Über das Buch
Paramythia, die Bücherstadt – so heißt das riesige Bibliothekslabyrinth unterhalb der Straßen von Mythia. Dort werden nicht nur Millionen von Büchern gehütet, sondern auch gefährliche Geheimnisse. Der ehemalige Dieb Sam träumt davon, Wächter des Königs zu werden. Stattdessen wurde er damit betreut, die Bibliothek zu hüten – und entdeckte in ihren flüsternden Schatten, dass die Beraterin des Königs eine Intrige gegen ihren Herrn spinnt. Doch was genau ist ihr Plan? Nur wenn Sam das herausfindet, hat er eine Chance, den König zu retten …
Über den Autor
Akram El-Bahay hat seine Leidenschaft, das Schreiben, zum Beruf gemacht: Er arbeitet als Journalist und Autor. Als Kind eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter ist er mit Einflüssen aus zwei Kulturkreisen aufgewachsen. Dies spiegelt sich ebenso in seiner preisgekrönten Flammenwüste-Trilogie wider wie auch in seiner neuen Trilogie, in der eine geheimnisvolle Bibliothek im Mittelpunkt steht.
Aus der Bibliothek
der ungeschriebenen Bücher
AKRAM EL-BAHAY
Bücherkönig
DIE BIBLIOTHEK DER
FLÜSTERNDEN SCHATTEN
Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Michelle Gyo, Limburg a. d. Lahn
Titelillustration: © Jorge Jacinto; Thinkstock (4)
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
E-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-6559-5
www.bastei-entertainment.de
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Im dunklen Licht der Nacht erwachte der Jäger aus Papier im Herzen der Bücherstadt Paramythia zum Leben. Ein Körper aus Seiten und Blut aus Tinte. Es gab keinen passenderen Ort für seine Erweckung als inmitten der Bücher. Layl, die Wüstenhexe, strich über den Leib aus Papier, der vor ihr auf dem Boden lag. Ein Leib, den sie geformt hatte. Ein Leib, der wandelbar war.
»Der Eine, der Viele ist. Um unter den Vielen den Einen zu finden«, wisperte sie. Die Unsterbliche dachte unwillkürlich an den Moment zurück, als die Nacht ihren geflügelten Geliebten verschluckt hatte. Es war erst ein paar Stunden her, doch die Erinnerung schien ihr bereits wie ein Traum. Der Asfur war davongeflogen, weil er nicht mehr wusste, wer er war. Zu wem er gehörte. Aber Layl wusste es. Sie wusste, dass sie beide zusammengehörten, für alle Zeit. Sie waren beide Kinder der Nacht. Trugen die gleiche Dunkelheit im Herzen.
Der Zauber war noch nicht fertig gesprochen, doch der Tintenjäger regte sich bereits. Layl sah auf die leeren Buchdeckel, die wie erlegte Tiere um ihn herum lagen. Selbst in Paramythia, der Stadt der Bücher unter der Stadt der Menschen, war dies ein seltsamer Anblick. Layls Zauber hatte die Seiten zwischen den Deckeln zu Armen, Beinen, Kopf und Rumpf werden lassen. Die Namen auf den Buchrücken waren allesamt verblasst. Ebenso tot wie die Geschöpfe, die ein Zauber einst zwischen die Worte gebannt hatte. Worte als Ketten und Bücher als Zellen. Paramythia, das unterirdische Gefängnis aus Geschichten. Der Teil, in den Layl für die Erweckung des Papiermanns hinabgestiegen war, blieb jedoch den wenigen Büchern der Fabelwesen vorbehalten, die den Tod zwischen den Seiten gefunden hatten. Gelegentlich geschah dies, denn der Zauber, der die Tausenden und Abertausenden Geschöpfe im Herz der Bücherstadt band, verlor mit der Zeit an Kraft. Diese Gänge waren ein Bücherfriedhof.
Die Seiten der toten Fabelwesen gaben dem Jäger seinen Leib. Und ihre geheimen Namen verliehen ihm das Leben, das Layl ihm schenkte. Der geheime Name, den jedes Fabelwesen im Herzen trug und der es zu dem machte, was es war. Layl blickte in das Buch, das auf ihrem Schoß lag. Das Buch, in dem alle geheimen Namen standen. Alle, bis auf einen.
Der Mahfuz, der an ihrer Seite kniete, strich mit der Feder, die er in den feingliedrigen Fingern hielt, über den Körper aus Seiten. Er war eines der Fabelwesen, ein Schreiber, und damit selbst in Paramythia eine Besonderheit. Denn seinesgleichen vermochte die Geschichten zu schreiben, die die anderen Geschöpfe festhielten. Er malte die Namen so kunstvoll auf den Leib aus Papier, als wollte er ihn mit Tätowierungen verzieren, sodass er dem von Layls geflügeltem Geliebten ähnelte. Die geheimen Namen leuchteten kurz auf, wenn der Schreiber einen von ihnen beendete. Dann verblassten sie. Neun Namen für neun Leben. Mehr fanden keinen Platz auf dem Leib. Sie würden ausreichen, um Layls Geliebten zu finden. Sie mussten es einfach.
»Die Menschen sind so töricht«, sagte sie zu dem Mahfuz und sah in sein rundes Gesicht, faltenfrei wie das eines Kindes. Weiße Augen, so hell, als wäre alle Farbe aus ihnen gewaschen worden, erwiderten ihren Blick. »Sie glauben, die Namen, die sie ihren ungeformten, schneckenglatten Kindern schenken, kaum dass diese den ersten Schrei getan haben, würden zu ihnen passen«, wisperte Layl. »Dabei stammen allein die geheimen Namen aus dem Herzen. Aus der Seele.«
Der Mahfuz hielt nur kurz inne, um ihren Worten zu lauschen, dann malte er weiter die Namen auf den sich regenden Papierleib. Er hatte keins ihrer Worte verstanden. Der Mahfuz stand unter Layls Bann und war in einem traumlosen Schlaf gefangen. Layl folgte seinen Bewegungen mit dem Blick. Nur Wüstenhexen waren in der Lage, die geheimen Namen offenbar zu machen, und selbst unter ihnen war diese Gabe selten. Diese wenigen Wüstenhexen vermochten die Namen aus den Herzen der Fabelwesen zu lesen. Die Namen geboten Macht über ihre Besitzer. Sie waren der Kern des Lebens. Der Funke, den Layl brauchte, damit der Jäger seine Aufgabe erfüllen konnte: den zu finden, den Layl mehr als das Leben selbst begehrte.
Dieser Zauber war unter den Sahiras, den Wüstenhexen, verboten. Die geheimen Namen durften nie zweimal vergeben werden. Die Leben, die sie schenkten, nie zweimal beendet werden. Doch Layl war gezwungen, diese Regel zu brechen. Und sie brach sie gerne.
Der Schreiber betrachtete den letzten Strich, den er setzte. Dann erhob er sich und trat einen Schritt zurück. Der lange, dürre Leib wurde so bewegungslos wie der einer Puppe. Der Zauber, mit dem Layl den Mahfuz gegen seinen Willen lenkte, kostete sie kaum mehr als einen Gedanken. Doch die verbotene Magie, die dem Jäger einen dunklen Verstand schenken und sein Herz endgültig würde schlagen lassen, war von einer anderen Art. Layl würde vermutlich das Bewusstsein verlieren, wenn sie ihn beendete. Und dann? Ihre helle Schwester, mit der sie sich einen Leib teilte, regte sich bereits in ihr. Sabah, der Morgen. Layl fühlte sie in sich. Layl würde entkräftet zwischen all den leeren Buchdeckeln einschlafen, und Sabah erwachen. Wie lange würde es dauern, bis sie ahnte, was ihre dunkle Schwester getan hatte? Es war gleich, wenn der Jäger nur den fand, den Layl begehrte. Sie schickte den Mahfuz fort. Der Schreiber wandte sich wortlos um und steckte die Feder in eine Tasche seines silbergrauen Gewands. Die Mahfuz trugen nie etwas anderes und sahen so beinahe wie eine kleine Armee aus. Eine Armee, deren Waffen Schreibfedern waren. Er würde sich an nichts erinnern können.
Layl schloss das Buch mit den geheimen Namen und drückte ihre Stirn gegen die des Jägers. Seine Bewegungen waren noch ohne Verstand. Doch er würde schnell lernen, die Namen und damit sein Äußeres zu wechseln. Die Menschen, die Layl ihren Geliebten genommen hatten, würden keine Chance gegen ihn haben. Und zuletzt würde sie den wieder in die Arme schließen, den sie so lange entbehrt hatte.
Layls Gedanken richteten sich für einen Augenblick auf diejenigen, die ihr den gestohlen hatten, der ihr gehörte. Der Mann mit dem Helm des Iblis. Und die Frau … Eine Überraschung. Layl würde sich um sie kümmern, wenn die Zeit gekommen war.
Der Leib aus Seiten verharrte, als Layl tief einatmete. Wartete gespannt auf ihren Befehl.
Ein dunkles Lächeln verzog Layls Mund. »Geh auf die Jagd, Tintenjäger. Die ewige Nacht zieht auf.«
Beeil dich, dachte Sam. Er wandte den Blick nicht vom Türschloss ab, während er in die endende Nacht lauschte. Er konnte den Wächter bereits hören, der müde in ihre Richtung schlurfte. Die Schritte klangen nahe. Zu nahe für seinen Geschmack. Schneller, Sam, trieb er sich an. Oder noch ein Unschuldiger muss sterben. Das Schloss hielt seiner Fertigkeit als Dieb nur für einen Moment stand. Dann schwang die Tür auf. Das silberkalte Mondlicht vertrieb mit Mühe die Schatten, die träge in dem Schlachthaus nisteten, das zwischen Lagerhäusern und Anlegestellen im Hafen Mythias lag, dem größten Stadtstaat der bekannten Welt. Die gehörnten Körper, die von der Decke baumelten, erschienen im ersten Moment wie Scherenschnitte von Iblisen. Der Geruch aber, der Sam in die Nase stieg und ihm beinahe den Magen umdrehte, war ein anderer. Stierhälften. Das leise Tropfen verriet ihm, dass zumindest einige noch nicht ganz ausgeblutet waren. Sam scheuchte seine Begleiter hinein. Zwei Flügelpaare streiften ihn. Noch vor wenigen Tagen hatte er mit der geflügelten Frau Kelaino, die die Tür hinter sich zuzog, um sein Leben gekämpft. Und nun war sie diejenige im Raum, der er am ehesten vertraute. Draußen hörte er die Schritte des Wächters. Sam hob die Hand, um Kelaino und ihrem Begleiter zu bedeuten, dass sie leise sein sollten. Doch Kelaino und der Asfur, der geflügelte Mann an ihrer Seite, sahen nur auf die Stierhälften.
»Er braucht Fleisch«, hatte die Asfura gesagt, kurz nachdem sie alle aus Paramythia geflüchtet waren.
Sam strich sich über die schwarze Wächterrobe, die er trug. Er hatte sich in Paramythia als Herr der Wache ausgegeben. Nur eine weitere falsche Rolle, in die er geschlüpft war. Vorher hatte er, der Dieb, der keiner mehr hatte sein wollen, die Identität eines Wächters angenommen, um ein neues Leben beginnen zu können – und war in das größte Abenteuer seines Lebens gestolpert. Sam wunderte sich längst nicht mehr darüber, dass aus dem gigantischen Bücherlabyrinth Fabelwesen kamen. Dass sie aus Büchern schlüpften, die als Gefängnisse dienten. Das Geheimnis um die gewaltige Bibliothek, die flüsternde Schatten gebar, hatte ihn längst ganz und gar in seinen Bann gezogen.
Sam wäre lieber noch weiter weg vom Palast geflogen, doch Kelainos Einwand, dass der erste Hunger des Asfur unbedingt gestillt werden musste, hatte ihn einem Zwischenhalt zustimmen lassen. Wie hätte er sich auch gegen zwei Flügelmenschen stellen sollen, die ihm mit ihren Krallen mühelos den Leib aufreißen konnten?
Sam fand einen Riegel an der Tür und schob ihn leise vor. Dann sah er sich in dem Schlachthaus um. Das Silberlicht konnte dem Haus seine grausige Natur nicht nehmen. Es maß kaum mehr als ein paar Meter in jeder Richtung. Der Duft von Tod hing schwer in der Luft. Gegenüber der Tür waren ein paar schmutzige Fenster in die Wand eingelassen, durch die Sam das Hafenbecken erahnen konnte. Er ging rasch auf eines zu, wobei er nur knapp einer ausblutenden Stierhälfte ausweichen konnte, und zog es auf. Tief sog er die salzig schmeckende Luft ein, die den Gestank von Blut und Innereien aus seiner Nase vertrieb.
Zwischen den toten Körpern standen die beiden Flügelmenschen. Trotz der schwarzen Schwingen, die ihm aus dem Rücken wuchsen, ähnelte der Mann noch am ehesten einem Menschen. Sein nackter Leib war verziert mit einem Muster, als hätte er sich den Körper tätowieren lassen. Hinter langen dunklen Haaren funkelten zwei weiße Augen wie Perlen in dem schmalen Gesicht. Er hatte den Blick starr auf das Fleisch gerichtet, das vor ihm baumelte.
Die Asfura an seiner Seite schien dagegen einem Albtraum entstiegen zu sein. Ihr Leib war mit zu viel grauer Haut für den dürren Leib bespannt. Ihre schwarzen Haare waren kaum mehr als verfilzte Flechten. Wie der Asfur besaß sie lange Krallen, Nase und Oberlippe jedoch waren bei ihr zu einer Art Schnabel verwachsen. Dass sie seit ihrem Kampf in der Bücherstadt auch noch eine stattliche Zahl Schnitte auf der Haut trug, machte sie nicht hübscher. Auch sie besaß Flügel, doch ihre Federn waren grau. Sie sah zu dem Flügelmann auf.
Er war eine mehr als imposante Erscheinung. Sam schätzte, dass der Asfur ihn wenigstens um zwei Köpfe überragte. Er war gefährlich. Und Sam vertraute ihm nicht. Der Flügelmann hatte kein Wort gesagt, seit er seinem Buchgefängnis entkommen war. Zumindest keines, das Sam verstand. Das Krächzen, das seinem Mund entfuhr, klang wie das eines heiseren Raben. Sam wusste jedoch, dass es eine Sprache war. Kelainos Erwiderung klang noch weniger menschlich.
Der Asfur legte den Kopf schief und entblößte dabei Zähne, die ebenso wie die von Kelaino spitz wie Dolche waren. Es war Zeit, zu essen. Sam wandte sich ab. Er schloss die Augen und versuchte, die Geräusche zu überhören, die das kleine Schlachthaus einen Moment später erfüllten. In den fünfundzwanzig Jahren seines Lebens hatte ihn seine Arbeit als Dieb in viele Häuser geführt. Aber erst seit du ein Wächter in Paramythia bist, kommst du in ein Schlachthaus, Sam, dachte er. Sehr passend. Paramythia war in dieser Nacht selbst zu einem Schlachthaus geworden. Die Erinnerung an die blutige Flucht aus der Bücherstadt ließ ihn schaudern. Er hatte mit Kani, der Tochter eines Universitätsprofessors, versucht, ihren Vater zu befreien. Der Gelehrte hatte einen Teil des Geheimnisses um Paramythia gelüftet. Ein Geheimnis, das ihn zuletzt das Leben gekostet hatte. Kani und ihr Vater hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschöpfe, die in Paramythia eingesperrt waren, in die Freiheit zu führen. Die Asfura, Flügelmenschen, die in Märchen den Himmel beherrschten. Die Nushishans, die Menschen mit den Pferdehufen, denen die Welt keine Grenzen stecken konnte. Doch es gab noch andere Geschöpfe in der Bücherstadt. Die Iblise. Rothäutige, gehörnte Krieger, deren Wut heiß wie ein Feuer in ihrem Inneren brannte, das sie beinahe verzehrte. Und eine Wüstenhexe, eine Sahira, die ihr Wesen mit der Tageszeit wechselte. Paramythia schien nach und nach alle Märchen, die es in seinem Herzen beherbergte, wahr werden zu lassen. Dunkle Märchen.
Sam öffnete die Augen und sah auf den Helm in seiner Hand. Assasil hatte ihn getragen. Und als Sam ihm den Helm vom Kopf gezogen hatte, hatte sich der Herr von Mythias Wache als Iblis entpuppt. Nur mit viel Glück war es Sam zuletzt gelungen, ihn zu töten.
Das leise Geräusch von Schritten mischte sich in das Schmatzen. Sam drückte sich an den geflügelten Menschen und ihrem Festmahl vorbei und legte ein Ohr an die Tür. Die Schritte kamen näher. Sam runzelte die Stirn. Sie klangen anders als die des müden Wächters. Sam hatte schon früh gelernt, dass ein Dieb seinen Ohren ebenso sehr vertrauen musste wie seinen Augen. Diese Schritte klangen nicht nach jemandem, der gelangweilt am Ende einer langen, ereignislosen Nacht noch einmal nach dem Rechten sehen wollte. Diese Schritte klangen kraftvoll und dennoch vorsichtig. Ein ungutes Gefühl stieg in Sam auf wie Wasser in einem dunklen Brunnen. Er wandte sich zu Kelaino um und machte ein Zeichen zur Tür.
Die Asfura ließ die Stierhälfte los, in die sie sich verbissen hatte. Der tote Körper schlug wie ein Pendel aus, während die Asfura den Kopf in den Nacken legte und tief die Luft einsog. Ihr leises Knurren ließ den Asfur an ihrer Seite aufblicken. Auch er ließ den Körper los, von dem er gerade abgebissen hatte, und starrte einen Moment lang zur Tür. Dann spannte er plötzlich die Muskeln an.
Und die Schritte draußen verklangen.
Jemand musste genau vor Sam stehen. Einzig durch die Tür von ihm getrennt. Wenn es doch nur ein einfacher Wächter ist, darf er nicht reinkommen, schoss es Sam durch den Kopf. Nicht, dass er für die geflügelten Menschen eine Gefahr dargestellt hätte. Sam hatte gesehen und am eigenen Leib erfahren, wozu sie fähig waren. Doch Paramythias Geheimnis hatte bereits genug Opfer gefordert. Die Bücherstadt schien einen ungeheuren Appetit auf Leben zu entwickeln. Und wenn es kein Wächter ist, Sam?, fragte er sich. Er glaubte, das Rascheln von Papier zu hören. Vielleicht ein Iblis aus Paramythia? Tief im Herzen der Bücherstadt bewachten die Iblise die eingesperrten Fabelwesen. Verdammt, ihr müsst hier raus, sagte sich Sam. Er zweifelte nicht an der Stärke der Flügelmenschen. Doch sie durften keine Spuren hinterlassen.
Sam fühlte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Denk nach, Sam! Er sah sich hektisch um. Das Schlachthaus hatte nur eine Tür, und das Fenster war selbst für einen Menschen zu eng. Für Wesen, die Flügel auf dem Rücken trugen, kam es auf keinen Fall als Fluchtweg infrage. Und außer den toten Körpern gab es nichts, was ihnen als Versteck hätte dienen können. Doch an der Wand zu seiner Linken führte eine schmale Holztreppe zu einer Galerie empor. Die Holzbalken, an denen die Stierhälften hingen, liefen darunter von einer Seite des Schlachthauses zur anderen.
Kelaino folgte Sams Blick, als dieser nach oben deutete, und nickte. Kurzentschlossen schlich er die Treppe empor und drückte sich auf dem geländerlosen Zwischenboden gegen eine der Steinwände. Die Asfura Kelaino hingegen ging in die Knie und sprang in die Höhe. Die Kraft in ihren dürren Beinen reichte aus, um sie neben Sam zu tragen. Der Flügelmann zögerte. Der Asfur schien etwas zu wittern.
Jemand drückte erst vorsichtig, dann mit deutlich mehr Kraft von außen gegen die Tür. Der Riegel, den Sam vorgeschoben hatte, hielt denjenigen, der vor ihr stand, nur mit Mühe zurück.
Verdammt, dachte Sam. Wenn dieser zu groß geratene Vogel nicht endlich raufkam, würde es gleich ein Blutbad geben.
Der Asfur spreizte Arme und Finger, als würde er seine Waffen ziehen. Zehn Schneiden. Sie konnten selbst einem Iblis die Haut aufreißen.
Wieder drückte jemand gegen die Tür.
Kelaino krächzte leise. Es klang wie eine Warnung. Sogar Sam, der direkt neben ihr stand, hatte es kaum gehört. Der Asfur hob widerstrebend den Kopf und sah zu ihr empor.
Und der Riegel brach.
In dem Moment, in dem die Tür langsam aufglitt, sprang der Asfur so lautlos wie eine Katze in die Höhe. Eine der Stierhälften schaukelte noch ein wenig, als er neben Sam landete. Der Geruch von Blut, der sich in Sams Nase drängte, war mit einem Mal noch stärker.
Das Mondlicht fiel silbern durch die Türöffnung, und auf dem fleckigen Boden zeichnete sich ein Schatten ab. Von seiner Position aus konnte Sam nicht sehen, wer da vor der Tür stand. Und der Umriss, der bis zu den ersten Stierhälften reichte, gab keinen Hinweis darauf, welcher Art der Mann dort war. Wenn es ein Mann war.
Sam drückte sich enger gegen die Wand und sah zu Kelaino. Sie erwiderte seinen Blick und verstand. Auch sie trat einen Schritt zurück und zog den Flügelmann mit sich, der widerwillig gehorchte.
Schritte. Jemand trat in das Schlachthaus. Der Duft von salzigem Wasser mischte sich unter den der toten Körper. Und der Duft von Papier. Sam runzelte die Stirn. Fast glaubte er, er wäre zurück in Paramythia. Das bildest du dir ein, Sam, sagte er sich. Du warst viel zu lange dort unten bei den Büchern. Ja, so musste es sein.
Der Schatten wuchs, und dann endlich konnte Sam die Gestalt erkennen, zu der er gehörte. Eine Robe, die im Dunkel des Schlachthauses fast schwarz wirkte, und ein Helm, der den ganzen Kopf bedeckte. Ein Wächter aus Paramythia, der einen guten Grund hatte, sein Gesicht zumindest außerhalb der Bücherstadt zu bedecken. Es war nicht menschlich. Die Iblise, die sich darunter verbargen, trugen nicht nur Hörner wie Ziegenböcke, sondern sie hatten auch ein ebenso schmales Gesicht und kleine Augen. Die Kraft, die in ihnen steckte, war jedoch gewaltig.
Sam versuchte instinktiv, nicht zu atmen. Eine Übung, die er gut beherrschte. Allzu oft hatte er lautlos im Verborgenen ausharren müssen, während jemand an ihm vorbeigegangen war, manchmal so nahe, dass er nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Er sah zu den Asfura. Ihren Atem konnte er deutlich wahrnehmen. Er hoffte, dass der Iblis unter seinem Helm weniger hörte.
Der unmenschliche Wächter trat zwischen die toten Körper. Und verharrte vor dem, der noch immer leicht schaukelte.
Sam presste angespannt die Lippen aufeinander. Der Wächter blickte sich suchend um, doch auf die Idee, hinaufzusehen, kam er offenbar nicht. Wer hatte ihn wohl geschickt, nun da sein Herr, Assasil, tot war? Wer wohl, Sam? Die Wüstenhexe natürlich. Layl. Der Gedanke an sie ließ dunkle Schatten in seinem Herzen wachsen. Vermutlich suchten die Helmträger in der ganzen Stadt nach den Flügelmenschen und denen, die sie befreit hatten.
Der Wächter legte den Kopf schief. Er schien zu dem geöffneten Fenster zu sehen. In diesem Moment fegte der Wind hindurch und schlug die Tür zu. Dem Asfur neben Sam entfuhr ein Knurren.
Und der Wächter sah hinauf.
Sam wollte etwas rufen. Doch er kam nicht mehr dazu. Kelaino krächzte dem Flügelmann etwas zu, das wie eine Warnung klang, und schlang ihre dünnen Arme um Sam. Dann entfaltete sie ihre Flügel.
Sam begriff nicht, was sie vorhatte. Das Schlachthaus war viel zu klein, um zu fliegen, und zwischen ihnen und der Tür stand der Wächter, der nun seine Klinge zog.
Der Asfur tat es Kelaino gleich. Seine Schwingen strichen über den schartigen Stein der Wände. Im nächsten Moment stürzte sich der geflügelte Mann hinab. Die Asfura aber drückte Sam eng an ihren Leib.
Sam drängte den Fluch, der ihm auf die Zunge sprang, nur mit Mühe zurück. Wohin wollte Kelaino mit ihm? Wie zur Antwort schwang sich die Asfura kerzengerade in die Höhe. Und brach mit Sam durch das strohgedeckte Dach. Mittlerweile war Sam an das Fliegen mit der Asfura einigermaßen gewöhnt. Sein durch den Fleischgeruch mitgenommener Magen rebellierte dennoch, als sie direkt über dem Dach des Schlachthauses abrupt stoppte und auf der Stelle schwebte. Kelaino schlug gleichmäßig mit den Flügeln, und Sam sog hastig die klare Luft ein. Am Horizont mischte der Morgen fahles Licht in die Nacht. Es floss wie Milch über Mythia.
Vom Meer sickerte dichter Morgendunst zwischen die Häuser. Wie viele Augen konnten sie da wohl gerade sehen? Nicht allzu viele, dachte Sam. Zu dieser Stunde war der Hafen Mythias ohnehin noch wie ausgestorben. Zu Sams Linken lag das Hafenbecken. Die Masten Dutzender Schiffe wuchsen wie ein Wald blattloser Bäume aus dem Wasser, das sanft gegen die Kaimauer schlug. Hier war es wie ein gezähmtes Tier, das sich dem Willen der Menschen unterworfen hatte. Doch nicht weit entfernt mündete es in das offene Meer und wurde wild.
Der Asfur und der Iblis waren durch das Loch im Dach kaum zu erkennen. Schwarze Flügel in den Schatten. Und ein Körper in einer Robe. Sam konnte nicht mehr als ein paar verschwommene Bewegungen ausmachen. Er ließ den Blick stattdessen über die Ansammlung von Lagerhäusern schweifen, die sich hier aneinanderdrängten. War der Wächter alleine gekommen? Hoffentlich. Sam erinnerte sich, wie er schon einmal von Helmträgern entdeckt worden war. Eine ganze Gruppe von ihnen hatte ein halbes Dutzend Asfura besiegt, die sich im selben Turm wie Sam aufgehalten hatten. Und ihm und seinen Freunden war die Flucht nur um Haaresbreite geglückt. Kani, die die Sprache der Flügelmenschen verstand, und Shagyra, der Nushishan. Der Mensch mit den Pferdebeinen war eines der ersten Fabelwesen gewesen, denen Sam begegnet war.
Sam drängte die Gedanken an die beiden zurück. Jetzt ging es nur um den Wächter, der ihnen gefolgt war. Er konnte keine Spur von weiteren Angreifern zwischen den Gebäuden ausmachen. Wenigstens etwas. »Wie lange …?« Die Frage erstarb ihm auf den Lippen, als Kelaino plötzlich zischte.
Und dann schoss der Asfur in die Höhe.
Im ersten Moment glaubte Sam, er würde den Wächter mit sich tragen, so wie es die Asfura mit ihm selbst tat. Doch dann erkannte er, dass sich der Iblis mit einem Arm an den geflügelten Leib klammerte wie ein Junges an seine Mutter. Die Robe hing in Fetzen an ihm. Für einen Moment glaubte Sam, seine Augen würden ihm einen Streich spielen. Der Stoff war auch im grauen Morgenlicht so schwarz wie der, den Sam trug. Er kannte nur einen Wächter, der diese Farbe getragen hatte. Assasil, der Iblis. Der Herr der Wächter, dessen Rolle Sam bei der Flucht aus Paramythia angenommen hatte. Der, dem er seine Klinge in den Hals getrieben hatte. Wieso trug dieser Iblis dort eine schwarze Robe?
In seiner freien Hand hielt das Geschöpf ein Schwert. Soweit Sam erkennen konnte, hatte es damit dem Asfur einige Schnitte beigebracht. Sam hatte den geflügelten Mann im Herzen der Bücherstadt kämpfen sehen. Er sollte einem Iblis, so stark diese Wesen auch waren, überlegen sein. Eigentlich. Der Kampf aber schien völlig unentschieden zu sein.
Der Asfur schraubte sich mit zwei Schlägen seiner mächtigen Schwingen in die Höhe. Der Dunst verschluckte ihn beinahe, als versuchte er, den Kampf am Himmel zu verdecken.
Undeutlich erkannte Sam, wie der Asfur mit einer Hand nach dem Wächter hieb. Die Krallen an seinen Fingern waren ebenso scharf wie eine Klinge. Der Iblis schaffte es irgendwie, seine Waffe zwischen sich und die fünf Schneiden zu bringen.
Sam drehte den Kopf und warf Kelaino einen Blick zu. Die Asfura wäre dem geflügelten Mann sicher gerne zu Hilfe geeilt, doch dazu hätte sie ihn absetzen müssen. Oder ihn loslassen. Er war sich noch immer nicht sicher, wie weit er ihr vertrauen konnte. Bei Kani war sie zahm wie ein Ziervogel. Sam gegenüber aber war sie wild und unberechenbar.
»Keine Angst«, zischte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Er wird den Iblis töten. Alleine.« Sie ließ den Blick nicht von dem Asfur, während sie Sams Befürchtungen zerstreute.
Der Asfur versetzte dem Iblis einen mächtigen Hieb gegen die Brust, der einem Menschen sicher mehrere Knochen gebrochen hätte. Der Iblis aber schüttelte sich nur kurz. Und holte mit seiner Klinge aus. Der Asfur versuchte noch, die Krallen seiner rechten Hand zwischen sich und die Waffe zu bringen, doch er war nicht schnell genug. Der Schnitt, den der Iblis ihm beibrachte, war für den Asfur vermutlich nicht tödlich, sondern nur schmerzhaft. Das Knurren, das der Asfur daraufhin ausstieß, klang wie eine Todesdrohung. Er presste seine Linke auf die Wunde, und für einen kurzen Moment war er ohne Deckung.
Das war es, dachte Sam. Der Iblis wird ihn töten. Und Kelaino wird dich fallen lassen und sich auf ihn stürzen. Am Ende sind wir alle tot. Eine erfolgreiche Flucht, Sam.
Doch anstatt dem Asfur die Klinge in die ungeschützte Brust zu stoßen, zögerte der Wächter. Der Asfur nutzte den Moment und stieß den Iblis mit einem mächtigen Hieb der rechten Hand von sich. Dem Wächter fiel die Waffe aus der Hand, und er klammerte sich nun mit beiden Händen an den Asfur. Ein weiterer Schlag gegen die Brust und ein Hieb gegen den Kopf lösten den Griff wieder. Der Asfur packte mit beiden Händen den Helm des Iblis, als wollte er ihm den Kopf von den Schultern reißen.
Und dann löste sich der Helm.
Das ziegenbockähnliche Gesicht, das für einen kurzen Moment im Dunst erschien, ehe der Wächter in die Tiefe stürzte, sah so aus, wie Sam es erwartet hatte. Rote Haut, kleine Augen und kurze Hörner. Und doch war es das falsche Gesicht.
Nein, dachte Sam. Das kann nicht sein. Es war unmöglich.
So ähnlich Iblise einander waren, ein Gesicht hatte sich für alle Zeit in Sams Gedächtnis eingebrannt. Für einen Augenblick starrte Sam fassungslos Assasil an. Die Lippen des toten Iblis verzogen sich zu einem bösartigen Grinsen.
Und dann fiel der Herr der Wache in die Tiefe. Der Dunst verschluckte ihn wie ein hungriges Tier. Einen Moment später hörte Sam, wie der Körper ins Wasser fiel. Er fragte sich, ob er träumte. Wenn, dann ist es ein Albtraum, dachte er. Ein verfluchter Albtraum.