Cellotechnik
Gerhard Mantel
Cellotechnik
Bewegungsprinzipien
und Bewegungsformen
Überarbeitete Neuauflage
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Bestellnummer SDP 85
ISBN 978-3-7957-8633-5
© 2015 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
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Als Printausgabe erschienen unter der Bestellnummer ED 8749
© 2011 Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz
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Inhalt
Vorwort zur Neuauflage
Einleitung
Teil A: Die zielgerichtete Bewegung
I.Bewegung als Steuerungsmechanismus
1.Allgemeines
2.Die Zielvorstellung
3.Die Bewegungskontrolle
II.Der physikalische Aspekt der Bewegung
1.Kraft und Masse
2.Das Gleichgewicht
3.Kraftreserve und Lockerheit
III.Bewegung als Gestalt
1.Die räumliche Zusammensetzung der Bewegung
2.Die Bewegung in der Zeit
Teil B: Das Griffbrett
I.Der Lagenwechsel
1.Gesamtkörperbewegung beim Lagenwechsel
2.Rumpfdrehung und Beinmuskulatur
3.Der federnde Rumpf
4.Atmung und Lagenwechsel
5.Strichrichtung und Lagenwechsel
6.Portamento und Rhythmus
7.Die Bewegung des linken Arms beim Lagenwechsel
8.Die Bewegung von Hand und Finger beim Lagenwechsel
9.Fingeraktivität bei der Vorbewegung
II.Haltung von Fingern, Hand und Arm innerhalb einer Lage
1.Hand und Lage
2.Erste bis vierte Lage
3.Die Übergangslagen (fünfte bis siebte Lage)
4.Der Daumenaufsatz
5.Saitenübergang und Doppelgriffe
III.Die Bewegung innerhalb der Hand
1.Die Perkussion
2.Der Triller
3.Geläufigkeit
IV.Das Vibrato
1.Vibrato als Ausdrucksmittel: Frequenz und Amplitude
2.Die Vibratobewegung im Arm
3.Anwendung des Vibratos in der Praxis
4.Vibrato und Tonhöhe
Teil C: Der Bogen
I.Die gestrichene Saite
1.Wie entsteht ein Ton auf der Saite?
2.Veränderung der Lautstärke: Druck, Geschwindigkeit, Strichstelle
3.Klangfarben
4.Geschwindigkeit, Druck und Strichstelle in der praktischen Anwendung
5.Der Einschwingvorgang: Probleme der Ansprache
II.Die Übertragung des Drucks auf die Saite
1.Das Armgewicht
2.Das Drehmoment (Die Drehkraft)
3.Druckverhältnisse in der Bogenhand
4.Bogenhaltung
5.Die Schräglage des Instruments
III.Die Bewegung des rechten Arms
1.Oberarm und Unterarm beim Ganzbogenstrich
2.Hand- und Fingerbewegung beim Ganzbogenstrich
3.Der Bogenwechsel
4.Der Saitenübergang
5.Der gleichzeitige Bogen- und Saitenwechsel
IV.Stricharten
1.Détaché
2.Martellato
3.Staccato
4.Geworfene Stricharten
Nachwort
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Register
Vorwort zur Neuauflage
Der Neudruck von Cellotechnik erfolgt auf Wunsch vieler Kollegen, die es bedauern, dass das erstmals im Jahr 1972 erschienene Buch lange Zeit vergriffen war.
Die instrumentalpädagogischen und psychologischen Erkenntnisse von damals haben sich natürlich erweitert und in Einzelfällen auch modifiziert. Populärwissenschaftliche Resultate der neurologischen Forschung lagen damals noch nicht vor oder waren kaum bekannt.
Zwischen den Veröffentlichungen von Cellotechnik und dem späteren Cello üben liegen zwei Jahrzehnte intensiver pädagogischer Erfahrung, sodass sich selbstverständlich auch der Blickwinkel des Autors erweitert hat. Viele grundsätzliche Beobachtungen von damals jedoch, vor allem die, welche sich auf physikalische Fakten beziehen, sind unabhängig von Meinungen und gelten heute wie damals.
Im methodischen und im physiologischen Bereich beschreibt Cellotechnik allgemeine Bewegungsformen und Bewegungsprinzipien, während – auf dieser Basis – in späteren Arbeiten des Autors der Schwerpunkt mehr auf den notwendig hieraus sich ergebenden methodischen Lernprozessen mit dem Ziel künstlerischer Interpretation liegt.
Die Wiederveröffentlichung von Cellotechnik soll den jüngeren Cellokollegen als Anreiz dienen, das wundervolle Feld des Cellospiels und seiner Pädagogik weiter zu erforschen!
Gerhard Mantel
Einleitung
Dieses Buch soll keine »Celloschule« sein. Es gibt eine Reihe von guten neueren Unterrichtswerken, die in sinnvollem methodischen Fortschreiten von den einfachen bis hin zu den komplizierteren Problemen der Cellotechnik dem Lehrer einen »Leitfaden« zur Unterrichtsgestaltung, dem Schüler Übungsmaterial für einen systematischen Aufbau seiner Technik zur Verfügung stellen. Neben dem Übungsmaterial enthalten sie im Allgemeinen Anweisungen, die sich z. B. auf Haltung, Übungsweise und Zielsetzung beziehen. Allen diesen Werken ist gemeinsam, dass in ihnen die Entwicklung eines Schülers von den ersten tastenden Versuchen bis zu einem mehr oder weniger souveränen Stand technischen Könnens gewissermaßen im Längsschnitt dargestellt wird. Diese Werke haben eine wichtige Funktion in der Pädagogik unseres Instruments. Sie lenken den Prozess des Lernens.
Seltener hingegen findet man Werke, die von der Frage ausgehen: »Was geschieht eigentlich beim Spielen?« Hier wird die Technik gewissermaßen im Querschnitt betrachtet. Ausgangspunkt ist nicht die Frage: »In welchem Entwicklungsstadium befindet sich die Technik eines Spielers?«, sondern die Frage: »Was macht ein Könner anders als ein Nichtkönner?«, wobei Könner und Nichtkönner innerhalb eines kurzen Zeitraums durchaus von derselben Person dargestellt werden können.
Charakteristisch für die »Längsschnitt-Betrachtung« wäre der Satz: »Man übe diese Stelle so lange, bis sie sicher sitzt.« Charakteristisch für die »Querschnitt-Betrachtung« wäre der Satz: »Man versuche herauszufinden, was beim Gelingen dieser Stelle im Gegensatz zu ihrem Misslingen geschieht.«
Wenn auch niemand einfach einige Phasen seiner Entwicklung überspringen kann, jeder also einen Prozess des Lernens durchlaufen muss, so soll in diesem Buch der Akzent doch auf der zweiten, nämlich der »Querschnitts-Betrachtung« liegen.1 Von einer Lehrmethode im strengen Sinn kann dabei nicht gesprochen werden, denn zu jedem Zeitpunkt jeder Methode ist diese Anschauungsweise möglich und sinnvoll. Sie setzt natürlich gewisse Grundkenntnisse im Cellospiel voraus, kann aber jedem Cellisten, Lehrer, Schüler und Autodidakten (und jeder ist in gewissem Sinne Autodidakt) unabhängig vom erreichten Stadium Anregungen zum Üben liefern.
Es liegt hier eine Erfahrung beim Üben zugrunde: Üben ohne eine genaue Vorstellung, was eigentlich geübt werden soll, ist Zeitverschwendung. Das klingt ziemlich platt, die Frage wird jedoch verständlicher, wenn sie genauer gestellt wird: »Unter welchen Gesichtspunkten wird hier und jetzt geübt? Rhythmus? Intonation? Gedächtnis? Klangqualität? Tempo? Klarheit der Vorstellung? Phrasierung? Koordination zwischen rechts und links? Untersuchung körperlicher Spannungen? Eleganz der Bewegung? Kraft und Ausdauer?« Wir haben hier eine Fülle von möglichen Aspekten; natürlich ist es unmöglich, beim Üben alle gleichzeitig zu berücksichtigen. Bei sinnvollem Üben können immer nur sehr wenige dieser Gesichtspunkte – eigentlich nur ein einziger – gleichzeitig berücksichtigt werden.
Fehlt eine übergeordnete Idee beim Üben, dann bringt dies nicht nur keinerlei Nutzen, sondern schadet sogar: All das, was das Gelingen einer Stelle verhindert, wird durch zahlreiche Wiederholungen ja in den Automatisierungsvorgang miteinbezogen. Am Ende des Übens geht die Stelle vollkommen automatisch – falsch.
Nun können aber andererseits Anweisungen, die in bestimmtem Zusammenhang richtig sind, durch unzulässige Verallgemeinerung falsch werden. Sie können in Sackgassen führen, aus denen sich nur unter größten Mühen ein Ausweg finden lässt. Oft gründen sie sich auf ungenaue Beobachtungen, auf die Verwechslung von (statischer) Haltung und (dynamischer) Bewegung oder einfach auf ungeprüfte Übernahme von den »geistigen Vorfahren«, also den Lehrern des Lehrers. Hier einige Beispiele für solche ungenauen Anweisungen:
Der linke Daumen soll locker am Cellohals aufliegen.
Der rechte Arm soll niedrig (oder hoch) gehalten werden.
Laut spielt man mit allen Haaren des Bogens, leise mit wenigen.
Beim Lagenwechsel muss der Arm in die neue Lage fallen.
Der rechte Daumen soll entspannt sein. Die Kraft wird mit dem Armgewicht auf den Bogen übertragen.
Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Eine Anweisung aber, die nicht beweisbar ist, gibt dem Schüler keine Chance, eigene Erfahrungen durch eigene Einsicht in ihren Sinn zu machen, um das nun selbst als zweckmäßig Erkannte immer wieder zu tun und schließlich zu automatisieren.
Ein Buch über die Technik des Cellospiels begegnet einer prinzipiellen Schwierigkeit: Zwischen dem Bereich der »Musik« und dem der »Technik« muss bei dieser Themenstellung irgendwo die Grenze gezogen werden. Hinsichtlich des Spielerlebnisses – und darum geht es hier – lässt sich das Spiel jedoch nicht aufspalten in körperliche, seelische und geistige Kategorien, wobei der Technik der körperliche Bereich zukäme.
Es leuchtet jedem ein, dass sich eine mangelhafte Technik dem musikalischen Ausdruck hindernd in den Weg stellt, da die schönste künstlerische Vorstellung verloren ist, wenn sie nicht in Klang umgesetzt werden kann. Aber nicht nur das klingende Resultat wird durch eine mangelhafte Technik beeinträchtigt, sondern schon die Vorstellung dieses Resultats wird eingeengt, wenn ein an sich fantasievoller Spieler nicht über die Mittel verfügt, feinste Details der Phrasierung mit überzeugender Sicherheit darzustellen. Außerdem führt eine körperliche Anstrengung, verbunden mit wiederholten Enttäuschungen, schließlich zu einer seelischen Grundhaltung der Frustration, aus der heraus eine souveräne künstlerische Gestaltung nicht mehr möglich ist.
Umgekehrt beflügelt die technische Sicherheit des eigenen Spiels zur Suche nach immer neuen Ausdrucksmöglichkeiten.
Der Spieler selbst kann also das Erleben der eigenen Technik vom Erleben der musikalischen Gestaltung nicht trennen. Wohl aber ist es möglich, den Gesamtvorgang des Spiels logisch in lehr- und lernbare Einzelbereiche zu gliedern. Für die Praxis gelingt uns damit die Trennung der »Technik« von der »Interpretation«, und gleichzeitig erhalten wir einen Ansatzpunkt für die Analyse dieser Technik.
Eine solche Gliederung kann folgendermaßen aussehen:
1.Oberste Instanz, die die Aufgaben stellt, ist die Persönlichkeit des Spielers mit allem, was ihr an Fantasie, Energie, Erlebnisintensität und Wissen zur Verfügung steht.
2.Sie schafft sich eine musikalische Vorstellung vom klingenden Resultat.
3.Um diese Vorstellung zu verwirklichen, bedarf es einer genauen Kenntnis der instrumentalen Forderungen, d. h. einer Einsicht – die intuitiv sein kann – in den gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen dem Klang und seiner physikalischen Hervorbringung.
4.Sodann muss eine körperliche, »sportliche« Bereitschaft bestehen, diese Forderungen in der Bewegung zu erfüllen; es muss die vom Instrument geforderte Kraft und Beweglichkeit vorhanden sein.
5.Die drei Faktoren »musikalische Vorstellung«, »körperliche Gegebenheiten« und »instrumentale Forderungen« führen zur Vorstellung vom Bewegungsziel. Die Zielvorstellung kann sich sowohl auf die Stelle auf dem Griffbrett als auch auf die innerlich vorausgehörte Tonhöhe beziehen; außerdem kann sie aus dem Bewegungsgedächtnis kommen. Bei der linken Hand bezieht sich diese Vorstellung mehr auf den Endpunkt der Bewegung, bei der rechten Hand mehr auf den Verlauf der Bewegung.
6.Die Zielvorstellung wiederum führt zur Bewegung selbst. Ein Ziel kann aber auf mehrere Bewegungsarten erreicht werden.
7.Die Bewegung geht ihrerseits mit einer bestimmten Bewegungsempfindung einher. Diese Empfindung kann deutlich oder undeutlich sein.
8.Die Bewegungsempfindung führt zu einer ständigen Kontrolle und damit Korrektur der Bewegung durch den fortwährenden (unbewussten) Vergleich mit der Bewegungszielvorstellung.
9.Zielvorstellung, Bewegung und Bewegungsempfindung stellen einen Regelkreis oder besser Steuerungsmechanismus dar. In die kontinuierlich korrigierenden Impulse, die das äußere Geschehen lenken, spielen außerdem minimale psychische Spannungen hinein; man könnte auch sagen, diese sind die innere Entsprechung dessen, was äußerlich (physiologisch) geschieht. Sie sind im Bereich von Hoffnung und Enttäuschung angesiedelt. Wohlgemerkt: Es handelt sich hier nicht um eine stete Korrektur der Tonhöhe, sondern der Bewegung selbst, noch bevor der Ton erreicht ist.
10.Die Bewegung schließlich führt zum gehörten Ton.
11.Wieder liegt ein Steuerungsmechanismus vor: Das Ohr vergleicht den gehörten Ton mit der musikalischen Vorstellung und beeinflusst über diese wiederum die Bewegungszielvorstellung.
Grafisch dargestellt sieht unsere Gliederung des Spielgeschehens folgendermaßen aus:
Diese Gliederung, so theoretisch sie auch anmuten mag, führt zu sehr praktischen Eingriffsmöglichkeiten in den Vorgang des Lernens:
1.Ohne eine ausgebildete Bewegungsbereitschaft des Körpers von der »sportlichen« Seite her können musikalische Befehle nicht ausgeführt werden.
2.Falsche Vorstellungen von den Bedingungen der Klangerzeugung verhindern eine Korrektur; entsprechen sich Vorstellung und wirkliche Ausführung einer Bewegung nicht, entstehen äußerliche und innerliche Spannungen.
3.Eine ungenaue Zielvorstellung kann keine genaue Bewegung erzeugen.
4.Eine physikalisch ungünstige Bewegung erfordert immer unnötigen Muskelaufwand, der, wie noch genauer ausgeführt werden wird, die Kontrollschärfe herabsetzt.
5.Eine undeutliche Bewegungsempfindung kann keine genauen Kontrollinformationen und damit keine genauen Korrekturimpulse liefern.
Anstatt nur am gehörten Endergebnis zu feilen, wollen wir hier die Frage stellen, wie wir jede einzelne dieser Bedingungen für ein meisterliches Spiel beeinflussen können.
Zur Anordnung des Stoffes:
Das Spielerlebnis ist eine Einheit. Physikalisch haben zwar die beiden Hände völlig verschiedene Aufgaben zu lösen; das Erlebnis ihres Zusammenwirkens lässt sich jedoch nicht spalten in »rechts« und »links«: Ein empfundener Fehler auf der einen Seite färbt auf die andere Seite ab; eine Idealbewegung auf der einen Seite begünstigt eine ebensolche auf der anderen. Man kann sogar davon ausgehen, dass eine Idealbewegung überhaupt nur als Gesamtbewegung von rechts und links möglich ist und auch als solche empfunden wird. Denn jede Bewegung beeinflusst das Gesamtgleichgewicht des Körpers und erfordert so unbewusste Muskelanspannungen zur Erhaltung oder Wiederherstellung des Gleichgewichts; diese Muskeln können wiederum dieselben sein, die für Zielbewegungen auf der anderen Körperseite zuständig sind.
Physiologisch gibt es also gar keine völlig isolierten Bewegungen eines Glieds; immer handelt es sich um das Zusammenspiel mehrerer, oft weit voneinander entfernt liegender Muskelgruppen.
Da es sich bei vorliegendem Buch um einen Querschnitt durch die Erscheinung und das Erlebnis des Cellospiels handelt, folgt die Einteilung nicht der didaktischen Reihenfolge des Erlernens, sondern der Reihenfolge des Bewegungserlebnisses.
Diktiert wird eine Bewegung zwar von den Erfordernissen an der Peripherie, also von den Fingern; muskulär jedoch sind die Fingerbewegungen nur das kleine Endglied einer Kette von Bewegungen, die in der Körpermitte koordiniert werden. Die Koordination ist dann am besten, wenn das Zusammenspiel der beiden Arme in keinem Moment, nicht einmal bei plötzlichen Bewegungen, das Gleichgewicht des Rumpfes stört. Eine solche Störung ist nicht immer leicht festzustellen, da die zur Stabilisierung des Rumpfes nötigen Muskeln reflexartig aktiviert werden.
Das Prinzip der zielgerichteten Gesamtbewegung als Grundlage virtuoser Technik lässt sich am deutlichsten anhand des zentralen Problems des Lagenwechsels erläutern. Er soll deshalb gleich zu Beginn des zweiten Teils behandelt werden, nachdem wir im ersten Teil die allgemeinen Grundlagen der Gesamtbewegung erörtert haben.
Teil A:
Die zielgerichtete Bewegung
I. Bewegung als Steuerungsmechanismus
1.Allgemeines
Wenn wir uns die Aufgabe stellen, Bewegungsformen für die Technik des Cellospiels zu suchen, die am besten die Forderungen des Instruments erfüllen, dann können wir nicht umhin, den Mechanismus einer gezielten Körperbewegung etwas genauer zu untersuchen. Wir wollen schließlich Mittel finden, die es uns gestatten, in den Lernvorgang zur Erwerbung solcher Bewegungen einzugreifen.
Eine körperliche Bewegung beruht auf folgendem Grundschema:
1.Eine Zielvorstellung wird gesetzt. Diese Vorstellung kann optisch, akustisch oder durch das Bewegungsgedächtnis bestimmt sein.
2.Über die Nervenbahnen werden vom Gehirn Bewegungsimpulse an die Muskeln gesendet. Auf die physiologischen Einzelheiten dieser Nervenbahnen braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Hier sei nur erwähnt, dass sich ein Bewegungsimpuls aus einer Serie von sehr schnell aufeinanderfolgenden punktförmigen Einzelimpulsen zusammensetzt. Die Geschwindigkeit der Impulse und die Anzahl der beteiligten Muskelfasern bestimmen Ausschlag bzw. Stärkegrad der Bewegung.
3.Ein zweites System von Nervenbahnen meldet dem Gehirn Erfolg oder Misserfolg (Feedback), d. h. Erreichen oder Verfehlen des gesetzten Bewegungsziels. Das Gehirn sendet daraufhin korrigierende Impulse aus. Auch der Erfolg dieser korrigierenden Impulse wird wieder an das Gehirn zurückgemeldet. Wir müssen uns diesen Kreislauf in ununterbrochener Betätigung vorstellen.
Der geläufigste Vergleich eines solchen sog. Steuerungsmechanismus ist das Autofahren: Der Fahrer sieht die Straße, stellt eine kleine Abweichung von der richtigen Richtung fest und macht eine korrigierende Steuerbewegung. Erst aus den Abweichungen leitet er seine Steuerbewegungen ab. Der Vergleich kann noch weiter geführt werden: Ein Anfänger sieht, dass der Wagen auf den Straßengraben zusteuert und reißt das Steuer in die Gegenrichtung. Kurz bevor er auf die linke Fahrspur zu geraten droht, reißt er das Steuer wieder nach rechts in Richtung des nächsten Chausseebaums. Dieses Spiel geht fortlaufend hin und her. Ein geübter Fahrer hingegen macht bei Geradeausfahrt nur minimale Lenkausschläge.
Nun wollen wir dieses Steuerungssystem in seiner Anwendung auf dem Instrument betrachten.
Nehmen wir einmal an, wir wollen einen Oktavsprung auf einer Saite spielen. Wir stellen uns den Zielton akustisch genau vor und gleiten nun auf dem Griffbrett auf ihn zu. In dem Augenblick, in dem wir ihn erreicht haben, meldet das Ohr dem Gehirn und dieses wiederum den Muskeln, dass die Bewegung hier abzubremsen sei.
Carl Flesch geht in seiner Kunst des Violinspiels von diesem Schema der akustischen Kontrolle aus und knüpft daran die Forderung, dass der Finger ununterbrochen blitzschnell mögliche auftretende Unreinheiten am Zielton zu korrigieren habe.
Diese Forderung ist zunächst sehr einleuchtend. Wir wollen hier von den ästhetischen Problemen der Intonation absehen – über diese gibt es eine Anzahl ausführlicher Beiträge (z. B. Christine Heman, Intonation auf Streichinstrumenten, Bärenreiter 1964)2 – und nehmen an, der Zielton sei in der Vorstellung präsent, gleichgültig in welchem intonatorischen System. Entsprechend diesem akustischen Kontrollsystem müsste jeder, der über ein sauberes Gehör verfügt, durch die Übung blitzschnellen Korrigierens absolut sauber spielen können. Die Erfahrung zeigt uns aber, dass dies nicht der Fall ist.
In dem Augenblick, in welchem der Spieler die Unsauberkeit des erreichten Zieltons feststellt, hat auch der aufmerksame Hörer den Ton bereits als unsauber registriert. Das Steuerungssystem, das sich ausschließlich am gehörten Ton orientiert, arbeitet zu langsam, um eine wirkliche Präzision der Intonation zu gewährleisten.
So manchem interessierten Laien ist es unverständlich, dass ein Spieler, dem auch der Böswilligste ein sauberes Gehör nicht abstreiten würde, längere Zeit auf einem unsauberen Ton sitzen bleibt. Es ist erstaunlich, wie viel Zeit vergeht, bis ein ungenau erreichter Ton korrigiert ist, denn auch der Korrekturimpuls, etwa in Gegenrichtung zur ursprünglichen Bewegung, kann durchaus wieder ungenau werden.
Wir müssen also einräumen, dass das Ohr zwar die letzte Bestätigung über richtig oder falsch liefert, jedoch als Kontrollinstanz innerhalb der Bewegung selbst zu grob arbeitet, d. h. es vergeht zu viel Zeit zwischen der ursprünglichen Bewegung und der über das Ohr regulierten Kontrollbewegung.
Für die Bewegung selbst müssen wir uns also nach einer anderen Kontrollinstanz umsehen.
Durch oftmaliges Üben hat sich in unserem Körper ein Bewegungsgedächtnis gebildet, welches dazu in der Lage ist, das Bewegungserlebnis ziemlich genau zu speichern. Dieses Bewegungserlebnis wird zwar durch den Zielton definiert, bezieht sich aber auf den gesamten Bewegungsvorgang von eventuellen Vorbewegungen bis zur Zielhaltung.
Für den Kontrollvergleich zwischen dem gehörten Ton und dem erreichten Bewegungsziel steht überhaupt keine Zeit zur Verfügung. Der Vorgang ist beendet, bevor er kontrolliert wird. Für den Vergleich zwischen dem Bewegungsvollzug und dem Bewegungsgedächtnis steht hingegen Zeit für eine Korrektur zur Verfügung. Da wir uns die Bewegung als Einheit vorstellen, werden Abweichungen schon zu einem Zeitpunkt registriert und korrigiert, zu welchem die Entscheidung über Erreichen oder Verfehlen des Zieltons noch nicht gefallen ist. Wir müssen deshalb versuchen, die Gesamtbewegung zeitlich relativ weit vor dem Erreichen des Zieltons beginnen zu lassen.
Wieder ein Vergleich mit dem Autofahren: Wenn ich mein Steuerrad genau auf ein Ziel fixiere und nun ohne Korrektur losfahre, bis ich merke, dass ich einen Meter zu weit nach rechts gekommen bin, dann den Rückwärtsgang einschalte und das Ziel ein zweites Mal ansteuere, brauche ich wesentlich mehr Zeit zum Erreichen dieses Ziels, als wenn ich noch weit vom Ziel entfernt bereits Steuerungskorrekturen ausführe.
Auf solche Vorbewegungen wird noch näher eingegangen werden.
Nun müssen wir aber noch einen Schritt weitergehen: Mittels psychologischer Versuche wurde nachgewiesen, dass bereits die Vorstellung von einer Bewegung minimale elektrische Impulse in den Nervenbahnen erzeugt, die sich zwar nicht in einer Bewegung der Gliedmaßen äußern, wohl aber in deren vorbereitender »Einstellung«. Das bedeutet, dass schon vor Beginn der sichtbaren Bewegung der Kreislauf des Steuerungssystems einsetzt, denn das voraus-empfundene Bewegungsbild kann bereits mit dem Bewegungsgedächtnis verglichen und sozusagen vorläufig korrigiert werden.
Nun ist aber die »Bewegungsvorausempfindung« abhängig von der Zielvorstellung dieser Bewegung. Ohne eine klare Zielvorstellung kann sich auch keine eindeutige Bewegungsempfindung in Bezug auf das Ziel einstellen; ohne diese wiederum lassen sich keine scharfen Konturen für das Bewegungsgedächtnis ziehen.
Der Ablauf der Bewegung wird diktiert von der Zielvorstellung. Wenn ich einen Gegenstand ergreife, werden die Bewegungen vom Ziel her koordiniert. In jedem Bruchteil dieser Bewegung tritt der Steuerungsmechanismus, hier kontrolliert durch das Auge, in Kraft. Wenn ich einen Gegenstand betrachte, dann die Augen schließe und nun diesen Gegenstand ergreife, ist die Genauigkeit etwas geringer, aber in Anbetracht der geschlossenen Augen eigentlich noch erstaunlich groß; hier diktiert mir die innere, quasi-optische Zielvorstellung den Gesamtablauf der Bewegung. Auch hier tritt der Steuerungsmechanismus in Aktion.
Wenn ich das Bewegungsgedächtnis nun zusätzlich als Kontrollinstanz einschalte, wird die Genauigkeit noch wesentlich erhöht: Erreiche ich einen Gegenstand mit geschlossenen Augen immer wieder mit der gleichen Bewegung, treffe ich die Zielstelle nach einigen Versuchen jedes Mal ziemlich genau; verändere ich den Platz des Gegenstandes oder meinen eigenen, fixiere den Gegenstand erneut, schließe wieder die Augen und versuche, ihn nun mit geschlossenen Augen zu treffen, wird die Genauigkeit zunächst geringer und erst nach erneuter Einschaltung des Bewegungsgedächtnisses, nämlich durch mehrmalige Wiederholung, wieder verbessert. Die Wiederholung baut das Erinnerungsbild der Bewegung auf.
Aus alledem geht hervor: Eine wichtige Voraussetzung für die Präzisionsbewegung ist die Klarheit der Zielvorstellung. Das Ohr hat zwar eine solche klare Zielvorstellung, kann aber erst »korrigierend« eingreifen, wenn der eigentliche Bewegungsvorgang schon abgeschlossen ist. Deshalb kann man, streng genommen, das Ohr nicht im Sinne eines Steuerungsmechanismus als Kontrollinstanz bezeichnen.
2.Die Zielvorstellung
Wenn wir von einer zielgerichteten Bewegung sprechen, denken wir vor allem an die Treffsicherheit der linken Hand.
Zwar ist auch die Bewegung des rechten Arms in gewissem Sinne eine zielgerichtete Bewegung, doch spielt hier die zeitlich vorgezogene Vorstellung der Bewegung eine geringere Rolle als beim linken Arm. Bei der Bewegung der rechten Hand ist nämlich während jeder Phase eine akustische Kontrolle möglich; bei der linken Hand hingegen ist die akustische Kontrolle erst nach Abschluss der Gesamtbewegung möglich. Die eigentliche Bewegungskontrolle muss sich deshalb hier durchweg im Bereich der Vorstellung abspielen.
Wir schließen daraus, dass der Grad der Vorstellungskraft über die Treffsicherheit, d. h. die Intonation entscheidet. Die Vorstellungskraft kann sich auf zwei Bereiche beziehen:
1.den akustischen
2.den räumlichen.
Um eine maximale Genauigkeit der Zielvorstellung zu erreichen, ist es ratsam, beide Bereiche zunächst getrennt zu betrachten. Setzen wir einmal voraus, ein Spieler ist musikalisch genug, um bei einem gehörten Intervall genau die Sauberkeit kontrollieren zu können. Wie wir festgestellt haben, kommt die nachträgliche akustische Kontrolle zu spät, um für die eigentliche Bewegung genutzt werden zu können.
Wenn sich dagegen ein musikalischer Spieler die Aufgabe stellt, sich den Ton innerlich, bevor er erklingt, in absolut eindeutiger Tonhöhe zu vergegenwärtigen, dann muss er sich eingestehen, dass der Grad der Genauigkeit dieser inneren Vorstellung stark schwanken kann, auch wenn über die Natur des vorgestellten Intervalls kein Zweifel besteht. Da aber die Bewegung im besten Falle nur so genau sein kann wie die Zielvorstellung, müssen wir uns beim Üben zwingen, mit der Bewegung so lange zu warten, bis sich die Tonhöhe des kommenden Tons in unserer Vorstellung eindeutig eingefunden hat.
Die Vorstellungskraft des Gehörs lässt sich bekanntlich ganz erheblich trainieren. So mancher Streicher glaubt, ein völlig hinreichend ausgebildetes Gehör zu besitzen, weil er die Reinheit eines gehörten Intervalls absolut sicher beurteilen kann, und weil er sich über die Natur eines Intervalls auch in der Vorstellung durchaus im Klaren ist. Es sei noch einmal betont, dass hier nicht einfach die Vorstellung von Terz oder Septime gemeint ist, sondern die innerlich und ohne Schwanken wirklich gehörte Tonhöhe.
Nun hat diese Tonhöhe auf dem Griffbrett eine ebenso genaue Entsprechung. Wir müssen also neben der akustischen Zielgenauigkeit in unserer Vorstellung auch die entsprechende räumliche Zielgenauigkeit trainieren, um noch einen zusätzlichen Sicherheitsfaktor zu gewinnen. Die räumliche Vorstellung wird sich nach einiger Zeit durch eine solche doppelt ausgerichtete Übungsweise so mit der akustischen verbinden, dass die präzise akustische Vorstellung eine ebenso präzise räumliche Vorstellung reflexartig aufleuchten lässt. Schließlich genügt fast allein die akustische (= musikalische) Zielvorstellung, um die zur Erreichung des Ziels erforderliche Bewegung weitgehend unbewusst ablaufen zu lassen.
Wie lässt sich eine solche quasi-optische, räumliche Zielvorstellung trainieren? Wenn wir unsere Augen auf einen Gegenstand richten und sie dann schließen, bleibt der Gegenstand in unserer Vorstellung bis zu einem gewissen Grad deutlich erhalten; diese innerliche optische Deutlichkeit lässt allerdings nach einiger Zeit nach.
Wenn wir uns aber bei geschlossenen Augen einen vorher nicht gesehenen Gegenstand, etwa einen schwarzen Punkt, vorstellen, dann fällt uns dies auf Anhieb nicht leicht; die Konturen in unserer Vorstellung, ja die Schwärze und die Platzierung in unserem inneren Blickfeld sind ziemlich ungenau. Durch Konzentration und Übung lässt sich die Deutlichkeit der Vorstellung steigern.
Von Walter Gieseking wird berichtet, er habe einmal gesagt, er könne eigentlich noch nicht einmal ein ganz leichtes Stück mit absoluter Sicherheit spielen. Gerade bei Gieseking, der ein Phänomen auf dem Gebiet der Vorstellungskraft war, erscheint dieser Ausspruch schwer verständlich, hat er doch bekanntlich Werke allein in der Vorstellung auswendig gelernt.
Wenn man aber bedenkt, dass in der Deutlichkeit der Vorstellung immer ein gewisser unerfüllter Rest bleibt, und wenn man weiter in Betracht zieht, dass jede Bewegung, auch die anscheinend leichteste, nur durch stete, zum größten Teil natürlich unbewusste Korrektur zum Ziel führt, so muss man wiederum die Schärfe der Selbstbeobachtung bei Gieseking bewundern.
Auf dem Griffbrett haben wir keinerlei optische Markierung, die uns das Anvisieren und Treffen eines Tons erleichtern könnte. Wir sind als Streicher von vornherein auf die Ausbildung unserer Vorstellungskraft angewiesen. Vorstellungskraft bedeutet hier die Fähigkeit, einen Ort auf dem Griffbrett quasi-optisch so zu fixieren, dass er rein lokal gesehen zum eindeutigen Zielpunkt einer Bewegung wird.
Es gibt eine Anfängermethode – und sie ist sicher nicht die schlech -teste –, bei welcher die chromatischen Töne auf dem Griffbrett mit sichtbaren Querstreifen markiert werden, um dem Schüler die »geografische« Orientierung zu erleichtern. Trotzdem ist ja unser Ziel nicht, uns beim Greifen auf das Auge zu verlassen, sondern sich gerade ohne optische Hilfe deutliche Markierungen auf dem Griffbrett vorzustellen. Hier schlägt der Verfasser folgende Übemethode vor:
Zunächst wird das Griffbrett so auf einen Streifen Papier gezeichnet, dass alle chromatischen Töne (z. B. innerhalb von zweieinhalb Oktaven) als Querstriche erscheinen. Zur besseren Orientierung werden markante Punkte – Oktav, Quint, Quart – besonders hervorgehoben, etwa in verschiedenen Farben; Abstände werden durch verschiedenfarbige Blöcke gekennzeichnet.
Diese Schema-Abbildung des Griffbretts hängt der Übende im Abstand von ungefähr einem Meter gegenüber von sich auf. Nun werden die zu übenden Tonfolgen so gespielt, dass vor jedem erklingenden Ton dessen entsprechende Position auf dem Kontrollgriffbrett optisch fixiert wird.
Diese Methode hat einige wichtige Vorteile, wobei jedoch gleich betont werden soll, dass sie natürlich kein Allheilmittel darstellen kann:
1.Der Zielpunkt selbst wird optisch eindeutig wahrgenommen. Er verschwimmt nicht in der Vorstellung, sondern hat eine reale sichtbare Entsprechung.
2.Die Abstände werden in ihrem Verhältnis zueinander optisch deutlich; zusätzlich zum Bewegungsgedächtnis wird eine weitere Kontrollinstanz eingeführt, die rein optische, die im normalen täglichen Leben in erster Linie unsere Bewegungen regelt und uns sonst völlig ungenutzt entgeht.
3.Wir müssen uns so den gespielten Ton innerhalb des chromatischen Systems in jedem Fall bewusst machen; das weit verbreitete ungefähre Nachspielen einer nur als Intervallfolge, nicht aber in Form von absoluten Tonhöhen bewussten Linie wird dabei unmöglich. Dieser dritte Punkt entspricht also in etwa dem z. B. in Frankreich selbstverständlichen Solfège, welches sich auch bei uns in Deutschland allmählich durchsetzt.3 Der Nutzen der Schema-Abbildung geht aber in diesem Zusammenhang noch über das Solfège hinaus, da bei letzterem ja nur abstrakte »Tonplätze«, nicht aber lokal-real greifbare ins Bewusstsein rücken.
4.Mit dieser Methode sind wir gezwungen, jeden Ton isoliert in den Vordergrund des Bewusstseins zu ziehen. Der Grund für das Misslingen einer Stelle wird sehr oft am falschen Ort gesucht. Wir können zwar die »Schwierigkeiten« deutlich lokalisieren, doch liegt vielleicht der Grund des Misslingens an einer Stelle vor oder nach der eigentlichen »Schwierigkeit«. Wenn z. B. ein Finger innerhalb einer raschen Figur zuerst als Niederschlagsfinger, nach wenigen Tönen aber als Gleitfinger eines Lagenwechsels eingesetzt wird, dann ist es unerlässlich, dass er schon bei der ersteren Funktion ganz klar ins Bewusstsein rückt. Wird er nur unbewusst »mitgenommen«, dann ist er bei der Lagenwechselfunktion gewissermaßen »nicht präsent«, der Lagenwechsel misslingt.
5.Somit ist der Übende gezwungen, die Tonvorstellung in jedem Fall zeitlich vor die eigentliche Bewegung zu legen. Vorstellung ist hier also als »Voraus-Stellung« zu verstehen. Wie noch im Einzelnen ausgeführt werden wird, ist eine Folge rascher Töne prinzipiell etwas anderes als die zeitliche Raffung einer Folge langsamer Töne. Bei schnellen Tonfolgen verbinden sich die einzelnen Bewegungen zu einem in sich geschlossenen Bewegungsmuster, was bei langsamen Tönen nicht der Fall ist. Erst die zeitliche »Voraus-Stellung« aller Töne ermöglicht eine Umsetzung der Einzelforderungen innerhalb einer Gesamtbewegung; fehlt ein Ton im Bewusstsein, dann entsteht eine Diskrepanz zwischen Bewegungsvorstellung und akustisch erwünschtem und damit auch bewusstem Resultat. Diese Diskrepanz führt sofort zu Verspannungen. Wird der Bewegungsablauf in der Vorstellung zeitlich nicht »vorausgestellt«, dann kommt kein übergeordnetes Bewegungsmuster zustande; die Bewegung passt sich mühsam von Ton zu Ton den jeweiligen Forderungen an.
Die Grenzen dieser hier vorgeschlagenen Methode liegen auf der Hand:
1.Es kann nur sehr langsam geübt werden; schnellere Passagen entziehen sich dem Auflösungsvermögen des Auges. Doch soll hier nicht Geläufigkeit, sondern Tonbewusstsein geübt werden; indirekt wird dieses »geografische« Tonbewusstsein aber durchaus der Geläufigkeit zugutekommen, denn auch hier spielt die Vorstellungsdeutlichkeit der Einzeltöne eine entscheidende Rolle.
2.Die Methode ist außerordentlich ermüdend; eine halbe Stunde erfordert schon gewaltige Konzentration. Allerdings: Der Übende hat danach das Gefühl, einen wirklichen, nachprüfbaren Schritt nach vorn getan zu haben, was ihm vielleicht sonst auch bei mehrstündigem »Probieren, ob es geht«, nicht beschieden wäre.
3.Der Bewegungsablauf selbst, also die Zusammensetzung der verschiedenen Einzelbewegungen zu einer optimalen Gesamtbewegung kann mit dieser Methode ebenfalls nicht geübt werden. Doch treten häufig Spannungen auf, deren Ursache nicht in der falschen Bewegung, sondern in der ungenauen Vorstellung ihres Ziels liegt.
Die Unsicherheit der Vorstellung – und damit die Angst vor dem Versagen – erzeugt muskuläre Anspannungen, die den Arm gerade im entscheidenden Moment der eigentlichen Bewegung beeinträchtigen und damit das Gesamtbild der Muskelaktivierung verändern; dadurch fällt die Funktion des Bewegungsgedächtnisses weitgehend aus, denn muskulär wird ein anderer Vorgang aktiviert als der, der mit der bestehenden Anspannung zum Ziel führt. Noch größere Unsicherheit ist die Folge. Wir haben es also mit einem Teufelskreis zu tun, der dem Spieler selbst in vielen Fällen verborgen bleibt.
4.Selbstverständlich ist diese Methode nur beim Auswendigspiel anwendbar. Doch wird die Schärfung der lokalen Vorstellung auf dem Griffbrett letzten Endes auch dem Blatt-Spiel zugutekommen, da sich beim Lesen einer Note durch diese Übung nicht nur die Intervall- und die Lagenvorstellung, sondern auch die Vorstellung von den individuellen »Bünden« auf dem Griffbrett blitzartig als Reflex einstellt.
Die Schärfe der Zielvorstellung lässt sich aber noch weiter erhöhen. Bisher haben wir nur das Griffbrett in scharf abgegrenzte optische oder imaginäre »Bünde« unterteilt. Diese Bünde dürfen natürlich nicht zu breit gezeichnet oder gedacht werden, da sonst wieder ein zu großer Spielraum, eine zu große »Bandbreite« für die Vorstellung eines Tons entsteht.
Nun ist die Auflagefläche des Fingers um ein Vielfaches breiter als diese »Bünde«. Selbst wenn der Finger also einen solchen »Ziel-Bund« genau trifft, bleibt für ihn immer noch ein Spielraum zwischen der oberen und der unteren Grenze seiner Auflagefläche. Dieser Spielraum ist natürlich viel zu groß, um eine saubere Intonation zu gewährleisten.
Wir müssen also, entsprechend der Vorstellungsschärfe auf dem Griffbrett, auch die Fingerbreite in der Vorstellung so einengen, dass sie der vorgestellten Breite des »Bundes« entspricht. Dies bedeutet, dass wir uns nicht eine Auflage-Fläche, sondern eine Auflage-Linie vorstellen müssen, die quer zur Saite genau in der Mitte der Auflagefläche verläuft. Die Kraftrichtung des Fingers wird von seiner Mittelachse bestimmt, die Bewegungs- und Druckempfindung bezieht sich auf diese Mittelachse.
Es bleibt dem Leser überlassen, hierfür geeignete Hilfsvorstellungen zu verwenden. Ob man sich vorstellt, die Finger seien nur 1 mm breit, die Fingerspitzen würden keilförmig auslaufen oder man spiele nur mit dem Knochen – das Resultat ist dasselbe: Es lässt sich eine Schärfung der Zielvorstellung erreichen, das Ziel wird gewissermaßen mit der »Lupe« anvisiert.
3.Die Bewegungskontrolle
Erinnern wir uns: Es geht uns darum, die Genauigkeit einer Bewegung zu erhöhen. Das Bewegungsgedächtnis allein reicht für die geforderte Präzision nicht aus; für jede einzelne Zielbewegung ist darüber hinaus eine genaue Zielvorstellung unerlässlich. Die Genauigkeit dieser Vorstellung lässt sich steigern.
Nun dürfen wir uns aber das Bewegungsgedächtnis nicht etwa als eine fertige Schablone vorstellen, nach der ein oftmals wiederholter Vorgang in allen Einzelheiten genau gleich abläuft. Sonst wäre es nicht zu erklären, dass etwa ein Sprung hundertmal getroffen wird, beim hundertersten Mal – und gerade, wenn es darauf ankommt – aber verfehlt wird.
Wir müssen uns das Bewegungsgedächtnis vielmehr als eine Summe von Erfahrungen vorstellen, die wir bei oftmaliger Wiederholung einer Bewegung gesammelt haben. Diese Erfahrungen beziehen sich auf den Zusammenhang zwischen Muskelempfindung und Bewegungserfolg. Nicht der fertige Ablauf einer Bewegung wird also dem Gedächtnis entnommen, sondern der gelernte und als Erfahrung gespeicherte Zusammenhang zwischen Empfindung und Erfolg führt je nach Zielvorstellung und Ausgangsposition zu unterschiedlichen Bewegungsmustern.
Um noch einmal auf das Beispiel des Autofahrers zurückzukommen:
Mit geschlossenen Augen wird auch ein guter Fahrer nicht in seine eigene Garage fahren können; es fällt ihm aber nicht schwer, mit offenen Augen auch in eine enge fremde Garage zu fahren. Seine Erfahrung lehrt ihn nicht, welche Bewegungen er im Einzelnen mit dem Steuer ausführen muss; sie lehrt ihn vielmehr, welchem Steuerausschlag welche Richtungsänderung der Räder entspricht.
In unserem Vergleich entspricht die gesehene Garage der Vorstellung des Ziels; der Erfahrung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Steuerausschlag und Richtungsänderung entspricht auf dem Instrument die Erfahrung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Muskelempfindung und Bewegungserfolg.
Ein weiteres Beispiel: Ein guter Geiger wird nach kurzer Umstellung auf der Bratsche sauberer spielen als ein weniger guter Bratschist, obwohl letzterer tausendfache Gelegenheit gehabt hat, sich die für die Abstände auf der Bratsche nötigen Muskelempfindungen einzuprägen. Die Überlegenheit des – guten – Geigers kann sich also nicht auf die Erinnerung fertiger Bewegungsmuster beziehen; seine Überlegenheit resultiert aus der besseren Assoziation von Muskelempfindung und Bewegungserfolg.
Es soll hier natürlich nicht behauptet werden, dass es eine absolute Erinnerung bestimmter Muskelempfindungen überhaupt nicht gebe; zunächst wird z. B. auch der gute Geiger auf der Bratsche unsauberer spielen als auf seiner Geige. Aber selbst hier stellt sich bereits die Frage, ob dies eher an der Vorstellung des Bewegungsziels oder an der nicht mehr gültigen Bewegungserinnerung liegt.
Auf jeden Fall bleibt zu sagen, dass das landläufige Prinzip der »eingebimsten« Tonfolgen den Kern der Sache nicht trifft; eine Übemethode, die von dieser Voraussetzung ausgeht, muss zur Enttäuschung führen.
In unserem Steuerungssystem der Bewegung haben wir gesehen, dass ein dauernder Strom von Empfindungen Erfolg oder Misserfolg unserer Bewegungen zurückmeldet. Je feiner die Unterschiede in der Muskelspannung sind, die unsere Empfindung gerade noch registriert, desto gezielter können die Korrekturimpulse erfolgen. Unterhalb eines bestimmten Minimums wird ein Unterschied nicht mehr wahrgenommen. Man kann dies auch so ausdrücken, dass die Empfindungsschwelle überschritten werden muss, damit überhaupt eine Korrektur zustande kommen kann. Je niedriger diese Schwelle ist, desto präziser wird die Bewegung kontrolliert. Eine der entscheidenden Fragen der Bewegungskunst lautet also: Wovon hängt die Höhe der Empfindungsschwelle ab?
Wenn wir hintereinander zwei gefüllte Eimer hochheben, dann können wir nicht sagen, ob im einen 5 g mehr Wasser enthalten sind als im anderen. Wenn wir hingegen in ein Schnapsglas 5 g Wasser gießen, können wir sofort feststellen, dass es nun schwerer ist als vorher. Im ersten Fall benötigen wir zum Hochheben des Eimers eine große Kraft; es bedürfte eines größeren Quantums an Gewicht, um überhaupt einen Unterschied festzustellen. Im zweiten Fall müssen unsere Muskeln nur das geringe Gewicht des Glases heben; wenige zusätzliche Gramm lassen uns bereits deutlich den Unterschied empfinden.
Im ersten Fall ist die Empfindungsschwelle hoch, im zweiten Fall niedrig. Wir können also sagen: In einem Zustand geringer Muskelspannung lässt sich ein geringerer Unterschied in der Muskelspannung registrieren als in einem Zustand größerer Muskelspannung.
In der Psychologie wurde dieses Problem untersucht (Webersches und Fechnersches Gesetz), wobei festgestellt wurde, dass das Verhältnis zwischen einer bereits vorhandenen Muskelspannung und der gerade noch als verschieden empfundenen etwa konstant ist. E. H. Weber fand beim Heben von Gewichten heraus, dass die Empfindungsschwelle etwa 1/40 des Ausgangsgewichts beträgt; bei 40 g beträgt sie also etwa 1 g, bei 40 kg etwa 1 kg. Neuere Untersuchungen haben aber noch Weiteres ergeben:
Ein bewegtes Gelenk erniedrigt die Reizschwelle ganz erheblich; H. Rohracher erwähnt in seiner Einführung in die Psychologie, dass die Empfindungsschwelle für Muskelempfindungen zwischen 1/3 des Ausgangsgewichts (bei fixierten Muskeln) bis zu 1/200 (bei Schleuderbewegungen, also völlig passiv bewegten Gelenken) schwankt! Diese Messungen brauchen uns in ihren Einzelwerten nicht zu interessieren; entscheidend sind die beiden darin enthaltenen Tendenzen:
1.Je geringer die Spannung der Muskeln ist, desto präziser sind die Rückmeldungen und desto präziser ist die Kontrolle.
2.Bewegte Gelenke ermöglichen eine präzisere Kontrolle als unbewegte, fixierte.
Von hier aus stoßen wir auf das große Bewegungsproblem der Lockerheit, das wir allerdings noch genauer untersuchen müssen; denn uns ist nicht damit gedient, einfach möglichst wenig Kraft zu verwenden, sondern wir müssen versuchen, in Bezug auf ganz bestimmte Bewegungen alle beteiligten Muskeln auf einem möglichst niedrigen Spannungsgrad zu halten.
Wir müssen also zunächst einmal das bei einer Bewegung wirksame physikalische Kräftespiel und seine nervlichen Bedingungen genauer untersuchen, bevor wir den Begriff der Lockerheit sinnvoll verwenden können.
II.Der physikalische Aspekt der Bewegung
1.Kraft und Masse