Die 8 Übungen aus dem Yogasūtra des Patañjali
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ISBN Printausgabe 978-3-95883-495-8
ISBN E-Book 978-3-95883-496-5
Originalausgabe
Copyright © Theseus in Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2021
1. Auflage 2021
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.
Projektleitung und Lektorat: Susanne Klein, www.kleinebrise.net
Gestaltung und Satz: Michael Shorny, www.mangomoon.at
Umschlagabbildung © Adobe Stock Foto von Tobif82; Steinkreis auf Holztisch
Druck & Verarbeitung: Westermann Druck Zwickau GmbH
Vorwort
Zur Schreibweise der Sanskritwörter
Die Sanskritbuchstaben und ihre Aussprache:
TEIL EINS: BEGRIFFSKLÄRUNG
Der Begriff Aṣṭāṅgayoga
Aṣṭāṅgayoga im Yogasūtra
Der Begriff Kriyāyoga
Drei Einstellungen als tragende Säulen
TEIL ZWEI: YOGA UND DAS PROJEKT LEBEN
Ein universelles Schema aus dem Yoga
Bewusstheit über das Leiden als eine universelle Empfindung
Die Akzeptanz-Seite
Die Widerstand-Seite
Bewusstheit über die innere Anfälligkeit als Ursache
Sich sicher sein, das Ziel zu erreichen
Die Mittel finden und sie anwenden
TEIL DREI: DIE ACHT GLIEDER DES YOGA
Acht Glieder, die gemeinsam einen Korpus bilden
Der Zusammenhang der Glieder
Eine Zusammenfassung der acht Glieder
1. Yama
Ein Konsens unter Lebewesen
Die Grenzen der Ethikvorstellung
Die Umsichtigkeit beim Umgang mit Regeln
Ahiṃsā
Satya
Asteya
Brahmacarya
Aparigraha
2. Niyama
Von Gehorsam, Disziplin und Verzicht
Śaucam
Santoṣa
Tapas
Svādhyāya
Īśvarapraṇidhānam
3. Āsanam
Was ist ein Āsanam?
Wie kommt man in ein gutes Āsanam?
Zwei wichtige Körperpunkte
Widerstandsfähigkeit als Wirkung der Āsana-Übung
Eine Geschichte der Āsana-Übung
4. Prāṇāyāma
Der Atem
Was ist Prāṇa?
Was ist Prāṇāyāma?
Die Übung des Prāṇāyāma
Die Wirkung von Prāṇāyāma
5. Pratyāhāra
Die elf Sinnesorgane
Pratyāhāra, ein selten genanntes Übungsglied
Eine hilfreiche Grunderkenntnis
Wie übt man die Neutralität der Sinne?
Die subjektiv-objektive Wahrnehmung
Die Vollendung der Übung
6. Dhāraṇā
Was ist Meditation?
Dhāraṇā, die tiefe Konzentration
Die Eigenschaften einer meditativen Konzentration
Das Thema für eine meditative Konzentration
7. Dhyānam
Klang als ein Ursprung der Meditation
Die Vertiefung der meditativen Konzentration
Die meditative Resonanz
Was ist Stille?
Probleme, die mit der Meditation einhergehen
8. Samādhi
Tun oder nicht tun?
Die Grenze des Passivseins
Was ist Samādhi?
Was bewirkt Samādhi?
Schlusswort
Glossar
Über den Autor
In der Geschichte der letzten hundert Jahre gab es einige große Wendepunkte. Prägend waren da für die Industrienationen die 1940er-Jahre, während derer in Europa Krieg und Zerstörung herrschten. Für die meisten anderen Länder begann zu der Zeit die Befreiung von der jahrhundertelangen kolonialen Unterdrückung. Der Begriff des Yoga war im Westen in dieser Zeit noch maßgeblich geprägt vom Wirken Swami Vivekanandas (1863–1902), der Ende des 19. Jahrhunderts zu einer der wichtigsten Figuren des Ost-West-Dialogs wurde. Zu seinem Verständnis von Yoga gehörte die Auffassung, dass wir, wenn wir uns als Körper begreifen, uns vor den anderen Körpern beschützen wollen; und damit geraten wir in Trennung und entfernen uns vom Yoga. In dieser Zeit war für Menschen in Indien Yoga vor allem geprägt von Ritualen, die zu ihrem Leben gehörten. In Form von Prāṇāyāma- oder Meditationsübungen praktizierten sie Yoga als Teil ihrer spirituellen Bemühungen oder als körperertüchtigende Übungen, die sie rein hielten und ihre Askese vorantrieben.
Die verheißungsvollen Umwälzungen der 1960er-Jahre auf den Straßen und in den Universitäten der Industrieländer änderten das Gesicht des sozialen Lebens und verhießen neue unbekannte Freiheit für Frauen, Mut gegen autoritäre Repressionen und eine sexuelle Revolution. In der damaligen sogenannten Dritten Welt wirkten diese Stürme auch. Die Autorität der Herrenländer wurde infrage gestellt, das Wirken und die Botschaft von Menschen wie Martin Luther King Jr. oder Mahatma Gandhi nahmen einen neuen Stellenwert ein und die Machtstrukturen in der eigenen Gesellschaft wurden zunehmend kritisch betrachtet.
Der Westen hat in dieser Phase ein eigenes Bild von Yoga entwickelt. Bekannte Menschen wie etwa die Beatles verliehen durch ihr Interesse an der indischen Spiritualität auch dem Yoga ein neues Gesicht. Offenheit, Toleranz und ein Sinn für die Verbindung zwischen Körper und Geist scheinen damals die große Faszination ausgemacht zu haben. Hingegen war in Indien für viele yogaübende Lehrer und auch für uns Schüler zu der Zeit Yoga ein Weg, die eigene Religion und die geistigen Anschauungen frei zu überdenken und neu auszurichten. Das Ziel dabei war, von der unbedachten Modernisierung und Nachahmung des Westens wegzukommen. Die neuen Yogaschulen, die entstanden, waren meistens geprägt von dieser Haltung, auch wenn bei ihnen die Körper- und Atemübungen eine zentrale Rolle spielten.
Die Jahre um den Beginn des neuen Millenniums markierten die große digitale Revolution, die von Jahr zu Jahr das Leben in allen wohlhabenden Ländern nachhaltig und tiefgreifend veränderte; und dies geschah und geschieht auch in ärmeren Ländern wie Indien. Auf einmal war die Kommunikation mit Menschen, die man nur selten sah oder noch nie gesehen hatte, viel leichter möglich. Information verbreitete sich in Rekordeile und wir waren globalisiert, ohne dass wir diese Globalisierung auf eine gezielte Weise angestrebt oder befürwortet hätten – mit all ihren positiven und auch den problematischen Seiten. Hier hat sich auch das Bild von Yoga auf eine Art und Weise verändert, wie man es zwanzig Jahre zuvor noch gar nicht für möglich gehalten hätte. Yoga ist im Zuge dessen auch in allen europäischen Ländern zu einem Begriff geworden. Er genießt fast universell ein gutes Ansehen, bewegt Geld in unglaublichen Mengen und wird dabei zuallererst als eine Körperdisziplin fürs Wohlsein verstanden.
Viele Menschen, die unermüdlich unterwegs gewesen waren, um die Anerkennung für Yoga zu erreichen, hinter dem sie ein großes universelles Wissen, basierend auf tiefsten menschlichen Erfahrungen, gesehen haben, versetzte diese Entwicklung in ein freudiges Erstaunen. Gleichzeitig kommen aber auch Befürchtungen auf, dass all diese neuen Trends an den eigentlichen Inhalten des Yoga vorbeigehen. Gerade deshalb ist es nun nötig, dafür zu sorgen, dass das Bild des Yoga in Zeiten der ungefilterten Massenkommunikation zumindest teilweise unbeschädigt bleibt. Denn nur so können wir aus den Weisheiten des Yoga wahrhaftig und aus dem Vollen schöpfen.
Wenn wir den Yoga in dem, was er wirklich ist, verstehen wollen, ist es heute unerlässlich, dass wir ihn in seinem philosophischen und geistigen Kontext betrachten. Denn letztlich ist es dieser Kontext, weshalb Yoga weltweit bis heute noch eine Faszination ausübt. Ohne diesen Kontext ist Yoga lediglich ein durch neue, bessere Methoden austauschbares System der Körperschulung.
Begeistern Sie sich für Yoga? Interessieren Sie sich dafür, dass es nicht austauschbar und durch eine »schlauere« Köperübungsmethode ersetzbar wird? Dann erfordert es, in die Welt des Aṣṭāṅgayoga einzusteigen und die Übungen im eigentlichen Kontext des Yoga zu sehen, sodass diese Übungen nicht nur wohltuend sind und nachgewiesene Wirkungen auf Körper und Geist haben, sondern vielmehr zu einer Gelegenheit werden, sich und den eigenen Körper in einer ganzheitlichen Weise zu verstehen und eine innere Transformation in Gang zu bringen.
Der Weg einer solchen umfassenden Transformation über Yoga wird im Yogasūtra des Patañjali beschrieben, und dies bildet auch die Grundlage für dieses Buch.
Vielen Dank an dieser Stelle an Catherine Müller (www.yogaraum-olten.ch) aus Olten, die mit großer Lust und Sorgfalt viele Seminaraufnahmen transkribiert und redigiert hat, was dann zur Vorlage für dieses Manuskript wurde.
Die Fremdwörter sind alle in der international anerkannten Übertragungsweise der Sanskrit-Schrift in die europäische Schrift gehalten. Das Wort Sanskrit verrät schon die Fehler, die in Übertragungen enthalten sein können, denn die Sprache heißt eigentlich Saṃskṛt, was übersetzt »eine vollkommene Sprache« bedeutet. Selbst das Wort Yogasūtra müsste Yogasūtram in der Singularform oder Yogasūtrāṇi in der Pluralform lauten.
Die Wortübersetzungen lehnen sich an die Aussagen, die in dieser Lehrschrift gemacht werden, an. Die gewählte grammatikalische Form der Wörter ist eine, die im Text erscheint. Bei den Übersetzungen sind wie üblich die nominativischen Singular-Wörter auf ihre Grundform reduziert: āsanam (neutrum) wird āsana geschrieben, samādhiḥ (maskulinum) wird samadhi geschrieben und dhāraṇā (femininum) bleibt dhāraṇā.
Am Ende des Buches ist ein Glossar mit allen Sanskrit-Wörtern, die in den hier zitierten Versen aus dem Yogasūtra erscheinen. Um es übersichtlich zu halten, sind nicht alle Formen eines Wortes übersetzt, die irgendwo im Text erscheinen, sondern meist nur die Grundform.
a |
kann |
ā |
Kahn |
i |
Kind |
ī |
Brise |
u |
kurz |
ū |
Kuhle |
ṛ |
r mit zurückgezogener Zunge |
e |
Kehle |
ai |
Keim |
o |
Kohle |
au |
Kraut |
ṁ |
nasal klingend |
ḥ |
der vorhergehende Vokal wird leicht ausgehaucht |
ṅ |
Hang |
c |
Tschechien |
j |
Dschungel |
jñ |
wie »gnj« |
ñ |
Señor (wie »nj«) |
ṭ |
t mit zurückgezogener Zunge und Zungenspitze am Gaumen |
ḍ |
d mit zurückgezogener Zunge und Zungenspitze am Gaumen |
ṇ |
n mit zurückgezogener Zunge und Zungenspitze am Gaumen |
t |
t mit Zungenspitze unter der oberen Zahnreihe |
d |
d mit Zungenspitze unter der oberen Zahnreihe |
y |
ja |
v |
wann |
ś |
ich (Zungenspitze hinter dem Unterkiefer) |
ṣ |
Muschel (Zunge zurückgezogen und Zungenspitze am Gaumen) |
s |
Muss |
Zunächst ist es mir wichtig, mit einem verbreiteten Missverständnis aufzuräumen. Der Begriff Ashtanga-Yoga ist recht bekannt, da er oft als Name für eine bestimmte Richtung von Yoga verwendet wird, die heute sehr verbreitet ist. Diese Yogarichtung geht zurück auf einen bekannten Yogameister aus Mysore in Südindien, auf Pattabhi Jois. Der von ihm gewählte Name für seinen Stil ist »Ashtanga-Vinyasa-Yoga«, und dieser Name wird gemeinhin zu »Ashtanga-Yoga« verkürzt. Aṣṭāṅga in Sanskrit heißt »acht Glieder«. Der achtgliedrige Aṣṭāṅgayoga ist eine grundsätzliche Struktur, wonach Yoga geordnet und verstanden wird. Das Sanskritwort Vinyasa bedeutet »eine Reihe ineinander führender Positionen«. Bewährt ist zum Beispiel aus dem Yoga der Sonnengruß, eine Reihe von Körperpositionen, bei denen eine Haltung fließend zur nächsten führt. Hierbei werden acht Glieder des Körpers geübt – die zwei großen Zehen, die zwei Knie, die Brust, die Stirn und die zwei Hände – und mit ihnen wird zum Höhepunkt der Übungsabfolge der Boden berührt. Das ist eine ziemlich gewöhnliche Andachtsstellung in Indien, mit der man seine Ehrfurcht gegenüber der Sonne zeigt; entsprechend heißt diese Bewegungsabfolge Sūryanamaskar oder »der Gruß an die Sonne«. Man könnte diesen Gruß »ein Vinyasa der acht Glieder« nennen oder eben »Ashtanga-Vinyasa-Yoga«.
Der Begriff Aṣṭāṅgayoga jedoch bedeutet ganz etwas anderes. Bei Aṣṭāṅgayoga geht es um ein holistisches Konzept, um eine Struktur für eine ganzheitliche und spirituelle Persönlichkeitsentwicklung. Dieses wird ausführlich beschrieben im Grundwerk des Yoga, dem Yogasūtra des Patañjali. Einen in unserer Zeit entstandenen Stil mit diesem Namen zu beschreiben kann zum Problem werden, weil es uns von einem wesentlichen und majestätischen Konzept des Yoga ablenkt. »Ashtanga-Yoga« als ein Stil des modernen Yoga ist verbreitet. Doch halt! Wir sollten uns, wenn wir nicht auf der Oberfläche eines Yogaverständnisses schwimmen wollen, mit dem wirklichen Aṣṭāṅgayoga vertraut machen. Deshalb ist das Thema hier eben dieser Aṣṭāṅgayoga. Es geht mir dabei nicht um ein altes, historisch wertvolles Bild des Yoga, sondern um ein leibhaftig relevantes Konzept, das unserem Leben und unserem Tun aus der Perspektive des Yoga eine klare Struktur geben kann.
Yoga ist vor allem eine Weltanschauung, es ist, um einen Begriff aus dem westlichen Kontext zu verwenden, »ein philosophisches System aus Altindien«. Zusammen mit dem System des Sāṃkhya bildet es eine solide Weltanschauung, deren Ziel es ist, den Weg des Leidens und auch den Weg aus ihm heraus aufzuzeigen. Patañjali wird unangefochten als der Gründer des Yoga angesehen, das von ihm verfasste Yogasūtra gilt als die Quellschrift dieser Anschauung.
Dieses Buch ist eine Ergänzung zu der von mir verfassten Übersetzung des Yogasūtra*. Das zweite Kapitel des Yogasūtra heißt Sādhana-Pāda, wörtlich »der Abschnitt über die Übung«. In eben diesem Kapitel legt Patañjali das System des Aṣṭāṅgayoga dar, und im dritten Kapitel des Yogasūtra schließt er das Thema ab. Das vorliegende Buch soll dazu inspirieren, dieses spannende Thema der acht Glieder näher kennenzulernen. Es wird uns helfen, eine Struktur für all jene Bemühungen zu finden, die einen langen Atem benötigen; außerdem kann es Ideen aufzeigen für alle unsere Visionen, die wir verwirklichen möchten. Es wird uns darin unterstützen, auf eine didaktisch gut aufgebaute Weise unserem Ziel näher zu kommen. Insofern ist das hier ein Thema, das jedem und jeder dienlich sein kann. Für diejenigen, die sich intensiver mit Yoga vertraut machen wollen, ist es genau der Einstieg, der in das Zentrum des Yoga führt.
Das Buch besteht aus drei Teilen. Der erste Teil führt uns ein in die Weisheit des Yoga, die als Basis für alle unserer Handlungen dienen und dem Leben mehr Schärfe geben kann. Im zweiten Teil werden drei Schritte beschrieben, die den Übungen der einzelnen Yogaglieder mehr Gewicht und Wirksamkeit verleihen werden. im dritten werden schließlich das Schema des achtgliedrigen Yogapfades näher erläutert und die acht Glieder nacheinander einzeln dargestellt.
Um in das Thema einzusteigen, ist es hilfreich, zuerst auf Kriyāyoga, den Yoga der Reinigung, einzugehen. Im Kriyāyoga geht es darum, wie wir handeln können, sodass unsere Handlungen auf uns eine läuternde Wirkung haben.
Anhand eines einfachen, alltäglichen Beispiels können wir sehen, was Kriyāyoga bedeutet: Wir wollen ein Haus bauen. Dafür brauchen wir Zeit, Energie und Aufmerksamkeit. Ist unser Einsatz intensiv, so bleiben wir fokussiert auf unser Vorhaben; je intensiver wir sind, desto zügiger und wacher können wir das Vorhaben vorantreiben. Die Dringlichkeit hinter unserem Einsatz ist zwar wichtig, doch muss dieser auch vernünftig und passend zu unseren Verhältnissen ablaufen. Es müssen dabei unsere finanziellen Möglichkeiten, unsere Bedürfnisse, unser Können, unsere Grenzen usw. berücksichtigt werden. Sonst kann es passieren, dass wir eventuell das Ziel – ein schön gebautes Haus, das man bewohnen will und in dem man glücklich ist – zwar erreichen, wir aber im Zuge dessen an vielen Nebenwirklungen – wie etwa durch finanzielle oder emotionale Schäden – leiden. Achtsamkeit als ein Regler des Eifers ist hier unabdingbar. Letztlich müssen wir uns bewusst bleiben, dass wir nicht alles alleine zum Erfolg bringen können. Da sind auch Handwerker, Architekten, Produkte, die für den Hausbau geliefert werden, ungünstige Wetterbedingungen und weitere unvorhersehbare Zufälle oder gar Unfälle, die wir nicht voraussehen können. Sehr wohl lässt sich deshalb sagen, dass beim Erfolg nicht alles in der eigenen Hand liegt.
Hierzu heißt es im Yogasūtra in Vers 2.1:
tapas svādhyāyeśvarapraṇidhānāni kriyāyogaḥ
Mit Bereitschaft zum Verzicht leidenschaftlich zu handeln, dabei durch Rücksicht auf die eigenen Kräfte und Grenzen über sich selbst zu lernen und dem Unvorhersehbaren gegenüber offen zu sein, das wird Kriyāyoga genannt.
Mit anderen Worten: Wenn eine Handlung mit unbeschränktem Einsatz und unter Berücksichtigung individueller Fähigkeiten und Grenzen unternommen wird, ohne dass dabei der Eigenwille überschätzt wird, können wir zuversichtlich bleiben, dass diese Handlung zum Erfolg führt. Das ist eine Formel für erfolgreiches Handeln: Tun, was zu tun ist, achten, was eigene Grenzen bezüglich des Zieles sind, und lassen, was gelassen werden soll. Das ist eine schlaue Art und Weise zu handeln, denn wir sind hier involviert, versuchen realistisch zu bleiben, können bei Überraschungen zügig reagieren, ohne von Angst oder Frust abgelenkt zu werden, und können mit Änderungen im Ziel oder mit Misserfolgen gelassener umgehen. Das kann unseren Geist vom Ballast der eigenen Verhaltensmuster befreien und die Knoten in unserer Seele lockern. Solches Handeln ist eine edle Form von Yoga, nämlich Kriyāyoga.
Das sagt hierzu das Yogasūtra 2.2:
samādhibhāvanārthaḥ kleśa tanūkaraṇārthaśca
Solches Handeln schwächt die Kleśas [die tief liegenden störenden Kräfte] ab und führt zur völligen Klarheit.
Diese Gedanken aus dem Kriyāyoga bilden die Basis für den Weg des Yoga. Sie helfen uns, Yoga nicht einfach als eine Abfolge von Übungen zu sehen, sondern vielmehr als eine Haltung hinter jeder Handlung, die wir alle als eine Übung betrachten können. Diese Grundeinstellung zu beherzigen ist wichtig, wenn wir zu den acht Gliedern des Yoga kommen. Wir laufen sonst Gefahr, dass wir blind hinter den Yogaübungen her sind, ohne aufzupassen, ob sie für uns passend sind oder nicht. Oder wir sind dann sehr bedacht darauf, was wir benötigen und was für uns wohltuend ist, und verfallen in eine auf uns selbst fixierte Betrachtung der Übung. Oder aber wir werden zu selbstsicher und vergessen dabei, dass wir nie Meister aller Situationen sein können, sondern dass es so etwas wie eine höhere Gewalt gibt. Kriyāyoga lehrt uns in diesem Zusammenhang drei wichtige Einstellungen, die wie tragende Säulen fungieren können: die Dreiheit der Dringlichkeit, Achtsamkeit und Ergebenheit.
* Patañjali – Das Yogasūtra: Von der Erkenntnis zur Befreiung, Einführung, Übersetzung und Erläuterung von R. Sriram, Theseus Verlag, Bielefeld 2006
Aṣṭāṅgayoga