YIN YOGA
Sanfte Übungen für innere
Kraft und Harmonie
Vorwort von Robert Schleip
Einführung
Die Geschichte des Yin Yoga
Persönliches
Teil 1: Yin Yoga – die Grundlagen
Yin und Yang
Chi – die Lebensenergie
Meridiane – Kanäle, in denen das Chi fließt
Emotionen – was die chinesische Medizin dazu sagt
Reise des Inneren Lächelns – eine Meditation
Der Mensch ist Energie
Anatomie und Yin Yoga
Die Praxis
Die Atmung im Yin Yoga
Entspannung im Yin Yoga
Teil 2: Die wichtigsten Yin-Haltungen
Entdecken Sie Ihr Yin Yoga!
Schmetterling
Frosch
Gedrehter Frosch
Sphinx
Kleiner Seehund ~ Robbe
Halber Schmetterling
Muschel
Libelle
Halber Frosch ~ Diamant-Grätsche
Stellung des Kindes ~ Schneeball
Frosch-Sphinx und Erdberührung
Drachen und Drachen-Tänze
Herzöffner
Schlange ~ Pflug
Schulterstand und Wasserfälle
Flunder
Happy Baby
Sattel ~ Diamantsitz
Schwäne
Schnürsenkel
Nadelöhr
Reh
Hocke
Pendel
Drehsitz
Krokodil
Yin-Posen für die Füße
Yin-Posen für die Arme
Ausgleichende Haltungen
Ausgleichende Haltungen in Bewegung
Sinnvolle Übungseinheiten
Teil 3: Die fünf Kurzprogramme
Bringen Sie Ihre Lebensenergie ins Gleichgewicht!
Wasser
Lassen Sie sich auf das Element Wasser ein
Sanftes Üben – Entdecken Sie das Element Wasser in sich
Yin-Haltungen
Heilender Laut
Entspannung und Meditation für das Element Wasser
Holz
Lassen Sie sich auf das Element Holz ein
Sanftes Üben – Entdecken Sie das Element Holz in sich
Yin-Haltungen
Heilender Laut
Meditation und Entspannung für das Element Holz
Feuer
Lassen Sie sich auf das Element Feuer ein
Sanftes Üben – Entdecken Sie das Element Feuer in sich
Yin-Haltungen
Heilender Laut
Meditation und Entspannung für das Element Feuer
Erde
Lassen Sie sich auf das Element Erde ein
Sanftes Üben – Entdecken Sie das Element Erde in sich
Yin-Haltungen
Heilender Laut
Meditation und Entspannung für das Element Erde
Metall
Lassen Sie sich auf das Element Metall ein
Sanftes Üben – Entdecken Sie das Element Metall in sich
Yin-Haltungen
Heilender Laut
Entspannung und Meditation für das Element Metall
Dank
Vertiefende Literatur
Anhang
Liebe Leserin, lieber Leser,
Sie halten ein wunderbares Buch über Yoga sowie Ihren eigenen Körper in den Händen. Die erfahrene Yogalehrerin Christine Ranzinger verbindet hier jahrtausendealte Weisheit mit den neuesten wissenschaftlichen Einsichten in den Bereichen Anatomie, Physiologie, Anthropologie und Psychologie. Wer sich mit den Entstehungsbedingungen der häufigsten Störungen im sogenannten Bewegungsapparat beschäftigt, kommt kaum an den immer deutlicher werdenden Hinweisen vorbei, dass viele dieser zunehmenden Wohlstandsleiden in einem engen Zusammenhang mit dem einseitigen Körpergebrauch von uns modernen Stubenhockern stehen. Überraschenderweise sind es die ungenutzten Winkel der Gelenke – nicht so sehr die im Alltag belasteten –, an denen die Degeneration üblicherweise beginnt. Schimpansen, die in einem – heutzutage zum Glück verbotenen – engen Zoogehege gehalten werden, welches ihnen nicht erlaubt, sich ihrer Art entsprechend zu bewegen, entwickeln bald dieselben Gelenkpathologien wie wir Menschen. Wenn dann die Tierschutzbehörde einschreitet und sich für eine „artgerechte Haltung“ einsetzt, in der unsere Artgenossen ihre Gelenke, Muskeln und ihr Bindegewebe wieder über den vollen verfügbaren Bewegungsbereich benutzen können, bleiben deren Körper interessanterweise genauso von unseren heutigen Wohlstandsleiden verschont, wie dies bei Primaten der Fall ist, die in freier Wildbahn leben.
Es wäre also wirklich Zeit für eine „Menschenschutzbehörde“, wie sie meine geschätzte Kollegin Dr. Ellen Fischer fordert. Sie würde dafür sorgen, dass wir unsere Körper wieder artgerecht über den vollen anatomisch angelegten Bewegungsbereich benutzen. Mindestens einmal pro Woche – besser zweimal – sollte eine solche moralische Instanz uns von unseren Schreibtischen oder Sofas wegziehen und zu einer halben Stunde „Affengymnastik“ verführen. Dabei benutzen wir unsere Hüft- und Schultergelenke, unsere Wirbelgelenke sowie Hand- und Fußgelenke über deren volles Bewegungsspektrum, mit dem wohltuenden Ziel, den dort beginnenden bindegewebigen Verfilzungen und Kalkablagerungen entgegenzuwirken.
Einen lustvoll-orientierten Ansatz bietet uns dieses Buch, denn die Autorin lädt uns auf sinnlich motivierende Weise ein, unser evolutionäres und anatomisches Erbe eines beweglichen und katzenhaft geschmeidigen Bewegungskörpers Schritt für Schritt zurückzuerobern. Der Körper ist kein lebloses Möbelstück, sondern ein sich ständig selbst erneuernder dynamischer Prozess. Aktuelle Übersichtsstudien belegen, dass ein achtsamer Yogaansatz, der den Körper in vielen kleinen Schritten über einen Zeitraum von Monaten bis Jahren umzuformen beginnt, deutlich greifbare gesundheitliche Besserungen mit sich bringt. Nicht umsonst hat sich keine andere Gesundheitsbewegung in den letzten Jahren so ausgebreitet wie Yoga. Entsprechend vielseitig präsentiert sich die Szene. Sich im bunten Jahrmarkt Hunderter verschiedener Yogastile zurechtzufinden, ist für Laien mehr als verwirrend.
In diesem Spektrum stellt das Yin Yoga aus meiner heutigen Sicht den derzeit klügsten und gewebefreundlichsten Ansatz dar, weil er viel Wert auf das muskuläre Bindegewebe – auch Faszien genannt – legt. Dieses faserige, kollagenhaltige Netzwerk umhüllt und durchdringt den gesamten Körper und wurde noch bis vor Kurzem als angeblich unwichtiges Verpackungsmaterial vernachlässigt. Es bildet jedoch ein dynamisches Stützkorsett – für die Muskeln, aber auch für alle inneren Organe und den gesamten Körper. Dieses Netzwerk stellt zudem unser wichtigstes Sinnesorgan für die eigene Körperwahrnehmung dar. Die Vielzahl darin verborgener Dehnungsrezeptoren informiert unser Gehirn ständig über die Lage und die Bewegungen unseres Körpers. Interessanterweise besteht eine hohe Kongruenz zwischen der Lage der Meridiane der chinesischen Medizin und der Lokalisation dieser Sinnesendigungen im Fasziennetzwerk.
Die von Christine Ranzinger auf exzellente Weise in diesem Buch vermittelten langsamen Dehnungen decken sich mit den heute aktuellen Einsichten und Empfehlungen für eine physiologische Faszienpflege. Wer rastet, der rostet: Nicht gebrauchtes Bindegewebe beginnt zu schrumpfen und zu verkleben. Warten Sie also nicht auf das Eingreifen einer „Menschenschutzbehörde“. Lassen Sie sich stattdessen von den folgenden Seiten dazu inspirieren, sich auf gesunde und nachhaltige Weise auch im wörtlichen Sinne zu entfalten.
Dr. biol. hum. Robert Schleip
Leiter der Fascia Research Group, Universität Ulm
In vielen Traditionen und Kulturen gibt es die Vorstellung, dass der Mensch nicht nur aus seinem physischen Körper besteht, sondern auch einen bzw. mehrere Energiekörper hat, die verschiedene Funktionen erfüllen und in deren Kern das göttliche Selbst ruht. So ist aus dieser Sicht jede Form des Yoga letztlich ein Weg der Einswerdung mit unserem ursprünglichen Wesenskern, ein Hineinwachsen in den Zustand unserer ursprünglichen Einheit. Immer wieder öffnen sich ja auch im Alltag Räume, in denen wir eine Ahnung dieses Zustands erleben können – sei es beim Betrachten eines Sonnenuntergangs, in der Begegnung mit einem geliebten Menschen, beim Hören schöner Musik oder in stiller Meditation. Im Idealfall verbindet uns jede Art von Yoga mit diesem Zustand – einem Zustand des Glücks und der Zufriedenheit, in dem wir eins sind mit uns selbst und in Einklang mit dem, was das Leben uns anbietet.
Im alten Indien waren die Yogis oft Heilige, die die physische Ebene transzendieren konnten, und dafür gab (und gibt) es verschiedene Yogapfade. Am bekanntesten ist bei uns im Westen der Weg des Hatha-Yoga, der ursprünglich dafür gedacht war, den Körper zu kräftigen und auf das eigentliche Ziel der seelischen Transformation vorzubereiten. Heute sprießen aus dem Stamm dieser ehrwürdigen Tradition unzählige Yogarichtungen, die ganz unterschiedliche Zielsetzungen haben und in deren Zentrum meistens die Körperhaltungen zu finden sind. Ebenso verschieden sind die Gründe, warum wir Yoga praktizieren möchten. Vielleicht haben wir Rückenschmerzen oder wollen ganz einfach etwas Neues ausprobieren. Das Ziel der Erleuchtung liegt den meisten von uns zunächst fern – auch wenn es natürlich nebenbei passieren darf. Viele der neuen Yogawege sind kraftvoll und dynamisch und bei manchen bleibt der meditative Aspekt relativ unbeachtet. Yin Yoga bringt uns tiefer mit dem entspannten und kontemplativen Aspekt des Yoga in Berührung. Es kreiert einen offenen Raum, in dem wir uns selbst begegnen können.
Das geschieht dadurch, indem wir in einer Haltung verweilen und Zeit finden, uns selbst zu beobachten und den täglichen Istzustand immer wieder neu zu erspüren und anzuerkennen. Vereinfacht gesagt ist Yin Yoga eine allgemeine Herangehensweise, wie wir Yoga praktizieren können, frei von Stress und Leistungsdruck. Die Prinzipien sind dabei relativ einfach: Wir bringen unseren Körper in eine Position und bleiben 3 bis 5 Minuten darin – manchmal auch länger. Dabei versuchen wir, Körper und Gemüt zu entspannen – so gut wir können. Dadurch wirken die Haltungen tief in unser innerstes Wesen. Gedanken, Gefühle, tief sitzende Verhaltensmuster und Reaktionsweisen werden uns bewusst, und dies wird sich mit der Zeit auch auf unser Leben auswirken. Gleichzeitig öffnet Yin Yoga den Raum und wir können verschiedene Atem- und Energielenkungen in die „Halte-Zeiten“ einbinden, wodurch sich diese mit etwas Übung kurzweiliger gestalten und neue Erkenntnisse bringen. Das ist auch besonders ratsam für fortgeschrittene und hyperbewegliche Übende, die dadurch ebenfalls neue Erfahrungen machen können. So lässt sich der Fluss der Lebenskraft in bestimmte Bahnen lenken, wodurch die Organsysteme (im Sinn der Traditionellen Chinesischen Medizin, im Folgenden: TCM) harmonisiert werden. Es empfiehlt sich, sich nach einer Energielenkung der Yin-Qualität der Atembetrachtung zu öffnen und seine Aufmerksamkeit auf den Atem zu richten, ihm zu folgen, sodass Konzentration und Empfänglichkeit gleichermaßen geschult werden.
Im ersten Kapitel des Buchs erfahren Sie zunächst etwas über die grundlegenden Prinzipien des Yin Yoga – die Konzepte von Yin und Yang, die allem Leben zugrunde liegende Energie, Prana oder Chi, über die Grundlagen der chinesischen Medizin und des tantrischen Systems der Koshas und Chakras. Weil Yin Yoga vieles mit der modernen Faszien-Forschung gemeinsam hat, folgt ein Kapitel, das näher auf diesen Zusammenhang eingeht.
Danach folgt im zweiten Kapitel die eigentliche Yin-Yoga-Praxis. Nach den Aspekten der Atmung und Entspannung im Yin Yoga werden die wichtigsten Haltungen aus dem Yin Yoga beschrieben, ihre Wirkungen auf körperlicher und energetischer Ebene eingeschlossen. Dieser Teil beinhaltet verschiedene Übungsreihen, die im Ablauf so bebildert sind, dass Sie sie problemlos nachüben können. Natürlich können Sie sich einzelne Haltungen herausgreifen, denn sie eignen sich auch wunderbar als Einstieg in eine dynamische (Yang-)Yogapraxis wie auch als Einstieg in die Meditation, weil sie Körper und Geist öffnen für das eigentliche Geschehen in der Meditationspraxis. Es folgen Yin-Haltungen für Arme und Füße, um den Fluss der Lebenskraft auch dort durchlässig werden zu lassen. Weil es kein Yin ohne Yang gibt, ist die Beschreibung einiger kräftigender Haltungen bzw. freier Bewegungsabläufe inkludiert, die Sie einbinden können, wenn Ihr Körper einen Ausgleich braucht.
Im dritten Teil des Buchs finden Sie fünf Kurzprogramme für die Harmonisierung des Chi der Fünf Elemente (Meridiansysteme), die Sie ganz sicher dazu motivieren, mit dem Üben zu beginnen. Damit Sie noch einmal ein Gefühl für das jeweilige Element bekommen, beginnt dieser Teil mit einer Beschreibung desselben. Dann führt Sie eine vorbereitende Übungsfolge mit entsprechender Atemlenkung in die Praxis des Yin Yoga, gefolgt von Heilendem Laut, Entspannung und Meditation. Natürlich können Sie auch einzelne Elemente dieser Programme in eine bereits bestehende Yogapraxis integrieren. Für jedes dieser Programme benötigen Sie ungefähr 20 oder maximal 30 bis 35 Minuten.
HINWEIS: Wie immer kann kein noch so sorgfältig erarbeitetes und recherchiertes Buch den Yogaunterricht bei einer qualifizierten Yogalehrerin/einem qualifizierten Yogalehrer ersetzen. Wenn Sie sich unsicher sind, ob die Abläufe für Sie gut und richtig sind, oder wenn Sie an gesundheitlichen Einschränkungen leiden, konsultieren Sie am besten eine Fachkraft Ihres Vertrauens.
Obwohl Yin-Haltungen wahrscheinlich schon seit vielen Jahrhunderten existieren, gibt es doch eine Art Geschichte des „modernen Yin Yoga“, die ich Ihnen hier vorstellen möchte. Sie beginnt mit Paulie Zink, einem Kung-Fu-Meister, der als Automechaniker in einem kleinen Schuppen in Montana arbeitete, wo er auch Taoistisches Yoga unterrichtete. Er wurde schon als Kind in asiatischen Kampfkünsten unterrichtet, besonders von Meister Ling, der ihm mehrere Stunden täglich die Tradition des Monkey Kung-Fu vermittelte und ihn letztlich als seinen Nachfolger auswählte.
Paul Grilley, Gründer des Yin Yoga und Schüler von Paulie, machte ihn über eine Rundfunkstation ausfindig, nachdem er ihn im Fernsehen entdeckt hatte, und lernte bei ihm. Er war von seiner Beweglichkeit fasziniert und insbesondere hatten es ihm die lange gehaltenen Positionen angetan, die ein Teil von Paulie Zinks Taoistischem Yoga waren. Paulies Art und Weise, den Unterricht zu gestalten, scheint eine Kunst gewesen zu sein, die man nicht an einem Wochenende lernen konnte, sondern für die man viel Zeit investieren musste – am besten in einer langen, vertrauten Beziehung mit dem Lehrer. Paulies Taoistisches Yoga schloss Yin- und Yang-Elemente ein sowie die Meditation der Fünf Elemente. Wenn Sie etwas Zeit übrig haben, kann ich Ihnen sehr empfehlen, sich eines seiner Videos auf Youtube anzusehen, denn seine Kraft und Beweglichkeit sind wirklich beeindruckend! Paul Grilley war, wie bereits erwähnt, besonders an den lange gehaltenen Positionen interessiert, die er bei Paulie lernte und die er nach einiger Zeit als Yin Yoga bezeichnete. Paul verbindet detailliertes Anatomiewissen u. a. mit den Erkenntnissen von Dr. Hiroshi Motoyama, der viel über die Zusammenhänge von Chakras, Meridianen und menschlicher Anatomie herausgefunden und publiziert hat. Ich kann Ihnen seine Bücher wirklich sehr ans Herz legen. Sarah Powers und Biff Mithoefer sind Schüler von Paul Grilley. Sarah verbindet Yin Yoga mit tibetisch-buddhistischem Gedankengut und nennt ihren Yogastil Insight Yoga.
Weil wir uns auf eine gemeinsame Reise in die Yin-Seite des Yoga begeben, möchte ich mich Ihnen an dieser Stelle zunächst einmal vorstellen, falls wir uns noch nicht von meinen Kursen oder aus einem meiner anderen Bücher kennen: Mein Name ist Christine Ranzinger und ich bin unendlich dankbar, dass ich meinen Lebensunterhalt mit dem verdiene, was mir am meisten Freude bereitet und gleichzeitig meinem Leben Sinn und Richtung gibt. Seit Anfang der 1980er-Jahre arbeite ich als Yogalehrerin in München. Am Anfang sehr von der Tradition des Sivananda Yoga beeinflusst, lernte ich weiter bei Elisabeth Haich in der Schweiz (Hatha-Yoga, Raja Yoga), bei Adelheid Ohlig (Luna-Yoga), bei Boris Tatzky (Yoga der Energie) und vielen anderen. Ungefähr einmal im Jahr besuche ich ein Yogaretreat oder eine Weiterbildung, damit ich Inspiration bekomme und das Feuer des Yoga nicht erlischt. Deshalb könnte ich die Liste meiner Lehrerinnen und Lehrer gut und gerne fortsetzen, aber ich möchte Sie mit einer weiteren Aufzählung verschonen, damit es Ihnen nicht langweilig wird. Jedenfalls kann ich mir mittlerweile ein Leben ohne Yoga auch unabhängig vom Unterrichten nur ganz schwer vorstellen.
Ein wesentlicher Bestandteil meines Lebens sind meine Reisen nach Asien und die damit verbundenen Lehr- und Lerninhalte. Besonders gern bin ich bei „meiner“ chinesischen Ärztin Dr. Rungrat Pawardhisan in Chiang Mai und lasse mich in die Welt der chinesischen Medizin entführen. Und weil ich mittlerweile seit ungefähr 30 Jahren immer wieder in den gleichen Gegenden unterwegs bin, bin ich natürlich auch dort in Yogaräumen zu Hause, die mich für meine Arbeit in Deutschland inspirieren. Auf einer dieser Reisen kam ich vor einigen Jahren im Norden Thailands auch zum ersten Mal mit Yin Yoga in Berührung. Es war auf einem Yogaretreat von Sara Avant Stover – einer Schülerin von Sarah Powers und Gründerin von The Way of the Happy Woman® –, und ich habe mich sofort in diese stille, undogmatische und zugleich kraftvolle Art des Yogaübens verliebt. Als ich wieder zurück in Deutschland war, besuchte ich Workshops bei Paul Grilley und Sarah Powers und habe mich dann entschieden, die Weiterbildung in Yin Yoga bei Sarah Powers zu machen.
Die Form des Yin Yoga, die ich Ihnen hier vorstellen möchte, hat ihren Ursprung in dem Verständnis von Yoga, das ich durch meine eigenen Yin-Yoga-Lehrer gewonnen habe. Natürlich fließen auch meine eigenen Erfahrungen mit Atemlenkung, Pranayama und Meditation mit ein, die sich mir im Lauf der fast drei Jahrzehnte, die ich mittlerweile als Yogalehrerin tätig bin, erschlossen haben. Aber am allertiefsten gehen doch immer wieder die Lernprozesse, die sich mir durch meine persönliche Yoga- und Meditationspraxis eröffnen – ein Wissen, das genau genommen jeder und jede von Ihnen in sich trägt, nämlich die ureigene Weisheit Ihres Körpers, die Sie in Ihrer Yogapraxis immer wieder neu entdecken können. Wie die meisten mir bekannten Yogawege und spirituellen Disziplinen fordert Yin Yoga Sie dazu auf, Ihre eigene Wahrheit herauszufinden, sodass Sie mehr und mehr Ihrer eigenen Intuition vertrauen lernen.
Wenn Sie sich überreizt und/oder übermäßig extrovertiert oder auch ausgebrannt und erschöpft fühlen, ist Yin Yoga eines der besten Mittel, um wieder herunterzufahren und in sich selbst anzukommen. Diese ruhige und beschauliche Yogarichtung kann den Raum öffnen, in dem Sie Ihre tiefste innere Weisheit und Heilung entdecken. Es besteht überwiegend aus passiven Haltungen, die ohne oder mit sehr geringer Muskelanspannung ausgeführt werden und zwischen 3 und 5 Minuten gehalten werden, manchmal sogar länger. Die meisten wirken auf die untere Körperhälfte, auf die Hüften, die Beine und den unteren Rücken, die Wirbelsäule, auf die Bereiche im Inneren des Körpers, in denen sich unsere lebenswichtigen Organe befinden.
Yin-Haltungen lehren uns, die Kraft der Langsamkeit und Stille wieder mehr wertzuschätzen, und sie bringen uns mit einer geistigen Haltung der totalen Hingabe und Empfänglichkeit in Berührung. Obwohl für manche Positionen Kissen oder Polster hilfreich sein können, sind sie doch nicht unbedingt notwendig. Ich übe Yin Yoga z. B. gerne nach Langstreckenflügen, um dem Jetlag entgegenzuwirken, und zwar direkt in meinem Bett, bevor ich schlafen gehe, und es wirkt fast immer Wunder!
Dabei wirkt Yin Yoga wie eine Akupunktursitzung ohne Nadeln, indem es die Lebenskraft durch geheimnisvolle Leitbahnen, die sogenannten Meridiane bzw. Nadis, schleust, und es kann eine wirksame Form der Selbstheilung sein. In der Hatha-Yoga-Pradipika, kurz HYP, einer der bekanntesten klassischen Yogaschriften aus dem 14. Jahrhundert, werden einige dieser Haltungen beschrieben, die den Körper auf die Meditation vorbereiten sollen, sodass Yin Yoga vielleicht sogar die Mutter aller anderen Formen des Hatha-Yoga ist. Die andere Hälfte der in der HYP beschriebenen Yogahaltungen ist jedoch durchaus Yang-betont, also kraftvoll und aktiv. Als Beispiel sei hier nur der Pfau erwähnt, bei dem wir unseren gestreckten Körper parallel zum Boden auf den angewinkelten Oberarmen balancieren dürfen, wenn wir können. Yin Yoga hilft, alte Denkmuster loszulassen und ein gesundes Vertrauen ins Leben zu entwickeln, weil in uns eine Stille lebendig wird, die alle Gegensätze und Polaritäten durchdringt.
Das Wort „Yoga“ ist Sanskrit und bedeutet auf Deutsch „Joch“ oder „etwas zusammenfügen“. Das bezieht sich auf das Zusammenfügen oder den Ausgleich zweier entgegengesetzter Kräfte. Im Hatha-Yoga bezieht es sich auf die Kräfte von Sonne (ha) und Mond (tha). In der taoistischen Tradition spricht man von Yin und Yang, das sind die beiden Grundpolaritäten, die unserem Leben zugrunde liegen. Ein traditionelles Bild für Yin und Yang ist ein Mensch, der Reis pflückt: Sein Rücken ist der Sonne zugewandt (Yang), seine Vorderseite der Erde (Yin). Yin und Yang sind relativ, denn sie sind aufeinander bezogen und ineinander enthalten. Eine Sache ist immer Yin oder Yang in Bezug auf eine andere, und deshalb geht es im Grunde bei diesem Konzept um die Beziehung zwischen diesen beiden Kräften. Sie sind immer entweder im Gleichgewicht oder im Ungleichgewicht. Das gilt sowohl für unseren Körper als auch für unser Denken und unsere Gefühle, es gilt für unser Umfeld und eigentlich für das ganze Universum. Die Yang-Seite unserer Natur – im Innen wie im Außen – ist meistens wählend und aktiv, näher an der Oberfläche, sie liebt die Wärme und das Licht, ist saftig wie geballte Muskelkraft, strebt nach Veränderung und ist hauptsächlich mehr mit den im allgemeinen Sprachgebrauch als „männlich“ bezeichneten Qualitäten verknüpft. Unsere Yin-Seite hingegen ist weniger aktiv, näher am Wesenskern, trocken und kühl, empfänglich und mehr der Erde zugewandt; sie empfängt das Leben und ist mehr im Frieden mit den Dingen, so, wie sie sind, hat also eher – traditionell zugeordnet – weibliche Qualitäten. Auf unseren Körper bezogen sind z. B. die Muskulatur und die Haut Yang, während die Knochen und das tiefer liegende Bindegewebe, die Faszien, dem Yin entsprechen. Weil diese Gewebeschicht fester und stabiler ist, braucht sie auch einen längeren Dehnungsimpuls, damit sie sich verändern kann.
Yin und Yang können nur existieren, weil es sowohl das eine als auch das andere gibt, sie bedingen einander und können nicht ohneeinander sein. Sie erschaffen einander im Wechsel, so wie auch wir uns im Zustand dieser Polaritäten täglich neu erschaffen: Wir sind müde oder munter, traurig oder froh, aufgeregt oder gelangweilt. In unserer Zeit ist das Leben oft zielgerichtet und manchmal auch sehr schnell. Gerade deshalb ist Yin Yoga jetzt das richtige Mittel zur rechten Zeit. Ganz oft wollen wir etwas erreichen, z. B. dass wir eine bestimmte Yogahaltung einnehmen können, die uns schwerfällt. Dann macht es Sinn, dass wir die Yang-Qualität unserer Zielgerichtetheit verwenden und z. B. bestimmte Muskelgruppen aufbauen, damit wir leichter im Kopfstand stehen können oder um den Skorpion zu üben. Dagegen ist auch überhaupt nichts einzuwenden. Nur ist es eben genauso wichtig, dass wir uns hin und wieder eine Auszeit kreieren, in der wir ganz ohne Zielgerichtetheit regenerieren dürfen, indem wir uns in den jeweiligen Istzustand unseres Wesens hinein entspannen (Yin), mit all der Achtung und Wertschätzung, die wir uns selbst entgegenbringen können.
In Yin und Yang spiegeln sich die Polaritäten von Mann und Frau, von Licht und Schatten, von Sonne und Mond, von Zielgerichtetheit und losgelöster Empfänglichkeit. Keine dieser Polaritäten kann ohne die andere existieren, sie sind zwei Seiten der gleichen Medaille – denn auf jeden Tag folgt die Nacht, die Sonne des Frühlings schmilzt den Schnee des Winters, und ohne die Vereinigung von Mann und Frau stürbe die Menschheit aus. Die Dinge sind aufeinander bezogen und sie verändern sich, und wenn es uns gelingt, das auch nur ansatzweise zu begreifen, sind wir meistens schon ein gutes Stück tiefer in unserem Wesenskern verankert.
Im Yin Yoga kreieren wir uns einen Raum, in dem wir uns selber näherkommen, und dadurch klärt sich unser Bewusstsein. Die Haltungen wirken sehr tief nach innen – sowohl auf körperlicher als auch auf energetischer Ebene. Dahinter steht das Konzept einer mystischen Energie, die Leben erzeugt, erhält und wieder aufnimmt – das Prana der Inder, das Chi der Chinesen. Auch der westlichen Wissenschaft des 20. Jahrhunderts ist der Gedanke nicht fremd, dass aller Materie Energie zugrunde liegt.
Das Konzept der Lebensenergie Chi liegt im tiefsten Zentrum der taoistischen Weltsicht. Chi wird oft mit „Lebensenergie“ übersetzt, aber sie ist so viel mehr als das: sie ist die Bewegung, die Welle, die die Materie und Energie verursacht und beidem zugrunde liegt. Ein anderes Wort dafür, das auch im Yoga verwendet wird, ist Prana, im westlichen Kontext hört man manchmal vom „Lebenshauch“, vom „Atem des Lebens“. Gemeint ist die lebendige Energie des Universums, die Wechsel und Bewegung verursacht – unsichtbar und noch (?) nicht messbar, kann sie durchaus materiell sichtbare Formen hervorbringen, z. B. wenn ein Baby auf die Welt kommt.
In der taoistischen Kosmologie hat das Chi seinen Ursprung in der Mystik des Tao (Dao). Es lässt sich schwer mit Worten beschreiben oder mit dem Verstand erfassen, aber manchmal haben wir ein vages Gefühl, eine ungefähre Ahnung davon in unserem Herzen. Das Tao ist die Präsenz hinter der Vergänglichkeit unserer guten und schlechten Gefühle, die Präsenz hinter allem, was existiert. Das Tao bringt das Chi hervor, aus dem alle anderen Dinge entstehen. Das Tao ist nicht getrennt vom Chi oder den manifestierten Dingen – zu denen auch wir gehören –, es beinhaltet sie in manifestierter oder/und auch nicht-manifestierter Form. Chi ist die manifestierte Energie des Tao, die sich in der Natur und in unserem Körper ausdrückt.
Die chinesische Medizin gründet in der Beobachtung der Natur und dem Wechsel der Jahreszeiten. Diesem rhythmischen Wechsel werden fünf Elemente zugeordnet, die sich im menschlichen Körper widerspiegeln und deren harmonisches Zusammenspiel wesentlich ist für unser subjektives Wohlbefinden. Sie werden über energetische Leitbahnen (Meridiane) mit Energie versorgt, denen jeweils ein Organpaar (Yin und Yang) zugeordnet ist. Jedes dieser beiden Organe hat eine ähnliche Funktion, sie sind also salopp gesagt miteinander „verheiratet“. Wenn eines dieser Organpaare und somit das dazugehörige Element aus seinem natürlichen Rhythmus fällt, zieht das ein Ungleichgewicht der anderen Elemente nach sich.
Die chinesische Medizin ordnet den Organen die gleiche Lage und Funktion zu wie die westliche Medizin. Gleichzeitig wird den Organen jedoch ein ganzes Spektrum an weiteren Eigenschaften und Entsprechungen zugeordnet – Jahreszeiten, Klima, Geschmacksrichtungen und vieles mehr. Für ein besseres Verständnis finden Sie am Ende dieses Abschnitts eine Tabelle, in der die entsprechenden Qualitäten sowie die Meridianverläufe aufgelistet sind. Am Ende des Buches gibt es außerdem Skizzen, die die Meridiane zeigen, damit deren Verläufe für Sie noch deutlicher werden.
In der chinesischen Medizin werden den verschiedenen Organsystemen und deren Leitbahnen auch emotionale Qualitäten (siehe Tabelle) zugeordnet, die sowohl auf der positiven oder negativen Seite der Gefühlsskala angesiedelt sein können. Im Grunde bewertet die chinesische Medizin diese Gefühle nicht als gut oder schlecht, sondern betrachtet sie einfach als einen Ausdruck von Energie. Wenn der Energiefluss in einem dieser Systeme im Ungleichgewicht ist oder stagniert, können Symptome körperlicher oder seelischer Natur auftreten, die wir als unangenehm empfinden. Yin Yoga ist ein Weg, wie wir diese Energie wieder ins Fließen bringen können.
Auf der körperlichen Ebene betritt das Chi den Körper auf dreierlei Art: