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DAS BUCH

Sie hat gegen Vampire, Hexen, Dämonen und Banshees gekämpft. Sie ist ins Jenseits gereist und wieder zurückgekehrt. Sie hat jeden einzelnen Fall in ihrer Karriere als Kopfgeldjägerin gelöst. Und nun steht Rachel Morgan vor der größten Herausforderung ihres Lebens: Ihre beste Freundin Ivy wird von einem Auto angefahren und schwer verletzt. Wenn Ivy stirbt, verliert sie ihre Seele und wird zu einem gefühllosen, manipulativen Vampirmeister – zu einem Wesen, das sich nicht mehr daran erinnern kann, was Liebe ist. Ein Schicksal, das nicht nur Ivy, sondern alle Vampire bedroht. Rachel ist fest entschlossen, Ivys Seele vor der ewigen Verdammnis zu retten und den Fluch, der auf den Vampiren lastet, zu brechen. Doch dazu muss sie Magie anwenden, die dunkel, gefährlich und unkontrollierbar ist. Magie, die sie selbst das Leben kosten könnte. In ihrem persönlichsten Fall muss Rachel mehr riskieren als jemals zuvor ...

DIE AUTORIN

Kim Harrison, geboren im Mittleren Westen der USA, wurde schon des Öfteren als Hexe bezeichnet, ist aber – soweit sie sich erinnern kann – noch nie einem Vampir begegnet. Sie spielt schlecht Billard und hat beim Würfeln meist Glück. Kim mag Actionfilme und Popcorn, hegt eine Vorliebe für Friedhöfe, Midnight Jazz und schwarze Kleidung und ist bei Neumond meist nicht auffindbar. Mehr Informationen unter: www.kimharrison.net

Alle Informationen zur Rachel-Morgan-Serie finden Sie hier.

KIM HARRISON

BLUTFLUCH

ROMAN

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

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Titel der amerikanischen Originalausgabe
THE WITCH WITH NO NAME
Deutsche Übersetzung von Vanessa Lamatsch
Redaktion: Sabine Thiele
Copyright © 2014 by Kim Harrison
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Satz: Leingärtner, Nabburg
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ISBN: 978-3-641-15909-2
V002
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Für Tim, den »Kerl in der Lederjacke«

1

Mit in den Nacken gelegtem Kopf spähte ich in die Schatten der Wohnhäuser. Hoch über uns reflektierten Libellenflügel die Strahlen der Sonne wie glitzerndes Seidenpapier. Der mäßige Verkehr am Ende der Gasse reichte aus, um das Geräusch von Jenks’ Flügeln zu übertönen, doch ich hörte es in meiner Erinnerung, während der Pixie vor einem schmutzigen Fenster schwebte.

Der erdige Duft feuchten Asphalts wurde fast von dem zunehmenden Geruch von verängstigtem Vampir verdrängt, der neben meinem Ellbogen aufstieg. Ich bezweifelte, dass Marsha ihre Meinung geändert hatte. Doch sich den Befehlen seines Meistervampirs zu widersetzen konnte tödliche Folgen haben.

Den Blick immer noch auf Jenks gerichtet, zog ich mich unauffällig ein wenig von Marsha zurück, die in ihrer Bürokleidung neben mir stand. Ihre hohen Schuhe entsprachen der neuesten Mode, doch rennen konnte sie darin sicher nicht. Ihre Haare fielen in mitternachtsschwarzen, sinnlichen Wellen auf ihren Rücken – und auch das machte sie in einem direkten Kampf zum einfachen Opfer. Ihre wohlgeformte Gestalt ließ keinen Zweifel daran, dass sie schön war. Doch als lebender Vampir war ihr Aussehen auch seit mindestens zwei Generationen perfektioniert worden. Und zwar nicht, um Luke zu gefallen – dem Mann, in den sie sich unglücklicherweise verliebt hatte. Immerhin wusste Marsha, wie verletzlich sie war. Deswegen waren Ivy, Jenks und ich ja hier.

Langsam wurde mein Nacken steif. Ich sah wieder auf die vorbeifahrenden Autos, zuversichtlich, dass die Entfernung und die Müllcontainer uns vor zufälligen Blicken verbargen. Ein tiefes Brummen ließ mich gerade wieder rechtzeitig den Kopf heben, um zu sehen, wie Jenks einem geflügelten Schatten auswich. Ein Blauhäher schrie, und die Spitzen von fünf Federn schwebten zwischen den Gebäuden zu Boden. Mit wilden Flügelschlägen schaffte der Vogel es noch über die Straße, bevor er unsanft auf dem Gehweg landete.

Jenks, der den Vogel bereits vergessen hatte, legte sich die Hände um die Augen und spähte durch das Fenster. Seine schwarze Kleidung – eine enge Hose und ein Strickhemd – halfen ihm, mit den Schatten zu verschmelzen, während die rote Kappe rivalisierenden Pixies signalisierte, dass er nicht wilderte. Das war wichtig so nahe am Eden Park. Bis jetzt hatte ihn niemand belästigt, doch die Vögel blieben eine ständige Bedrohung.

»Ich sollte das nicht tun müssen«, beschwerte sich die Frau hinter mir. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass ein Drittel des Teams, das dafür sorgen sollte, dass sie am Leben blieb, gerade fast erledigt worden wäre. »Das ist meine Wohnung!«

Ich atmete tief durch, als Jenks die Klappe am Entlüftungsschlitz zum Bad hob und nach drinnen verschwand. »Willst du riskieren, Luke zu begegnen?«, fragte ich. Sie stieß ein frustriertes Geräusch aus. Ja, sie wollte Luke begegnen, doch das hätte ihren Tod bedeutet.

Ich konnte das nagende Gefühl nicht abschütteln, dass etwas nicht stimmte, trotz – oder gerade wegen – der Tatsache, dass der Einsatz bis jetzt vollkommen glatt verlaufen war. Unruhig rückte ich meine Schultertasche zurecht. Ich sah auch nicht gerade schlecht aus, doch neben der makellosen Schönheit dieser Frau wirkten meine krausen roten Locken und flachen Stiefel unscheinbar.

Mein Magen verkrampfte sich, als ich Ivys selbstbewusste Schritte hörte. Auf der Straße herrschte für einen Moment Ruhe. Die Vampirin neben mir versteifte sich wegen meines schnelleren Pulsschlags, und ich warf Marsha einen strengen Blick zu. »Bleib hier«, befahl ich, weil mir überhaupt nicht gefiel, dass sich Jenks immer noch in der Wohnung aufhielt. »Jenks wird dir sagen, wenn die Luft rein ist.« Ich zog meine Schultertasche höher und ging Richtung Gehweg.

»Den Teufel werde ich tun«, sagte Marsha und machte Anstalten, mir zu folgen.

Ich wirbelte herum und verpasste ihr einen Stoß gegen die Schulter, der sie gegen die Wand stolpern ließ. Entsetzt starrte die Frau mich an, doch dank ihrer lebenslangen Konditionierung zeigte sie keinerlei Wut. »Zum Teufel, und ob du das tun wirst«, schnauzte ich. »Bleib hier, bis Jenks dir sagt, dass du kommen kannst, oder wir verschwinden einfach. Und zwar sofort.«

Erst jetzt zeigte sie ihre Wut. Ihre Pupillen erweiterten sich, und mir stieg der Duft von wütendem Vampir in die Nase. Nachdem ich diese Dominanzdemonstration im Keim ersticken wollte, streckte ich mein Bewusstsein und zapfte die nächstgelegene Kraftlinie an. Energie durchfloss mich und ließ meine Haare anfangen zu schweben, während mein Chi sich füllte. Meine Haut kribbelte. Ich schob das Gesicht direkt vor ihres und bewies damit, dass ich keine Angst vor ihren kleinen Reißzähnen oder ihrer überlegenen Stärke hatte. »Du stehst unter einer an Bedingungen geknüpften Todesdrohung, Süße«, hauchte ich. »Sobald ich sichergestellt habe, dass Luke nicht da drin ist, kannst du dir holen, was du willst. Aber wenn du nur nach einem Weg suchst, auf eine Art zu sterben, bei der deine Lebensversicherung trotzdem bezahlt, kannst du das auch ohne uns machen.«

Mürrisch senkte Marsha den Blick, und ihre Augen nahmen wieder die normale blaue Färbung an.

Ich richtete mich auf und steckte zufrieden die Daumen in die Hosentaschen. Sie würde warten. Es war ungewöhnlich, dass ein Vampir auf irgendjemanden außerhalb seiner eigenen Camarilla hörte, doch sie hatte sich schließlich an uns gewandt. Nickend sah ich auf und stieß einen scharfen Pfiff aus. Sofort spähte Jenks aus dem Lüftungsschlitz und zeigte mir den hochgereckten Daumen. »Los jetzt«, murmelte ich, und die Frau zog sich außer Sichtweite hinter die Container zurück.

Besänftigt ging ich zum Haupteingang. Der Auftrag hatte einfach genug geklungen, als Ivy ihn mir letzte Nacht bei Käsetoast und Tomatensuppe beschrieben hatte. Einer Frau dabei zu helfen, ihre Sachen aus ihrer Wohnung zu holen, sollte ein Kinderspiel sein – bis Ivy mir erzählt hatte, dass das Beziehungsende von zwei konkurrierenden Vampir-Camarillas erzwungen wurde und jemand den Tod finden würde, wenn Luke und Marsha sich den Befehlen nicht beugten. Auf keinen Fall konnte ich Ivy das allein durchziehen lassen.

Die ganze Geschichte verbesserte nicht im Geringsten meine sowieso schon schlechte Meinung über untote Vampire. Die Meister manipulierten jeden und alles in ihren Spielen, die sich über Jahrzehnte hinzogen. Sobald sie einen bemerkt hatten, konnte man einem Leben als Opfer nur noch entkommen, indem man starb und selbst zum Spieler wurde.

Aber nicht Ivy, dachte ich, als ich aus der Gasse trat und sie auf mich zukam. Ich würde nicht zulassen, dass auch ihr das passierte. Leider galt die Regel, dass die Untoten den Druck noch zusätzlich erhöhten, wenn man versuchte, sich zu wehren.

In Ivys Schritten lag eine Anspannung, die ich niemals bemerkt hätte, wenn ich nicht seit drei Jahren mit ihr zusammenleben würde. Elegant in eine schwarze Hose und ein schwarzes Top gekleidet, kam sie mit schwingenden Armen auf mich zu. Ihre langen schwarzen Haare waren zu einem schwer zu packenden Dutt gebunden, und selbst aus der Entfernung konnte ich den braunen Rand um ihre Pupillen deutlich erkennen. Allerdings zuckte sie zusammen, als zwei Häuser weiter eine Tür zugeknallt wurde. Auch ihr war aufgefallen, dass hier etwas nicht stimmte.

Ihre Schultern entspannten sich, als sie sich neben mir einreihte und wir zusammen die Stufen zum Gebäude hinaufstiegen. »Lukes Auto steht immer noch auf dem Parkplatz«, sagte sie, als ich die Tür aufzog und wir in den Eingang des alten Mietshauses gingen, als gehörten wir dort hin. »Dem Geruch nach wurde es seit zwei Tagen nicht benutzt.«

»Also tut er, was ihm befohlen wurde, und lebt noch.« Ich warf einen Blick zur Überwachungskamera. Jenks hatte alle Gemeinschaftsräume kontrolliert, und laut seiner Aussage waren diese Geräte nur Attrappen. Dreck klebte in den Ecken des angeschlagenen Fliesenbodens. Ich lehnte mich gegen das Treppengeländer, während Ivy Marshas Post durchsah und alles herausnahm, was sie vielleicht brauchen würde, bevor sie die restlichen Umschläge in den Briefkasten zurückstopfte.

»Sie werden nicht einen von ihnen sterben lassen, ohne auch den anderen umzubringen«, erklärte Ivy, während sie die Post ordnete. »Sonst wird der Tote den Überlebenden zu seinem Nachkommen erklären.«

Was einfach nicht geht, dachte ich, während ich durch das nur schwach beleuchtete Treppenhaus nach oben sah. Das Haus erinnerte mich ein wenig an das, in dem meine erste eigene Wohnung gelegen hatte. »Das gefällt mir alles nicht.«

Ivy lächelte eines ihrer seltenen Lächeln und schloss mit einem Klicken den Briefkasten. »Du machst dir zu viele Sorgen. Diese beiden sind nicht wichtig.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. Trotz meiner abwertenden Kommentare war Marsha einfach atemberaubend. Es fiele jedem Meister schwer, eine solche Schönheit aufzugeben. »Sorgen? Ich mache mir nur Sorgen um dich. Mir gefällt dieser Auftrag nicht.«

Ivy gab mir Marshas Post, und ich verstaute sie in meiner Tasche. »Du magst einfach die Untoten nicht«, sagte sie. Ich zog meine Splat Gun heraus und kontrollierte das Magazin.

»Verdammt, ich kann mir gar nicht vorstellen, warum das so ist.«

Mit einem zustimmenden Brummen machte Ivy sich daran, die Stufen nach oben zu steigen. Ich wusste, dass sie sich gar nicht für die Post interessiert hatte, doch die Briefe hatten uns einen Vorwand geliefert, um am Fuß der Treppe stehen zu bleiben, während sie die Luft witterte und feststellte, ob irgendwer oben auf uns wartete – egal, ob Jenks uns bereits grünes Licht gegeben hatte. »Entspann dich«, sagte sie, als ich hinter sie trat. »Sie haben zugestimmt, sich nicht mehr zu treffen. Wir gehen rein, holen ihre Sachen, verschwinden wieder. Ende der Geschichte.«

»Wieso hast du mich dann gebeten mitzukommen?«, fragte ich, als wir den nächsten Treppenabsatz umrundeten.

Ohne mich anzusehen, flüsterte sie: »Weil ich ihnen nicht vertraue.«

Ich genauso wenig. Die Tür im Erdgeschoss öffnete sich, und ich wirbelte herum. Kraftlinienenergie schoss in mich, doch es waren nur Jenks und Marsha. Ich legte einen Finger an die Lippen, und der lebende Vampir schloss leise die Tür, bis das Rauschen des Verkehrs abbrach. Selbst aus dem zweiten Stock konnte ich die frische, gesunde Angst in ihren Bewegungen erkennen. Vielleicht hatte Jenks ihr ein paar Takte erzählt.

Die Flügel des Pixies brummten leise, als er in weniger als einer Sekunde zu uns nach oben schoss. »Alles sauber«, sagte er, und der silberne Staub, der von ihm herunterrieselte, erleuchtete kurz meine Schulter.

Sauber, sicher. Doch er konnte keine Zauber aufspüren, die nicht aktiviert waren. »Halt sie im Flur zurück, bis ich ein Zeichen gebe«, bat ich ihn. »Und lass mich wissen, falls irgendwer vor dem Haus vorfährt.«

Jenks nickte und ließ sich wieder nach unten fallen, wo Marsha sich bemühte, die Treppe so leise wie möglich nach oben zu schleichen. Ivy wartete am Ende des Flurs auf mich. Schnell schloss ich die Lücke zwischen uns, während ich die neuen Zauber-Erkennungsamulette an meinem Armband musterte. Es war unglaublich mühsam gewesen, sie so klein anzufertigen, doch wenn sie an meinem Armband hingen, konnte ich sie jederzeit im Blick behalten und trotzdem gleichzeitig meine Waffe tragen. Der hölzerne Apfel erkannte tödliche Zauber, während das Kleeblatt aus Kupfer in der Gegenwart eines starken Zaubers aufleuchtete. Was nicht immer dasselbe bedeutete.

Ivy begann, wirklich gut zu riechen, eine Mischung aus vampirischem Räucherwerk und Leder. Ich versuchte, den Duft zu ignorieren. Stattdessen packte ich mit klappernden Amuletten meine Splat Gun fester. An Marshas Eingangstür hing eine Pinnwand aus Kork, die mit Papierblumen und einem Smiley-Gesicht mit Reißzähnen verziert war. Ich konnte die Absätze der Frau auf der Treppe hören und zog eine Grimasse. Es war Mittag, die Zeit, in der die meisten Tagaktiven in der Arbeit waren und die Nachtaktiven sich unter der Erde verstecken mussten – doch es gab auch Wege, diese Regel zu umgehen.

Die Amulette leuchteten in gleichmäßigem Grün. Ich nickte und kauerte mich mit angelegter Splat Gun neben den Türrahmen. Ivy drehte den Schlüssel, dann schob sie die Tür auf und trat zur Seite. Jenks flog in die Wohnung, vollkommen davon überzeugt, dass seine erste Erkundung ausgereicht hatte. Doch ich lauschte, während Ivy die Luft testete und die Witterungen durch ihr unglaublich komplexes Gehirn filterte. »Hallo, Liebes. Ich bin zu Hause!«, sagte sie, dann folgte ich ihr in die Wohnung.

Ich musste direkt durch Ivys Duft treten. Selbst mit angehaltenem Atem überlief mich ein Schauer, als mich ihre Pheromone trafen – die wie schwarze Seide über meine Haut strichen. Obwohl wir immer noch gemeinsam auf dem Briefkopf unserer Firma standen, hatte sie sich in den letzten sechs Monaten oder so immer weiter von mir zurückgezogen. Ich hatte eine klare Vorstellung davon, woran es lag, aber auch wenn ich mich für sie freute, vermisste ich es doch, regelmäßig mit ihr zusammenzuarbeiten.

Meine alte Vampirnarbe kribbelte aufgrund des offensichtlichen Aromas verliebter Vampire, das die Luft in dem großzügig geschnittenen Apartment erfüllte. Vielleicht vermisse ich ja auch nur die berauschende Mischung aus sexueller Erregung und Adrenalin, die sie bei Anspannung in die Luft pumpt. Ich kommentierte meine eigene Oberflächlichkeit mit einem Stirnrunzeln, während ich mich in dem kleinen, gut eingerichteten, hellen Apartment umsah und die Hinweise auf die Liebe von Marsha und Luke in mich aufnahm. Ich wusste, wie es war, wenn jemand einem ständig sagte, in wen man sich nicht verlieben durfte. Meine Gedanken schossen zu Trent, bevor ich mich wieder auf das Hier und Jetzt konzentrierte.

»Bleib da«, sagte ich zu Marsha, die inzwischen neben der Tür stand. Meine Amulette leuchteten immer noch grün, doch ich hatte die Wohnung auch kaum betreten. »Es könnte personalisierte Zauber geben.«

Personalisierte Zauber: ein netter Ausdruck für eine Kugel mit dem eigenen Namen darauf – und Jenks konnte sie nicht aufspüren. So etwas war nötig, um illegale, tödliche Zauber anzufertigen. Die Vampirpolitik würde dafür sorgen, dass der Anschlag geheim blieb, doch sollte der Zauber einen Unschuldigen töten, würden sie die schwarze Hexe, die ihn gefertigt hatte, aufspüren und einsperren.

Aufmerksam patrouillierte ich einmal durch das Wohnzimmer, bevor ich mich in der kleinen Küche umsah. Ivy war im Schlafzimmer verschwunden. Ich wurde langsamer und beäugte die Amulette. Es wäre einfach gewesen, etwas zwischen dem glänzenden Metall und den neuen Geräten zu verstecken, doch sollte hier ein Zauber lauern, hätten meine Amulette darauf reagiert.

»Hey!«, schrie Ivy, ihre Stimme durch die Wände gedämpft. Ich riss den Kopf herum und sprang vor Marsha. Dreck. Ich hatte recht gehabt.

»Jenks!«, rief Ivy wieder, diesmal eher genervt. »Warum hast du uns nichts von dem Hund gesagt?«

Schlitternd kam ich zum Stehen und beobachtete irritiert, wie Jenks’ Staub eine peinlich berührte rote Färbung annahm. Marsha war mit leuchtenden Augen in die Wohnung getreten, und ich bedeutete ihr, nicht weiterzugehen.

»Tut mir leid!«, sagte Jenks, während ich das leise Klappern eines Hundehalsbandes wahrnahm. »Es ist nur ein Hund.«

Seit zwei Tagen hatte niemand die Wohnung betreten? Aber hier roch es nach Duftkerzen, nicht nach Hundekacke.

»Buddy!«, rief Marsha glücklich, als sie sich an mir vorbeischob und auf die Knie fiel. Ich beäugte den kleinen, dreckigen Mischling, der mit langsamen Schritten aus dem Wohnzimmer kam, statt direkt auf sie zuzulaufen. »Komm her, Baby! Du musst ja am Verhungern sein. Ich dachte, Luke hätte dich mitgenommen!«

Ich kniff die Augen zusammen. Ich hatte noch nie einen Hund besessen, doch ich wusste, dass sie gewöhnlich vor Freude austickten, wenn ihr Besitzer nur vom Briefkasten zurückkam. Ganz zu schweigen von der ersten Begegnung nach zwei Tagen. »Ähm, Marsha?«, sagte ich, als der Hund einen weiteren zögernden Schritt machte, während sein Schwanz einfach nach unten hing.

»Ich glaube, es ist alles okay«, meinte Ivy, als sie aus dem Schlafzimmer kam. »Willst du auch noch mal mit deinen Zaubern checken?«

»Sicher«, sagte ich langsam. Irgendetwas stimmte hier nicht.

»Buddy?«, rief Marsha wieder. Der Hund warf mir einen schiefen Blick zu, als er in einer Mischung aus Aufregung und Zögern an mir vorbeischlich, die ich bei einem Tier nicht erwartet hätte.

Und ein Amulett an meinem Handgelenk strahlte plötzlich in Rot.

»Scheiße, es ist der Hund!«, schrie ich.

Marsha sah auf, ihr wunderschöner kleiner Mund zu einem überraschten O verzogen. Sie hatte die Hände vorgestreckt, und der Hund war schon fast bei ihr. Ich würde sie nie rechtzeitig erreichen.

»Rhombus!«, rief ich, während ich gleichzeitig an der Kraftlinie zog, sodass sie in fast schmerzhafter Intensität in mich schoss. Die Energie sammelte sich und floss über, und ich drängte sie wieder aus mir heraus. Mein Ausruf löste eine Reihe schwer erarbeiteter, mentaler Automatismen aus, welche die Energie in eine moleküldünne Barriere brachten. Sie nahm die natürlichste Form an – eine Kugel, in deren Mitte ich stand, der Hund mit mir eingeschlossen –, und vorhersehbarerweise lief das Tier dagegen.

Doch statt wie erwartet ein überraschtes Aufjaulen zu hören, schossen die Energielevel plötzlich durch die Decke.

Das war meine einzige Vorwarnung. Ich duckte mich, als ein heller Energieblitz innerhalb meines Kreises explodierte, mit dem Hund als Ursprung. Die freigegebene Energie wurde reflektiert, mein Kreis hallte wie eine Glocke mit einem Riss, und ich erstarrte. Gänsehaut bildete sich, als der illegale Tötungszauber über mich glitt, um in den Hund zurückzufallen, als er sein vorgesehenes Ziel nicht finden konnte.

»Buddy!«, kreischte Marsha, als Ivy sie gegen eine Wand stieß und mit ihrem eigenen Körper schützte.

»Schaff sie hier raus!«, schrie ich. Ich hatte Angst, mich zu bewegen. Der Zauber war aktiviert worden, doch er hatte sein zugedachtes Ziel nicht gefunden. Jetzt war er eine tickende Zeitbombe, die mit mir in meinem Schutzkreis eingeschlossen war.

»Das ist mein Hund!«, beteuerte die Frau voller Angst, als Ivy sie in den Flur schob. »Buddy! Buddy!«

Langsam erkannte ich, dass ich unverletzt war. Buddy allerdings … Ich verzog das Gesicht, als der liegende Hund anfing zu zittern. Er war nicht tot, und er war kein Hund. Es war Marshas Freund Luke.

Ich hasse Vampire, dachte ich, als mir klar wurde, was geschehen war. Jemand hatte Luke in Buddys Doppelgänger verwandelt und einen Sekundärzauber an ihm befestigt, der sie beide umbringen würde, wenn Marsha ihn berührte. Luke war quasi schon tot, doch der Zauber würde sich nicht voll aktivieren, bevor er Marsha gefunden hatte. Mir blieb noch eine Chance.

»Marsha!« Vorsichtig stand ich auf und beobachtete, wie die Energie in mich zurückfloss, als ich meinen Schutzkreis brach. »Wo bewahrst du dein Salz auf?«

»Bleib da«, knurrte Ivy. »Und sag es mir.«

»Im Schrank neben dem Herd!«, schluchzte die Frau aus dem Flur. »Was ist passiert? Buddy? Buddy!«

Ich rannte zurück in die Küche und drehte den Wasserhahn auf. »Das ist nicht dein Hund, das ist dein Freund.«

Das war vielleicht ein Fehler gewesen, denn jetzt flippte sie vollkommen aus. »Luke!«, kreischte sie. »Oh Gott, Luke!«

»Bleib im Flur!«, schrie Ivy, und ich hörte Kampfgeräusche.

Salz, Salz … Mein Puls raste, als ich eine Schüssel fand und in die Spüle stellte. »Lass nicht zu, dass sie ihn berührt! Wenn sie das tut, sterben sie beide!«

»Luke!«, schluchzte die Frau, während ich triumphierend das Salz fand und die Packung öffnete. Mit zitternden Händen kippte ich das gesamte Salz in die Schüssel.

»Wird er sich erholen?«, fragte Jenks, während sein Staub sich auf der Arbeitsfläche sammelte, um wie Quecksilber davonzufließen. Ich wusste es nicht.

»Oh Gott. Beeil dich!«, bettelte Marsha. Ich rührte das Salzwasser einmal schnell um und kostete, bevor ich die Schüssel packte. Die Frau stand vollkommen verängstigt neben dem Hund. Sie hatte mein volles Mitgefühl. Vampirmeister waren wirklich Hurensöhne. Jeder einzelne von ihnen. »Hilf ihm!«, schrie sie, ihr perfektes Gesicht vor Entsetzen verzerrt. Ivy hielt sie fest, während ich mit der Schüssel nach vorne eilte.

»Bleib zurück«, warnte ich, als ich über dem kleinen weißen Hund stand und das Wasser über ihm auskippte. Marsha wich atemlos und bleich zurück. Ich hatte keine Ahnung, ob die Konzentration ausreichte, um Erdzauber zu brechen, doch es musste eigentlich genug Salz gewesen sein, um ihn nicht nur zurück in einen Menschen zu verwandeln, sondern auch, um den tödlichen Zauber zu brechen.

Wie erwartet verschwand der Hund in einer dicken Wolke aus braunblauer, auraverunreinigter Energie. »Luke!«, schrie Marsha. Jenks runzelte die Stirn. Er hatte genug Zauber brechen sehen, um zu wissen, dass das vollkommen normal war. Ich wich angespannt zurück und beobachtete, wie die Wolke menschliche Größe annahm. Langsam hob sich der Dunst und gab den Blick frei auf einen nackten, zusammengeschlagenen Mann, der zusammengerollt auf dem nassen weißen Teppich lag.

Luke schnappte schluchzend nach Luft. Er würde es schaffen – für den Moment. Ich ließ mich auf die weiche Couch sinken, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und stützte den Kopf in die Hände. Die Amulette an meinem Armband klapperten, und ich seufzte. Das Salzwasser hatte sie ruiniert. Ich hätte sie ja auf Marshas Rechnung gesetzt, doch ich ging nicht davon aus, dass sie genug Geld hatte. Außerdem wäre sie in nächster Zeit sicherlich zu sehr mit Überleben beschäftigt.

»Du kannst ihn jetzt anfassen«, sagte ich, als mir auffiel, dass Marsha sich immer noch verzweifelt zurückhielt.

Panisch ließ sie sich auf die Knie fallen. Der Teppich gab ein feucht schmatzendes Geräusch von sich, als sie ihren Freund an sich zog. »Oh, Baby!«, jammerte sie, ohne darauf zu achten, dass er mit Salzwasser überzogen war. »Hat er dir wehgetan?«

Nach seinen Prellungen zu schließen, hatte das jemand – wahrscheinlich sein eigener Meistervampir – tatsächlich getan, doch er hob die Hand und strich ihr über die Wange. »Es geht mir gut«, keuchte er. Bei dem Anblick, wie er mit im Gesicht klebenden schwarzen Haaren und nur halb geöffneten Augen dalag, stieg eine hässliche Erinnerung in mir auf. Es tat schrecklich weh, sich mit Erdmagie zu verwandeln, doch sein durchtrainierter, athletischer, aber gleichzeitig schwer angeschlagener Körper war mit leicht zu versteckenden Narben überzogen. Es sah aus, als wäre er Schmerzen gewohnt.

Weinend drückte Marsha seinen Kopf an ihre Brust und wiegte ihn sanft, während ich mich fragte, wie viele Narben sich wohl unter ihrer teuren Kleidung verbargen. Das stank. Vampire sahen aus, als besäßen sie die Welt, doch es war eine Lüge. Mein Blick huschte zu Ivy, und ich erkannte ihren inneren Kampf. Eine riesige, hässliche Lüge.

Das Klappern von Jenks’ Flügeln warnte mich, kurz bevor er auf meiner Schulter landete. »Für mich sah er aus wie ein Hund.«

»Weil er ein Hund war.« Ich zupfte an meinem Hemd herum, das unangenehm feucht an meiner Haut klebte. Die Frage lautete nicht wie, sondern warum. Warum hatten zwei kleinere Vampir-Camarillas so viel Geld auf einen doppelten, heftigen Zauber verwendet, um eine einfache Romeo-und-Julia-Romanze zu verhindern? Solche Zauber waren sehr, sehr teuer.

Ivy stand inzwischen im Flur und versuchte die Nachbarn davon zu überzeugen, dass nichts Besonderes passiert war. Es kostete sie nicht viel Mühe. Offensichtlich wussten sie um die Ausgangslage. Nicht gerade glücklich, schloss Ivy die Tür und ging in die Küche, um den Wasserhahn abzudrehen.

»Es tut mir leid, Marsha«, sagte Luke gerade, während die weinende Frau sich nach einer Decke streckte, um seinen nackten Körper einzuhüllen. »Als sie mir gesagt haben, dass ich dich nie wiedersehen darf, bin ich zu einer Hexe gegangen. Sie hat erklärt, sie könnte mich in einen Hund verwandeln, damit ich bei dir sein könnte. Niemand würde je erfahren, dass ich es bin.«

Ich beobachtete Ivy, wie sie die Jalousien im Wohnzimmer schloss. Ihr Gesicht war ausdruckslos, denn sie hörte viel mehr als nur die Worte des Mannes. Als nur noch dämmriges Licht den Raum erhellte, setzte sie sich mir gegenüber. Sie wirkte besorgt.

»Es hätte mich nicht gestört, ein Hund zu sein«, fuhr Luke fort, die Augen immer noch geschlossen, während er Marshas Hand umklammerte. »Ich wusste, dass du Buddy nicht zurücklassen würdest.« Endlich öffnete er die Augen, und ich konnte nur starren. Sie zeigten das klarste Blau, das ich je gesehen hatte. »Ich liebe dich, Marsha. Ich würde alles für dich tun. Alles!« Weinend rollte er sich in ihren Armen zu einem Ball zusammen. »Es tut mir so leid.«

Mein Gott, sie hatten ihn durch eine List dazu gebracht, den Zauber, der sie beide töten sollte, selbst zu kaufen. Ivy und ich wechselten besorgte Blicke. Das war übel. Aber wir konnten nicht einfach gehen. Auch Jenks wirkte immer noch angeschlagen, als er auf der Zierschale voller Kiefernzapfen auf dem Couchtisch landete. Er hatte tiefer geliebt und mehr verloren als Ivy und ich zusammen, und die ganze Sache ging auch ihm gegen den Strich. Doch wir müssten nicht nur einem Meistervampir ein Schnippchen schlagen, sondern gleich zweien.

Ivy schwieg, während ich schlecht gelaunt an meinen Kontostand dachte. »Du findest, wir sollten ihnen helfen?«, fragte ich leise. Sofort wechselte Jenks’ Staub zu einem hoffnungsvollen Rosagelb.

Ivy sah mich nicht an. Auch das Pärchen auf dem Boden schwieg.

Dann hob Ivy den Blick. Ich konnte darin den unglaublichen Drang erkennen, den beiden zu helfen und diese Sache in Ordnung zu bringen. Sie hatte so viel falsch gemacht, und das verfolgte sie. Ihre falsche Selbstsicht sorgte dafür, dass ich mit ihr fühlte, und ich wünschte mir, sie könnte sich so sehen, wie ich sie sah. Das würde die Schuldgefühle vertreiben – zumindest für eine Weile.

»Okay, wir werden ihnen helfen«, sagte ich. Marsha keuchte, und in ihren tränengeröteten Augen leuchtete plötzlich Hoffnung, wo bis gerade eben nur Verzweiflung gestanden hatte. Jenks klapperte zustimmend mit den Flügeln. Ich setzte mich auf und wedelte schwach mit der Hand. »Aber ich weiß nicht, wie wir das anstellen sollen.«

»Ihr könnt nichts tun«, sagte Marsha mit harter Stimme, Luke immer noch in ihren Armen. »Sie wissen alles.«

Unglücklicherweise hatte sie damit recht. Wir konnten die beiden nicht einfach in einem netten Haus außerhalb der Stadt unterbringen und hoffen, dass man sie nicht finden und ein noch deutlicheres Exempel an ihnen statuieren würde. Ivy versuchte schon ihr gesamtes Leben, sich von ihrem Meister zu lösen, nur um immer tiefer hineingezogen zu werden – so tief, dass auch ich inzwischen in die Sache verwickelt war. Und Trent vielleicht auch?, dachte ich, doch der war im Moment hauptsächlich damit beschäftigt, sich gegen die unzähligen politischen Angriffe zu schützen.

»Vielleicht«, sagte ich, als Luke sich aufsetzte, weil seine Muskeln langsam wieder funktionierten. »Es war eine tolle Idee, sich in einen Hund zu verwandeln.« Tatsächlich war es eine lausige Idee gewesen, doch wenn man selbst kein Praktizierender war, wusste man wahrscheinlich nicht, wie leicht sich solche Zauber umgehen ließen. Mein Blick schoss zu dem durchweichten Teppich. Offensichtlich.

»Wir werden fliehen«, sagte Marsha und wirkte, als wollte sie sofort aufspringen und aus der Wohnung rennen.

Ivy schüttelte den Kopf. »Ihr würdet es nicht mal bis zur Stadtgrenze schaffen.«

»Marsha, Süße«, flüsterte Luke. »Du weißt, dass das nicht funktionieren kann.«

Doch ich hatte ihre Hoffnung geweckt, und die Frau wollte sie einfach nicht wieder aufgeben. »Wir können die Tunnel benutzen!«

Draußen hupte jemand, und Ivy sah zu den abgedunkelten Fenstern. »Die Meister haben die Tunnel gebaut.«

»Ich kann nicht ohne dich leben. Ich will nicht ohne dich leben!«, weinte die verzweifelte Frau, und ich fragte mich, ob diese Wohnung wohl verwanzt war. Doch wäre es so gewesen, hätte Jenks das elektronische Summen gehört und die Wanzen außer Gefecht gesetzt. Wir konnten einen Moment durchatmen, doch dann mussten wir etwas unternehmen.

»Okay«, sagte ich, weil auch ich langsam unruhig wurde. Wir waren schon zu lange hier. »Vielleicht gibt es irgendein Gesetz, das wir uns zunutze machen können. Ivy wird jedes Dokument brauchen, auf dem eure Namen stehen. Geburtsurkunden, Besitzurkunden, Versicherungsverträge, Strafzettel, Steuererklärungen. Alles.«

Marsha nickte, und das hoffnungsvolle Leuchten in ihren Augen traf mich tief. Das würde auf keinen Fall funktionieren, doch wir mussten es versuchen.

Ivy stand auf, um durch einen Schlitz in den Jalousien zu spähen. »Kennt einer von euch ein sicheres Haus?«

»Keines, dem wir noch vertrauen würden«, erwiderte Luke. Ivy ließ die Jalousie wieder fallen.

»Ich weiß eines«, sagte sie und kam herüber, um Luke auf die Beine zu helfen. »Dort solltet ihr für ein paar Tage sicher sein. Besonders, wenn ihr ein wenig mit den anderen Gästen helft.«

Eingewickelt in die Decke, stand Luke mühsam auf. Er war bleich und zitterte. »Sicher. Ja. Danke.«

Jenks hob ab und schoss durch den Spalt unter der Tür, um den Flur zu kontrollieren. Er tauchte fast sofort wieder auf und streckte die Daumen nach oben.

»Wir können nicht einfach mit ihnen nach draußen wandern«, sagte ich, und Ivy lächelte niedergeschlagen.

»Sie werden vor Sonnenuntergang nichts versuchen«, erklärte sie. Sie schnappte sich Marshas Arm, bevor die Frau ins Schlafzimmer gehen konnte, und bedeutete mit einem Kopfschütteln, dass sie alles zurücklassen sollte. »Beim nächsten Mal werden sie dabei sein wollen.«

Gott helfe mir. Ich hasste Vampire. »Okay. Dann los.«

»Aber er braucht seine Kleidung«, sagte Marsha, als ich nach meiner Splat Gun auf der Arbeitsfläche griff. Ivy trug Luke förmlich zur Tür, und wieder liefen Tränen über Marshas Wangen. Ich verstand sie. Die gesamte Wohnung war der perfekte Ausdruck ihrer Liebe. Es stank zum Himmel, wenn Glück so teuer erkauft werden musste. Doch wenn sie so hart darum kämpfte, würde es wahrscheinlich auch ein Leben lang halten. Ich konnte nur hoffen, dass dieses Leben noch länger dauern würde als eine Woche.

Im Flur war es ruhig, es roch nach Staub und altem Teppich. Augen beobachteten uns durch Türspione, und das machte mich unruhig. Marsha nahm Lukes Ellbogen, um ihm in seiner Decke über die Stufen zu helfen, während Ivy sich zurückfallen ließ, um mit mir zu reden.

»Jenks, du gehst mit Ivy, richtig?«, fragte ich, weil ich genau wusste, dass sie mir die Adresse ihres sicheren Hauses niemals verraten würde, geschweige denn mich dorthin mitnehmen. Jenks allerdings …

Jenks’ Flügel schlugen so schnell, dass sie unsichtbar wurden, und er hob eine Handbreit ab. »Sicher.«

»Nein«, antwortete Ivy mit einem Stirnrunzeln, und Jenks zog eine Grimasse. »Du kommst nicht mit, Pixie.«

»Tink ist eine Disneyhure! Als könntest du mich aufhalten!«, schoss er zurück.

Lächelnd schob ich mich um Ivy herum, um Marsha und Luke davon abzuhalten, ohne uns auf die Straße zu treten. »Ich lasse mein Handy eingeschaltet«, meinte ich, während ich die beiden an die Briefkästen zurückdrängte, damit ich mich auf der Straße umsehen konnte.

»Ich komme schon klar. Wir sehen uns zu Hause«, sagte Ivy, wobei sie Jenks und sein auf ihre Nase gerichtetes Schwert vollkommen ignorierte. »Hey, hast du heute Abend schon was vor?«

»Hör mir zu, du reißzahnverkümmerte, moosgewischte Ausrede einer abgelaufenen Blutkonserve!«, keifte Jenks, während roter Staub mit silbernem Rand von ihm herunterrieselte.

Ich sah von der Straße zu den beiden zurück. Dieser Einsatz war schön gewesen, trotz der Gefahr. Ich mochte es, mit Ivy zu arbeiten. Hatte es schon immer gemocht. Wir arbeiteten gut miteinander – selbst wenn es schieflief. »Ich spiele den Bodyguard für Trent«, sagte ich, dann zuckten meine Lippen, als ich sah, wie sie sich innerlich quasi die Hand vor den Kopf schlug. »Soll ich dir was mitbringen? Es endet wahrscheinlich damit, dass es irgendwo etwas zu essen gibt.«

»Sicher. Das wäre toll«, antwortete sie, dann wandte sie sich an Marsha und Luke, um ihnen noch ein paar letzte Anweisungen zu geben, wie sie lebend von hier nach dort kommen sollten. »Ich werde anrufen, falls ich Hilfe brauche.«

Ich berührte sie kurz am Arm, und ihr knapper Blick war ihre einzige Verabschiedung. Als ich mich umdrehte, erinnerte ich mich an etwas, was Kisten mal gesagt hatte: Ich war da, wenn sie morgens ihren Kaffee trank, ich war da, wenn sie das Licht ausschaltete. Ich war ihre Freundin, und für Ivy bedeutete das alles.

»Jenks, ich komme klar!«, hörte ich, dann ließ ich die Tür hinter mir zufallen und ging mit schnellen Schritten zu meinem Auto. Ivy würde sicher nach Hause kommen. Sie hatte recht mit der Annahme, dass die Meister dabei sein wollen würden, wenn ihre Kinder zur Ordnung gerufen wurden. Außerdem kannte in Cincinnati jeder mit Reißzähnen Ivy Tamwood.

Mit hocherhobenem Kopf wanderte ich weiter, während ich die wenigen Fußgänger beäugte. Langsam sackte meine gute Laune in sich zusammen. Liebe starb in den Schatten, und die Kosten, sie am Leben zu erhalten, sollten nicht so hoch sein. Doch wie Trent gesagt hätte, alles, was zu einfach war, würde nicht halten – also musste man tun, was eben nötig war, um glücklich zu sein, und mit den Konsequenzen klarkommen. Wäre Liebe einfach, würde jeder sie finden.

Ich bog um die Ecke, dann drehte ich den Kopf, als ich das Geräusch von Pixieflügeln hörte. »Sie hat Nein gesagt, hm?«, fragte ich, als Jenks auf meiner Schulter landete. Seine Flügel kitzelten mich am Hals, als er sich hinsetzte.

»Tinks kleine rosa Rosenknospen«, murmelte er. »Sie hat damit gedroht, Insektizid auf meine Sommerhütte zu kippen. Außerdem kommt sie klar. Gott! Verliebte Vampire. Schlimmer ist nur, wenn du Trent anhimmelst.«

Mein Lächeln wurde breiter. Vielleicht würde ich Cookies backen. Der Mann liebte Cookies.

Jenks stieß ein unhöfliches Geräusch aus, das mir genauso wie sein Schweigen verriet, dass er unglücklich war. »Das mit dem Hund tut mir leid.«

Ich hob eine Schulter und ließ sie wieder sinken. »Du wusstest es nicht.«

»Ich hätte es wissen müssen.«

Ich antwortete nicht, weil ich an meine Verabredung mit Trent am Abend dachte. Naja, eigentlich war es keine Verabredung, aber ich musste mich rausputzen, als wäre es eine. Ich versuchte immer noch, mich zu entscheiden, ob ich meine Haare hochstecken oder offen lassen sollte. Am liebsten mag er Chocolate Chip Cookies.

»Oh Gott«, stöhnte Jenks. »Du denkst an ihn. Ich merke das. Deine Aura hat sich verschoben.«

Verlegen hielt ich an einer Fußgängerampel an. »Hat sie nicht.«

»Hat sie wohl«, beschwerte sich der Pixie. Ich wusste, dass er nur so rummoserte, weil er mir nicht sagen durfte, dass er sich für mich freute, um die Sache nicht zu beschreien. »Also, es sind jetzt, was? Drei Monate? Durchfährt dich sein Anblick immer noch wie ein Blitz?«

»Absolut«, antwortete ich, und als ich selig lächelte, stieß er wieder dieses unhöfliche Geräusch aus. »Er ist ein lebender Blitzschlag.«

»Oh, das ist süßer als Pixiepisse«, erklärte Jenks mit aufgesetztem Sarkasmus. »All meine Mädchen sind glücklich. Ich weiß gar nicht mehr, wann das das letzte Mal der Fall war.«

Mein Lächeln wurde noch breiter, und ich drückte den Knopf an der Ampel, damit sie schneller schaltete. »Ich glaube, das war, als …«

Das unverwechselbare Geräusch von quietschenden Reifen auf Asphalt erklang. Mein Atem stockte, und ich drehte mich um. Jenks war weg. Sein Staub schien eine Spur in die Luft zu brennen. Sie führte in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Eine Frau schrie um Hilfe, und ich sprang zurück, als eine schwarze Limousine mit verbeulter Motorhaube an mir vorbeiraste. Irgendwie wusste ich es, als wäre eine Uhr stehen geblieben oder ein Bild von der Wand gefallen.

»Ivy«, flüsterte ich, dann drehte ich mich um und rannte los.