12.


„Ich weiß nicht, was mich daran hindert, dich einfach niederzuschießen“, sagte Plummer.

„Das wäre Mord“, sagte ich. „Ich trage keine Waffe.“

„Ja“, sagte er. „Das wäre Mord. Aber ich weiß einiges über dich. Du hast vor Kurzem noch als Postreiter gearbeitet. Du bist also hier nicht unbekannt. Wenn plötzlich deine Leiche auftauchte, würden einige Leute vielleicht Nachforschungen anstellen und feststellen, dass ich hier draußen war.“

„Ich könnte überall erzählen, was Sie jetzt gesagt haben“, erwiderte ich.

„Das könntest du“, sagte Plummer. „Aber es würde dir niemand glauben. Ich würde es dir auch nicht raten. Du bist noch jung. Vielleicht bist du vernünftiger als dein Freund McCall. Ich habe einen langen Arm. Wer gegen mich ist, hat nichts zu lachen. Ich tue dir nichts, weil hier der Verdacht sofort auf mich fallen würde. Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht dafür sorgen kann, dass es dich woanders erwischt.“

„Schon gut“, sagte ich. „Ich rede nicht. Sie haben recht. Es würde mir ohnehin niemand glauben. Ich muss ja selbst mit mir kämpfen, um es glauben zu können.“

Ich drehte mich um. Plummer grinste mich an. Er hatte den Revolver gesenkt.

„Nimm deine Siebensachen und besteige dein Pferd. Der Wagen kann hierbleiben. Alles andere auch. Ihr werdet es nicht mehr brauchen. Eure Claimrechte sind erloschen.“

„Was werden Sie mit mir anstellen?“

„Kommt Zeit, kommt Rat“, sagte er. „Du lebst noch. Ist das nicht genug? Die Frage ist, ob du so unvorsichtig bist wie McCall.“

Ich wusste, was er meinte. McCall hatte sein eigenes Todesurteil verkündet, als er lauthals herausgebrüllt hatte, was er alles über Plummer wusste. Plummer war klar, dass ich von McCall über ihn Bescheid wusste. Das Risiko, mich einfach abzuknallen, war ihm zu groß. Ich hatte eine Chance, wenn ich mich dumm stellte und den Mund hielt. Ich antwortete nicht. Er schien es als Eingehen auf seine Vorstellungen zu werten.

„Steig auf dein Pferd“, sagte er.

Ich holte meinen Braunen und sattelte ihn. Ich lieferte Plummer auch meinen Revolver ab. Es hatte keinen Sinn, Widerstand zu versuchen. Er war im Vorteil, und da ich wusste, dass er mich am liebsten tot sah, dachte ich gar nicht daran, ihm einen Grund dafür zu liefern, mich niederzuknallen.

Ich ritt vor ihm her, als wir die Lichtung verließen. Ich schaute nicht zurück. In meinem Innern war diese Episode meines Lebens längst abgeschlossen. Ich trauerte dem Claim nicht eine Minute nach. Ich dachte jetzt nur an McCall, dem ich es gönnte, dass er lebend davonkam.

Plummer sprach kein Wort mit mir. Er interessierte sich auch nicht dafür, dass Shita neben mir herlief. Ich dachte merkwürdigerweise nicht ein einziges Mal daran, zu fliehen. Ich wusste, er hatte mich vor der Revolvermündung und brauchte nur abzudrücken.

Als ich mit ihm den Wald verließ und zum Fox Creek hinunterritt, sahen wir vor uns McCall. Er preschte auf seinem Schimmel dahin, dichtauf gefolgt von dem Deputy und jenem Mr. Anders, dem angeblich unser Claim gehörte.

Wie gebannt starrte ich hinter McCall her. Da strauchelte sein Pferd, begann zu humpeln und blieb stehen.

McCall war verloren, aber er gab nicht auf. Er zog seinen Revolver und begann, auf seine Verfolger zu schießen.

In diesem Moment traf eine Kugel den Schimmel. Der Hengst brach zusammen und begrub McCall fast völlig unter sich. Wenig später erreichten der Deputy und Anders ihn und sprangen aus den Sätteln.

„McCall ist sehr dumm“, sagte Plummer hinter mir. „Der Henker wartet schon auf ihn.“

Ich trieb den Braunen an und ritt vor Plummer her, der mich auf McCall zu dirigierte. Als wir ihn erreichten, zogen ihn der Deputy und der andere unter seinem toten Schimmel hervor.

Er versuchte, sich loszureißen. Er schlug um sich, aber er hatte keine Chance. Sie fesselten ihm die Hände auf den Rücken. Dann hielten sie ihn zwischen sich fest, als Plummer sich im Sattel vorbeugte und ihn anschaute.

„Dein Strick ist schon gedreht, McCall“, sagte er.

„Du Hund!“, schrie McCall. „Eines Tages bist du dran. Du kannst die Leute nicht ewig belügen. Irgendwann merken Sie, wer du wirklich bist.“

„Ich werde dich selbst aufhängen“, sagte Plummer. „Es wird mir eine wahre Freude sein.“

Er zog sein Pferd herum und stierte mich zornig an. „Vorwärts!“, befahl er. „Du reitest voraus. Im Jail von Bannack ist eine Zelle für dich reserviert.“

Ich hätte gern noch einmal mit McCall gesprochen. Aber ich erhielt keine Gelegenheit dazu. Aus den ­Augenwinkeln sah ich, dass Jack McCall ein Lasso umgelegt erhielt, dessen Ende sich der Deputy um sein Sattelhorn schlang. Dann ritt er an. Das Lasso straffte sich. McCall wurde mitgezerrt. Er musste laufen und versuchen, Schritt zu halten, wenn er nicht bis nach Bannack geschleift werden und dort tot eintreffen wollte.

Wir hatten verloren. Plummer saß am längeren Hebel. McCall konnte noch so viel über ihn wissen, es nutzte nichts. Plummer war der Sheriff. Sein Wort galt. Wer aber kannte McCall? Niemand.

Und was wurde aus mir? Die Ungewissheit nagte in mir, während ich vor Plummer her ritt. Ich dachte auch daran, wie Shita leben sollte, wenn er ohne mich auskommen musste.

Hinter mir hörte ich McCalls Stöhnen. Er stolperte und stürzte zum ersten Mal, wurde ein Stück mitgeschleift, richtete sich wieder auf und lief weiter. Schweiß rann ihm über das Gesicht. Er kämpfte sich voran. Er wollte keine Schwäche zeigen. Wenigstens diesen Triumph wollte er ihnen nicht gönnen.

Aber der Weg nach Bannack war weit.


*


Der Morgen graute über den Hütten und Zelten. Das war die Zeit, als sie McCall holten. Ich erwachte von dem Lärm nebenan und wälzte mich auf meiner Pritsche herum. Dann hörte ich McCalls Stimme. Er stieß wilde Verwünschungen aus. Wildes Lachen ertönte. Die Geräusche von Fausthieben waren zu hören. Ich wollte mir die Ohren zuhalten, aber ich konnte es nicht. Ich erhob mich und ging zu dem winzigen, vergitterten Fenster der kleinen, stinkenden Zelle, in der ich mich befand.

Wenig später sah ich Henry Plummer. Er stand neben einem primitiven Holzgerüst. Ringsherum hatten sich einige Menschen versammelt, die trotz der frühen Morgenstunde erschienen waren.

Jack McCall wurde gebracht. Er schrie mit überschnappender Stimme. Er stieß Beschuldigungen gegen Plummer aus. Niemand hörte darauf. Plummer legte ihm die Schlinge um. Deputies hoben McCall auf eine Kiste und stießen sie unter ihm um, noch bevor er richtig stand.

Er fiel nach unten. Der Strick straffte sich jäh. Ich wandte mich ab. Jack McCall pendelte im Seil hin und her. Er war tot.

Plummers Stimme war von draußen zu hören. Er hielt wieder einmal einen Vortrag über Gerechtigkeit, Gesetze und Zivilisation. Jetzt hielt ich mir wirklich die Ohren zu. Ich konnte diese Heuchelei nicht ertragen.

Ich legte mich auf meine Pritsche und schloss die Augen. McCall war tot. Er hatte sterben müssen, weil er zu viel über Henry Plummer gewusst hatte. Der Tod von Jim Connor hatte Plummers Handeln legal erscheinen lassen. Aber der eigentliche Grund war gewesen, dass er Plummer von früher gekannt hatte. Und jetzt war ich dran.

Es verging keine Viertelstunde, dann wurde meine Zellentür geöffnet. Henry Plummer trat ein. Er trug seinen Revolver in der Faust und musterte mich abwartend und skeptisch.

„Gerade ist McCall gehenkt worden“, sagte er.

Ich antwortete nicht.

„Ich habe mir lange überlegt, was ich mit dir tue. Du bist noch sehr jung. Ich hätte dich auch aufhängen können, aber das wäre mir übel angekreidet worden, wenn ich einen so blutjungen Burschen wie dich hingerichtet hätte. Es wird meinem Ansehen nur nutzen, wenn ich mich nachgiebig zeige und dir eine Chance gebe. Ich hoffe, du nutzt sie und verlässt Bannack. Ich hoffe auch, dass du weißt, über was man zu schweigen hat, dass du nicht die gleichen Fehler begehst wie McCall. Du weißt, ich habe dir gesagt, dass ich einen langen Arm habe.“

„Ich kann schweigen“, sagte ich. „Ich verlasse Bannack. Sie sind ein gottverdammter Drecksack, Sheriff.“

Er grinste spöttisch, spuckte aus und ging. Ein Deputy holte mich wenig später ab. Kurz darauf war ich frei und erhielt meine Waffen zurück. Vor dem Mietstall, wo mein Brauner stand, wartete Shita auf mich. Er sprang mich an, riss mich beinahe von den Beinen, wedelte mit dem Schwanz und versuchte, mein Gesicht abzulecken.

Als ich danach den Braunen aus dem Stall führte und mich in den Sattel schwang, sah ich Henry Plummer unweit von mir stehen und aufmerksam herüberschauen. Ich hätte ihn umbringen können. Der Hass erfasste mich so sehr, dass ich kaum meiner Sinne noch mächtig war. Ich zog den Braunen herum und lenkte ihn nach Osten aus der Stadt. Shita trottete neben mir her. Ich schwor mir, Bannack nicht mehr zu betreten.

Die Goldfelder wollte ich dennoch nicht verlassen. Ich wollte nach Virginia City reiten. Dort wollte ich weitersehen. Eins würde ich ganz gewiss nicht mehr tun: nach Gold schürfen. Das Gold hatte mir nichts als Unglück gebracht, mir und denen, die ich als Partner mitgenommen hatte. Jim Connor und Jack McCall waren tot. Nur ich lebte noch. Ich hatte Glück gehabt, trotz allen Unglücks. Ich besaß wenigstens noch mein Leben.

In meinen Taschen aber hatte ich so gut wie keinen Cent, mehr und nicht ein Stäubchen Gold. Ich war nicht ein bisschen traurig darüber. Ich wollte nichts mehr besitzen, was mich an den Claim und Jack McCall erinnerte. In Virginia City wollte ich etwas Neues beginnen. Ich hoffte, dazu eine Chance zu erhalten und Henry Plummer nie wiederzusehen. Der Hass in meinem Herzen, der mich zu verzehren schien, wenn ich nur an den Namen des Sheriffs dachte, ließ nach, je weiter ich mich von Bannack entfernte.

Ich schaute nicht mehr zurück.


RONCO




In dieser Reihe bisher erschienen

2701 Dietmar Kuegler Ich werde gejagt

2702 Dietmar Kuegler Der weiße Apache

2703 Dietmar Kuegler Tausend Gräber

2704 Dietmar Kuegler Apachenkrieg

2705 Dietmar Kuegler Das große Sterben

2706 Dietmar Kuegler Todesserenade

2707 Dietmar Kuegler Die Sonne des Todes

2708 Dietmar Kuegler Blutrache

2709 Dietmar Kuegler Zum Sterben verdammt

2710 Dietmar Kuegler Sklavenjagd

2711 Dietmar Kuegler Pony Express

2712 Dietmar Kuegler Todgeweiht

2713 Dietmar Kuegler Revolvermarshal

2714 Dietmar Kuegler Goldrausch


Dietmar Kuegler


Revolvermarshal






Diese Reihe erscheint in der gedruckten Variante als limitierte und exklusive Sammler-Edition!
Erhältlich nur beim BLITZ-Verlag in einer automatischen Belieferung
ohne ­Versandkosten und einem Serien-Subskriptionsrabatt.
Infos unter: 
www.BLITZ-Verlag.de

© 2020 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati
Umschlaggestaltung: Mario Heyer
Logo: Mark Freier
Satz: Harald Gehlen
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-162-5

Dieser Roman ist als Taschenbuch in unserem Shop erhältlich!



Der Revolvermarshal


von Ken Conagher


24. April 1880.

Eine harte Zeit liegt hinter mir. Ich befinde mich im Südwesten New Mexicos. Ich bin nicht mehr weit von meinem Ziel entfernt. In meinen Satteltaschen habe ich die Beweise für meine Unschuld. Sie sind hieb- und stichfest. Niemand wird sie widerlegen können. Wie gut diese Beweise sind – wie gefährlich für Andrew Hilton –, habe ich bereits erfahren müssen. Hiltons Jäger sind hinter mir und den Papieren her wie die Teufel nach der armen Seele – bisher ergebnislos.

Hier im Südwesten New Mexicos leben nicht nur meine größten Feinde, sondern auch meine besten Freunde. Einer von ihnen ist Jerome Braddock, ein Großrancher. Er gehört nicht zu den geld- und machtgierigen, skrupellosen Rinderbaronen. Er ist einer der anständigen und sauberen Männer. Einmal konnte ich ihm helfen, ihm und Senator Vaud F. Wilson, der ebenso ein Mann ohne Fehl und Tadel ist.

Auf Vaud F. Wilson ist Verlass. Er ist einflussreicher als irgendein Richter in einer Stadt oder einem County. Ihm werde ich meine Beweise übergeben, und er wird sie den richtigen Stellen zukommen lassen – jenen Stellen, die Hiltons Einfluss nicht mehr erreicht.

Nur noch vierzig Meilen, dann bin ich in Sicherheit. Seit Tagen reitet kein Jäger mehr auf meiner Spur. Ich habe sie alle abgeschüttelt. Niemand weiß, wo ich mich aufhalte, und ich denke, dass ich meinen Gegnern eine böse Überraschung bereiten werde.

Während ich dies schreibe, sitze ich an einem Feuer in einer Bodensenke nördlich von Cow Spring, der Stadt Senator Wilsons. Es wird Abend, und ich will die Zeit, bevor es dunkel wird, nutzen und meine Geschichte weiter aufschreiben. Es war heute ein heißer Tag. Unsere Pferde sind ziemlich erschöpft. Obwohl der Sommer noch nicht begonnen hat, herrscht hier unten im Süden tagsüber bereits die Hölle.

Auch damals, vor fast zwanzig Jahren, erlebte ich einen heißen Sommer. Das war 1861. Seit fast einem halben Jahr tobte der Bürgerkrieg. Die Schlacht am Bull Run war geschlagen. Im fernen Westen spürte man nichts davon. Ab und zu berichtete eine Zeitung vom Kriegsgeschehen – sofern eine solche Zeitung überhaupt in den Westen gelangte. Hier und da gab es Familien, deren Söhne freiwillig in den Krieg gezogen waren und Post nach Hause schickten.

Es war fast so, als sei der Bürgerkrieg etwas, das in eine andere Welt gehöre. Über die Sklavenfrage zerbrach sich niemand den Kopf. Hier draußen gab es andere Probleme. Hier ging es um das Überleben in der Wildnis.

Ich befand mich in Idaho, einem Territorium, das zu jener Zeit kaum besiedelt war. Die Ranch des Nachbarn war so weit entfernt wie der Mond. Nur wenige Overlandstraßen zogen sich durch das Land und von einer Stadt zur anderen. Stadt? Das war eine großzügige Bezeichnung für miese kleine Nester, die man nur in tagelangen Ritten erreichte.

Ich war ohne Ziel unterwegs und suchte irgendwo eine Arbeit oder einen Platz, an dem ich bleiben konnte. Irgendwo wollte ich Fuß fassen und vielleicht eine neue Heimat finden. Idaho war ein jungfräuliches Land – vielleicht bot es mir die Chance für einen neuen Anfang ...