Guido M. Breuer

Alte Narben

Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

All die alten Kameraden

Altes Eisen

Alte Narben

Guido M. Breuer wurde 1967 in Düren geboren. Er wuchs in Düren und in der Nordeifel auf. Nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann arbeitet er heute als selbstständiger Unternehmensberater und Autor und lebt mit seiner Familie in Kreuzau in der Eifel.

Guido M. Breuer

Alte Narben

Originalausgabe

Vorwort

»Es war ihr Dorf, sie waren Deutsche, so klug und so dumm wie ihre Nachbarn, sprachen deren Platt, fühlten sich nicht endlich, sondern längst zu Hause, hatten Verwandte in den Nachbardörfern, spielten Karten mit den Dorfbewohnern, turnten mit ihnen und spielten Fußball, nahmen an Kriegen teil, wurden verwundet, fielen, hatten ihre Vorurteile, ihre Urteile.«

Heinrich Böll, »Die Juden von Drove«, in Bd. 22 des Gesamtwerkes,
Köln 1984, Kiepenheuer & Witsch

1. Kapitel

Was für ein wunderschöner Tag!«

Bärbel Müllenmeister blinzelte in die Morgensonne, die warm in den Frühstückspavillon der Seniorenresidenz Burgblick schien und ihr Haar kupfergolden aufleuchten ließ. So kam es jedenfalls Lorenz Bertold vor, der wie Bärbel am Buffet stand und auf frisches Rührei wartete.

»Ja«, maulte er leise. »Und Kommissar Wollbrand hätte den Tag auch wunderschön gefunden, wenn er sich nicht für sein bisschen Frühstück die Beine in den Bauch hätte stehen müssen.«

»Ach komm, alter Brummbär«, kommentierte Gustav Brenner, der sich, von seinem Freund unbemerkt, dicht hinter Lorenz geschoben hatte. »Gib doch einmal zu, dass es dir gut geht.«

»Niemals«, erwiderte Lorenz. »Ich definiere ›gut gehen‹ nicht als das vorübergehende Fehlen von Schmerz.«

»Sie erwarten offenbar sehr viel vom Leben, mein Lieber«, bemerkte ein Mann, der gerade den Raum betreten hatte und sich in die Reihe der Wartenden eingliederte.

Lorenz musterte den Neuankömmling über den Rand seiner Brille hinweg. »Sieh da, ein Frischling«, meinte er und grinste.

Der Mann ließ die Andeutung eines Lächelns auf seinem von unzähligen winzigen Runzeln bedeckten Gesicht sehen. »Ei, so hat man mich seit mindestens achtzig Jahren nicht genannt.« Er machte einen Schritt auf Lorenz zu und reichte ihm die Hand. »Kratz mein Name. Jakob Kratz.«

Lorenz erwiderte den Händedruck und wunderte sich über die Energie, die von dem Griff des Greises ausging. »Angenehm. Lorenz Bertold.« Er wies auf Bärbel und Gustav. »Bevor dieser schräge alte Vogel Ihnen die Hand zum Gruß reicht, möchte ich Ihnen Bärbel Müllenmeister vorstellen.«

»Herzlich willkommen«, sagte Bärbel und strahlte Jakob Kratz an.

»Vielen Dank«, erwiderte dieser. Nachdem er Bärbel und auch Gustav die Hand gegeben hatte, fuhr er fort: »Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, gleich an meinem ersten Morgen in diesem Haus auf so freundliche und offene Menschen zu stoßen.« Er zwinkerte Lorenz zu. »Sie sehen, meine Erwartungen an das Leben im Allgemeinen und an die Menschen im Speziellen sind längst nicht so hoch wie die Ihren.«

»Woher kommen Sie, Herr Kratz?«, fragte Bärbel.

Gustav setzte grinsend hinzu: »Unsere Frau Professor will damit andeuten, dass Sie aufgrund Ihrer gewählten Ausdrucksweise kaum aus der Gegend stammen können.«

Bärbel setzte gerade zu einem entschiedenen Dementi an, als ein weiterer Mann, auf eine Gehhilfe gestützt, am Buffet erschien und nach kurzem Blick auf die Theke in Richtung Küche rief: »Gibt’s mal wieder Stau? Ist ja auch überraschend, dass hier am Morgen jemand frühstücken will!« Der Mann verlagerte demonstrativ sein Gewicht am Griff des Rollators von einer Hand auf die andere, um anzudeuten, wie sehr ihn das Warten anstrengte.

Bärbel ignorierte den Unmut, welcher aus der ganzen Körperhaltung des Mannes sprach, und meinte: »Kommen Sie vor, Herr Floto. Sie erhalten die erste Portion. Dann können Sie sich schnell hinsetzen.« Bärbel wies auf die Küchenangestellte, die mit einer Schüssel voll dampfendem Rührei an das Buffet trat. Floto grunzte etwas Unverständliches und setzte seinen Rollator in Bewegung. Plötzlich trat Jakob Kratz vor und hielt Floto auf, indem er einen ausgestreckten Zeigefinger auf dessen Brust setzte. »Halt«, sagte er mit einer kalten, schneidenden Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Für diesen da braucht niemand zurückzustehen!«

Der alte Floto musterte angewidert den Finger an seiner Brust. Dann hob er seinen Blick und sah Jakob Kratz ins Gesicht. Er öffnete seinen Mund zu einer trotzigen Entgegnung, doch dann wurde er plötzlich blass und schwieg. Nach einem Moment, der allen Anwesenden sehr lang vorkam, wandte sich Floto mit steinerner Miene ab. Er bugsierte den Rollator mühsam in Richtung des Ausganges und stakste langsam und wackelig davon. Lorenz schaute dem Alten hinterher, dann flüsterte er leise: »Kommissar Wollbrand fragte sich, was diesen alten Grantler so schnell hatte vertreiben können.«

Gustav kommentierte: »Dem Mann hat es wohl gründlich den Appetit verhagelt.«

Jakob Kratz meinte tonlos: »Mir auch.« Damit verließ auch er den Saal. Zurück blieben drei einigermaßen ratlose Senioren. Die Hausangestellte stellte das Rührei auf der Theke ab und beeilte sich, wortlos wieder in der Küche zu verschwinden.

»Was war denn das?«, fragte Bärbel, als sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte. »Dieser Herr Kratz schien doch so freundlich zu sein?«

Lorenz brummte: »Offenbar ist er aber sehr wählerisch bei der Verteilung seiner Freundlichkeit.«

Gustav grinste. »Dann frage ich mich aber, wieso er bei dir so nett war.«

»Ach Gustav.« Bärbel konnte dem Erlebten keinen Scherz abgewinnen. »Im Ernst, das hat mir Angst gemacht. Was haben die beiden denn? Herr Kratz ist doch erst ganz frisch hier, und schon fängt er Streit an.«

»Aber dieser Floto ist auch keiner, mit dem man knuddeln möchte«, versetzte Gustav.

»Wie dem auch sei«, meinte Lorenz. »Jetzt habe ich zu lange auf das Ei gewartet, um es kalt werden zu lassen.«

2. Kapitel

Wenig später saßen die drei im Garten der Seniorenresidenz. Die Julisonne meinte es gut mit ihnen. Obschon es noch vor neun Uhr am Morgen war, konnten sie es sich bereits ohne Jacke auf einer Holzbank gemütlich machen.

»Aah«, meinte Gustav und räkelte sich. »Wie schade, dass ich nicht mehr rauche. Jetzt eine gute Zigarre, das wär doch was.«

»Igitt.« Bärbel schüttelte sich. »Zigarren sind doch fies. Ich wusste gar nicht, dass du Raucher warst. Was wissen wir sonst noch alles nicht von dir?«

»Vermutlich mehr, als ich euch erzählen könnte«, grinste Gustav. Er fügte hinzu: »Warum soll es euch da besser gehen als mir? Aber eins kann ich euch sagen: Eine gute kubanische Zigarre, mit Liebe gerollt, in einer feucht-warmen Nacht geraucht, das ist Leben!«

»Oho, da komm ich wohl gerade richtig!« Benny Bethge ließ sich mit Schwung auf die Bank fallen. »Onkel Gustav erzählt von feucht-warmen Genüssen.« Der junge Pfleger lachte, dass es durch den Garten schallte und eine Elster verschreckt und ärgerlich krächzend davonflog.

Gustav entgegnete nichts, sondern lächelte nur still vor sich hin.

Lorenz stieß Benny mit seinem Gehstock an und meinte: »Hat unser Flegel Ausgang? Was machst du hier draußen?«

Benny grinste: »Arbeit, Opa Bertold. Harte Arbeit sogar, denn ich habe den Auftrag, euch zum Fitnessprogramm abzuholen.«

Lorenz murmelte missmutig: »Der alte Ermittler hatte gleich geahnt, dass das Auftauchen des jungen Bengels nichts Gutes zu bedeuten hatte. Wieder einmal wurde sein Gespür bestätigt – leider.«

»Ach komm, mein Lieber«, meinte Bärbel. »Du hast versprochen, heute mitzumachen.«

Lorenz schüttelte sich unwillig. »Wann soll ich denn das gesagt haben? Ich bin ein alter Mann, kann mich nicht erinnern, plädiere auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit.«

»Das mag schon zutreffen«, sagte Gustav. »Aber ehrlich, ich möchte mir dieses Schauspiel eigentlich auch nicht entgehen lassen, selbst wenn es bedeutet, dass ich mitmachen muss.«

»Das ist ein Wort«, stimmte Benny zu. »Besser hätte ich es nicht sagen können.«

»Aber wollt ihr euch denn nicht lieber mit dem spannenden Disput beschäftigen, den wir eben erleben durften?«, ereiferte sich Lorenz. »Da steckt doch ein Geheimnis dahinter, und wir machen Ringelpiez mit Anfassen, anstatt dem nachzugehen?«

»Ach.« Benny wurde hellhörig. »Was habt ihr denn jetzt schon wieder ausgebuddelt?«

»Noch nichts«, erklärte Gustav. »Aber unser Kommissar Wollbrand ist sicherlich wieder einmal der Meinung, einem kriminellen Geschehen auf der Spur zu sein.«

»Kriminell oder nicht, jedenfalls ist es spannender als Gymnastik«, verteidigte Lorenz sich und Kommissar Wollbrand.

»Ja, was war denn nun?«, fragte der junge Pfleger weiter.

Bärbel antwortete: »Wir waren eben Zeugen eines seltsamen Streits. Ein Neuankömmling, Herr Kratz, hat sich mit Herrn Floto angelegt. Und es ist völlig unklar, warum.«

Lorenz ergänzte: »Aber offensichtlich sind sich die beiden alten Knaben spinnefeind.«

Benny meinte: »Das spricht für den Neuen. Ich mag, ehrlich gesagt, den Floto auch nicht. Der hat so was Herrisches.«

Bärbel erhob sich von der Bank. »Aber der Streit der beiden geht uns im Grunde ja auch gar nichts an. Wohl aber unsere Gesundheit, und die erfordert jetzt etwas Bewegung im Kreise Gleichgesinnter.«

»Ach, dann kann ich ja spazieren gehen«, grummelte Lorenz, wohl wissend, dass ihm dies nicht gelingen würde.

Gustav stand ebenfalls auf. »Nee, mein Junge. Da kommst du nicht mehr raus. Jetzt wird Programm gemacht. Nimm es als taktisches Zugeständnis. Ein kleines Übel wird hingenommen, dafür können wir beim Bingo heute Abend fehlen.«

Lorenz folgte seinen Freunden kopfschüttelnd und überließ es Kommissar Wollbrand, seinen Missmut in einem unhörbaren Fluch zum Ausdruck zu bringen. Mit etwas Wehmut warf er noch einen Blick auf den sonnigen Park, dann traten sie ins Gebäude der Seniorenresidenz und gingen in den Gemeinschaftsraum, in dem sich bereits viele Mitbewohner versammelt hatten. Die Heimleiterin Sibylle Klinkenberg lächelte gütig und begrüßte die Ankömmlinge. »Wunderbar, dass Sie auch noch dazustoßen. Dann sind wir glaube ich vollständig versammelt und begrüßen unseren Gast, Frau Berretz vom Verband Seniorentanz e.V.« Sie klatschte heftig Beifall und animierte die anderen, es ihr gleichzutun. Die so Begrüßte ergriff dann auch das Wort. Lorenz bemühte sich, nicht zuzuhören. Dennoch begriff er, dass es um eine gemeinsame Tanzveranstaltung ging, bei der man sowohl im Stehen als auch im Sitzen teilnehmen konnte. Rasch nahm er auf einem Stuhl Platz.

Sibylle Klinkenberg kam auf ihn zu. »Aber Herr Bertold, Sie sind doch wunderbar zu Fuß. Die Stühle sind für unsere gehbehinderten Mitbewohner gedacht.«

»Mein Bein tut heute arg weh«, antwortete Lorenz und klopfte dann wie ein Zeremonienmeister laut mit dem Gehstock auf den Boden. »Lasst die Spiele beginnen!«

Die Klinkenberg seufzte. »Ach, Herr Bertold, Sie wollen doch, dass ich Sie ernst nehme. Dann geben Sie mir doch bitte die Gelegenheit dazu.«

Die Tanzgruppenleiterin kam lächelnd auf die beiden zu. »Das ist schon in Ordnung«, meinte sie beschwichtigend. »Das Tanzen im Sitzen ist eine wunderbare Sache, und wenn es so für Sie angenehmer ist, dann ist das doch schön.« Dann wandte sie sich an die anderen. »Ich denke, wir beginnen erst einmal mit etwas Musik ganz nach Wunsch, so zum Warmwerden. Was mögen Sie gerne?«

»Eine Rumba, wenn’s geht!«, rief Gustav übermütig aus. »Das weckt den Latino in mir!«

Bärbel lachte hell auf. »Du alberner Kerl!«

Doch nur wenige Augenblicke später hatte die Übungsleiterin bereits eine passende Musikkonserve gefunden, und die gewünschte Rumba begann. Während den herumstehenden und -sitzenden Senioren noch Anweisungen und Hilfestellungen gegeben wurden, begannen Gustav und Bärbel die ersten Schritte. Lorenz betrachtete das Tun der beiden mit Argwohn und kommentierte: »Der alte Kommissar konnte dem feurig tuenden Gockel kaum zusehen.« Als er dann aufgefordert wurde, sich im Rhythmus der Musik zu bewegen, hob er demonstrativ energiesparend abwechselnd mal die eine, mal die andere Hand einige Zentimeter in die Höhe.

Gustav führte Bärbel nah an Lorenz vorbei. Dabei raunte er ihm zu: »Na, was ist, kommst du nicht doch auf den Geschmack?«

Lorenz versetzte: »Geh weg, du tust ja nur so begeistert, um die Bärbel anfassen zu können.«

»Dummkopf«, kommentierte Bärbel, bevor Gustav sie in gekonntem Schwung in die Tiefe des Raumes entführte und Lorenz auf seinem Stuhl zurückließ. Der dachte kurz darüber nach, ob Bärbel ihn oder Gustav gemeint hatte.

Dann trat die Klinkenberg auf ihn zu und machte den Fehler, ihn nochmals anzusprechen. »Herr Bertold, wie wär’s mit ein bisschen mehr Elan? Machen Sie sich und uns die Freude.«

»Was mir und Ihnen Freude macht, sind zwei ganz verschiedene Dinge, die in diesem Leben nicht mehr zueinanderfinden.«

Die Heimleiterin seufzte. »Sie machen es mir wirklich nicht leicht.«

Lorenz antwortete nicht, sondern grinste sie nur stumm an. Dann hob er wieder abwechselnd mal die eine, mal die andere Hand im Takt der Rumba und murmelte dabei: »Eins zwei drei – vier fünf sechs. Eins zwei drei – vier fünf sechs.«

Kopfschüttelnd wandte sich die Klinkenberg von ihm ab. Lorenz registrierte dies mit einem Grinsen. Zufrieden lauschte er der Musik, die er durchaus als anregend empfand, und blickte in die Runde. Er wunderte sich, wie viele seiner Mitbewohner wie selbstverständlich die Rumba mit offensichtlich gut gelernten Schritten tanzten. Andere saßen auf Stühlen und ließen sich zeigen, wie sie sich auch auf diese Art zu der Musik bewegen konnten. Die Übungsleiterin ließ Lorenz wohlweislich in Ruhe. Bärbel und Gustav tanzten auffällig schwungvoll. Lorenz brummte ärgerlich. Von Bärbel hätte er nichts anderes erwartet, sie war ein paar Jahre jünger als er und sehr beweglich. Doch Gustav hätte er diese Agilität nicht zugetraut.

»Dem erfahrenen Ermittler war klar, dass der Alte alles gab, um mit der attraktiven Frau das Tanzbein schwingen zu können.«

Argwöhnisch beobachtete er jede Bewegung Gustavs. Der führte Bärbel elegant durch den Raum, eine Hand immer locker, aber bestimmt an ihrer Hüfte. Oder war es doch eher der Po? Dass der alte Charmeur sich das herausnahm! Lorenz war erleichtert, als die Rumba endete und die Übungsleiterin begann, den Anwesenden zu erklären, was sie mit ihnen nun vorhatte. Bärbel und Gustav traten zu Lorenz. Bärbels Wangen waren leicht gerötet. »Hui, das war aber schön. Willst du nicht doch mitmachen?«

Lorenz antwortete nicht. Stattdessen meinte Gustav: »Barbarella und Gustavo hatten ihren Tanz. Jetzt bist du dran, alter Faulpelz.«

Lorenz stand auf. »Ich bin überzeugter Nichttänzer. Das wird sich ganz sicher auch nicht mehr ändern. Erst recht nicht sonntagmorgens um halb zehn.«

Bärbel stupste ihn kameradschaftlich an. »Ach komm, sei kein Spielverderber. Tu doch ein bisschen mit.«

»Ein bisschen habe ich schon mitgetan. Jetzt reicht’s mir.« Lorenz ergriff seinen Stock und verließ den Raum. Bärbel wusste nicht, ob sie ihm folgen sollte.

Gustav meinte: »Lass den Brummbär gehen. Wenn er nicht mitmachen will, soll er jetzt ruhig mal mit sich allein sein.«

»Ich weiß nicht. Der dumme Kerl bildet sich das vielleicht ein, aber in Wirklichkeit würde er gerne mitmachen, wenn er nur über seinen Schatten springen könnte. Wer ist schon gern allein, wenn andere zusammen Spaß haben?«

Bärbel schaute etwas unglücklich drein. Gustav legte ihr einen Arm um die Schulter und versuchte sie zu trösten: »Ganz allein ist er nicht. Er hat ja Kommissar Wollbrand.«

3. Kapitel

Die noch nicht sehr hoch über dem Horizont stehende Sonne schien durch eine Lücke in der Häuserreihe. Ein schmaler Streifen warmen Lichts drang in die Gasse. Lorenz setzte langsam einen Fuß vor den anderen, dem holprigen Kopfsteinpflaster misstrauend. Der steile Weg, der zur Burg hinaufführte, lag schattig und kühl vor ihm. So genoss er es vorerst, in den von der Morgensonne erhellten Korridor zu treten und dort einen Augenblick zu verharren. Lorenz spürte die Wärme in seinem Gesicht, wenig später dann, als die Strahlen sein Hemd durchdrungen hatten, auch auf der Brust. Er blieb eine Weile so stehen, mit geschlossenen Augen die Sonne genießend.

Irgendwann hatte Lorenz den Eindruck, genug Energie für den Anstieg zur Burg aufgenommen zu haben. Langsam schritt er voran. Hin und wieder wurde er von schneller gehenden Passanten überholt. Er erinnerte sich, dass es Sonntag war und man vermutlich zur Kirche ging. Tatsächlich betraten die meisten derjenigen, die denselben Weg wie Lorenz nahmen, das Gotteshaus, das der Burg vorgelagert auf dem Hügel lag. Er betrachtete den romanischen Bau, dessen rötliche Front immer noch vereinzelte Spuren eines wilden Schusswechsels aufwies, den er im letzten Jahr miterleben konnte.

Lorenz grinste, als er sich an diesen denkwürdigen Tag erinnerte, an dem er beinahe in den Besitz der heiligen Lanze gekommen wäre.

Einen Moment drängte es ihn, die Kirche zu betreten. Doch dann dachte er an die Kühle, die ihn in der steinernen Halle empfangen würde, und setzte seinen Weg über den Burghügel fort, der nun ganz von der Morgensonne beschienen wurde.

Kurz vor dem eigentlichen Burggelände bog er nach rechts ab, wo ein kleiner Pfad in den Wald führte. Lorenz wusste, dass dieser Weg ihn zum Felsenrundgang führte. Vom Kopf des Burgfelsens würde er einen weiten Blick ins Rurtal haben. Der erdige Pfad war uneben. Lorenz passte auf, dass er nicht über einen Stein oder eine aus dem Boden ragende Wurzel stolperte. Bedächtig spazierte er an einer vielleicht achthundert Jahre alten Steinmauer entlang. Sie endete vor einer Baumgruppe, deren ineinander verschlungene Stämme wirkten wie von mächtigen Reptilien gewürgte Körper. Lorenz dachte an Bärbel, die darin vermutlich ein bekanntes Kunstwerk erkennen würde. Er nahm sich vor, ihr diese Stelle bald einmal zu zeigen. Vorsichtig ging er weiter. Erst als er am Felskopf angelangt war, wo ein Geländer den Pfad rechter Hand zum Abgrund hin schützte, wurde der Weg einfacher. Tief unten im Tal wand sich der Fluss, das dunkle Laub der bewaldeten Hügel vom Hellgrün der Wiesen trennend. Lorenz schaute auf Hetzingen mit seinen Campingplätzen, den Schüdderfelder Hof und auf die Orte Brück und Zerkall hinunter. Auf der gegenüberliegenden Höhe lagen Schmidt und Bergstein. Er strengte seine Augen an, um den Aussichtsturm auf dem alten Berensteiner Burghügel zu erkennen. Jedoch schien dieser Punkt zu weit für ihn entfernt zu sein, um Genaues erkennen zu können. Vermutlich war die Luft am Morgen noch zu diesig für einen klaren Blick, dachte er.

Zwischen den Bäumen ragten Mauerreste in den Steilhang hinein. Lorenz erinnerte sich, dass sie als Kinder bäuchlings über das in der Breite nur einen Backstein messende Bauwerk gerobbt waren, bis man am Ende nur noch Luft unter der Nase hatte und erschauernd in die Tiefe blickte. Mit ungläubigem Staunen betrachtete er die Mauer, die direkt bis zum Felssturz reichte und alles andere als stabil wirkte. Vielleicht waren die Steine damals noch fester gefügt oder er und die anderen Jungs waren einfach verrückt und unvorsichtig genug gewesen.

Lorenz ließ seinen Blick weiterschweifen, über die abschüssige Mauer hinweg auf die andere Seite des Taleinschnitts, wo bei Rath die Felsen von Kickley und Christinenley den Höhenzug säumten.

Das helle Klimpern von metallenen Karabinern und laute Rufe zeigten Lorenz an, dass Kletterer in der senkrechten Wand des Burgfelsens unterwegs waren. Es kam ihm der Gedanke, ob das Klettern in diesem Bereich überhaupt erlaubt war. Dann schüttelte er über sich selbst den Kopf und schalt sich einen alten verknöcherten Beamten. Vielleicht war viel wichtiger als die Genehmigung, dass sich die jungen Leute da unten zutrauten, diesen Felsen erklettern zu können. Lorenz hatte dies nie versucht. Seit seiner Kindheit hatte er immer wieder Menschen beobachtet, die ihre Geschicklichkeit und Kraft an dem schwierigen Eifeler Sandstein erprobten. Auch sein Pfleger Benny tat dies regelmäßig. Er fragte sich, warum er niemals ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, es selbst einmal zu versuchen. Plötzlich war ein Bild vor seinem inneren Auge, so klar und deutlich, als wäre er fünfzig Jahre zurück in die Vergangenheit geworfen worden. Maria, noch sehr jung, vor einer Gruppe verwegen aussehender Männer, die sich mit Seil, Haken und Karabinern bewaffnet an die Ersteigung eines Felsenturmes machten. Das war im Effels gewesen, gar nicht weit vom Burgfelsen entfernt. Maria hatte gemeint, das wäre genau das Richtige für sie, man müsste es zumindest einmal ausprobieren. Lorenz hatte gelacht und sie nicht ernst genommen. Sie waren dann weitergegangen. Noch lange konnte man beim Spazierengehen das Klingen der an Fels schlagenden Karabiner hören. Über das Klettern hatten sie nie wieder gesprochen, soweit er sich erinnern konnte.

Lorenz folgte dem Weg, der sich an den Felsköpfen entlangschlängelte. Auch jetzt verfolgten ihn die Geräusche der Kletterer weiter. Plötzlich war Bärbel in seinem Kopf. Bärbel, die lebensfrohe, beinahe jugendlich wirkende Künstlerin. Bärbel, die hochgebildete Professorin. Bis heute war es ihm noch nie aufgefallen, dass sie trotz der völlig unterschiedlichen Lebenswege seiner Maria doch sehr ähnlich war. Beide waren auf ihre Art bescheiden, lebten scheinbar in ganz ähnlichem Milieu wie Lorenz selbst und waren dennoch viel wagemutiger und experimentierfreudiger als er. Daran konnten auch Kommissar Wollbrand und seine kriminellen Abenteuer der letzten Zeit nichts ändern. Er konnte sich heute seine Maria gut vorstellen bei dem Versuch, mit Seil und Haken in eine Felswand einzusteigen. So wie Bärbel einfach eine Rumba aufs Parkett legte, ohne daran zu denken, was die anderen tun oder sagen. Und er hätte mit ihr tanzen können, wenn er es nur gewollt hätte. Stattdessen hatte er Gustav das Feld überlassen. Gustav Brenner, der Geheimnisvolle. Gustavo, der feurige Tänzer. Gustav, der gebildete, weit gereiste, welterfahrene und undurchsichtige Freund. Sicher war er ein passenderer Partner für Bärbel als er, Lorenz, der pensionierte Beamte, der selten aus seiner Heimat herausgekommen war und nichts zu bieten hatte außer einigen Kenntnissen der Heimatgeschichte und einem Hang zur Kriminalistik. Der alt gewordene Lorenz, der nie mit Maria das Klettern versucht hatte. Vermutlich, und darüber hatte er noch nie ernsthaft nachgedacht, war es ein unverdientes Glück gewesen, dass Maria ihn geheiratet hatte und zweiundfünfzig Jahre bei ihm blieb, bis alle ihre Lebenskraft aufgebraucht war und der Krebs sie ihm weggenommen hatte.

Lorenz beschleunigte seinen Schritt. Zu der nach Westen gewandten Seite des Burgbergs reichten die wohltuenden Strahlen der Sonne zu dieser Tageszeit nicht. Die Luft war im Schatten immer noch recht kühl. So versuchte er sich durch schnelleres Gehen zu erwärmen. Vor ihm glänzte silbrig das Gipfelkreuz des Hager Turms.

»Rumba!« Lorenz schnaufte verächtlich und rammte seinen Gehstock vehement in den steinigen Grund. Er bog schwungvoll um einen Vorsprung, der aus der Felswand ragte und den Pfad zu einer scharfen Biegung zwang. Unversehens prallte er mit einem Mann zusammen, der gerade seinen Blick weit ins Tal hatte schweifen lassen und so auf den sich flott nähernden Gegenverkehr nicht gefasst gewesen war. Beide Spaziergänger verloren das Gleichgewicht.

»Verzeihung«, sagte der Mann, als er, auf dem Boden kniend, die erste Überraschung ob des plötzlichen Sturzes überwunden hatte.

»Ach was«, brummte Lorenz, der sich nach dem unkontrollierten Aufprall ebenfalls auf dem Boden wiederfand, zurück. »Ich hab nicht aufgepasst, meine Schuld.«

Dann bemühte er sich, wieder auf die Beine zu kommen. Der andere war bereits wieder aufgestanden und reichte Lorenz beide Hände zur Hilfe. Der nahm den starken Griff gerne an und sah, als er wieder aufrecht stand, in die Augen eines Mannes, der bestimmt um einiges älter war als er selbst.

»Ich danke Ihnen, Herr Kratz«, sagte er dann.

»Sie kennen mich?«, fragte Kratz verwundert zurück.

»Wir haben uns heute früh im Speisesaal der Seniorenresidenz kennengelernt. Das Treffen war recht kurz und von einem seltsamen Streit überschattet.«

»Ja, der Floto.« Kratz sah Lorenz freundlich und ruhig in die Augen. »Stimmt, ich erinnere mich natürlich. Wir sprachen kurz.« Dann reichte er Lorenz nochmals die Hand. »Jakob Kratz.«

Beinahe wäre Kommissar Wollbrand ein bissiger Kommentar darüber entfleucht, dass die nochmalige namentliche Vorstellung unnötig war, doch stattdessen antwortete Lorenz: »Angenehm, Lorenz Bertold.«

Er schüttelte die ihm dargebotene Hand und wunderte sich erneut über den festen Griff des Alten. Dann meinte er: »Sie scheinen ebenfalls vor dem Animationsprogramm Reißaus genommen zu haben. Das Wichtigste haben Sie also als Neuankömmling schon gelernt.«

Kratz lächelte still vor sich hin, entgegnete darauf jedoch nichts.

»Sagen Sie«, fuhr Lorenz fort. »Dafür, dass Sie hier neu sind, scheinen Sie sich aber hier sehr gut auszukennen. Diesen Weg findet nicht jeder so schnell.«

Kratz lächelte immer noch. »Ich bin hier geboren. Das mit dem Neuankömmling stimmt also nicht so ganz. Andererseits ...« Er brach den Satz ab, und das Lächeln verschwand aus seinem runzligen Gesicht. Lorenz wartete ab, ob der Alte den Gesprächsfaden wiederaufnehmen würde. Das tat dieser jedoch nicht. Stattdessen wandte er sich zum Gehen. »Verzeihen Sie«, sagte er dann. »Ich möchte meinen Spaziergang jetzt gerne fortsetzen.« Er nickte Lorenz noch einmal kurz zu und ging rasch davon.

Lorenz sah Kratz verwundert nach, bis dieser um die nächste Wegbiegung verschwunden war. Dann murmelte er: »Kommissar Wollbrand wusste nicht, was er von diesem komischen Kauz zu halten hatte, aber er war erfahren genug, um zu spüren, dass mit diesem Alten etwas nicht stimmte.«

Lorenz klopfte sich den Schmutz aus seiner Kleidung, nahm den Stock auf und setzte seinen Weg ebenfalls fort.

4. Kapitel

So schlecht ist dieser Kaffee nun auch wieder nicht, Gustav.« Benny grinste den Alten an. »Klar ist dein edles Gebräu ’ne andere Nummer, aber dafür sitzen wir hier in der Sonne und lassen uns bedienen.«

Die Hausangestellte, die gerade den Kaffee serviert hatte, sah den jungen Pfleger grimmig an. Benny setzte sein Grinsen daraufhin auch in Richtung seiner Kollegin fort.

»Ein weiser Knabe, der so schnell zufrieden«, entgegnete Gustav.

»Sag mal, Benny«, schaltete sich Bärbel ein. »Hast du eigentlich am Sonntagnachmittag nichts Besseres zu tun, als mit uns altem Eisen hier im Garten zu sitzen?«

»Nö«, antwortete Benny kurz.

Lorenz betrachtete argwöhnisch seine Tasse. »Hat das vielleicht damit zu tun, dass dich deine russische Schönheit verlassen hat?«

»Ach, Opa Bertold«, seufzte Benny und vergaß für einen Moment sein Grinsen. »War doch klar, dass das mit der Elena nicht lange halten würde. Ihre Familie war ein bisschen zu stressig.«

Lorenz trank einen Schluck und meinte: »Na ja, es ist schon so was mit der Familie.« Er kippte den Rest seines Kaffees in hohem Bogen auf den Rasen und stand auf. »Besonders bei mir.«

Dann ging er dem Mann entgegen, der langsam auf sie zu kam und im Gehen, noch mehrere Meter von Lorenz entfernt, die Hand unsicher ausstreckte und sagte: »Hallo Papa.«

Lorenz wartete, bis sein Sohn nah genug an ihn herangetreten war, um seine ausgestreckte Hand ergreifen zu können. »Tach, Junge.«

Bärbel, Gustav und Benny betrachteten den Gast neugierig. Sie warteten eine Zeit lang, wie sich Vater und Sohn nun verhalten würden – eine Zeit, die allen Anwesenden viel zu lange vorkam. Eine peinliche Stille breitete sich aus. Dann hielt es Bärbel nicht mehr aus. »Sie sind also Lorenz’ Sohn. Freut mich, Sie kennenzulernen. Bärbel Müllenmeister.«

Dankbar lächelnd schüttelte der Mann ihr die Hand. »Stephan Bertold. Freut mich auch.«

»Das ist mal eine Überraschung«, meinte Lorenz. »Bist du allein?«

»Nein«, antwortete sein Sohn und wies hinter sich. »Rita hat mich nur vorgeschickt, damit ich mich nicht hinter ihr verstecken kann.«

»Hätte ich mir auch nicht vorstellen können, dass du ohne Verstärkung hier aufkreuzt.«

»Opa, habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass du unmöglich bist?« Rita Bertold trat aus dem Schatten des Gebäudes und war mit einigen schnellen Schritten ihrer langen Beine bei Lorenz. Sie küsste ihn auf die Stirn.

»Mehrmals, mein Schatz«, antwortete Lorenz. »So oft, dass meine Freunde hier es auch schon wiederholen.«

»Hallo Frau Kommissarin«, grinste Benny. »Glauben Sie ihm nicht.«

»Dem kann ich nur beipflichten«, fügte Gustav hinzu. »Der alte Kauz hat gar keine Freunde.«

»Ach, jetzt seid ihr aber unmöglich!«, rief Bärbel aus. »Was soll denn Herr Bertold Junior denken.«

»Gar nichts, wie immer«, brummte Lorenz so leise, wie es sonst nur Kommissar Wollbrand tat.

Seine Enkeltochter tat so, als hätte sie nichts gehört. »Paul und Jessica kommen gleich nach, wenn sie einen Parkplatz gefunden haben. Gar nicht so einfach an einem Sonntag in Nideggen, wenn das Wetter so schön ist wie heute.«

»Ja«, bestätigte Lorenz und dachte dabei an die vielen Menschen, die ihm auf dem Rückweg von seinem Morgenspaziergang im Ort begegnet waren. »Heute wird der neue Bau am Zülpicher Tor befeiert, da und drumherum wird allerlei Spökes gemacht.«

»Stimmt!«, rief Bärbel aus. »Da wollten wir doch hingehen!«

»Vielleicht später«, meinte Lorenz.

»Aber wenn doch jetzt deine Familie hier ist, gehen wir vielleicht besser und lassen euch etwas in Ruhe«, schlug Gustav vor.

Lorenz wedelte mit seinem Stock vor Gustavs Nase herum. »Seid ihr des Teufels? Lasst mich ja nicht mit denen allein.«

Rita lachte. »So ist der Opa Bertold halt. Papa, willst du einen Kaffee? Hier braucht man nur einen Finger zu heben.«

»Ja, ein Kaffee wär gut«, meinte Stephan Bertold.

Benny sprang auf. »Ich kümmer mich drum.«

Lorenz setzte sich wieder auf seinen Gartenstuhl und wies seinen Sohn mit einem Wink seines Stockes an, ebenfalls Platz zu nehmen. Dann saßen sie schweigend da. Rita, Bärbel und Gustav hüteten sich, etwas zu sagen. Nach einer Weile kam Benny zurück, mit einer Kollegin im Schlepptau, die dem Besuch Kaffee servierte. Nach dem kurzzeitigen Klimpern des Porzellans kehrte wieder Stille ein.

Irgendwann sagte Lorenz: »Du bist grau geworden.«

Sein Sohn antwortete: »Genau wie du.«

»Stimmt.«

Man trank Kaffee, lauschte dem Zwitschern der Vögel, die in den hohen Bäumen saßen, und schwieg. Lorenz schaute über den Garten der Seniorenresidenz. Die Sonne schien warm, alles war hell und freundlich. Worüber sollte er mit Stephan reden? Über Gerda? Sicher nicht. Über das Wetter? Das war nicht seine Art, war es nie gewesen. Sollte der Junge doch anfangen. Lorenz lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Sein Blick fiel auf eine Bank, auf der Jakob Kratz saß. Offenbar wärmte sich der Alte in der Sonne. Oder wartete er auf jemanden? Lorenz wollte diesen Gedanken schon wieder verwerfen, als sich eine Person der Bank näherte. Es war eine Frau, noch recht jung, wie ihm schien. Sie setzte sich zu Kratz, und die beiden begannen ein angeregtes Gespräch. Lorenz hätte nur zu gerne gewusst, wer die Frau war und was die beiden zu besprechen hatten.

»Mein Junge, lass uns einen kleinen Spaziergang durch den Garten machen«, sagte Lorenz dann kurzentschlossen und stand auf. Stephan stellte überrascht seine Tasse ab und erhob sich ebenfalls. Lorenz schlenderte gemächlich davon, sein Sohn folgte ihm. Die anderen blieben zurück.

»Das ist doch schon mal ein Anfang«, meinte Rita erleichtert.

Gustav sah Lorenz nach, beobachtete, welchen Weg dieser einschlug, und wiegte bedächtig den Kopf hin und her. Bärbel folgte Gustavs Blick. Skeptisch verfolgte sie Lorenz’ Weg durch den Garten, der ihn wie zufällig zu der Bank führte, auf der Kratz mit seinem Besuch saß. Als Lorenz nur wenige Schritte neben Kratz stehen blieb und sich niederkniete, als müsse er seinen Schuh zubinden, schüttelte sie den Kopf. »Na, ich weiß nicht.«

»Was weißt du nicht, Tante Bärbel?«

Bärbel drehte sich um. »Hallo, meine Süße!«, rief sie und begrüßte das Mädchen, das an den Tisch getreten war.

»Hallo zusammen«, sagte Paul Gedeck, der mit seiner Tochter eingetroffen war. Während er allen Anwesenden seine riesige Hand reichte, suchte er Lorenz. »Klappt das mit den beiden?«

Rita wies dorthin, wo Lorenz gerade auf dem Boden kniete und sein Sohn neben ihm stand. »Kann man noch nicht sagen.«

»Und?«, fragte Benny. »Wie geht’s dem größten Kommissar der Aachener Kripo?« Paul schob seinen Zwei-Meter-Körper nah an Benny heran. »Ganz gut. Und was macht der verrückteste Altenpfleger Nideggens so? Übt er fleißig weiter mit seinen Stöckchen? Und immer noch mit der Russenmafia verlobt?«

Benny lachte. »Nee, das ist Geschichte. Die Kleine ist zwar heiß, aber das familiäre Umfeld eben auch.«

Paul erinnerte sich nur zu gut an das gemeinsame Abenteuer mit dem Vater von Bennys Liebschaft, dem Paten vom Rursee, bei dem sie alle ihr Leben riskiert hatten.

Dann setzte Benny hinzu: »Aber die Kunst des Kendo übe ich natürlich weiter, wenn du das mit dem ›Stöckchen‹ gemeint hast.«

Sie lachten, dann richteten sich ihre Blicke wieder auf Lorenz, der mittlerweile auch die Schnürsenkel seines zweiten Schuhs einer näheren Betrachtung unterzog. Angestrengt lauschte er dem Gespräch zwischen Jakob Kratz und der Besucherin. Die beiden sprachen sehr leise miteinander, beinahe flüsternd. Das regte Lorenz’ Neugierde erst recht an. Er grummelte: »Die Art und Weise, wie die beiden miteinander sprachen, erhärtete die Annahme des alten Ermittlers, dass hier etwas Geheimnisvolles im Gange war.«

Doch so sehr er sich konzentrierte, er konnte kein Wort verstehen. Nur einmal, als Kratz kurz etwas lauter wurde, vernahm er: »Damit kommen die Schweine nicht durch!«

Die Frau legte beruhigend ihre Hand auf den Arm des Alten, der daraufhin seine Stimme wieder senkte. Lorenz fand, dass er lange genug an seinen Schuhen herumgefummelt hatte. Er stand auf und setzte seinen Weg fort, direkt an der Bank vorbei. Kratz sah ihn und schwieg. Das Gespräch wurde erst fortgesetzt, als sich Lorenz und sein Sohn bereits wieder in einiger Entfernung befanden. Nun war Lorenz sicher, dass er eine interessante Spur aufgenommen hatte. Schweigend ging er weiter.

Stephan Bertold merkte, dass sein Vater keine Unterhaltung in Gang bringen würde. So begann er: »Wie geht es dir denn hier so?«

»Gut.«

»Schön, dass du hier Freunde gefunden hast. Nette Leute.«

»Sehr nette.«

Wieder entstand eine längere Pause. Sie hatten das Ende des Gartens erreicht, und Lorenz schlug einen Bogen, der sie zurückführte.

»Papa, wir müssen sprechen.«

»Worüber?«

»Über Gerda. Rita sagte mir, du gibst mir immer noch die Schuld an ihrem – an dem, was damals geschehen ist.«

»Die alte Petze.«

»Bitte, Papa.«

Lorenz schwieg. Stephan versuchte es weiter: »Soll das denn immer so weitergehen?«

»Kann ich nicht sagen«, antwortete Lorenz. »Es gab ein Verbrechen, welches hätte verhindert werden können. Aber weder warst du der Täter noch ich. Was können wir also tun?«

»Ich weiß es nicht, Papa.«

Sie setzten ihren Spaziergang schweigend fort, bis sie wieder an ihrem Tisch angelangt waren.

»Hallo, mein Engel!«, rief Lorenz aus, als er Jessica sah. Das Mädchen lief ihm entgegen und begrüßte den Alten. Lorenz tat so, als wolle er sie hochheben, dann ließ er es aber.

»Ach du liebes bisschen, sag mal, wie alt bist du jetzt?«

»Zehn«, antwortete Jessica.

»Das gibt’s doch nicht. Und schon so groß. Du wirst doch nicht etwa so riesig werden wollen wie dein Papa?«

»Nee«, meinte das Mädchen. »Höchstens so groß wie Rita.«

»Na, das reicht ja dann wohl auch.« Lorenz fuhr der Kleinen durch das schwarze Strubbelhaar. »Lass dir Zeit mit dem Großwerden. Damit handelt man sich ’ne Menge Schwierigkeiten ein.«

»Nicht zu viel verraten«, versetzte Paul. »Der Racker ist mir jetzt schon anstrengend genug.«

Lorenz trat zu Bärbel und Gustav, die beieinander saßen, und beugte sich zu ihnen herunter. Dann flüsterte er: »Der alte Kratz scheint nicht sonderlich gesellig. Aber im Moment bespricht er mit dieser Frau Dinge, die für uns sehr interessant sind. Offenbar haben sie gemeinsame Feinde. Wir sollten in Erfahrung bringen, wer diese Frau ist. Und wir müssen mehr über den alten Floto wissen. Was ist zwischen den beiden? Hier ist was im Gange.«

Dann erhob er sich wieder und sagte laut: »Wenn ihr das, was man hier einen Kaffee nennt, ausgetrunken habt, gehen wir vielleicht auf ein Stündchen in den Ort. Dann erzähle ich euch etwas über das Zülpicher Tor und die Nideggener Stadtmauer, und wenn ihr brav seid, gibt’s auch ein Eis.«

5. Kapitel

Der Speisesaal der Seniorenresidenz Burgblick leerte sich zusehends. Die meisten hatten das Abendessen beendet und zogen sich zurück. Lorenz beobachtete den alten Floto, der alleine an einem Tisch saß und gedankenverloren in seinem Dessert herumstocherte. Irgendwann schob der Alte die Reste seines Mahls beiseite und erhob sich. Gestützt auf seinen Rollator verließ er den Speisesaal durch den Garteneingang. Lorenz stieß Bärbel an. »Los, dein Auftritt.«

Bärbel verzog die Mundwinkel. »Ich kann das nicht. Muss das denn sein?«

Lorenz schüttelte unwillig den Kopf. »Das haben wir doch besprochen. Wenn dieser Unsympath überhaupt mit jemandem spricht, dann mit dir. Gustav oder mir sagt der doch sowieso nix.«

»Da hat Kommissar Wollbrand recht«, stimmte Gustav zu. »Es ist doch auch nichts dabei, sich etwas mit einem Mitbewohner zu unterhalten.«

»Aber aushorchen ist was anderes«, grummelte Bärbel.

»Ach was«, versetzte Lorenz. »Frag ihn einfach, wie es ihm geht und warum der Neue so bös zu ihm war. Mit ein bisschen Anteilnahme, so wie du halt bist.« Er gab Bärbel noch einen Stups.

Sie stand zögernd auf und folgte dem Alten, der mit seinem Rollator noch nicht weit gekommen war.

Lorenz grinste Gustav an. »Ist sie nicht ein braves Mädchen? Bin mal gespannt, was sie herausbekommt.«

Bärbel verließ den Speisesaal und schlenderte scheinbar ziellos durch den Garten. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Floto, wie dieser seine Gehhilfe den Weg entlangschob. Der Alte verließ das Gelände der Seniorenresidenz. Langsam trollte er sich Richtung Ortsausgang davon. Bärbel folgte ihm in respektvollem Abstand, bei jedem Schritt darüber nachdenkend, ob sie sich unauffällig genug bewegte. Sie war hierüber noch zu keinem Schluss gekommen, als eine Frau schnellen Schrittes an ihr vorüberrauschte und auffällig direkt auf Floto zusteuerte. Bärbel blieb unwillkürlich stehen, als die Frau Floto erreicht hatte und den Alten ohne Umschweife ansprach. Die beiden waren zu weit entfernt und sprachen auch zu leise, als dass Bärbel etwas hätte verstehen können. Jedoch wurde ihr schnell klar, dass die beiden keine Freunde waren. Floto stieß einen Fluch aus, und als die Frau weiter auf ihn einredete, hob er abwehrend eine Hand und winkte ab. Dann drehte er sich weg und schob seinen Rollator voran. Die Frau versperrte ihm den Weg und sagte noch etwas zu ihm. Das musste ihn endgültig aus der Fassung gebracht haben, denn nun rief er so laut aus, dass Bärbel ihn verstehen konnte: »Nichts habe ich damit zu tun. Gar nichts! Sag das der Judensau!«