kinder gehen mit den Verrücktheiten des Lebens wesentlich entspannter um als Erwachsene, stellte Anne fest und verzichtete darauf nachzufragen, wohin Bernhard »musste«, sie hatte ohnehin so eine Ahnung. »Gibst du mir mal Emilies Mutter?«
»Wieso?«
»Lisa, gib mir jetzt bitte Emilies Mutter, verdammt!«
Als die Mutter der Schulfreundin am anderen Ende der Leitung war, entschuldigte sich Anne, dass Bernhard ihr die Verantwortung für Lisa so kurzfristig »aufs Auge gedrückt« hatte. Aber auch wenn Emilies Mutter ihr mit keinem Ton das Gefühl gab, dass sie Bernhards Vorgehen für nicht so geschickt hielt, fühlte Anne sich schlecht. Wie ätzend es doch war: Ständig brachte Bernhard sie in unangenehme Situationen. Wie konnte jemand, der über die Philosophie der Verantwortung promovierte, derart verantwortungslos sein?
Als Anne am nächsten Tag die Dienststelle betrat, war der Groll verflogen. Zwar hatte sie am Abend vorher noch mehrmals versucht, Bernhard auf dem Handy zu erreichen, jedoch erfolglos. Doch dieses Mal hatte Anne keine verheulte Nacht verbracht. Sie hatte beschlossen, sich keine Sorgen mehr um ihn zu machen. Seine hypochondrischen Eskapaden gingen ihr schon viel zu lange auf die Nerven! Sie würde sich gefühlsmäßig von ihm abkoppeln, zumindest in diesen Phasen. Und: Bernhard würde sich wieder melden. Ganz sicher würde er sich wieder melden. Mit welch überraschender Nachricht dies sein würde, konnte sie freilich in dem Moment, in dem sie das Büro ihres Chefs Kurt Nonnenmacher zur morgendlichen Besprechung betrat, noch nicht ahnen.
Der Chef wirkte noch grantiger als am Vortag. Auf seinem Schreibtisch lag ein Blatt Papier, und seinem Gehabe nach hatte seine miese Laune etwas damit zu tun.
Als auch Sepp Kastner mit leichter Verspätung den Raum betrat und wie üblich die Tür nur anlehnte, wies Nonnenmacher ihn wütend zurecht: »Tür zu, oder habt’s ihr daheim Teppiche vor der Tür hängen?«
Kastner roch die dicke Luft, trabte deshalb zügig zur Tür und schloss sie möglichst geräuschlos.
Die Zimmerpflanze, die hinter Nonnenmachers Rücken auf dem Fensterbrett vor sich hin vegetierte, wippte zaghaft in der lauen Seeluft, welche sich gemeinsam mit einer Wespe durch das gekippte Fenster hereinschummelte.
»Frau Loop, jetzt mal unter Kollegen und ganz ehrlich: Haben Sie hinter meinem Rücken irgendwas mit dem Ministerium gemauschelt?«
Anne schaute ihren Vorgesetzten irritiert an. Dessen Magen knurrte wie ein wildes Tier, obwohl das Reisfrühstück, das er heute auf seinem Freisitz mit Blick auf das Gulbransson-Museum eingenommen hatte, kaum länger als achtunddreißig Minuten zurücklag. Auch Sepp Kastner wirkte plötzlich nervös. Und als wäre dies nicht schon genug, trainierte direkt vor dem Fenster eine Möwe Sturzflug.
Ehe Anne etwas antworten konnte, drohte Nonnenmacher: »Ich sage Ihnen eins: Wenn Sie mich hier als Dienststellenleiter absägen wollen, dann gnade Ihnen Gott! Ich schau’ vielleicht aus wie der Alm-Öhi, aber innen drin bin ich ein …« Nonnenmacher suchte nach einem passenden Vergleich und sagte dann »Schlangenkopffisch«, was Sepp Kastner unheimlich lustig fand. Vermutlich hatte der Chef gestern auch die spätabendliche Wiederholung der Zoosendung über die Raubfische gesehen, die bis zu einen Meter dreiundachtzig lang werden konnten. Anne dagegen konnte daran gar nichts Komisches finden. Ministerium! War Nonnenmacher verrückt geworden?
»Warum sagen’S jetzt nix?«, fuhr Nonnenmacher sie an, wobei er aber leicht verunsichert klang.
»Weil … weil«, stotterte Anne, »weil ich gar nicht weiß, worauf sie hinauswollen! Ist denn was passiert?«
»Ja«, antwortete Nonnenmacher kurz und knapp. »So etwas Intrigantes ist mir in den ganzen sechzehn Jahren, in denen ich diesen Job hier mache, nicht untergekommen.«
»Ja was denn, Kurt?«, wollte jetzt auch Kastner wissen. »Was ist denn passiert?«
»Ich bin entmachtet«, sagte Nonnenmacher, und er klang dabei wie ein bayerischer König, dem sein Kabinett handstreichartig die Regentschaft entzogen hat. Erneut probte vor dem Fenster die Möwe den Sturzflug, dieses Mal mit gellendem Schrei. Es klang beeindruckend.
»Wirst du versetzt oder was?«, fragte Kastner ratlos.
»Das wär’ ja noch schöner!«, rief der sechsundfünfzigjährige Dienststellenleiter, Bartträger, Fliegenphobiker, Hobbyliebeslyriker und Familienvater jetzt so laut, dass ein Kollege von der Bereitschaft besorgt seine Nase ins Dienstzimmer steckte und fragte, ob man Hilfe brauche.
»Du, hau bloß ab!«, brüllte Nonnenmacher ihn an und suchte Annes Blick: »Frau Loop, eines sage ich Ihnen: Ich lasse mir nicht von einer dahergelaufenen Schlampe wie Ihnen die Arbeit wegnehmen!«
»Kurt, jetzt geh!«, versuchte Kastner den wütenden Chef zu bremsen. »So was sagt man aber nicht zu einer Kollegin, die wo bis jetzt eine super Arbeit geleistet hat bei uns.«
»Und das alles wegen den Islamisten!«, schrie Nonnenmacher nun so schrill, dass sich seine Stimme überschlug. Kurz nachdem seine flache Hand ein weiteres Mal auf den Tisch niedergesaust war, klopfte es an der Wand zum Nachbarbüro, und eine weibliche Stimme rief: »Kurt, geht’s eigentlich noch?«
Nonnenmacher verdrehte die Augen und murmelte etwas Unverständliches, das sich für Anne anhörte wie: »Grutzedürckenherrgodsakramenterweibasleit.«
Kastner ließ sich durch das wütende und mit Sicherheit frauenfeindliche Gemurmel nicht davon abbringen, den Grund für Nonnenmachers Ärger herauszufinden, und fragte mit unschuldigem, beinahe erleichtert klingendem Interesse: »Ach, hat’s was mit dem Scheich zum tun?«
»Ja, so kann man das sagen!«, antwortete der leicht füllige Inspektionsleiter, nun in gedämpfterem, wenngleich noch lautem Ton. »So kann man das sagen. Diese Ölscheichs kaufen uns nicht bloß die bayerischen Fußballvereine vor der Nase weg, die zerstören auch noch unsere Existenzen. Sepp, ich sage dir: Es wird kommen der Tag, da kommt so ein Öl-Taliban daher und kauft uns den See unterm Arsch weg. Haut ein paar Millionen auf den Tisch, und weg ist das Wasser, inklusive Fische, Seerosen und Wasserläufer. Einfach so! So schnell kannst’ gar nicht schauen, mein Lieber, das sag’ ich dir!«
»Ja, aber was hat jetzt die Anne damit zum tun?«, traute sich Kastner nun doch noch einmal nachzufragen.
»Das Ministerium hat sie zur Leiterin der gesamten Scheiß-, ach, was sag’ ich – Scheichs-Aktion ernannt.« Nonnenmacher sah Kastner ernst an. »Das heißt, ich bin da heraußen. Das muss man sich einmal vorstellen!« Das bärtige bayerische Mannsbild wischte sich den Schweiß der Verzweiflung und des Zorns von der Hand und schleuderte ihn gegen den Dienstplan an der Korkpinnwand. »Was die Leute jetzt von mir denken.« Nun flüsterte der wütende Gendarm beinahe, während sein Magen furchterregend knurrte. »Ich sag’ euch, was die Leute sagen werden: Der Nonnenmacher hat nix mehr zum melden. Das Ministerium traut dem Nonnenmacher nicht einmal mehr zu, dass er einen Ölscheich bewacht. Der Nonnenmacher lässt sich jetzt von einer Polizistin, die ausschaut wie die Brigitte Bardot« – Kastner unterbrach ihn mit einem korrigierenden »Angelina Jolie, die Bardot war blond«, was Nonnenmacher aber egal war –, »… auf der Nase herumtanzen. Das werden die Leut’ reden!«
Anne war sich nicht sicher, aber bei den letzten Worten glaubte sie Tränen in den Augen des Dienststellenleiters erspäht zu haben. Dabei hatte ihr Sepp Kastner erst kürzlich erklärt, dass ein bayerischer Mann nur in einer Lebenssituation weine: wenn seine Mutter sterbe. Nonnenmacher tat ihr aufrichtig leid.
Die Möwe hatte ihr Training beendet, dafür röhrte nun ein Traktor so laut an der Inspektion vorbei, dass Nonnenmacher seine Augenbrauen tief in die Stirn zog und für einen Augenblick sein Jagdinstinkt geweckt war: Denn hier verletzte ein Landwirt gerade eindeutig den Lärmgrenzwert, was natürlich bußgeldfällig war und somit eine Obliegenheit der Polizei.
Doch ehe Nonnenmacher sich um die Verfolgung des Ruhestörers kümmern konnte, sagte Anne ruhig: »Aber Herr Nonnenmacher, wir ziehen hier doch an einem Strang! Ohne Ihre Erfahrung sind wir doch völlig aufgeschmissen. Gerade wenn es darum geht, so hohen Besuch zu schützen. Allein schon Ihre präzise Ortskenntnis ist doch unerlässlich für uns, Ihre Erfahrung, Ihr diplomatisches Geschick.« Sogar dieser letzte Zusatz kam ihr völlig ironiefrei über die Lippen. »Dieser Sommer, dieser Scheichbesuch bringen Herausforderungen für uns, die ohne Ihre Kompetenz und Ihr polizeiliches Wissen nicht zu bewältigen sind. Da ist es doch ganz gleich, was das Ministerium uns schreibt, oder was meinen Sie?«
Nonnenmacher brummte etwas Unverständliches in seinen Bart hinein, insgesamt klang es aber nach besänftigter Zustimmung. Deshalb fuhr Anne fort: »Außerdem ist es doch auch eine Auszeichnung für unsere Dienststelle, dass wir mit der Bewachung eines echten arabischen Königs beauftragt werden und nicht die Kollegen aus der Kreisstadt oder aus München.«
»Das ist natürlich richtig«, stimmte der Inspektionschef zu und sah Anne mit offenem Blick an. »Dass mir die ganze Aktion dann aber gemeinsam durchziehen! Von wegen Gesichtswahrung und so.«
Anne nickte. Nonnenmacher, jetzt selbstsicherer, fuhr fort: »Dass ich quasi weiter der Chef bin und Sie sozusagen einen Sonderauftrag bekommen, also von mir.«
»Genau«, sagte Anne und fand Nonnenmacher, diesen Bären von einem Mann, für einen Moment beinahe süß. Auch Sepp Kastner war furchtbar erleichtert, dass die für eine gute Zusammenarbeit so wichtige Harmonie wiederhergestellt war, und erkundigte sich nun leise, was denn eigentlich genau auf diesem Zettel stehe.
Nonnenmacher informierte sie, dass das Ministerium die ganze Verantwortung für die Sicherheit des Besuchs des arabischen Königshauses in die Hände der hiesigen Polizeiinspektion lege und höflich dazu auffordere, möglichst schnell einen Einsatzplan mit einer konkreten Kräfteanforderung vorzulegen. Denn dem Ministerium sei auch klar, dass mit den in der hiesigen Polizeiinspektion zur Verfügung stehenden Beamten der Emir und seine Familie unmöglich hinreichend bewacht werden könnten. »Mir kriegen also Verstärkung«, sagte Nonnenmacher.
»Hoffentlich nicht aus Franken«, meinte Kastner.
»Noch schlimmer wären Schwaben«, ergänzte der Dienststellenleiter. Was er unterschlug, war die Tatsache, dass er vom Ministerium vor allem aus zwei Gründen nicht mit der Leitung der Bewachung der Scheichsfamilie beauftragt worden war: Zum einen, weil er kein Englisch sprach, zum anderen aber, weil der Direktor des Luxushotels, in dem der Emir absteigen würde, angeregt hatte, anstatt des bärbeißigen Inspektionsleiters »diese hellwache junge Polizistin« mit der Aufgabe zu betrauen. Dies fanden Sepp Kastner und Anne Loop aber erst heraus, als sie mit einer Kopie des ministeriellen Schreibens in ihrem eigenen Dienstzimmer saßen.
»So ein Scheich«, meinte Nonnenmacher während der Mittagspause zu Sepp Kastner, als Anne gerade gegangen war, um sich einen Kaffee zu holen, »so ein Scheich ist schon ein rechter Sauhund.«
Die beiden Polizisten saßen im Freisitz hinter der Inspektion und genossen bei bayerisch-blauem Himmel die Frühlingssonne. Sepp Kastner, den Mund noch voll von der Leberkässemmel, in die er soeben gebissen hatte, nuschelte: »Warum?«
»Wegen der Vielweiberei«, erläuterte der Dienststellenleiter. »So ein Scheich hat nicht nur eine Frau, sondern gleich fünf oder zehn.« Nonnenmacher lehnte sich nach vorn, sodass die Bank, auf der er saß, verdächtig knarzte. »Das tät’ uns doch auch gefallen, oder?«
»Schon, schon«, stimmte Kastner zu, dachte sich aber insgeheim, dass ihm eine einzige Frau eigentlich schon reichen würde. Die Anne Loop zum Beispiel. Aber irgendwie war er, was dieses Thema anging, in den vergangenen Monaten nicht so recht vorangekommen. Unverdrossen hielt sie an diesem ja offensichtlich geisteskranken Freund fest. Ob es daran lag, dass dieser komische Bernhard ein Adliger war? Eine Doktorarbeit schrieb er auch. Aber das war ja seit dem Skandal mit dem Bundesminister, der seine Doktorarbeit getunt hatte, wohl nichts mehr, womit man eine Frau beeindrucken konnte. Womit konnte man heute eigentlich Frauen beeindrucken? Ein cooles Auto mit breiten »Schlappen« genügte offensichtlich nicht mehr. War es ein enthaarter Körper oder ein Handy, das sprechen, vielleicht sogar jodeln konnte? Ein Haus mit Garten oder eine Wohnung ohne Wände in Berlin? Wie überhaupt musste der Mann von heute sein – hart oder weich? Dominant oder zärtlich oder alles auf einmal?
Nonnenmacher riss ihn aus seinen Gedanken. »Wenn ich mir das ausmale: Ich komme nach Hause. Meine Helga steht in der Küche und macht mir einen Wurschtsalat. Derweil gehe ich ins Wohnzimmer, da sitzt so eine fesche Erscheinung wie die Gitti vom Kiosk – jetzt bloß als Beispiel – und hilft mir aus der Uniform.«
»Die Gitti vom Kiosk?«, fragte Kastner und schaute seinen Chef mit gerunzelter Stirn an.
»Jetzt bloß als Beispiel!«, antwortete Nonnenmacher und träumte weiter: »Und die hätte dann praktisch nix an, außer einem Tanga.«
»Außer einem Tanga«, wiederholte Kastner ungläubig.
»Und die tät’ mich dann aufs Sofa legen und sich in ihrem Tanga auf mich draufsetzen und mir eine arabische Massage machen.«
»Tanga, arabische Massage und ein Wurstsalat«, sagte Kastner und versuchte aus reiner Kollegialität den Traum seines Chefs nachzuvollziehen, was ihm nicht hundertprozentig gelingen wollte, weil erstens die Vorstellung von der verhältnismäßig voluminösen Gitti vom Kiosk in einem Tanga seine Phantasie nur bedingt anregte und er zudem Nonnenmachers Regalwand aus dunklem Furnierholz, in der neben Polizeiwappen und alten Polizeikopfbedeckungen auch die Schlumpfsammlung von Nonnenmachers Frau Helga stand, nicht aus dem Bild bekam.
»Und während die Gitti mich massiert, also arabisch, bringt die Helga den Wurschtsalat herein und eine andere schöne Frau – sagen mir einmal die Dings von der Metzgerei …«
»Welche Dings?«, unterbrach ihn Kastner, der diese ganze Phantasie allmählich etwas blöd fand.
»Ach die Dings halt, die Blonde, die wo als Aushilfe in der Metzgerei jobbt, weißt’ schon.«
»Ach die Dings, die wo so dunkelhellblond ist!«, erwiderte Kastner diplomatisch, obwohl er keine Ahnung hatte, wen der Dienststellenleiter meinte.
»Ja genau die!«, freute sich dieser. »Die, ich glaub’, Antje heißt die, die käm’ aus dem Keller mit einem eisgekühlten Hellen.«
»Auch im Tanga?«, fragte Kastner, jetzt allerdings eher scherzeshalber.
Doch Nonnenmacher bemerkte die Ironie in der Stimme seines Untergebenen nicht, sondern erwiderte ernst: »Nein, in einer roten Korsage mit Strapsen.«
»So ein Schmarren«, kommentierte Kastner nach einer kurzen Pause.
»Überhaupts nicht!«, brauste der Inspektionschef auf. »Die Antje tät’ in einer Korsage eine gute Figur machen, wenn sie mit einem Hellen aus meinem Keller käm’.«
»Das mein’ ich ja gar nicht«, erwiderte der Untergebene. »… das mit der Antje, ich mein das mit der Korsage: Die sind doch alle verhüllt, die Ehefrauen von den Scheichs. Da geht nix mit Strapsen und so was. Die tragen weite Kleider, die ausschauen wie Zelte, und’s Gesicht haben’s auch vermummt. Das wirkt sich von der Optik her praktisch aus wie ein Kopfverband.«