Das Buch:

Am Ufer des Mississippi liegt das beschauliche Städtchen, in dem Huck lebt – alles ist langweilig und zu ordentlich für ihn. Kaum zu glauben: Sein Vater versucht ihm zu verbieten, in die Schule zu gehen! Und so dauert es nicht lange, bis er unter abenteuerlichen Umständen fliehen muss.

Huck, der weiße Außenseiter und Jim, der schwarze Sklave, tun sich zusammen; in einer Zeit, in der Rassismus und Sklaverei fest verwurzelt waren. Auf einem Floß lassen sie sich den Fluss hinunter treiben und erleben ein Abenteuer nach dem anderen. Eine witzige, anarchische und spannende Geschichte!

Der Autor:

Dirk Walbrecker, geboren in Wuppertal, Wahl-Münchener, Studium der Literatur- und Theaterwissenschaft, Regie-Assistent, Aufnahmeleiter, Drehbuchschreiber, Kinder- und Jugendbüchern mit zahlreichen Veröffentlichungen, Leseveranstaltungen in Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien, Türkei – und auch Pädagoge. Er war als Lehrer tätig und weiß genau, wie man die verschiedenen Altersgruppen ansprechen kann und was wirklich spannend ist und wie man die Lust weckt, durch Literatur gehaltvoller, spannender und auch humorvoller leben zu können.

Hörbuch:

Der Text dieses Buches ist auch als Hörbuch in der Reihe „Klassiker für Kids“ erschienen:

Huckleberry Finn

nacherzählt und gesprochen von Dirk Walbrecker,

Hörbuch auf 3 Audio-CDs, ISBN 978-3-942270-60-1

Klassiker für die ganze Familie

Huckleberry Finn

von Mark Twain

nacherzählt von Dirk Walbrecker

Impressum

ISBN: 978-3-942270-76-2

© Kuebler Verlag GmbH,

Lampertheim – Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung Daniela Hertel,

www.grafissimo-design.de,

Bildmaterial © 4167-fotalia.com,

© fotogestoeber-fotalia.com

Kuebler Verlag im Internet:

www.kueblerverlag.de

www.klassiker-fuer-die-familie.de

Kapitel 1

Mein entsetzlich ordentliches Leben

bei der Witwe Douglas

Mein Name ist Huckleberry Finn, und ihr kennt mich wahrscheinlich noch nicht – außer ihr habt „Tom Sawyers Abenteuer“ gelesen. Dieses Buch hat ein gewisser Mark Twain geschrieben. Und der hat alles genau so erzählt, wie Tom und ich es erlebt haben – jedenfalls fast so. Das Ende von der Geschichte kann ich euch ja verraten: Tom und ich fanden eine Riesensumme Geld, die Räuber in einer Höhle versteckt hatten. Als Belohnung bekamen wir dafür sechstausend Dollar. Jeder von uns und in Gold.

Und von da an hat sich mein Leben total verändert: Der Richter Thatcher nahm das Geld in seine Obhut, verlieh es gegen Zinsen und zahlte mir jeden Tag einen Dollar in bar. Die alte Witwe Douglas adoptierte mich, steckte mich in piekfeine Kleidung und versuchte, mir anständige Manieren beizubringen. Eine Zeitlang machte ich das mit, aber dann hielt ich's nicht mehr aus. Ich haute ab, stieg wieder in meine zerlumpten Klamotten und lebte wie früher in meinem Zuckerfass. Da jedoch stöberte mich Tom Sawyer auf. Er erzählte mir von seinem Plan, eine Räuberbande zu gründen. Und er versprach, mich aufzunehmen, wenn ich zur Witwe zurückkehren würde.

Was blieb mir anderes übrig? Ich also wieder rein in die feinen Kleider. Jeden Tag dreimal pünktlich zur Mahlzeit. Als Vorspeise immer ein Gebet und als Nachspeise eine Lesung aus der Bibel. Aus und vorbei war's mit der Freiheit und mit dem gemütlichen Pfeifchen nach dem Essen. Stattdessen tauchte zu allem Überfluss auch noch Miss Watson, die Schwester der Witwe, auf. Diese alte schmächtige Jungfer mit Brille auf der Nase rückte mir mit einem ABC-Buch auf den Leib und versuchte mich zu erziehen:

„Nimm deine Füße vom Tisch, Huckleberry!“

„Knirsch nicht so mit den Zähnen!“

„Lass das Gähnen und rekele dich nicht so!“

Wir verstanden uns wirklich schlecht, und eines Tages begann sie, mir von der Hölle zu erzählen. „Genau da will ich hin!“ erklärte ich und zog damit all ihren Zorn auf mich.

Es sei eine Sünde, so zu sprechen, bekam ich zu hören. Sie für ihren Teil würde leben, um in den Himmel zu kommen. Dort oben habe man später nichts anderes zu tun, als den lieben langen Tag mir einer Harfe herumzugehen und zu singen. Immer und ewig zu singen.

So etwas musste ich mir anhören! Jeden Tag! Und obendrein gab's noch Abendandacht mit unserem Nigger Jim. Und danach hieß es: Ab ins Bett! Kann man sich etwas Langweiligeres vorstellen? Oben in meiner Kammer saß ich dann mit einem Kerzenstumpf, hörte, wie die Blätter traurig im Wald rauschten, wie eine Eule einen Toten anzeigte, wie ein Ziegenhirte und sein Köter über einen Sterbenden wehklagten, wie der Wind mir etwas zuflüsterte, was ich nicht verstand. Schauder rieselten mir über den Rücken, ich fühlte mich einsam und verlassen, und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als tot zu sein. Irgendwann krabbelte mir eine Spinne über die Schulter, ich schüttelte sie ab, und prompt landete sie in der Kerzenflamme, wo sie elendiglich verbrannte.

War das nicht ein verdammt schlechtes Vorzeichen?

Ich schlotterte am ganzen Körper. Ich stand auf, drehte mich dreimal um mich selber und bekreuzigte mich dabei. Dann zog ich zitternd meine Pfeife heraus, um zu paffen. Eine Ewigkeit lauschte ich in die Dunkelheit. Ich hörte die Turmuhr Mitternacht schlagen, und dann plötzlich ließ mich ein Geräusch aufschrecken: Ein Zweig knackte direkt vor meinem Fenster, und es machte zweimal „Miau!“

Umgehend löschte ich die Kerze, miaute ebenfalls zweimal, kletterte zum Fenster hinaus auf das Dach des Schuppens und ließ mich geräuschlos auf den Boden nieder.

Und wer erwartete mich dort unter den Bäumen? Tom Sawyer!

Wir begrüßten uns schweigend, schlichen auf Zehenspitzen durch den Garten und wären auch heil davongekommen, wenn, ja wenn ich nicht über so eine blöde Wurzel geflogen wäre!

„Wer da?“ tönte es von der Küchentür, und Jim, Miss Watsons Nigger, kam in den Garten. Tom und ich warfen uns auf den Boden und wagten uns nicht zu rühren.

„Wer da? Wo sein du? Was du hier machen?“

Der Nigger war direkt auf Tom und mich zugekommen und blieb genau zwischen uns stehen; wir hätten ihn beinahe berühren können. Und ausgerechnet jetzt fing es an mich zu jucken. Es juckte erst an der Nase, dann irgendwo von innen, dann irgendwo hinten und schließlich mindestens an sieben verschiedenen Stellen gleichzeitig.

„Ich muss mich jetzt hier hinsetzen und warten, bis ich wieder höre was“, sagte Jim gleich neben mir, während das Jucken noch unerträglicher wurde. Und dann saß der Schwarze da, saß gleich vor meiner juckenden Nase an einen Baum gelehnt und rührte sich nicht mehr vorn Fleck, bis er, nach einer Ewigkeit, endlich zu schnarchen begann.

Tom machte mir ein Zeichen, und wir krochen auf allen vieren davon.

„Wir fesseln ihn an den Baum!“ schlug Tom vor.

„Du bist wohl wahnsinnig! Der fängt an zu schreien, und die da drinnen merken, dass ich nicht im Bett liege.“

„Okay“, flüsterte Tom und konnte es trotzdem nicht lassen, noch etwas Waghalsiges zu unternehmen: Er schlich in unsere Küche, klaute drei Kerzen und legte als Dank ein Fünf-Cent-Stück auf den Tisch. Dann kroch er wieder zu Jim, nahm ihm einfach den Hut vom Kopf und hängte ihn genau über dem Nigger an einen Ast.

Erst jetzt konnten wir endlich abhauen – nicht ahnend, welche Folgen diese Nacht bei dem armen Jim haben sollte: Fortan erzählte er jedem, der es hören wollte oder nicht, er habe in dieser Nacht Besuch von Hexen bekommen. Sie hätten ihm den Hut genommen, hätten seinen Rücken zerkratzt, seien mit ihm nach New Orleans geritten und noch vieles mehr.

Das Fünf-Cent-Stück trug er von da an als Amulett am Hals und erklärte allen Niggern von nah und fern, der Teufel höchstpersönlich habe es ihm, gegebenund er könne jeden damit heilen und Hexen damit herzaubern.

Aber zurück zu unserem nächtlichen Ausflug: Tom und ich beeilten uns, runter zum Fluss zu kommen. Dort, wo der Mississippi eine ganze Meile breit, still und gewaltig vorbeizieht, warteten in einer alten Gerberei Jo Harper, Ben Rogers und noch zwei, drei andere Jungs auf uns. Gemeinsam machten wir ein Boot los, ruderten zweieinhalb Meilen stromabwärts und gingen beim großen Felsen an Land.

„In die Höhle!“ gab Tom Sawyer das Kommando, und kurze Zeit später saßen wir bei Kerzenschein in einer kühlen, feuchten, glitschigen Felsenhöhle, wo es ungeheuer feierlich wurde:

„Wir haben uns hier getroffen, um die Tom-Sawye-Bande zu gründen“, erklärte Tom und zog ein Stück Papier mit der Eidesformel aus der Tasche. „Hier steht: Jeder muss treu zur Bande halten und darf kein Geheimnis verraten. Wenn er es doch tut, wird ihm der Hals abgeschnitten, sein Leichnam verbrannt und die Asche unter ewigem Fluch in alle Winde verstreut. Wenn ein Fremder einem von uns etwas zuleide getan hat, dann wird das fürchterlich gerächt. Der Täter und seine ganze Familie werden von uns getötet, nachdem ihnen das Zeichen unserer Bande, ein Kreuz, in die Brust gekerbt wurde.“

Wir alle fanden den Eid wundervoll. Jeder einzelne stach sich mit einer Nadel in den Finger und unterschrieb das Papier mit seinem Blut. Und dann wurde über die Aufgaben der Bande diskutiert. Es ging hoch her, und am Schluss wusste jeder, worum es ging: „Wir rauben und morden. Wir maskieren uns und überfallen Kutschen und Wagen auf der Landstraße, töten die Insassen und nehmen ihnen Geld und Uhren ab“, erklärte uns Tom, der sich auf diesem Gebiet am besten auskannte. „Ein paar können wir auch gefangen nehmen und hier in der Höhle als Geiseln festhalten, bis sie gegen Lösegeld freigekauft werden.“

„Töten wir etwa auch die Frauen?“ wollte Ben Rogers wissen.

„Unsinn!“ wurde er belehrt. „Die werden alle hier eingesperrt. Dann verlieben sie sich in uns. Und danach sieht man weiter.“

Ich weiß nicht mehr, was wir noch alles besprachen. Jedenfalls wurde zum Abschluss Tom Sawyer zum Räuberhauptmann gewählt und Jo Harper zu seinem Stellvertreter. Erst kurz vor Morgengrauen war ich wieder daheim, kletterte in mein Fenster und schlief hundemüde und mit dreckverschmierten Kleidern ein.

Am nächsten Morgen gab es – man kann es sich ja denken – eine gesalzene Strafpredigt. Aber es war nicht die Witwe, die mit mir schimpfte. Nein, nur Miss Watson machte mich fix und fertig, und anschließend betete sie für mich. Ihre Schwester hingegen säuberte schweigend meine Kleidung und machte ein so trauriges Gesicht, dass ich mir umgehend vornahm, mich eine Weile anständiger zu benehmen – falls nicht wieder was dazwischen kam.

Dann, eines Tages, war es mit aller Ruhe vorbei: Zwölf Meilen oberhalb unseres Ortes hatte man eine Leiche im Fluss gefunden – zerlumpt, mit schrecklich langem Haar, entstelltem Gesicht und genauso groß wie – mein Vater. Paps hatte sich schon über ein Jahr nicht blicken lassen, und ich war sehr froh darüber gewesen. Wenn er nämlich in der Nähe war und ausnahmsweise mal nüchtern, dann gab es regelmäßig Prügel. Sollte das nun etwa für immer ein Ende haben?

Das mit der Räuberbande übrigens lief ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte: Zwar trafen wir uns in den nächsten Wochen regelmäßig. Doch das mit der Räuberei und dem Töten wollte nicht so recht klappen. Wir hatten uns natürlich wie besprochen bewaffnet. Aber die Schwerter waren bloß Holzlatten und die Flinten Besenstiele. Und das, was uns Tom als großen und lebensgefährlichen Beutezug angekündigt hatte, entpuppte sich alsbald als ein höchst klägliches Unternehmen. Da war von einem ganzen Tross spanischer Kaufleute und reicher Araber nebst zweihundert Elefanten, sechshundert Kamelen und über tausend Packtieren, über und über beladen mit Diamanten, die Rede. Und da es sich bei der Bewachung des Ganzen gerade mal um vierhundert Soldaten handeln sollte, wurde beschlossen, die Gesellschaft aus dem Hinterhalt anzugreifen, sie zu töten und die Schätze einzukassieren. Ich hatte zwar so meine Zweifel an dem, was uns Tom erzählte. Aber die Kamele und die Elefanten lockten mich natürlich, und so war ich wie die anderen pünktlich an der verabredeten Stelle.

„Auf sie mit Gebrüll!“ gab Tom das Kommando, und wir stürzten aus dem Wald und den Hügel hinunter. Aber da waren weder Spanier und Araber noch Elefanten und Kamele. Da war gerade mal eine Schulklasse, die mit ihrem Lehrer einen Ausflug machte! Zwar scheuchten wir die Kinder durch das Tal. Wir erbeuteten auch ein paar Krapfen mit Marmelade, Ben Rogers sogar eine lumpige Puppe und Jo Harper ein Gesangbuch. Aber dann tauchte der Lehrer auf, und wir schmissen alles wieder weg und ergriffen die Flucht.

Natürlich nahm ich diese Pleite nicht so einfach hin und stellte Tom Sawyer zur Rede. Der jedoch behauptete steif und fest, da seien ganze Ladungen von Diamanten gewesen, auch Araber und Elefanten und dergleichen mehr!

„Und warum hab ich nichts davon gesehen?“ wollte ich wissen.

„Weil du nicht ‚Don Quijote‘ gelesen hast und keine Ahnung von Magie hast!“ erklärte er mir. „Böse Zauberer sind unsere Feinde. Sie haben die Schätze und die Soldaten und alles Drumherum in eine Schulklasse verwandelt.“

Was sollte ich dagegen einwenden? Ich schlug Tom vor, wir sollten in Zukunft selber einen Pakt mit den Geistern schließen, damit sie uns mit ihren Zauberkräften zu Hilfe eilten. Tom war sofort einverstanden. Er verriet mir einen alten Trick mit einer Zinnlampe, an der man zur Geisterbeschwörung mit einem Eisenring reiben müsse. Ich glaubte ihm, verzog mich in den Wald und rieb und rieb. Aber sosehr ich mich auch abmühte – kein Geist erschien, und, ehrlich gesagt: Inzwischen hab ich große Zweifel an Toms Ehrlichkeit!

So verging die Zeit, die Räuberbande hatte sich inzwischen mehr oder weniger aufgelöst, und es war Winter geworden. Fast die ganze Zeit war ich brav in die Schule gegangen. Ich konnte buchstabieren und lesen und auch ein bisschen schreiben. Und ich konnte das Einmaleins aufsagen bis sechs mal sieben ist fünfundvierzig, und weiter werde ich wohl nie kommen. Manchmal, wenn ich die Schule satt hatte, dann schwänzte ich einfach, verzog mich in den Wald und war glücklich. Anschließend gab es zwar eine Tracht Prügel. Aber die tat mir gut und munterte mich auf. Und überhaupt: Mit der Witwe kam ich immer besser zurecht und wurde jetzt sogar manchmal von ihr gelobt.

Eines Tages allerdings war es schlagartig mit dem ruhigen Leben vorbei: Es war gerade Neuschnee gefallen, da entdeckte ich in unserem Vorgarten eine Fußspur. Keine gewöhnliche, sondern den linken Absatz mit einem Kreuz aus dicken Nägeln – ein Kreuz, das den Teufel abhalten sollte! Und was die Entdeckung noch seltsamer machte: Der Unbekannte war viele Male vor unserem Haus auf und ab gegangen und doch nicht bei der Witwe erschienen!

Ich fackelte nicht lange. Ich flitzte zu Richter Thatcher: „Ich will mein Geld loswerden“, erklärte ich ihm. „Ich will, dass alles Sie bekommen.“ Der Richter sah mich verwundert an, stellte mir ein paar Fragen und schien mich zu verstehen, ohne dass ich mit der ganzen Wahrheit herausrückte. Er schrieb etwas auf ein Papier, erzählte etwas von einer „Entschädigung“, verlangte von mir eine Unterschrift und überreichte mir eine Dollarmünze: „So, nun hab ich dir alles abgekauft und dich dafür bezahlt.“

Auch wenn es wenig glaubwürdig klingt: Mir war ein Stein vom Herzen gefallen, und ich zog erleichtert von dannen.