Cover

Volkmar Sigusch

Kritische Sexualwissenschaft

Ein Fazit

Campus Verlag

Frankfurt / New York

Über das Buch

Volkmar Sigusch, Arzt und Soziologe und einer der renommiertesten Sexualwissenschaftler weltweit, versammelt in diesem Band seine zentralen Texte und Thesen, mit denen er die Kritische Sexualwissenschaft begründete. Im Zentrum dieses Fazits steht die Überzeugung: Keine Sexualität eines Menschen ist mit der eines anderen identisch. Weil sich das Sexuelle der Systematisierung entzieht, kann darüber theoretisch nur in Fragmenten und mit Bezug auf die gelebte Praxis gesprochen werden. Die Auseinandersetzung reicht von Natur, Sexualität und Liebe über Fetischismus, Transsexualität, Feminismus, Pornografie, AIDS, sexuelle Störungen und Paartherapie bis hin zu Neosexualitäten und Liquid Gender.

»Sigusch zeigt, wie der zwischen Mystifikation und Sensation eingeklemmten Sexualwissenschaft ein Weg ins Freie eröffnet werden kann.« FAZ

Vita

Volkmar Sigusch war von 1973 bis 2006 Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt am Main
und Professor für Spezielle Soziologie. Er gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin und ist außerdem ein erfahrener Sexual- und
Paartherapeut. Nicht zuletzt ist er ein brillanter Essayist.

Inhalt

Vorwort

Das gemeine Lied der Liebe

Das Hohe Lied der Liebe

Das Niedere Lied der Liebe

Die historische Geburt der individuellen Geschlechtsliebe

Die Liebe als Himmel und Hölle

Die Liebe als allgemeines Erfordernis in der Kälte des Lebens

Die Liebe als kostbare Einzigartigkeit

Natur und Sexualität — Über die Bedeutung der Kategorie der Natur für eine Theorie der Sexualität des Menschen

Zur Philosophiegeschichte der Kategorie der Natur

Die Kategorie der Natur bei Marx

Der »Stoffwechsel« von Mensch und Natur

Natur und Gesellschaft

Naturgeschichte und Menschengeschichte

Individuum und Gesellschaft

Sexualität und Gesellschaft

Drang, Begierde oder Trieb?

Über den Fetischcharakter der Sexual- und Liebesformen

Was heißt kritische Sexualwissenschaft?

I. Aporien

II. Episteme

III. Wissenschaft und Subjekt

IV. Praxis und Politik

Der AIDS-Komplex und unser Leviathan

Kann und soll uns der Staat über AIDS aufklären?

Was ist neu am AIDS-Komplex?

Tugenden und Laster

Doppelzüngigkeit

Vertrauen und Politik

Wider die staatliche Aids-Aufklärung

Nagelprobe auf die Liberalität

Sexualpolitik und Moral

Empfindungen

Nachdenken über Feminismus

Sind wir alle transsexuell?

Die neosexuelle Revolution — Über gesellschaftliche Transformationen der Sexualität in den letzten Jahrzehnten

Die Assoziation der sexuellen Sphäre

Freuds Abschied von der Sexualität

Die sexuelle Revolution

Die neosexuelle Revolution

Die Dissoziation der sexuellen Sphäre

Die Dispersion der sexuellen Fragmente

Die Diversifikation der sexuellen Beziehungen

Soziomoralischer Egoismus und Self-sex

Permanente Transformation und der feste Kern der Sexualität

Drei Thesen zu Pornografie, Sexindustrie und Sexualdispersion

Erste These: Vor Jahrhunderten war Pornografie politisch und kritisch

Zweite These: Heute sind Sexindustrie und Massenpornografie ein ebenso logischer wie essenzieller Bestandteil unserer anterotischen Kultur

Dritte These: Die gegenwärtige fulgurative Sexualdispersion gehört zur neosexuellen Revolution wie die Entfaltung der Begehrensform Selfsex

Gibt es Asexuelle?

Liquid Gender

Kultursodomie als Neoallianz

Sodomitische Lebenspartnerschaft

Angleichungen more sodomitico

Anthropofugale Beziehungen

Verzweiflungs- und Rettungsakte

Die Erotik des Kindes, sexueller Missbrauch und Pädosexualität

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

Was heißt sexuelle Störung?

»Funktion« der Dysfunktion

Kulturelle Weichenstellungen

Historische Relativierungen

Pro und Kontra der Medizinalisierung

Grenzen der Psychotherapie

Grundzüge einer Paartherapie

Dimensionen des Entstehens sexueller Störungen

Seelisch oder körperlich bedingt?

Masters-Johnson-Therapie

Konzept der Hamburger Paartherapie

Regeln und Übungen

Anweisung und Deutung

Hylomatie — Metamorphosen von Leben und Tod

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

Anhang

Drucknachweise

Literatur

Vorwort

Sehr gefreut habe ich mich, als Kolleginnen und Kollegen ebenso wie Frau Dr. Wilke-Primavesi vom Campus Verlag fragten, ob ich nicht einmal so etwas wie ein Best-of meiner Essays und Fachartikel zusammenstellen könnte. Ich habe es sogleich versucht, was gar nicht einfach war, weil ich Hunderte von Arbeiten anschauen und dann links liegen lassen musste. Hinzu kam, dass ich natürlich nur Arbeiten berücksichtigen konnte, die nicht in einem fachärztlichen Kauderwelsch verfasst worden sind wie die in meinen sexualmedizinischen Lehrbüchern.

Doch sehr schnell drängten sich mir frühe Texte auf, die sehr beliebt waren, mehrfach nachgedruckt worden sind und bis heute zitiert werden wie »Das gemeine Lied der Liebe«. Oder ein Text wie »Über den Fetischcharakter der Sexual- und Liebesformen«, hervorgegangen aus meinem Campus-Buch »Die Mystifikation des Sexuellen«, das in die Encyclopédie philosophique universelle der Presses Universitaires de France als Werk des Jahrhunderts aufgenommen worden ist (siehe zu allen Angaben im Einzelnen die »Drucknachweise« am Ende des Buches).

Mit dem Essay »Was heißt kritische Sexualwissenschaft?« habe ich vor mehr als drei Jahrzehnten unsere Zeitschrift für Sexualforschung eröffnet, um der kritischen Sexualwissenschaft eine Stimme zu geben und einige Grundannahmen zu verankern. Der Aufsatz »Die neosexuelle Revolution. Über gesellschaftliche Transformationen der Sexualität in den letzten Jahrzehnten« analysiert gesellschaftliche Veränderungen grundsätzlich, während Texte wie »Drei Thesen zu Pornografie, Sexindustrie und Sexualdispersion«, »Sind wir alle transsexuell?«, »Kultursodomie als Neoallianz«, »Gibt es Asexuelle?« und »Liquid Gender« einzelne oder ganz besondere Entwicklungen hervorheben. Um dieses Neue zu beschreiben, musste ich auch Worte wie cis- bzw. zissexuell oder Liquid Gender erfinden, die inzwischen weltweit benutzt werden und es sogar ins Oxford English Dictionary geschafft haben.

Andere Texte kreisen um wesentliche Auseinandersetzungen innerhalb der eigenen Disziplin wie »Drang, Begierde oder Trieb?« und »Nachdenken über Feminismus« oder greifen notwendigerweise in politische Auseinandersetzungen ein wie »Der AIDS-Komplex und unser Leviathan« oder »Die Erotik des Kindes, sexueller Missbrauch und Pädosexualität«. Nur zwei Aufsätze berühren meine Arbeit als Arzt und Paartherapeut unmittelbar: »Was heißt sexuelle Störung?« und »Grundzüge einer Paartherapie«.

Schließlich entschied ich mich für die Aufsätze »Natur und Sexualität. Über die Bedeutung der Kategorie der Natur für eine Theorie der Sexualität des Menschen« und »Hylomatie. Metamorphosen von Leben und Tod«, die jenseits von Sexualwissenschaft und Medizin sehr beachtet worden sind, bis hin zu philosophischen Doktorarbeiten und Habilitationsschriften über sie.

Dem Campus Verlag, namentlich Judith Wilke-Primavesi, danke ich sehr herzlich für das anhaltende und produktive Interesse an meinen Schriften. Schließlich haben wir schon zusammen einige weltweit beachtete Bücher in die Welt geworfen wie die »Geschichte der Sexualwissenschaft«, das »Personenlexikon der Sexualforschung« und »Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten«.

Volkmar Sigusch, Frankfurt am Main im Januar 2019

Das gemeine Lied der Liebe

Unsere Liebe ist Leben und Tod in eins. Sie ist weich, warm und weiblich. Sie eifert nicht und treibt nicht Mutwillen. Sie bläht sich nicht auf und stellt sich nicht ungebärdig. Sie sucht nicht das Ihre und lässt sich nicht erbittern. Sie verträgt alles, duldet alles, tröstet selbstlos und still. Sie ist ohne Angst, Leere, Zwang und Scham. Sie bereichert, einigt und birgt. Sie schafft Weibliches im Männlichen und Männliches im Weiblichen, leicht, heiter und kindlich wie ein Abendwind über Ägadien. Sie rettet Verlorenes als Gegenwart und schafft Zukunft aus dem Verlust. Nichts ist befreiender für die angespannte Seele, nichts belebender für die verhärtete, nichts stärkender für die kranke. Die Liebe macht die kleine Seele groß.

Das Hohe Lied der Liebe

Bekanntlich klingt das Hohe Lied der Liebe seit Jahrtausenden so: Mein Geliebter ist leuchtend rot, auserkoren unter Tausenden. Sein Haupt ist das feinste Gold, seine Locken sind rabenschwarze Dattelrispen, seine Augen sind wie die Augen der Tauben an den Wasserbächen, mit Milch gewaschen und in Fülle stehend, seine Lippen sind Blumen, die von fließender Myrre triefen, sein Leib ist reines Elfenbein, mit Saphiren geschmückt, seine Schenkel sind Alabastersäulen, gegründet auf goldenen Sockeln, sein Gaumen ist lauter Süße. Alles an ihm ist Lust. Er ist ganz lieblich. Wenn er mich doch küsste mit den Küssen seines Mundes! Auch an der Geliebten ist kein Flecken. Ihre Brüste sind wie zwei junge Rehe, die unter Rosen weiden. Doch als er sie küssen will mit den Küssen seiner Rosen, sind sie alle im Garten der Lust versiegelt: Milch und Honig, Granatapfel und Aloe, Narde, Safran, Zimt und Kalmus, all die edlen Früchte des Weihrauchs, die ihm das Herz genommen haben. Die Geliebte ist eine verschlossene Quelle, ein versiegelter Born lebendiger Wasser. Steht auf, ihr Winde, muss er rufen, weht durch den Garten, dass seine Würzen triefen!

So begann das Niedere Lied der Liebe, seine Verse zu suchen. Heute können wir sie alle im Schlaf hersingen, weil die Liebenden des salomonischen Liedes der Liebe keine einsamen Pioniere mehr sind. Seit es unser Individuum gibt, jedenfalls in der Phantasie, sollen wir alle wie Daphnis sein oder wie Cloë. Denn auf den Schlachtbänken, die zwischen uns und den antiken Bürgern liegen, wurde ein neuer sittlicher Maßstab errichtet: Liebe als freie Übereinkunft autonomer Personen, als ein allgemeines Menschenrecht beider, des Mannes und der Frau. Diese Idee von der freien, gleichen, individuellen Geschlechtsliebe, die die Bourgeoisie zur allgemeinen erhoben hat, setzt den Menschen als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches voraus.

Dazu aber ist es im Leben nicht gekommen. Irritiert, angebrannt, deplatziert und ungesättigt, wie wir heute sind, trifft uns die Melodie, ob bei Oscar Wilde oder Carlos Fuentes, wie ein Blitz: In jede Ader ergießt sich glühende Lava, alle Nerven sind auf die Folter gespannt, erschütternde Säfte überschwemmen uns mit Silber und Gift. Wir senken unseren Atem in den Flaum des Schambergs, in den jungen Duft der Achselhöhle, wir suchen den scharfen, süßen After, wir brüllen wie ein Tier, wir können uns nicht lösen, wir wollen uns nicht lösen, wir versinken im Fleisch, due in uno, uno in due, die verlorene Hälfte unseres Glücks ist wieder da, unserer Liebe, unseres Verstandes, unseres Lebens, unseres Todes. Der Mann fasst seine schwellenden Brüste an, die Frau führt ihr Glied in die pochende Scheide.

Das Niedere Lied der Liebe

Diesseits der Romane, Traktate und Träume müssen wir bescheidener sein: Überall Herr und Knecht, oben und unten, überall Unvernunft, Verstofflichung, Zerstörung. Die Menschen von klein auf erniedrigt, gedümpelt, entwertet, genötigt, isoliert, leer, voller Angst und ohne Würde, wenn sie, wie man so sagt, Glück haben, ein Rädchen in der Maschinerie des Bestehenden. Wer tagein, tagaus als Maschine drei Handgriffe machen, wer Jahr um Jahr als Maske nutzlose Waren an den Käufer bringen, wer ein Leben lang als Handlanger tote Akten gegen Menschen führen muss, wer so im allgemeinen Leben zurechtgestanzt wird, der kann nicht einfach im Liebes- und Geschlechtsleben das Gegenteil von Maschine, Maske, Handlanger sein – plötzlich er selbst, unverstellt, lebendig, die Seele ganz gelöst.

Und wie ist das möglich: erregte Harmonie, gleichzeitig leidenschaftlich, kopflos, solidarisch und gewissenhaft? Wir sind tantalisiert von der Melodie, können nicht schlafen, können sie nur bruchstückhaft erinnern. Immer schiebt sich die Not des Lebens dazwischen, Schwermut und Drangsal, einsam, verlassen, ungeliebt, ohne Lava in den Adern, immer nur Gift, nichts Tierisches, kein Flaum. Der Mund wurde uns wässrig gemacht, der Kopf verdreht. Seither wünschen wir: dass die Masken fallen und das Leben beginnt.

Singen wir nach dem Hohen Lied das Niedere Lied der Liebe. Es klingt vielleicht vertrauter: Unsere Liebe ist eine Orgie gemeinster Quälereien. Sie ist voll raffinierter Erniedrigung, wilder Entmächtigung, bitterer Enttäuschung, boshafter Rache und gehässiger Aggression. Sie ist gierig, klebrig, verschlingend, maßlos, kurzatmig, empfindlich, heuchlerisch, unstillbar. Zu ihr gehören Gefühle der Not, nicht des Wohlbehagens: Hass, Angst, Wut, Schuld, Schwäche, Neid und eifernde Sucht. Auf dem Weg der Liebe befriedigt sich der eine selbst durch den und am anderen. Was dem einen recht ist, sei dem anderen billig. Liebende machen einander gefügig. Nur dabei schlägt ihnen keine Stunde. Unsere Liebe ist egomanisch und asozial, eine nahe Verwandte des Wahnsinns und der Sucht. Wer an Verliebte denkt, weiß, wovon die Rede ist. Nur die Über- und Hochschätzung der Liebe in der Kultur bewahrt sie gewöhnlich davor, als Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung liquidiert zu werden.

Das gemeine Lied der Liebe ist gewiss beides: eine Strophe vom Hohen, tausend vom Niederen, alltäglicher Refrain und lebenslange Reprise. Das, was wir Liebe nennen, ist eine Einheit einander entgegengesetzter seelischer Strebungen. Wie gesagt: Leben und Tod, Selbstwerdung und Verschmelzung, Spiel und Ernst, Harmonie und Spannung, Heiterkeit und Tragik, grobsinnlich und zartzärtlich.

Warum führt sich unsere Liebe wie ein Rätsel auf? Warum schillert sie so? Warum erscheint sie im Leben als monströser Bastard, entweder Süßstoff für die muffig-moderne Psyche oder einzigartiger Nektar für das locker-postmoderne Netz, entweder jauchzende Realität oder japsend wie halbtote Tanten mit mondweißen Armen? Warum muss jeder, der über Liebe schreibt, wie der Papagei auf der Stange sein? Ich denke, es gibt Gründe dafür.

Die historische Geburt der individuellen Geschlechtsliebe

So verrückt es auch klingen mag: Kapitalismus und Liebe gehören zusammen. Jedenfalls ist die individuelle Geschlechtsliebe, von der Philosophen im 19. Jahrhundert sprachen, erst mit der Zangengeburt des bürgerlichen Individuums historisch als Möglichkeit aufgekommen, also mit dem Durchbruch der kapitalistischen Produktionsweise und dem Aufstieg der Bourgeoisie zur herrschenden Klasse. Davor, bei Jägern und Sammlern, bei Bodenbauern und Viehzüchtern, in der patriarchalen Ausbeutergesellschaft, in der Sklavenhaltergesellschaft und im Feudalismus, hat es sie nicht gegeben – als freie Übereinkunft autonomer Individuen, die Gegenliebe beim geliebten Menschen voraussetzt und den sexuellen Umgang nur danach bemisst, als ein Menschenrecht beider, des Mannes und der Frau, Liebesbeziehungen als Gewissensbeziehungen mit einer Intensität und Dauerhaftigkeit, bei allen, immer und ums Ganze, auf die sich die Menschen in Altertum und Mittelalter hätten keinen Reim machen können.

Diese Idee der Liebe gibt es wie unsere Art und Weise zu lieben erst seit einigen Jahrhunderten, sagen wir seit einigen Generationen. Die individuelle Geschlechtsliebe ist ein neuer sittlicher Maßstab. Sie gehört zu den historisch jüngsten Errungenschaften der Gattung Mensch, die immerhin seit Millionen Jahren ihre Spur auf der Erde hinterlässt. Ist das nicht einer der Gründe für die Instabilität der Liebe und dafür, dass sie noch nicht zu sich gekommen ist?

Wesentlicher scheint mir ein anderer Gedanke zu sein. Das bürgerliche Individuum samt seiner individuellen Liebe hat es, konkret genommen, bisher nur auf dem Papier, also nicht konkret gegeben – im großen bürgerlichen Roman vor allem, daneben in wissenschaftlichen Traktaten über den Menschen. Tatsächlich ist das bürgerliche Individuum, dessen Prozess des Entstehens schon einer des Zerfalls war, nie zu sich gekommen und folglich auch nicht die Individual- und Drangliebe. Gesellschaftlich war die Liebe immer tot, aber sie lebt seit einigen Generationen in den Menschen – als Idee und Möglichkeit.

Viel mehr konnte sie bis heute nicht werden, weil die Disposition zur individuellen Drangliebe sogleich im Fortgang der Geschichte durch gegenläufige Dispositionen wie jene zur Lohnarbeit, die sich in den Seelen niederschlugen und sozial manifestierten, in der Latenz gehalten oder abgewürgt worden ist.

Als Kern zeigt sich: Die individuelle Liebe ist die Idee vom menschlichen Umgang des Menschen mit dem Menschen. Die Utopie der wirklichen Liebe setzt den Menschen im emphatischen Sinne als Menschen und sein Verhältnis zur Welt als ein menschliches im emphatischen Sinne voraus. Unterm Kreuz des Warenfetischs, unterm Diktat des Tauschprinzips aber sind die allgemeinen Beziehungen der Menschen wie Beziehungen von Ding zu Ding, von Sache zu Sache. In einer solchen Gesellschaft sind die mitmenschlichen Beziehungen nicht einfach solidarisch, anständig, harmonisch, menschlich. Was als menschlich geglückt deklariert wird, als human oder humanitär, entspringt der Ideologie seiner Verhinderung.

Die Liebe als Himmel und Hölle

Und doch wollen wir alle lieben und geliebt werden. Und doch wollen wir alle mit einem anderen Menschen glücklich sein – auf dass unsere kleine Welt voller erregter Harmonie sei und die große in Ordnung. Wie kommt dieser Wunsch in jeden von uns hinein? Und warum hat er die Kraft einer Naturgewalt, obwohl die Liebe, die wir haben, kaum natürlicher ist als Zins und Zinseszins?

Liebesbeziehungen und Lusterleben gibt es beim Erwachsenen nicht losgelöst von den vorausgegangenen Empfindungen und Erfahrungen des Lebens, viele sagen: von den ersten, immer Weichen stellenden Gefühlen und Erlebnissen der frühen Kindheit. Fraglos ist die seelische Gegenwart ohne die seelische Vergangenheit nicht zu denken. Im Umgang mit einem Menschen, im Allgemeinen der Mutter, wird unter hiesigen Verhältnissen der Mensch nach der körperlichen Geburt seelisch geboren. Die Psychoanalyse nennt diesen Vorgang Individuation, weil sie an der Vorstellung festhält, es entstünde dadurch, wenigstens im Kern, jene Menschenart, die bürgerliches Individuum zu nennen eine Zeit lang modisch war.

Im Allgemeinen repräsentieren das Hohe und das Niedere Lied der Liebe Himmel und Hölle der frühen Beziehung zur Mutter. Nichts ist wonniger, nichts ist ängstigender, als der Mutter nah, als ihr fern zu sein. Wir sehnen uns nach kindlichen Paradiesen, die unsere Begriffe nicht zu erreichen vermögen. Diese Gefühle begleiten uns von der Windel bis zum Leichentuch. Doch alles ist riskant. Zu große Nähe erstickt, und die Ferne macht Angst. Psychologisch gesprochen ist die Liebesfähigkeit eine sekundäre Bildung, die durch Prozesse des Versagens und Trennens, des Gewährens und Verbindens, die durch die Anpassung an die Realität erzeugt wird. Die Fähigkeit zu lieben ist zugleich das Verlassen der Mutter und ihr Wiederfinden. Liebe und Lust sind von klein auf zusammengebrannt mit Einsamkeit, Gewalt, Unterdrückung, Verbot und Angst auf der einen, mit allseitiger Wunscherfüllung, dem Eintauchen ins kollektive Seelenall und dem Gefühl, nun sei die Welt in Ordnung, auf der anderen Seite – Illusionen, die lebenslänglich mit kindlich-seelischen Mitteln gesucht und gefunden werden.

Die Liebe als allgemeines Erfordernis in der Kälte des Lebens

Liebe ist aber nicht nur die Sehnsucht nach Kindheitsparadiesen voll lustvoller Harmonie. Liebe ist auch ein allgemeines Erfordernis des erwachsenen Lebens. Die Leere, Distanz und Kälte der Arbeitswelt, überhaupt des gesellschaftlichen Lebens, sind im Allgemeinen nur mit der Nähe und Wärme einer Liebesbeziehung auszuhalten, die wenn schon nicht zu erreichen, so doch wenigstens versprochen sind. Das ist einer der Gründe, warum seit Jahrzehnten ohne Unterlass über Erotik, Sexualität, Paare, Passanten, Varianten und Mutanten geredet und geschrieben wird, warum über uns Sex- und Selfsex-, Gender- und Transgender-Wellen hinweggewabert sind.

In der Tat: Nur wer die Verdrehung und Versachlichung aller Beziehungen durch Liebe oder die erst noch von ihr zu differenzierende Verliebtheit, also mehr oder weniger mit den Mitteln des Rauschs, der Sucht, des Wahnsinns, außer Kraft zu setzen sucht, kann die Wirklichkeit ein wenig zum Tanzen bringen und überleben. Wer nicht illusionär verkennt, wer nicht liebt, wird krank. Doch das ist unter hiesigen Lebensverhältnissen höchst gefährlich, ein Wagnis ersten Ranges, weil wir auf Abwehr und Erstarrung, auf das Niederhalten der Gefühle und das Prüfen der Realität ebenso angewiesen sind. Die Liebe – ein Kunststück, ein akrobatischer Seiltanz ohne Netz. Und viele liegen am Boden. Und viele brechen sich das Kreuz.

Eine Alternative zu dieser Art zu leben und zu lieben, die den Namen verdiente, kann es nicht geben, da Individuum und Gesellschaft eine Einheit sind und zugleich prinzipiell entzweit. Das, was uns als »Alternative« notwendigerweise beschäftigt hat oder einfach kursiert, ist Aufschrei und Aufruhr, zwangsläufig Abklatsch oder modisches Zeug, obszön, reaktionär oder nur von Privilegierten scheibchenweise einzulösen, letztlich immer zum Scheitern verurteilt. Jener Partnertausch und jener Gruppensex, die Furore machten, waren als zeitgemäße Sumpfblüten spezifisch zerstörter Sinnlichkeit an kleinbürgerlicher Stupidität kaum zu überbieten. Und der vorletzte Schrei zum Beispiel, »Singles« genannt, ist wirklich ein Schrei – aus Not, nach Hilfe, maßlos traurig, zum Weinen. Wer lebt schon aus freien Stücken allein?

Das öffentliche Reden übers Alleinleben lässt uns fragen, ob nicht generell das Zersplittern der »persönlichen Autonomie« und die Brüchigkeit des Selbstwertgefühls, ob nicht der Zerfall des autonom gedachten Individuums und der Grad seiner Vergesellschaftung einem neuerlichen Höhepunkt zustreben, ob das nicht alles auf ein zwischenmenschliches Drama kollektiven Ausmaßes hinweist, wie es die Gattung Mensch noch nicht erlebt hat. Anders gesagt: Ob nicht aus Ich-Schwäche die Bindungsunfähigkeit, die Angst vor Nähe und Verpflichtung immer größer geworden ist, wobei sich der eingepflanzte Wunsch nach einer Bindung, nach einer dauerhaften Zweierbeziehung gleichzeitig weiterhin mächtig äußert und im Trotzdem enormes Leid produziert. Vielleicht war es noch nie so schwierig, zu lieben und geliebt zu werden, so oder so, und vielleicht waren wir zugleich noch nie so auf Liebe und Gegenliebe angewiesen wie heute, auf Freundlichkeit, Rücksichtnahme, Achtung, Trost, Geborgenheit, letztlich auf sittliche Werte und einen Sinn fürs Leben. Wo aber finden wir das im gesellschaftlichen Leben? Umso zutreffender ist wohl: Noch nie war die utopisch-emanzipatorische Dimension der Liebe historisch so von Belang wie heute in der hiesigen Gesellschaft und Kultur.

Wer den Leuten, die in Zweierbeziehungen leben oder auch nicht, die Liebe und Treue suchen oder auch nicht, von linksrechts sagen zu müssen meint, wie sie heute »anders« zu leben hätten, sollte auch das prüfen, bevor er in zynischer Weise massenhaftes Erleben und Verhalten diffamiert. Wer unter hiesigen Bedingungen für lebenslange Treue, für Monogamie, für das Institut der Ehe plädiert, ist ebenso naiv bis zynisch wie jene, die dem Sinnlichen mit anderen Mitteln auf die Sprünge helfen wollen. Der kleine Bürger, der das Grau-in-Grau seines Alltags aufzufrischen sucht, indem er aufgeschnappte Sexualtechniken an seiner Frau exekutiert, ahnt nicht, dass das nur ein Reflex auf die allgemeine Verstofflichung des Mitmenschlichen ist. Der linksliberale Redakteur, der mit der lügnerischen Devise »Bei uns ist alles erlaubt« nach Hause kommt, angelesene Sexualpraktiken ausprobiert wie Eis am Stiel und sich dabei emanzipiert wähnt, macht den Beischlaf zur Klempnerei und zollt denselben Tribut.

Denen, die einander »alles gestatteten«, sind geblieben: der rumorende Stau der Gefühle, die falbe Kürze der Lust, die stille Sehnsucht nach dem Glück und als roter Faden all dessen: die Beziehungskiste. Beziehung und Kiste, das klingt nicht nach autochthonem Sprudeln ganz persönlicher Regungen, nach metaphysischer Erleuchtung, das klingt nach vergegenständlichten Verhältnissen, benutzt ein Ding dazu, um etwas Lebendiges zu benennen. Die Lage ist also getroffen. Eine Kiste, die im Weg ist, kann man zerschlagen, wegwerfen, verbrennen. Beziehungen aber, wie liberalisiert, verstofflicht und mystifiziert auch immer, sind noch als Substitute phantastisch und leibhaft, sie liegen in Bauch und Herz und Kopf.

Die Psychoanalyse meint, manchen von uns immer wieder mit ihrem Postulat der »genitalen«, der »reifen« Liebe beunruhigen zu müssen. Doch ihre »genitale« Liebe gibt es im Leben nicht. Aber sie hat recht: Liebe ist nicht einfach da wie die Begierde. Sie muss ständig, ununterbrochen, unermüdlich erlernt, erarbeitet, in Beziehungen gehalten werden – als der Versuch zweier Menschen, einander jene Bedürfnisse zu befriedigen, die lebensgeschichtlich verbogen und gesellschaftsgeschichtlich zum Unding geworden sind.

Wo es widersprüchlich, ambivalent, egoistisch und gnadenlos zugeht, muss manfrau nicht nur auf die Kurzlebigkeit und das Versagen der mystifizierten Liebe gefasst sein, sondern auch auf deren Substitution. In intellektuellen Unterschichten und solchen, die am Rande liegen, ist manfrau schon lange so abgeklärt, die Liebesexistenzialien nicht als äquivalenzlose Eingebungen des Heiligen Anton zu nehmen, sondern als von dieser Welt. Dort ist manfrau auf einiges gefasst und hat manches ausprobiert, nicht nur Alleinsein, Partnertausch und Gruppensex, auch Fesseln, Beißen und phantastisch Vergewaltigen, Dreiecksverhältnisse, Peeping, Von-Verliebtheit-zu-Verliebtheit-Taumeln, Geronto- und Pädophilisches, Rimming, Akrotomophilie usw. – was immer das sei.

Die Liebe als kostbare Einzigartigkeit

Alle ahnen: Im schlechten Allgemeinen können die Verhältnisse von Mensch zu Mensch nicht einfach gut sein. Selbst Paarbildung, in welcher Form auch immer, selbst die mystifizierte Liebe garantiert keinen sicheren Unterschlupf. Umso verbissener geht es zu.

Wie vergeblich unser Bemühen ist, verdeckt die gesellschaftliche Mystifikation der Liebe. Als fetischisierte schöpft die Liebe ihren Wert aus sich selbst, setzt sich in ihr eigenes Recht. Jetzt sind Naturgesetze am Ruder. Das volle, persönliche, intime Leben ist errichtet, die Verstofflichung überwunden. Das Verhältnis zum Menschen scheint als eines der Unmittelbarkeit dem Diktat des Tauschs entzogen zu sein. Aber dieser Schein ist es gerade, der der Liebe den allgemeinen Stempel aufdrückt, sie zu einer gesellschaftlichen Form macht. Denn es gilt weiterhin: keine Zärtlichkeit ohne Hintergedanken, keine Verliebtheit ohne Verschlingen, keine Freundschaft ohne Verbrauchen, kein Sichschönmachen ohne Reklame, keine Hingabe ohne Besitzenwollen, kein Glücklichsein, ohne es hinauszuschreien. Umzingelt von eingepflanzten Entwicklungsetappen und angedienten Handgriffen, läuft das alles nach Schema F ab, ganz individuell. Pseudoaktiv scheinen sich die geronnenen Liebesformen durch eine gewisse Buntscheckigkeit und allerlei Schauspiel zu verlebendigen. Doch die Mysterien von Spontaneität und Rausch sind von außen eingespritzt, und den Kern der Liebe durchherrscht die Ambiguität des Fetischs: bewegte Starre, Genussfeindschaft im Genuss, beziehungsvolle Beziehungslosigkeit, Treulosigkeit in der Treue, Menschenverachtung in Liebe. Umso romantischer oder atemloser geht es zu.

Mitmenschliches unter den herrschenden Lebensbedingungen suchen, heißt, das gesellschaftliche Unding Liebe immer wieder in seiner seelischen und sozialen Zwangsgestalt errichten. Zwei spezifische Hindernisse stehen obenan: der Patriarchalismus samt Sexismus, also die Zurück- und Herabsetzung aller Frauen als Geschlecht, sowie die Struktur der Mutter-Kind-Beziehung samt der Art und Weise der Kinderaufzucht mit ihren Resultaten. Hinzu kommen die Tyrannis der so genannten Heterosexualität, insbesondere in Form der Normopathie, Lug und Trug der Alternativgeschlechtlichkeit, der Pompe funèbre um den Triebdurchbruch usw. usf.

Ein Trost kann es nicht sein, aber es trifft zu: Auch als Fetisch ist unsere Liebe lebenserhaltend. Sie ist eine erwärmende Rauschdroge in der gesellschaftlichen Kälte, die dem Leben einen Sinn zu geben vermag, die vereinsamende Distanzen und furchterregende Abstraktionen überstrahlt. Wo denn sonst könnten wir uns verstanden, geborgen und nahe fühlen, wenn nicht in unseren Liebesbeziehungen? Ist der Liebe wie dem Sexuellen seelisch und sozial die Funktion zugewiesen, gesellschaftliche Leere zu überbrücken, Lücken aufzufüllen, Sinn vorzutäuschen, Lebendigkeit einzublasen, die Menschen überhaupt noch etwas Menschliches spüren zu lassen, so tun beide eben dies alles, das Sexuelle und die Verliebtheit eher kurz-, die Liebe eher langatmig. Deshalb wird an der Idee von Generation zu Generation festgehalten. Deshalb gibt es im Sexual- und Liebesleben keinen Stillstand.

Hinzu kommt eine Sonderbarkeit: Je mehr der Kapitalismus auch bei uns nach seinen ureigensten Prinzipien agiert, das heißt ohne die attraktive Maske der sozialen Marktwirtschaft, desto freier scheint das Sexual- und Liebesleben gestellt zu werden. Jedenfalls können sich alte Sexualfragmente und neue Sexual- und Liebesformen ungehindert, ja sogar befördert, und oft auch unbestraft, ja sogar akzeptiert, entfalten. Dieser Gewinn an Vielfalt ist untrennbar verschränkt mit einem Verlust an ökonomischer Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit. Im Grunde ist all das nicht überraschend, weil allen kapitalistischen Systemen Moral oder gar Sexualmoral äußerlich bleibt, unbedeutend, ja fremd ist.

Doch noch einmal zurück zu den Anfängen: Die individuelle Geschlechtsliebe unserer Philosophen ist eine überaus kostbare Idee, die bisher nicht verwirklicht werden konnte, weil die eigentliche Menschheitsgeschichte noch nicht begonnen hat. Sie ist eine junge, instabile Fähigkeit der Menschen, derer sie in menschlichen Verhältnissen nicht werden entraten wollen. In ihr überwintert eine gesellschaftliche Einzigartigkeit: Die Liebe kann nicht hergestellt und nicht gekauft werden. Das aber ist in einer Welt des Machens und Verkaufens phantastisch.

Natur und Sexualität

Über die Bedeutung der Kategorie der Natur für eine Theorie der Sexualität des Menschen

Zur Philosophiegeschichte der Kategorie der Natur

Hegel sagt: »Die Natur ist in der Zeit das Erste, aber das absolute prius ist die Idee; dieses absolute prius ist das Letzte, der wahre Anfang, das A ist das Ω« (Syst. d. Phil. II, Zusatz § 248, 58). Gegenüber der Idee ist die Natur also untergeordnet. Sie ist »als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der anderen notwendig hervorgeht […]; aber nicht so, daß die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in der innern, den Grund der Natur ausmachenden Idee« (Syst. d. Phil. II, § 249, 58 f.). Die Idee bringt also die Natur hervor. Die Idee »entschließt« sich, Ausfluss Ihrer absoluten Freiheit, »sich als Natur frei aus sich zu entlassen« (Encykl. d. phil. Wiss., § 244, 201). Wie ein Letztes, das immer schon bei sich selber ist, in Gegenständlich-Materielles übergehen kann, ist auch den Hegelianern schleierhaft geblieben. Die höhere Wahrheit der von der Idee geborenen Natur ist der Geist: »Wir haben in der Einleitung zur Philosophie des Geistes bemerklich gemacht, wie die Natur selber ihre Äußerlichkeit und Vereinzelung, ihre Materialität als ein Unwahres, dem in ihr wohnenden Begriffe nicht Gemäßes aufhebt, und dadurch zur Immaterialität gelangend in den Geist übergeht« (Syst. d. Phil. III, 54). Weil und indem und insofern die Natur in Geist und Seele übergeht, erweist sie sich letztlich wieder als immateriell: »Indem so alles Materielle durch den in der Natur wirkenden an-sich-seyenden Geist aufgehoben wird, und diese Aufhebung in der Substanz der Seele sich vollendet, tritt die Seele als die Idealität alles Materiellen, als alle Immaterialität hervor, so daß Alles, was Materie heißt, – so sehr es der Vorstellung Selbständigkeit vorspiegelt, – als ein gegen den Geist Unselbständiges erkannt wird« (Syst. d. Phil. III, 58). Wenn der Natur »gerade die Äußerlichkeit eigentümlich« ist, »die Unterschiede auseinanderfallen und … als gleichgültige Existenzen auftreten zu lassen« (Syst. d. Phil. II, § 249, 58 f.), gibt es keine Naturgeschichte im allgemeinen Sinne: »Solcher nebuloser im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervorgehen z. B. der Pflanzen und Thiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickelteren Thierorganisationen aus den niedrigeren usw. ist, muß sich die denkende Betrachtung entschlagen« (Syst. d. Phil. II, § 249. 59).

Feuerbach setzt diametral gegen diese idealistische Naturphilosophie seinen Naturalismus: Natur gründet aus sich, durch sich, in sich selber. Die Hegelsche Auffassung, nach der die Natur von der Idee gesetzt wird, ist für Feuerbach »nur der rationelle Ausdruck von der theologischen Lehre, daß die Natur von Gott, das materielle Wesen von einem immateriellen, d. i. abstrakten Wesen geschaffen ist« (Vorläufige Thesen z. Ref. d. Phil., 74). Der Geist, das Denken ist eine der Naturqualitäten des Menschen. Wissenschaften, die sich nicht auf die Natur gründen, sind keine. Das gilt auch für Philosophie: »Die neue Philosophie macht den Menschen mit Einschluß der Natur, als der Basis des Menschen, zum alleinigen universalen und höchsten Gegenstand der Philosophie – die Anthropologie also, mit Einschluß der Physiologie, zur Universalwissenschaft« (Grundsätze d. Phil. d. Zukunft, 167). Natur und Mensch sind die Feuerbachschen Grundkategorien. Der Mensch steht als Subjektivität der Natur als Objektivität passiv-anschauend, nicht praktisch-tätig gegenüber. Beide bilden nur insofern eine Einheit, als der Mensch aus der Natur hervorgegangen ist. Das unmittelbare Sein des Menschen erscheint als sein Wesen, und die Natur ist eine einheitliche, geschichtslose Matrize, letztendlich »reine Natur«.

Marx hat ebenso wenig mit Hegels absoluter Idee wie mit Feuerbachs »reiner« Natur im Sinn. Er setzt nicht an die Stelle eines metaphysischen Prinzips, einer ontologischen Substanz, wie den Hegelschen Weltgeist, ein anderes der Welt zugrunde liegendes letztes Seinsprinzip, wie beispielsweise eine materielle Weltsubstanz. Das wäre naturalisierter Hegelianismus, nicht mehr als Materie statt Geist. Daher und trotzdem können Marx und Engels gegen Hegel sagen: In seiner Natur- und Geschichtsphilosophie »gebiert der Sohn die Mutter, der Geist die Natur […] das Resultat den Anfang (MEW 2, 178), und die Natur ist ihm nur »die liederliche Periode der absoluten Idee« (MEW 3, 460).

Beide, Hegels naturphilosophischen Idealismus und Feuerbachs mechanisch-materialistischen Naturalismus, löst Marx in eine Dialektik von Subjekt und Objekt auf. Aus der klassischen deutschen Philosophie heraus und gegen sie denkt er seinen neuen, praktischen Materialismus:

»Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus – den Feuerbachschen mit eingerechnet – ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde – aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt« (MEW 3, 533).

Mit Kant und gegen Hegel besteht Marx auf der Nicht-Identität von Subjekt und Objekt. Er sieht im Subjektiven Objektives und im Objektiven Subjektives. Die bisher nur passiv gedachte Sinnlichkeit begreift er als tätig, die Tätigkeit als sinnlich. Denken und Sein, Bewusstsein und Gegenstand, Natur und Gesellschaft, Subjekt und Objekt sind als herkömmliche, seit Descartes in der Neuzeit herrschende Gegenüber überwunden. Der neue Materialismus geht nicht von der Abstraktion des absoluten Subjekts oder von der Abstraktion des absoluten Objekts aus, sondern von der gesellschaftlichen praktischen Tätigkeit, der Praxis, der konkreten, empirisch gegebenen Menschen unter bestimmten historischen Bedingungen. Er rettet dabei die »tätige«, subjektive Seite der Wirklichkeit, die der deutsche Idealismus von Kant bis Hegel exponiert hatte, in die materialistische Theorie als konkrete hinüber.

Die Kategorie der Natur bei Marx

Bezogen auf Natur – Marx legt keine systematische Theorie der Natur vor und »kommt in seinen Schriften auf die Natur ›an sich‹ nur äußerst selten« und »immer nur mit großer Vorsicht« zu sprechen (Alfred Schmidt 1974, 7, 179) – heißt das: Natur ist erst konkret als dialektisches Moment menschlicher Praxis. Sorum interessiert sich Marx für Natur, nicht als Weltmaterial vom Range eines Seinsprinzips.

Im Gegensatz zu anderen Konzeptionen geht es Marx um den geschichtlich-gesellschaftlichen Charakter der Natur. Was über sie gesagt wurde und werden kann, setzt gesellschaftliche Praxis der Menschen voraus. Aussagen über Natur sind stets bezogen auf menschliche Tätigkeit, abhängig vom Stand der erreichten und herrschenden ökonomischen, technologischen, geistigen menschlichen Aneignungsweisen der Natur, und in diesem Sinne relativ. Eine Trennung der Theorie der Natur von der Geschichts- und Gesellschaftstheorie kann es bei Marx nicht geben. »Reine« Natur, Natur als ontologisches Prinzip, selbständig und ohne konkrete Bestimmungen existierend, ist ihm reine Gedankenschöpfung, Metaphysizierung.

Diese Position bedeutet nicht, dass es Natur nicht auch als etwas an sich Seiendes gibt, jedenfalls als durch Arbeit ins Für-uns transformiertes An-sich. Es ist ein Missverständnis, einmal ein idealistisches, andermal ein perfektionistisch-materialistisches, wenn so getan wird, als habe Marx alles, darunter Natur und leibhaftig-materielle Dinge, ganz und gar aufgelöst in den Weisen ihrer theoretischen Bearbeitung und praktischen Aneignung. So eingleisig, apriorisch, schlecht prinzipiell ist der praktische Materialismus nicht.

Natur ist einerseits unabhängig, andererseits gesellschaftlich vermittelt. Daran hält Marx bis zum Ende, bis zu den Randglossen zu Wagners Lehrbuch fest (MEW 19, 362 f.). Materialismus heißt für ihn: Die Natur und die ihr eigenen Gesetze existieren außerhalb und unabhängig vom Bewusstsein des Menschen. Dialektischer Materialismus heißt für ihn: Die Menschen können sich der Natur und ihrer Gesetze nur mittels und gefiltert durch die Arbeit versichern, sie nur durch ihre vermittelnde gesellschaftliche Praxis hindurch erkennen und für ihre Zwecke anwenden. Die Unabhängigkeit und die gesellschaftliche Vermitteltheit der Natur bilden eine Einheit.

Die Ausdrücke »Natur«, Naturstoff«, »Naturding« und »Materie« benutzt Marx synonym; seiner Blickrichtung entsprechend auch »sachliche Arbeitsbedingungen« und »gegenständliche Daseinsmomente der Arbeit«. Der Materiebegriff des dialektischen Materialismus ist nicht von irgendwelchen inhaltlichen Aussagen abhängig; er wird je nach Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, die von der gesellschaftlichen Praxis bestimmt wird, immer mehr angereichert. Die historisch fortschreitenden Ansichten der Naturwissenschaftler über die Struktur der Materie bleiben dem Materiebegriff des philosophischen Materialismus äußerlich: »Denn die einzige ›Eigenschaft‹ der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus gebunden ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewußtseins zu existieren« (Lenin, LW 14, 260).

Wenn Marx der äußeren Natur den genetischen Primat zuerkennt, dann besitzt die Natur diese Priorität immer nur innerhalb ihrer gesellschaftlichen Vermittlung, ohne dadurch jedoch völlig beseitigt zu werden. Marx interessiert das, was für den Menschen von Belang ist: nicht das abstrakte materielle Sein, sondern die durch Arbeit angeeignete Natur. »Als Bildnerin von Gebrauchswerten, als nützliche Arbeit, ist die Arbeit … eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln« (MEW 23, 57). Da der Mensch selber, »als bloßes Dasein von Arbeitskraft betrachtet, […] ein Naturgegenstand, ein Ding, wenn auch lebendiges, selbstbewußtes Ding« ist (MEW 23, 217) und der äußeren Natur in der Arbeit »als eine Naturmacht« gegenübertritt (MEW 23, 192), ist sein Lebensprozess ein Naturzusammenhang. Dabei »verändert er zugleich seine eigne Natur«, indem er »auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert« (MEW 23, 192). Die Dialektik von Subjekt und Objekt ist somit »eine Dialektik von Bestandteilen der Natur«, und die Natur »ist das Subjekt-Objekt der Arbeit« (Alfred Schmidt 1974, 8, 58). Insofern und insoweit Marx den Menschen als Bestandteil der Natur betrachtet, erfasst sein Naturbegriff die Gesamtwirklichkeit, die Totalität dessen, was ist.

Der »Stoffwechsel« von Mensch und Natur