Moshe Idel

ALTE WELTEN
NEUE BILDER

Jüdische Mystik und die Gedankenwelt des 20. Jahrhunderts

Aus dem Englischen von Eva-Maria Thimme
unter Mitarbeit von Sophia Fock

 

Jüdischer Verlag
im Suhrkamp Verlag

Die Originalausgabe erschien 2010 bei University of Pennsylvania Press, Phila­delphia, unter dem Titel Old Worlds, New Mirrors. On Jewish Mysticism and Twentieth-Century Thought

 

 

eBook Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag

© Moshe Idel 2010

Copyright der deutschen Übersetzung:

© Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag

Berlin 2012

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eISBN 978-3-633-78000-6

www.suhrkamp.de

Inhalt

Einleitung

I. Theorien zum Judentum

1. Arnaldo Momigliano und Gershom Scholem über jüdische Geschichte und Tradition

2. Eric Voegelins Israel und die Offenbarung

3. George Steiner. Prophet der Abstraktion

II. Scholems Deutung der Kabbala

4. Die Funktion von Symbolen bei Gershom Scholem

5. Hieroglyphen, Mysterien, Schlüssel. Scholem zwischen Molitor und Kafka

6. Subversive Katalysatoren. Gnosis und Messianismus in Gershom Scholems Verständnis der jüdischen Mystik

III. Die Kabbala bei einigen Autoren des 20. Jahrhunderts

7. Franz Rosenzweig und die Kabbala

8. Abraham Abulafia, Gershom Scholem und Walter Benjamin über Sprache

9. Jacques Derrida und die Kabbala

10. Paul Celans Psalm. Eine Offenbarung des Nichts

IV. Zum Verständnis des Chassidismus

11. Martin Buber und Gershom Scholem über den Chassidismus

12. Abraham Heschel über Mystik und Chassidismus

13. Weiße Buchstaben. Von R. Levi aus Berditschev zur postmodernen Hermeneutik

Anhang

Anmerkungen

Zur Transliteration hebräischer Begriffe

Literaturverzeichnis

Einleitung

Mit wissenschaftlicher Tätigkeit auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften – ganz gleich, ob historisch, philologisch oder phänomenologisch ausgerichtet – verhält es sich wie mit dem Blick in den Rückspiegel bei einer Autofahrt:1 Er erfaßt einen Teil der Gegend, durch die man gefahren ist, und rückt sie in den Mittelpunkt von Sicht beziehungsweise Bewußtsein, um sie zugleich unvermeidlicherweise zu beschränken und verzerrt darzustellen. Ebenso unvermeidlich sind Wissenschaftler auch durch andere, mitunter belangvollere Angelegenheiten der unmittelbaren Gegenwart beeinflußt, die von ihrer akademischen Position über ihre persönliche soziale Stellung und andere gesellschaftliche Gruppen bis hin zu nationalen oder selbst internationalen politischen Verhältnissen reichen. Zwangsläufig beeinflussen solche Angelegenheiten bis zu einem gewissen Grade die objektive Überprüfung und unvoreingenommene Analyse der Vergangenheit.

Wenn Verzerrung schon bei einem einigermaßen beständigen und vergleichsweise kleinen Teil einer unmittelbar zuvor wahrgenommenen Gegend unvermeidlich eintritt, so wird es mit Ereignissen in entschwindend fernen Zeiten noch schwieriger. Die Fülle eines beliebigen – historischen oder psychologischen – Geschehens übersteigt die notgedrungen eingeschränkte Zielsetzung, Grundstruktur und das Darstellungsvermögen eines jeden Gelehrten, wie brillant er oder sie auch immer sein mag. Ob zwischen historischen Begebenheiten und dem Wissenschaftler Jahrhunderte oder gar Jahrtausende, Sprachbarrieren, vielschichtige und gelegentlich unbekannte Zusammenhänge liegen oder nur ein kurzer Zeitabschnitt – Probleme, die sich aus der Verzerrung ergeben, sind unvermeidlich. Selbst höchst profane Ereignisse bleiben hartnäckig vielseitig und entziehen sich der umfassenden Behandlung durch jegliche wissenschaftliche Darstellung. Und kaum einem gelingt es, schlüssige Zusammenhänge mit Hilfe mehrerer Spiegel beziehungsweise Methodologien herzustellen.

Der langen Rede kurzer Sinn: Greift man auf mehrere Methodologien zurück, vermag man die vielfältigen Dimensionen von Ereignissen in der Vergangenheit besser zu erfassen, ein Ansatz, der gelegentlich als Perspektivismus bezeichnet wird (Idel: Ascensions, S. 11ff.).

Was das wissenschaftliche Fachgebiet nun betrifft, in dem ich tätig bin, so halte ich dafür, daß es unterschiedliche und relevante geschichtliche Darstellungen der jüdischen Tradition, der Kabbala, gibt, die sich aus lokalen Überlieferungen – beispielsweise der Geschichte der Kabbala in Barcelona, Rom oder Jerusalem, der Geschichte der Kabbala in Spanien oder Italien – zusammensetzen und dazu aus denen der unterschiedlichen Schulen innerhalb der Kabbala oder des Chassidismus, die allesamt ihrerseits gemäß unterschiedlichen Ansätzen (nach Freud etwa oder C. G. Jung) analysiert werden können. Angesichts der Vielfalt an Persönlichkeiten, raumzeitlichen Gegebenheiten, Quellen der Inspiration, dazu der inneren Spannungen, die für die Entfaltung der Kabbala so augenfällig sind, muß eine einheitliche Geschichte, Psychologie oder Phänomenologie dieser Überlieferung außer Betracht bleiben. Wie viel komplexer noch muß erst das Bild sein, das sich aus der Arbeit einer Vielzahl von Wissenschaftlern mit unterschiedlichen Hintergründen, unterschiedlichen Ansichten darüber, was wesentlich oder zweitrangig ist, und unterschiedlichen Methodologien selbst bei der Interpretation ein und derselben Religion ergibt, denn jeder von ihnen wird Fakten auf unterschiedliche Art und Weise auswählen und diese unterschiedlich interpretieren. Gleichwohl sind die zwangsläufig voneinander abweichenden wissenschaftlichen Darlegungen besser als gar nichts. Versäumt man die Beschäftigung mit der Vergangenheit, verkümmert nicht allein die Gegenwart, sondern es wird der Weg zu einer eindimensionalen Zukunft geebnet. So ist der Blick in Rückspiegel – wie stark sie immer die Vergangenheit verzerren mögen – keine sinnlose Übung, sondern ein wenn auch unzureichendes Verfahren, ein komplexeres Selbstverständnis zu entwickeln, eine Form der Identität anzunehmen und denen, die dessen bedürfen, das Gefühl zu vermitteln, einer größeren Gemeinschaft, einer größeren Geschichte anzugehören.

Diese vertrackten Probleme erweisen sich als noch tiefgehender und hartnäckiger, wenn es bei dem in Frage stehenden Thema um eine Religion und Kultur geht, deren Geschichte so lang, deren Existenzbedingungen so verschiedenartig, deren von außen aufgenommene Einflüsse so komplex sind. Die Erforschung des Judentums wurde sehr viel später als die des Christentums in die akademischen Lehrpläne aufgenommen und blieb auf einen vergleichsweise kleinen Kreis von Wissenschaftlern begrenzt. Dann und wann wurde sie durch den Nützlichkeitserwägungen verpflichteten, häufig theologisch ausgerichteten Ansatz seitens christlicher Gelehrter deformiert, gelegentlich wiederum durch die apologetische Herangehensweise jüdischer Wissenschaftler. Die theologischen Spannungen zwischen Christentum und Judentum, deren Geschichte so lang ist und deren Folgen mitunter so schrecklich waren, geistern noch immer da und dort in der Wissenschaft herum und lassen manche den Mut verlieren. So besteht bei der Erforschung der jüdischen Mystik beispielsweise nach wie vor die starke Tendenz, eine scharfe Trennungslinie zwischen der Erfahrung der unio mystica sowie ihrer Betonung im Christentum und dem vermeintlichen Fehlen eines solchen Begriffs in der jüdischen Mystik zu ziehen, oder auch den Unterschied zwischen jüdischem und christlichem Messianismus hervorzuheben (Aschheim: Scholem, Arendt, Klemperer, S. 24ff.).2

Moderne judaistische Forschung ist weit mehr als die Fortsetzung traditioneller Polemiken mit anderen Mitteln. Gleichwohl stellen Vorlieben bei der Themenauswahl nach wie vor ein Problem dar. Ich möchte hier auf ein besonders anschauliches Beispiel verweisen. Obwohl die Hekhalot-Literatur – aus dem vierten bis achten nachchristlichen Jahrhundert stammende Texte über die himmlischen Paläste – nur ein bescheidenes Fragment innerhalb der kaum zu überblickenden mystischen Literatur des Judentums ausmacht, wird ihr seitens nichtjüdischer Wissenschaftler eine unverhältnismäßig große Aufmerksamkeit zuteil. Der Grund ist einigermaßen offensichtlich: diese Literatur entstand in zeitlich unmittelbarer Nähe zum Christentum und könnte daher einige Aufschlüsse zum besseren Verständnis des letzteren bieten, wie man es übrigens auch von den Qumran-Texten vermutet. Diese Vorliebe bei der Themenauswahl bedeutet nicht, daß Wissenschaftler zwangsläufig die Hekhalot-Texte falsch interpretieren, oder jedenfalls nicht tendenziöser als andere Gelehrte, doch kann die Tatsache nicht bestritten werden, daß eine unverhältnismäßige Fokussierung auf mögliche Verbindungen zwischen diesem winzigen Strang mystischer Literatur und der Entstehung des Christentums unvermeidlich ein verzerrtes Bild der jüdischen Mystik ergibt.

Und noch ein anderes einschlägiges Beispiel: Zwei unlängst erschienene Bücher gehen der Frage nach, ob die mittelalterliche Marienverehrung die Vorstellung von der Schekhina, der göttlichen Gegenwart, als weibliche göttliche Kraft beeinflußte (Green: Schekhina; Schäfer: Weibliche Gottesbilder). Das Beweismaterial ist dürftig und größtenteils irrelevant, und die These selbst projiziert einen vergleichsweise neuen ökumenischen Trend, der gute Beziehungen zwischen Juden und Christen preist, in eine Vergangenheit, in der solche Beziehungen keinesfalls bestanden haben. Derlei Versuche beschränken und verzerren unsere Perspektive auf Geschichte oder Phänomenologie der jüdischen Mystik.

Diese Kritik will nun nicht auf die Behauptung hinaus, daß eine umfassende, substantielle Darstellung des Judentums oder der jüdischen Mystik möglich ist oder je sein wird. Ganz im Gegenteil: Ich gehe davon aus, daß viele mystische Texte sich wechselseitig beeinflußten und daß diese Wechselwirkungen überreich an Spannungen, Reibungen, Kontroversen und gegenseitigen Mißverständnissen sind. Jüdische Kultur und, bis zu einem gewissen Grad, auch die jüdische Mystik sind also, wiewohl kumulativ, unvermeidlich fragmentarisch. Weniger umfänglich als manch andere Literatur, so die des Christentums, Islams und Hinduismus, zugleich genauer kanonisiert als diese, waren bedeutende Teile der Geschichte der jüdischen Literatur vergleichsweise leicht zu bewältigen, weil jüdische Mystiker erheblich textorientierter arbeiteten und stärker in frühere Texte und Traditionen eingebunden waren. Dies erklärt, warum es schwieriger ist, eine Entwicklung in dieser Literatur aus einer anderen herauszulösen.

Konkurrierende jüdische Theologien:trennende und einigende Tendenzen

In etlichen früheren Studien habe ich versucht, die Entwicklung einiger Themen der jüdischen Mystik vom Altertum bis in neuere Zeit zu verfolgen. So habe ich Vorstellungskonstellationen zum Golem, zu Ansichten über den Eros und Kategorien der (göttlichen) Sohnschaft untersucht. Diese sowie die folgenden Studien spiegeln meine Auffassung wider, nach der es ganz ausgeschlossen ist, das Judentum auf eine einzige theologische Position zu reduzieren. Die Vielfalt an Themenabhandlungen verweist nicht allein auf die dynamische Natur der Entwicklungen innerhalb des Judentums, sondern auch auf den vergleichsweise zweitrangigen Status der Theologie in der gegenwärtigen religiösen Praxis.

Seit dem Ende der Epoche des Zweiten Tempels lassen sich in der prärabbinischen und rabbinischen Literatur zwei konkurrierende Theorien erkennen. Die eine wahrt die theologische Vorstellung eines persönlichen Gottes und setzt die Möglichkeit des direkten göttlichen Eingreifens in die Welt voraus. Formulierungen der Einheit Gottes, wie sie in den Schriften von Sa`adya Gaon, Bachya ibn Paquda und zumal Maimonides anzutreffen sind, übergingen rabbinische Quellen und beriefen sich statt dessen auf eine Vielfalt griechischer und arabischer Theorien bei der Herausbildung eines sozusagen jüdischen philosophisch-transzendentalistischen Monotheismus. Diese Entwicklung wurde gründlich erforscht und bedarf hier keiner Darlegung im einzelnen. Die andere, trennende Tendenz, die ich immer interessanter fand, geht von der Existenz und Tätigkeit mehrerer Typen von göttlichen oder halbgöttlichen vermittelnden Instanzen aus, wie der göttlichen Glorie, den göttlichen, als Midot bezeichneten Attributen, Engel, Sohn, logos.

Die früheste dokumentierte Entwicklung der fragmentierenden Tendenz, wie sie bereits bei Philo von Alexandria und in der tannaitischen Literatur zu finden ist, betrifft Gott und die göttlichen Attribute. Hier wird von zwei Modalitäten der göttlichen Aktivität ausgegangen, die entweder unabhängig voneinander oder – vorzugsweise – in Verbindung miteinander wirken. Den Attributen sind Gottesnamen beigelegt, gelegentlich nehmen sie sogar einen halbautonomen Status ein und streiten mit Gott über Eingriffe in das weltliche Geschehen und deren Folgen.

Eine andere alte und unter Juden weit verbreitete Ansicht der fragmentierenden Tendenz versteht die göttliche Glorie als eine Erweiterung Gottes, und Engel fungieren als wirkmächtige Kräfte einer umfassender noch und aktiver gedachten Göttlichkeit. So erwähnt beispielsweise der arabische, in Córdoba im 11. Jahrhundert lebende Gelehrte Ibn Hazm einen jüdischen Kult, bei dem ein Engel verehrt wird, und es sprechen gute Gründe dafür, seinem Bericht Glauben zu schenken (Idel: Ben, S. 645ff.). Solch Zeugnis macht deutlich, daß die Kabbala von Anfang an eine Vielzahl von androgynen Interpretationen der göttlichen Welt bereithielt.

Noch eine andere Version der Fragmentierung enthalten mehrere gnostische, bereits aus dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert zu datierende Quellen, insbesondere ein Fragment von einem gewissen Monoimos. Diese Quellen enthalten Zeugnisse über dekadisch angelegte Strukturen der himmlischen Kräfte, die zusammen als eine dynamische Einheit bildend verstanden werden (Idel: `Al Torat ha-´Elohut). Diese dekadische Struktur war von enormem Einfluß auf die kabbalistische Theosophie hinsichtlich der berühmten Anordnung der zehn Sefirot oder göttlichen Kräfte.

Eine bedeutende Entwicklung in der kabbalistischen Theosophie schließlich ist mit der Vorstellung vom Bruch der göttlichen Gefäße verbunden und dem Fallen der göttlichen Funken. Dieses Zerbrechen der als Adam Qadmon, d. h. als Urmensch, bezeichneten göttlichen Struktur in Funken, die in die materielle Welt oder das Reich der Finsternis sinken, wird ungemein ausführlich bereits zu Lebzeiten von R. Isaak ben Salomon Luria beschrieben, also schon im dritten Viertel des 16. Jahrhunderts, und es sprechen gute Gründe dafür, daß diese Konzeption in sehr viel älteren Texten ihren Ursprung hat.

Von dieser Idee des Bruchs ist zweifelsohne stark beeinflußt die verbreitete Vorstellung von einer immanenten Natur der göttlichen Funken im Bereich des osteuropäischen Chassidismus, der im frühen 18. Jahrhundert entstand. Zahlreiche Gelehrte haben bereits darauf verwiesen, daß die soziale Struktur der chassidischen Gruppen, zumal das besondere Verhältnis, das man zwischen dem Zaddik, dem Gerechten, und seinen Anhängern voraussetzt, in der Ansicht sich widerspiegelt, daß ihre Seelen zur »Familie« der Seele des Zaddiks gehören. Diese Vorstellung, die im Verlauf des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts allgemein Anerkennung fand, wurde als theoretische Untermauerung der sozialen Realität der Juden begriffen.

Wiewohl ich es nicht schlüssig zu beweisen vermag, vermute ich dennoch, daß es die Annahme, man müsse die zur eigenen Seele gehörenden Funken emporheben, schon vor der Entstehung des Chassidismus gab und sie bereits im Kreis der Schüler von Luria zirkulierte. Dieses Argument wird zumal durch eine Geschichte gestützt, die R. Eliezer Tsvi von Komarno berichtete, die er von seinem Vater vernommen hatte, der diese wiederum in »heiligen Büchern« gelesen hatte: Ihr zufolge befahl Luria seinem Schüler R. Mosche Galante, ein Asket, der aufgehört hatte, Nahrung zu sich zu nehmen, wieder zu essen, um die Funken, die er in seiner vorigen Inkarnation nicht erlöst hatte, nun zu erlösen. Ich schließe aus dieser Anekdote, daß zu jener Zeit angesichts immer weiter fragmentierter Deutungen von Ansichten der göttlichen Sphäre ein steigender Bedarf in der jüdischen Mystik bestand, diese Fragmentierung zu überwinden. Mitunter führte dieser Bedarf zu einer allgemeinen Re-Inkorporation göttlicher Funken, die in der dinglichen Welt überall verstreut und nicht der Seele des Kabbalisten im besonderen zugeordnet waren; in anderen Fällen, etwa im Chassidismus, war die Aktivität eher personengebunden. Innerhalb dieser fragmentierenden Tendenzen wurden unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der weiblichen Aspekte des Göttlichen aufgenommen.

Bedeutende Theorien zur Entwicklung des jüdischen Denkens

Beträchtliche Forschungsarbeit wurde zum Thema jüdische Philosophie in weitgestecktem historischem und phänomenologischem Rahmen geleistet. So vertrat Harry A. Wolfson die Auffassung, jüdische Philosophie bis Spinoza und mittelalterliches Denken im allgemeinen spiegele den Einfluß Philos von Alexandria wider. Wenig fiel Wolfson zur Geschichte der jüdischen Mystik ein, obwohl es doch an solchen Themen und Konzepten nur so wimmelt, die er in seinen Untersuchungen anspricht. Gershom Scholem wiederum verstand das Aufkommen der jüdischen Mystik im Mittelalter als Zusammenspiel von Neuplatonismus und Gnostik, das bis zur Entstehung des Chassidismus etwa linear verlief. Scholem war nicht sonderlich daran gelegen, die jüdische Mystik in ein umfassenderes Bild des jüdischen Denkens einzubringen.

David Neumark und Franz Rosenzweig, die ihr Augenmerk auf die Spannungen zwischen Philosophie und Mystik im Judentum richteten, brachten unabhängig voneinander eine – im einzelnen in Kapitel 7 erörterte – Dynamik ein, die man die »Pendel-Theorie« nennen könnte, insofern sie eine schwankende Stellung zwischen den spekulativen und mystischen Richtungen im jüdischen Denken einnimmt. Neumark und Rosenzweig beschrieben beide das Aufkommen der Kabbala, der Hauptströmung der mittelalterlichen jüdischen Mystik, als Reaktion auf die Vormachtstellung der jüdischen Philosophie, wie sie sich in Maimonides’ Führer der Unschlüssigen darbot. Sie waren der Ansicht, das Mittelalter sei die wichtigste Periode in dieser lang anhaltenden Schwingung.

Der Pendel-Theorie recht ähnlich war die Auffassung Heinrich Graetz’, des bedeutendsten jüdischen Geschichtsschreibers im 19. Jahrhundert. Er lehnte die Kabbala schroff ab und hielt sie für eine schädliche Neuerung oder Erfindung des Mittelalters, die darauf abzielte, dem Einfluß des »aufklärenden« Aristotelismus des »Großen Adlers« Maimonides entgegenzuwirken.

Eine weitere wichtige Hypothese, die in der modernen Wissenschaft weitgehend unbeachtet blieb, könnte man als Traditionsfluß bezeichnen, wie ihn Moses Gaster zum Ausdruck brachte. Gaster war der Ansicht, daß sich jüdisches Schrifttum, das zusammen mit dem anderer Religionen in der Spätantike im Nahen Osten entstand, im frühen Mittelalter in Südeuropa, vor allem im heutigen Bulgarien und in slawischen Gebieten ausbreitete, um dann allmählich gen Westen zu wandern und dabei Entwicklungen von großer Bedeutung in Europa zu beeinflussen, etwa auf dem Gebiet von Folklore, Magie und den seinerzeit als häretisch eingeschätzten Bewegungen. Gaster setzte manche Aspekte dieses Traditionsflusses mit dem Entstehen der mittelalterlichen jüdischen Mystik im allgemeinen, dem Buch Sohar im besonderen in Verbindung (Idel: Mosche Gaster). Diese Denker gehören einer neuen jüdischen Elite an.

Eine neue jüdische Elite

Die meisten Autoren, um die es in den folgenden Essays geht, bilden eine Gruppe, die man als neue Erscheinung einer jüdischen Elite bezeichnen könnte. Anders als alle früheren Eliten – Propheten, Priester, Könige, Rabbinen –, die klar umrissene Rollen bei der Formung von religiösem Leben und Denken der Juden als einer Nation oder zumindest als jüdischer Gemeinschaft spielten, waren diese Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts Intellektuelle und Akademiker, die an Institutionen wirkten, die vordem der jüdischen Kultur fremd gewesen waren: an weltlichen Universitäten, die von Wissenschaftlern, Studenten und einer weit größeren, oftmals unsichtbaren Gemeinschaft bevölkert wurden, die zugleich transnational und transreligiös war. Die Hörerschaft, an die sich diese Schriftsteller wandten, war ebenfalls unterschiedlich zusammengesetzt: nicht nur säkulare Juden, sondern ein vielleicht als neutral zu bezeichnendes Publikum, dessen Interesse an den erörterten Themen mehr der Neugier, dem Aufspüren kultureller und historischer Informationen als der Suche nach religiöser Wahrheit geschuldet war. Mit ihren Überlegungen zur Religionsgeschichte im allgemeinen oder ihren Theorien über Texte und Kultur sprachen diese Autoren eine weit größere Leserschaft an, als dies in früheren Epochen jüdischer Kultur der Fall war. Dabei wählten sie ein typisches akademisches Vorgehen: Kritik der Quellen und Konzepte, anstatt sich an Auslegungen und Interpretationen zu versuchen. Einige von ihnen gingen mit ihrer Arbeit über den Status eines rein akademischen Autors weit hinaus und brachten jüdischen und anderen Intellektuellen ein Gespür für die Bedeutung des Judentums nahe.

Dann und wann zeigte sich bei diesen Denkern eine entschiedene Unzufriedenheit mit wesentlichen Aspekten jüdischen Lebens, wobei in einigen Fällen – so bei Scholem – selbst die Überlegenheit des »politischen Anarchismus« und des Sozialanarchismus über jede andere Richtung der Philosophie behauptet wurde (Scholem: Retsifut, S. 122; Biale: Gershom Scholem and Anarchism, S. 70-76; ders.: Counter-History, S. 127-133; Aschheim: Scholem, Arendt, Klemperer, S. 12 ff. u. 30). Sogar bei der Untersuchung verborgener Dimensionen philosophischer und mystischer jüdischer Texte wiesen ihre Arbeiten eine unausgesprochene Feindseligkeit gegenüber traditionellen Formen des Judentums auf – etwa sehr deutlich bei Leo Strauss beziehungsweise Gershom Scholem. Ihre Assimilation an Maßstäbe und Methoden, die dem traditionellen Judentum unbekannt waren, ihre Akkulturation an die – zumeist mittel- und westeuropäischen – Kulturen war eine Vorbedingung sowohl für ihre wissenschaftliche Arbeit als auch ihre Aufnahme durch ein größeres Publikum.3 Diese Akkulturation umfaßte nicht allein die Aneignung von vermeintlich neutralen Methodologien, sondern auch eine stillschweigende Übernahme einer neuen Axiologie sowie die Aufbereitung jüdischer Schriften in einer Art und Weise, die weit eher die Belange der Mehrheitskultur widerspiegelte als die Anliegen der Quellen.

Alle in den hier vorliegenden Essays vorgestellten Gelehrten wurden in Europa, zumeist in Mitteleuropa, geboren oder zumindest ausgebildet. Die Fülle und Vielschichtigkeit ihrer Forschung sind zu einem nicht geringen Teil gleichsam Spiegel der Mehrheitskultur der beiden vergangenen Jahrhunderte. Diese Kultur blieb nicht nur in Europa sehr einflußreich, sondern auch in den beiden neuen Zentren der jüdischen Kultur, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden, in Israel und den Vereinigten Staaten.

Diese akademische Elite befaßte sich mehr mit den Vorstellungen einer überaus kleinen, traditionellen und spekulativ ausgerichteten Elite als mit dem umfangreichen Korpus des religiösen Schrifttums. Judentum, wie sie es verstanden, wies keinerlei Ähnlichkeit mit den Glaubensvorstellungen der Mehrheit der jüdischen Zeitgenossen auf, deren Interessen eher weltlicher Natur waren und sich nicht auf die bedeutenden gelehrten Erörterungen jener Ideen erstreckten, welche die Grundlage des Judentums bildeten. Populäre Richtungen des Judentums waren anschaulicher, magischer und gemeinschaftsstiftender, sehr viel weniger philosophisch.

In dieser neuen Elite finden wir Wissenschaftler, von denen etliche an Universitäten unterrichteten, Intellektuelle, wie beispielsweise Franz Rosenzweig und Walter Benjamin, die nicht lehrten, sowie Schriftsteller wie Franz Kafka. Doch obwohl ihre Ansätze, ihr Stil und ihre literarischen Gattungen sich unterscheiden, besteht ein starker Zusammenhang zwischen ihnen. Franz Kafka zum Beispiel beeinflußte Walter Benjamin, Gershom Scholem und George Steiner nachhaltig ebenso wie den bedeutenden israelischen Schriftsteller und Nobelpreisträger Samuel Joseph Agnon – auch wenn dieser es nicht wahrhaben wollte. Nicht wenige dieser Persönlichkeiten waren gut miteinander bekannt – Martin Buber, Benjamin, Scholem und Rosenzweig – und bezogen sich auf einander. Scholems Auseinandersetzung mit Buber und Momiglianos Kritik an Scholem stehen hierfür als Beispiel, wie wir im weiteren sehen werden. Wiewohl sie nicht geschlossenen Gruppen angehörten – sieht man einmal von den zu Scholems Schule zählenden Wissenschaftlern ab –, bewegten sie sich hinsichtlich ihres Wissens und ihrer Themen größtenteils auf demselben Gebiet. Obgleich Buber, einer der einflußreichsten Denker dieser Gruppe, der einzige war, der sich ausdrücklich als Vermittler zwischen dem chassidischen Schrifttum und der Leserschaft verstand, fungierte Scholem ebenfalls als wirkmächtiger Filter zwischen der kabbalistischen Literatur und dem europäischen Publikum (Bloom: Poetics of Influence, S. 326).

Einige aus dieser neuen Elite konnten Hebräisch zumindest lesen, einige wenige es sogar schreiben – dennoch verfaßten die meisten ihre Texte in europäischen Sprachen, auf deutsch, englisch, französisch und italienisch. Die Verdrängung des Hebräischen, das bis Ende des 18. Jahrhunderts in den Werken der jüdischen Eliten nahezu ausschließlich gebräuchlich war, hatte weitreichende Folgen für die jüdische und allgemeine Kultur. Die Kultur der neuen Elite ging überwiegend aus europäischen Quellen hervor, und die Wahl europäischer Sprachen, die nicht nur die Stätten ihrer Bildung reflektierte, sondern überdies die neuen sozialen Verhältnisse, in denen Juden lebten, erwies sich als entscheidend, was Inhalt, Form und Verbreitung ihrer Werke betrifft. Zwischen der frühen Aufklärung und den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts sollte sich das interpretative Muster grundlegend verändern.

In der Elite der Zwischenkriegszeit und ihrer Erben nach dem Zweiten Weltkrieg gesellten sich dürftige Hebräischkenntnisse zu ebenso dürftigen Kenntnissen einer ganzen Reihe von Bereichen des Judentums, was ihre Darstellungen der jüdischen Religion außerordentlich problematisch macht. Im Unterschied zu vielen ihrer Vorgänger hatten sie sich einem breiten Spektrum von Ideen in den Gesellschaften, in denen sie lebten, ausgesetzt gesehen: dies im Gegensatz zu Maimonides, dessen Denken stark unter dem Einfluß des moslemischen Neu-Aristotelismus gestanden hatte, der im zwölften Jahrhundert in Andalusien und dem Nahen Osten vorherrschend gewesen war, oder Leone Ebreo, dessen Dialoghi d’amore vom Neuplatonismus der Renaissance geprägt wurden, oder auch Moses Mendelssohn und Hermann Cohen, welche die rationalistische Philosophie der Aufklärung aufnahmen. Obgleich die Aufklärung und Vorstellungen der Romantik immer noch von Bedeutung waren, bildeten sich in den Jahren der Zwischenkriegszeit neue Strömungen in Europa, wie beispielsweise der Symbolismus, der Anarchismus, der Marxismus, die Freudsche Psychoanalyse, der Dadaismus und der Surrealismus, die alle verschwommener und antiautoritärer waren. Im Gegensatz zu ihren Vorläufern, von denen manche sich mit einem einzigen, vergleichsweise in sich geschlossenen philosophischen System identifiziert und eine Synthese hergestellt hatten, trafen die jüdischen Intellektuellen der europäischen Zwischen- und Nachkriegszeit auf eine Vielzahl weniger dominierender und weniger kohärenter Systeme. Zugleich war ihre Wechselbeziehung mit ihrer Umwelt weit freizügiger.4 Freud ist ein herausragendes, aber bei weitem nicht das einzige Beispiel; in ganz kurzer Zeit wurden jüdische Intellektuelle der Zwischenkriegszeit wie Kafka, Benjamin, Scholem, Hans Jonas, Emanuel Levinas und selbst der eher eine Sonderstellung einnehmende Franz Rosenzweig zu Ikonen.

Wiewohl weit davon entfernt, einen klar umrissenen theologischen oder philosophischen Ansatz zu teilen, war etlichen Angehörigen der Zwischenkriegselite eine vielleicht als saturnisch zu bezeichnende Neigung gemeinsam. Nicht nur bei berühmten jüdischen Autoren wie Proust, Kafka und Celan ist Melancholie ein prominentes Thema, sondern auch bei herausragenden Denkern wie Freud, Benjamin und Scholem (Pensky: Melancholy Dialectics; Gasche: Saturnine Vision, S. 83-104; Hanssen: Melancholy, S. 991-1013; Scholem: The Fullness, S. 68f. u. 104f., das sich auf Kafkas Prozeß bezieht).5 In einem von Scholems Gedichten findet sich die starke und meiner Ansicht nach emblematische Zeile »wo einst ›Gott‹ stand, steht Melancholie« (Scholem: The Fullness, S. 98f.; Alter: Unentbehrliche Engel, S. 136f.). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden zwei bedeutende Werke über Melancholie von herausragenden jüdischen Gelehrten verfaßt. Bei dem einen handelte es sich um eine meisterhafte Monographie, die man mit Fug und Recht zu den faszinierendsten wissenschaftlichen Beiträgen zur europäischen Kultur der Zeit rechnen kann, Saturn und Melancholie – eine Studie, die, von Dürers berühmtem Kupferstich Melencolia I inspiriert, gemeinsam von Fritz Saxl, Erwin Panofsky und Raymond Klibansky, alle führende Mitglieder des Warburg-Instituts in Hamburg, geschrieben wurde (Klibansky/Panofsky/Saxl 1963, deutsche Ausgabe: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, 1990).6 Das zweite Werk trug den Titel Born under Saturn und hatte Rudolf und Margot Wittkower als Autoren. Auch Rudolf Wittkower war dem Warburg-Institut verbunden, zunächst in Hamburg, später in London (Wittkower: Saturn).7 Es dürfte kaum übertrieben sein, zu behaupten, daß Scholems Sabbatai Zwi, dessen historisches Vorbild ein Melancholiker par excellence gewesen ist, und das Buch der Wissenschaftler vom Warburg-Institut, die sich mit der Melancholie in Schriften des Mittelalters und der Renaissance befaßten, die beiden bedeutendsten jüdischen Werke in den Geisteswissenschaften des 20. Jahrhunderts darstellen. Vor dem Hintergrund der Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts, insbesondere der Shoah, versteht man leichter das Interesse an Gnosis und jenen Theorien zur Bedeutung des Bösen und der Apokalypse, das so deutlich bei Wissenschaftlern in Scholems Entourage zu beobachten ist (vgl. Kap. 6; Scholem: Die jüdische Mystik, S. 38f.).

Kritikpunkte und Fragestellungen

Kritik an wissenschaftlichen Arbeiten und Methodologien sind in den Geisteswissenschaften notwendig und unvermeidlich. Doch die Zweckmäßigkeit der Kritik bei der Erweiterung unseres Wissens hängt wie die ursprüngliche Wissenschaft selbst von der gewählten Methode ab. Nur zu oft beruht sie auf dem Glauben an die Existenz einer einzigen akademischen Wahrheit und konzentriert sich folglich darauf, nach letzten Methoden und Beweisen zu suchen. Mein Ansatz gleicht eher einer Befragung, die Schwachpunkte einer bestimmten Theorie aufzudecken vermag, indes nicht behauptet, an anderen Stellen im Besitz der Wahrheit zu sein. Bei dieser Befragung gehe ich davon aus, daß der Dialog mit Theorien, die früher einmal formuliert wurden, notwendig ist und zugleich ununterbrochen weitergeführt, keinesfalls aber nach einer »richtigen« Erklärung gesucht werden sollte, die zwingenderweise frühere Ausführungen ablöst. Das Verständnis der intellektuellen Vergangenheit erfordert gewiß nicht bloß den Zugang zu Informationen und deren Interpretation, sondern auch Aufgeschlossenheit. Was meinen eigenen Forschungsbereich betrifft, so geht es mir hauptsächlich darum, Unterschiede herauszuarbeiten, die explizit oder implizit in jüdischen Texten und Denkrichtungen, in Spannungen und Widersprüchen zwischen ihnen, in Kontroversen und Meinungsverschiedenheiten bestanden. Weit davon entfernt, die Entdeckung eines »Wesens des Judentums« oder einer anderen monolithischen Tendenz in dessen Hauptströmungen, Kabbala und Chassidismus, anzustreben, neige ich immer stärker dazu, die jeweilige Bedeutung der konzeptuellen Quellen in ihrer Vielfalt zu erkennen, aus denen sich diese oder jene kabbalistische oder chassidische Schule oder Ausrichtung, ein bestimmter Gelehrter oder eines seiner Werke speisten. Anders als jene Wissenschaftler, die großartige Schilderungen entwarfen und bestimmte Methodologien aufgriffen, zumal die philologisch-historische, gehe ich von der möglichen Koexistenz unterschiedlicher Erläuterungen ein und desselben Phänomens aus, von denen keine die anderen in ihrem Wert mindert. Da jede Erklärung das zur Debatte stehende Thema oder Ereignis auf jeweils spezifische Art und Weise definiert, ist es durchaus möglich, daß sich Auffassungen an einem Punkt überschneiden oder gar übereinstimmen, an einem anderen divergieren. Deshalb ist meiner Auffassung nach ein vollständiger »Triumph« einer Theorie über eine andere selten und in den meisten Fällen ausgesprochen fragwürdig.

Im Unterschied zu den auf den folgenden Seiten vorgestellten Persönlichkeiten wurde meine frühe Erziehung und meine Lebensauffassung von einer zutiefst traditionellen osteuropäischen jüdischen Umgebung geformt, wie ich sie von frühester Kindheit an erlebte und die, bedenkt man die Zeitläufte, nachgerade einzigartig ist. Ich wurde 1947 in Nord-Rumänien in einem jener Schtetl geboren, die ohne größeren Schaden die Shoah überlebt hatten. Im ersten Jahrzehnt nach der Shoah bestanden noch viele Einrichtungen der jüdischen Gemeinde, so beispielsweise die traditionelle hebräische Grundschule, der Cheder, wo ich zu lernen begann.

Indes verfiel diese Gemeinde als Grundstruktur traditionellen jüdischen Lebens rasch, was teils dem Beginn des kommunistischen Regimes, teils dem dramatischen Bevölkerungsschwund geschuldet war, da Hunderte Familien zwischen 1947 und 1963 – dem Jahr, in dem auch ich fortging – nach Israel auswanderten. Die Kleinstadt blieb weitgehend vom intellektuellen Leben und den geistigen Herausforderungen der dynamischen mitteleuropäischen jüdischen Elite unberührt, und kosmopolitische Ideale erreichten die Einwohner erst in den frühen 50er Jahren. Gelehrte Darstellungen des Judentums von hoher akademischer Warte aus weisen keinerlei Ähnlichkeit mit jenem Judentum auf, das, von Anthropomorphismen und Aberglauben, religiöser Inbrunst und volkstümlicher Magie nur so wimmelnd, von diesen bescheidenen Menschen praktiziert wurde, die durchaus typisch für die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung zu jener Zeit sind, und zwar nicht nur in Osteuropa. Sie dürften es schwierig, wenn nicht unmöglich gefunden haben, ihre persönliche Glaubensüberzeugung und religiöse Praxis mit den Abstraktionen, universellen Berufungen, negativen Einstellungen und religiösen Paradoxien in Einklang zu bringen, die von einer verschwindend kleinen mitteleuropäischen jüdischen Intelligenzija ausgeklügelt worden waren. Letztere hatte ein Judentum nach ihrem Bild erschaffen, genauso wie die Juden im Schtetl, diese allerdings weniger selbstbewußt. Weder die eine noch die andere dieser auf frühere Formen des Judentums projizierten Imaginationen ist authentischer oder repräsentativer als die andere. Dennoch sollte jedwede Darstellung der Kultur der Juden oder des Judentums beide ernsthaft in Betracht ziehen.

Viele im Werk seriöser Wissenschaftler anzutreffende Interpretationen des Judentums drängen diesem gleichsam das facettenreichere jüdische Erleben des 20. Jahrhunderts auf und reduzieren paradoxerweise zugleich drastisch die Komplexität jüdischer Lebensformen. Bei den folgenden Erörterungen versuche ich zugunsten eines umfassenderen Verständnisses des inner- und außereuropäischen Judentums die Unausgeglichenheit zu beheben, die den intellektuell faszinierenden, allerdings unvermeidlich voreingenommenen Ansichten innewohnt, die Walter Benjamin, Gershom Scholem und George Steiner entwarfen – alle drei von Kafkas Negativität stark beeinflußt – und die eine Reihe von Werten widerspiegeln, die seinerzeit in Mitteleuropa und auch anderswo vorherrschend waren (Bloom: Die heiligen Wahrheiten, S. 164-207). Ähnlich verhält es sich mit der mitteleuropäischen Wahrnehmung des Judentums als einer »Kunde aus der Ferne«, wie es Franz Kafka im Brief an Robert Klopstock vom 19. Dezember 1923 in bezug auf den Talmud formulierte: eine solche Auffassung dürfte kaum in weiten Teilen Osteuropas auf Zustimmung gestoßen sein, und Bubers Ansicht vom osteuropäischen jüdischen Phänomen des Chassidismus als einer »ursprünglichen jüdischen Wirklichkeit«, welche die »innere Wahrheit« des Judentums verkörpere, ist gleichfalls zu eng und reduktionistisch. Noch sind Appelle wie die Momiglianos, die Unterscheidung zwischen Nationalität und Religion beizubehalten, über bestimmte Epochen und nationale Grenzen hinaus belangvoll, wenn man bedenkt, wie vielen Juden in Osteuropa vor der Shoah wegen ihrer Religion das Bürgerrecht versagt blieb, die dann im Laufe der Shoah ermordet wurden.

Eine osteuropäische Perspektive ist also beim Versuch einer Definition des Judentums eindeutig nicht sinnvoller als eine mitteleuropäische. Von bestimmten Gesichtspunkten aus könnte sie es sogar weniger sein, denn im allgemeinen mangelt es ihr an einem kritischen Ansatz, der nun einmal für die gründliche Erforschung einer Kultur Voraussetzung ist, auch hat sie die Neigung, zu deskriptiv, sogar präskriptiv, zu selbstgerecht und nicht selbstkritisch zu sein (Idel: ´Erets Yisra´el, S. 256-259 zur allgemeinen Semiotik im Chassidismus). Gleichwohl könnte eine komplexere und folglich aufschlußreichere Darstellung gelingen, wenn man die mitteleuropäische mit der osteuropäischen Perspektive zusammenführt. Zugegebenermaßen ist eine solche Korrektur ein recht schwieriges Unterfangen angesichts der außerordentlichen Genialität der mitteleuropäischen Denker. Zwei miteinander konkurrierende Perspektiven bestehen weiter, und mehr oder weniger trifft auf sie bis heute Benjamins Unterscheidung zu in einerseits die traditionellen Erfahrungen, die in langsamen, von Kontinuität und Wiederholung begünstigten Rhythmen gründen, und andererseits in die »Schock«-Erfahrungen, die in neuen, von der Moderne geförderten Fragmentierungen ihren Ursprung haben (Wolin: Benjamin, S. 226-238). Die Erforschung traditioneller Erfahrungen durch moderne Wissenschaftler, deren Leben von »Schock«-Erlebnissen geprägt wurden, hat zwangsläufig nicht allein zu Spannungen zwischen zwei kulturellen Horizonten geführt, sondern schließlich auch zu Mißverständnissen hinsichtlich der jeweils untersuchten mystischen Texte. Man könnte diese beiden kulturellen Horizonte so charakterisieren: Der eine ging aus der Betonung des von Scholem so bezeichneten »Lebens im Aufschub« hervor, wie es aus mitteleuropäischer Perspektive für das Leben im Exil bestimmend war; der andere aus dem Glauben an die Möglichkeit und die Suche nach ihr, spirituelle Vollkommenheit auf sinnlich erfahrbarem Wege zu erlangen, was charakteristisch für das traditionelle Schrifttum ist. Die folgenden Essays sollten daher nicht als Kritik der mitteleuropäischen Ansätze zur Erforschung des Judentums verstanden werden, sondern als eine Befragung der beiden Perspektiven, die sich gegenseitig als Korrektiv dienen (Idel: Ascensions, S. 9f.).