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Karl Eibl kann deswegen auch von der »Entstehung der Poesie« sprechen (vgl. Eibl 1995).
Ich selbst habe solche Überlegungen wiederum zugespitzt und von der »Erfindung der Literatur« gesprochen (Jahraus 2013).
Zu dieser Unterscheidung zwischen Verstehen und Interpretieren vgl. Weimar 2002, 104–115.
So war etwa der Text der Bibel verstehbar nach dem Literalsinn, also der eigentlichen Textbedeutung, die für den Laien ausreichen sollte, dem typologischen, auf die Glaubenslehre bezogenen, dem tropologischen, auf die Moral, oder dem anagogischen, dem auf das Leben nach dem Tode bezogenen Sinn.
Zu dieser eigentümlichen Erzählerfigur vgl. auch Neumann 2001, 185–216.
Zu einer möglichen Kontextualisierung des Hoffmann’schen Sandmanns durch die Hegel’sche Philosophie vgl. Mülder-Bach 2005, 199–221.
Dies sei deshalb betont, weil es in der Forschung Stimmen gab, die Clara als Inkarnation aufklärerischer Einfältigkeit und Dumpfheit vom Text gezeichnet sahen; zu dieser Debatte und ihrer angemessenen Kommentierung vgl. Neymeyr 1997, 507 ff.
Dass Hoffmann eine Pathographie, also die genaue Beschreibung eines seelischen Leidens, nach zeitgenössischen Mustern vorführt, lässt sich nachlesen bei Reuchlein 1986, 323–348.
Dass es sich hierbei um eine terminologisch und begrifflich abgegrenzte psychopathologische Erscheinung handelt, hatte Hoffmann nachgelesen bei dem Standardwerk der Zeit, nämlich Reil 1803, 136 ff.
Insofern die vorliegende Interpretation dem Text Hoffmanns zuschreibt, er begründe und legitimiere beide Haltungen zur Welt, Glauben und Wissen, zeige aber zugleich, dass ihr notwendiges Abhängigkeitsverhältnis destruktiv für beide Seiten ist, fügt sie den von Peter Tepe, Jürgen Rauter und Tanja Semlow entwickelten Interpretationsoptionen eine weitere hinzu (vgl. Tepe [u. a.] 2009, 13): Weder nämlich sieht nach Hoffmann nur Clara, noch nur Nathanael die Dinge richtig, noch könnte man nicht entscheiden, wer von beiden richtig liegt, weil vielmehr beide, die gläubige wie die rationale Perspektive auf Welt nach Hoffmann ihre Berechtigung haben; allerdings mündet diese Konstellation in eine zwingend tödliche Konfrontation. Dieser »Sinn«, d. h. diese Bedeutung der Erzählung ist auch keineswegs versteckt, noch muss sich diese Interpretation einem postmodernen Deutungspluralismus hingeben: Sie kann mit Hilfe gattungstheoretischer Analysen und historischer Kontextualisierung eindeutig den zentralen Gehalt und die bedrängende Aktualität der Konfrontation zwischen Glauben und Wissen verdeutlichen helfen.
Vgl. hierzu erneut Mülder-Bach 2005, S. 205 ff., die von einem »Leitmotiv« spricht.
Siehe etwa Großmann 2013 für die Oper.
Wir bauen im Folgenden auf einer solchen Datenaufbereitung auf und verzichten aus Platzgründen darauf, die einzelnen Schritte darzulegen, wie wir zu den Ergebnissen und Thesen kommen, die wir aus den Textbefunden folgern und aufstellen. Eine auf dem hier skizzierten Vorgehen und den hier konstatierten Aspekten basierende Analyse des Sandmanns findet sich in Großmann/Krah 2016 (im Erscheinen).
Vgl. Cixous 1974, Hertz 2001, Kofman 1973, Weber 1981.
Zur Praxis der Dekonstruktion nach wie vor hilfreich ist die Einführung von Culler (1988).
Auf den Vorwurf von Kritikern, die Dekonstruktion sei selbst ein Parasit der ›ernstzunehmenden‹ Wissenschaft, reagiert der ›Yale Critic‹ J. Hillis Miller in seinem Manifest The Critic as Host (1977), einem lesenswerten Essay, der sich zur Einführung in die Praxis der Dekonstruktion eignet.
Derridas umstrittenes ethisches und politisches Engagement ist in der jüngeren Forschung vermehrt behandelt worden (vgl. z. B. die lesenswerten Einführungen von Susanne Lüdemann und Heinz Kimmerle sowie die Einführung von Robert Feustel).
Dieser wichtige bejahende, ja messianische Horizont bleibt von – im deutschsprachigen Raum nur allzu verbreiteten – Derrida-phobischen Positionen und bisweilen selbst von Befürwortern (z. B. Momberger) unbeachtet. Auch Handbücher tragen ihm nicht immer Rechnung (so z. B. Schmitz-Emans 2010). Eine luzide Würdigung des Affirmativen in der Dekonstruktion leistet Hans Ulrich Gumbrecht (1988).
Zu den ›Yale Critics‹ vgl. die jüngst erschienene Studie des de-Man-Schülers Marc Redfield (2016). Es ist hier wenig zu finden zum Skandal um de Mans antisemitische Positionen in seinen ›wartime journals‹; s. dort aber die Verweise auf S. 191 f., Anm. 2.
Man erkennt diese Affinität auch in der Frühromantik-Studie zweier weiterer Philosophen der Dekonstruktion, Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy (2016).
Zum Quasi-Konzept der Dissemination vgl. Derrida 1995.
Jacques Lacan, Seminar über »Der entwendete Brief«, in: J. L.: Schriften I, Weinheim/Berlin 1966, S. 7–60, hier S. 41.
Derrida 1982, S. 239. Zur differentiellen bzw. disseminalen Struktur des Double siehe auch Derrida 1995. Das Mallarmé’sche Double – »ein Double, das kein Einfaches verdoppelt, dem nichts zuvorkommt, nichts, das nicht auf jeden Fall bereits ein Double ist« – lässt Derrida ausdrücklich an Hoffmann denken (230).
Man beachte die bemerkenswerte Staffelung von Negativa in der Formulierung »wie in eines matt geschliffnen Spiegels dunklem Widerschein, auffassen«. Sie, wie überhaupt die Unverständlichkeit dieser Passage, lässt an die Schlegel’sche Ironie denken (s. u.).
Mit Blick auf den folgenden Abschnitt sei angemerkt, dass, wie bereits von Freud bemerkt, in Coppola-Coppelius der Schmelztiegel der Alchemie (coppella) und die Augenhöhle (coppo) anklingen. Die Augenhöhle wiederum heißt anatom. ›Orbita‹. Des Sandmanns Leitmotive des Nicht-Sehens (Augenhöhle) und des Kreisens sind nun sprachlich aneinandergekoppelt: Der Feuerkreis meint ein sprachlich bedingtes Kreisen im eigenen, die ›Außenwelt‹ indirekt wahrnehmenden (Wahn-)Sinn.
Vgl. hierzu Anm. 25.
Vgl. für einen Überblick Jahraus/Neuhaus 2002 und Köppe/Winko 2008.
Die Hinweise folgen den ausführlichen Überlegungen in Köppe/Kindt 2014, Kap. 1.
Von ›Erzähltheorie‹ ist erstmals in Eberhart Lämmerts Bauformen des Erzählens die Rede (vgl. Lämmert [1955], 62); der Ausdruck ›Narratologie‹ wird von Tzvetan Todorov in seiner Grammaire du Décaméron eingeführt und dort als »Wissenschaft der Erzählung« (Todorov [1969], 10; Übers. T. K.) bestimmt.
Vgl. für einen Überblick Tepe/Rauter/Semlow 2009, Tl. 2, und Kremer 2010, 172−176. Zum Verhältnis zwischen diesen Typen von Deutungen vgl. Detel 2014, 320−332.
Vgl. dazu grundlegend Stühring 2011.
Vgl. Walton 1990, 368, und Köppe/Kindt 2014, 91−93. Zur Kritik an Genettes hier nicht aufgegriffener Unterscheidung zwischen ›homodiegetischen‹ und ›heterodiegetischen Erzählern‹ vgl. Lang 2014.
Zur Unterscheidung von Rahmen- und Binnenerzählern vgl. Köppe/Kindt 2014, 161−165.
Zur internen Fokalisierung und anderen Spielarten der Perspektivgestaltung vgl. Köppe/Kindt 2014, Kap. 4.3.
Zu Kriterien der Evaluation von Textinterpretationen vgl. Føllesdal/Walløe/Elster 1988, 107−115.
Vgl. allerdings Schmitz-Emans 2004, 115−128, und dazu kritisch Tepe/Rauter/Semlow 2009, 295−298, wobei in beiden Fällen nicht im technischen Sinne von narrativer Unzuverlässigkeit gesprochen wird.
Vgl. für einen Überblick Köppe/Kindt 2014, Kap. 4.4.
Tepe/Rauter/Semlow 2009, 100 [u. ö.], sprechen beispielsweise von einer »verschleierten Dämonengeschichte«.
Vgl. dazu im Einzelnen Köppe/Kindt 2014, Kap. 1.3.
Für das Paradigma der Wissenspoetik hat sich insbesondere das Wechselverhältnis von Wissen und Nicht-Wissen (vgl. u. a. Bies/Gamper 2012) als fruchtbar erwiesen.
Auch Friedrich Schillers Romanfragment Der Geisterseher (1787−89) bezieht sich in aufklärerischer Absicht auf das zeitgenössische Phänomen der Phantasmagorien (vgl. Gaderer 2009, 20 f.).
Der Statuendiskurs erschließt aus der Beschreibung antiker Statuen abgeleitete ästhetische Konzepte des Klassizismus im 18. Jahrhundert. Diese auf der Antikebegeisterung basierende ›Erfindung‹ des Klassizismus um 1800 setzt mit Winckelmann ein und führt u. a. über Lessing und Herder bis hin zu Goethe.
Vgl. die klangliche Nähe mit dem italienischen spalancare, was so viel heißt wie »die Augen aufreißen«.
In Coppola klingt das italienische coppo an, das »Augenhöhle« bedeutet, aber auch das französische coupeller, wodurch ein Bezug zum alchemistischen Scheidekünstler sowie zum profanen Kuppler hergestellt wird.
Vgl. Marcus Herz’ Versuch über den Schwindel (1786), 1817 bereits in dritter Auflage erschienen. Danach besteht physisch wie psychisch bedingter Schwindel »in einer zu schnellen Folge der Vorstellungen aufeinander« (Herz 21791, 260).
Dies ähnelt verblüffend dem strukturalistischen Ansatz (vgl. den Beitrag von Burkhard Meyer-Sickendiek in diesem Band) Roman Jakobsons, der Metonymie (Verschiebung) und Metapher (Verdichtung) als Grundgesten menschlicher Sprache versteht.
Vgl. Freuds Brief an Fließ vom 15. Oktober 1897: »Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis der frühen Kindheit. […] Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des König Ödipus […], die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat. Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus, und vor der hier in die Realität gezogenen Traumerfüllung schaudert jeder zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, der seinen infantilen Zustand von seinem heutigen trennt« (Freud 1986, 293; Herv. H. F.).
Der Ethnologe und Psychoanalytiker Georges Devereux (1908−1985) verband die verbreitete Sucht nach Theorie mit der Gegenübertragung: Jeder Verhaltenswissenschaftler habe »bestimmte Bezugsrahmen, Methoden und Verfahrensweisen«, die nebenbei »auch die Angst abbauen, die seine Daten erregen«. Gerade deshalb, »weil sie die Angst abbauen, verwandeln sich diese Manöver jedoch oft systematisch in wahrhafte Gegenübertragungs-Reaktionen, die zu einem zwanghaften Ausagieren führen, das sich als Wissenschaft maskiert« (Devereux 1984, 109).
Kittler wendet für eine Interpretation des Sandmann u. a. das Modell des Lacan’schen Spiegelstadiums an (im Alter von sechs bis acht Monaten wird einem Kleinkind durch sein Bild im Spiegel ein illusionäres Bild eigener Konturschärfe und Einheit vorgespiegelt, obwohl sich [s]ein selbständiges Ich noch gar nicht ausgebildet hat, vgl. Lacan 1996, 61–70 bzw. Kittler 1977, 51 ff.).
Vgl. Leys 2000 bzw. dort »Freud and Trauma«, 18−40. In seinen frühesten Arbeiten über Hysterie betonte Freud eine Ansteckungs- bzw. Inkubationszeit: Frühkindliche, allein nicht traumatische Erfahrungen wurden vergessen und erst in der Pubertät durch ein anderes, ebenfalls allein nicht traumatisches Ereignis wieder wachgerufen: Beide Ereignisse wirken also erst in Kombination traumatisierend − ein verheerender Ansatz, da entsprechend in der Kindheitsgeschichte schwersttraumatisierter Soldaten im Ersten Weltkrieg nach Hinweisen für eine Veranlagung bzw. Prädisposition für ihr »Kriegszittern« gesucht wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg verstand Freud ein Trauma dann auch eher als generelle Verletzung des Schutzschildes einer Person. Kurz: Es ist gefährlich, Zitate aus Freuds Werken für traumatheoretisch fundierte Interpretationen zu isolieren, da Freud keine eigene, in sich geschlossene Traumatheorie entwickelt hatte.
Kastrationsangst entstehe, wenn ein Knabe »die Kastration als Realisierung einer väterlichen Drohung und als Antwort auf seine sexuelle Aktivität« gegenüber der Mutter fürchtet. Der Kastrationskomplex stehe »in enger Beziehung zum Ödipuskomplex und spezieller zu dessen verbietender und normativer Funktion« (Laplanche/Pontalis 1973, 242).
Mit ähnlicher Stoßrichtung gehen biopoetische Ansätze vor (vgl. in diesem Band den Beitrag von Christoph Gschwind), wie z. B. Karl Eibl (1940−2014) sie ausgearbeitet hat. Unbefriedigend erscheint der biopoetische Ansatz aber in Bezug auf die »Verarbeitung gerade des Bedrohlichen in der Kunst«. Es gehe, so Eibl, ausschließlich darum, »Emotionen der Angst und des Abscheus von ihren realen Gegenständen abzukoppeln und zu Gegenständen genussvoller Wahrnehmung oder mehr noch: zu Anlässen genussvoller Selbstwahrnehmung zu machen« (Eibl 2004, 337): Bedrohliches, könnte man Eibl vorwerfen, wird von ihm so aber weginterpretiert.
Vgl. grundlegend Scheidt [u. a.] 2015.
Zum neurobiologischen Hintergrund vgl. z. B. Sachsse 2004 (»Stressphysiologie«, 31−103) oder Seidler 2011 (15−21, 50−60, 61−72). Eines der Hauptprobleme der traumatheoretisch fundierten Literaturbetrachtung liegt im Desinteresse der meisten Literaturwissenschaftler an z. B. neurobiologischen Hintergründen (vgl. zum Problem Fricke 2013, 163−173).
Gemeint ist also immer und ausnahmslos ein Subjekt. Mit zwei entsprechenden Problemfeldern sieht sich Traumatheorie konfrontiert, die sich besonders im Gefolge von 9/11 herausschälten: Zum einen wird unhinterfragt von einer kollektiven Traumatisierung von Gruppen ausgegangen (»die traumatisierte USA«), zum anderen das Trauma als prinzipiell nicht erzählbar und somit quasi als heilig verbrämt. Beide Sichtweisen widersprechen dem hier vertretenen ressourcenorientierten, am Einzelfall interessierten Verständnis von Trauma (vgl. auch Rothe 2011). Bei kollektiven Traumata geht es letztlich nicht mehr um einzelne Traumatisierungen, sondern um Macht über Diskurse (Brunner 2014, 7 f., weist entsprechend darauf hin, dass »Trauma-Diskurse immer auch politisch« sind).
Solche individuellen Abwehr-Stärken werden unter dem Begriff ›Resilienz‹ diskutiert (vgl. z. B. Seidler 2013, 73−82). Im Sandmann findet sich Claras dem modernen Verständnis von Resilienz erstaunlich nahe Formulierung: »Haben wir festen, durch das heitre Leben gestärkten, Sinn genug, um fremdes feindliches Einwirken als solches […] zu erkennen […], so geht wohl jene unheimliche Macht unter« (17/[15]).
Keilson hat solche Reihungen traumatischer Situationen (»sequentielle Traumatisierung«) in seiner Längsschnittuntersuchung von jüdischen Kindern und Jugendlichen, die die Besetzung Hollands durch Nazi-Deutschland überlebt hatten, nachgezeichnet. Die Kinder waren »während längerer Zeit wiederholt einer Abfolge von schweren wechselnden Belastungsstörungen ausgesetzt« (Keilson 2005, 12): Von vielen Kindern wurde jene vergleichsweise sichere Phase nach Kriegsende, in der ihnen (z. B. von behördlicher Seite) eigentlich hätte geholfen werden sollen, sie aber zur Zwangsadoption oft in orthodox-gläubige Familien freigegeben oder in Heimen untergebracht wurden, »als die eingreifendste und schmerzlichste ihres Lebens« erfahren (58; dies wirft ein beunruhigendes Licht auf unseren Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden). Keilsons Beitrag zur Forschung ist deshalb so wichtig, weil er ein punktuelles, auf diese Weise dekontextualisiertes und individualisierendes (der gesellschaftliche Zusammenhang wird ausgeblendet) Verständnis von Traumatisierung (als nur der einen traumatischen Situation) in Frage stellt. Becker versteht, fußend auf Keilsons Ansatz, die Tätigkeit und die Rolle von Therapeuten und Helfern als Teil des traumatischen Prozesses (Becker 2006, 187).
Das Konstrukt PTBS wird auch scharf kritisiert: Letztlich sei es nur darum gegangen, das »Konzept des selbst-traumatisierten Täters« durchzusetzen, um »amerikanischen Kriegsheimkehrern« aus Vietnam, »die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, eine […] Positionierung in der Opferrolle zu ermöglichen« bzw. deren Versorgung zu begründen (Brunner 2014, 282).
Etwa in der Höhlung des Schrankverstecks (»Ich war festgezaubert«, 13/[8]; vgl. auch 26/[29]) oder bei erneutem Erscheinen des Coppelius im Elternhaus (»als sei ich in schweren kalten Stein eingepresst – mein Atem stockte« bzw. »mir vergingen die Sinne«, 14/[11]).
»[…] alles um mich her wurde schwarz und finster, ein jäher Krampf durchzuckte Nerv und Gebein – ich fühlte nichts mehr«; und Nathanael erwachte später »wie aus dem Todesschlaf«, 13/[10].
»Nathanael erwachte wie aus schwerem, fürchterlichem Traum« (34/[39]); auch sein Wahnsinnsanfall selbst kann als Dissoziation gedeutet werden, denn auch hier entkommt er der Situation, wenn auch mit hohen Kosten.
»[D]es Vaters Schweigen« ist sogar Indiz für des Sandmanns Kommen, der Vater erwartet diesen »stumm und starr den Rücken der Türe zugekehrt« (11/[6 f.]).
»Erst jetzt vernahm ich, wie dein guter alter Vater solch entsetzlichen, gewaltsamen Todes starb« (15/[13]), obwohl sie doch »von Nathanaels Mutter« nach dem Tod des Vaters »ins Haus genommen wurde« (20/[19]).
Claras verächtlich unempathische Sicht lässt sie Nathanael nicht erreichen. Wie dessen Mutter (»Sei ruhig, sei ruhig«, 14/[11]) fordert sie von ihm eine spontane Reaktion (ein Widerspruch in sich): »Sei heiter – heiter!« (17/[15]). Wie viele Interpreten (auch im vorliegenden Band) spielt Neymeyr Clara gegen Nathanaels »pathologische[ ] Wahrnehmungsverzerrungen« aus (Neymeyr 1997, 506): Sie sei »die klarsichtige Analytikerin, die ihr Name bereits erwarten läßt« (ebd.). Der Kardinalfehler der Interpreten liege darin, entsprechende eindeutige auktoriale Hinweise Hoffmanns nicht zu verstehen, obwohl sie eine »brillante Störung der Diagnose der psychischen Störung des Verlobten« biete, der selbst »ein pathologisch deformiertes Ich« (ebd., 511) habe. Foucault fasst solche Sichtweisen wie folgt zusammen: »Die Heilung der Irren liegt in der Vernunft des anderen«, der die Macht über die Kategorisierung in Händen hält (Foucault 1973, 547). Tatsächlich war Clara in der Handschrift empathischer angelegt, reagierte sie doch auf Nathanaels Gedicht tief betroffen: »Sie starrte vor sich hin / ihr Busen hob sich vor Angst und Entsetzen« (Hs, 68). Hoffmann legt Nathanael eben auch nicht als eindeutig klinischen Fall, sondern insgesamt empathischer an. Es geht ihm anscheinend doch nicht wie in der schon fortschrittlichen Psychiatrie der Zeit (er kannte die Werke Reils oder Pinels genau) um eine eindeutige Diagnose und die Wiedereingliederung des Wahnsinnigen in die Gesellschaft, denn dann wäre ein auktorialer Erzählgestus mit eindeutiger Lösung angemessener gewesen.
Vgl. zum schimmernden Präsens und anderen Merkmalen bei der Schilderung traumatischer Erfahrungen Fricke 2004, 92, 224.
Vgl. Hs, 78: »unerachtet schon hunderte da lagen«.
Vgl. Hs, 54: »Nim, günstiger Leser! die drey Briefe, die ich [!] mir von m[einem]n Freunde Lothar mitgetheilt«.
Nathanael behauptet die Identität von Coppelius und Coppola, Clara bestreitet sie, der Erzähler bietet in Hs, 110 eine selbst wiederum nur vermutete Lösung an: »Am Ende war es doch wohl der gräßliche Sandmann Copelius« – die Hoffmann in der Druckfassung weglässt.
In der Druckfassung erscheint Nathanael dann als passives, ressourcenschwaches Opfer: Der in dieser gestrichenen Episode gezeigte aktive Zug des sich tapfer wehrenden Kindes hätte die Figur vermutlich zu tiefgreifend verändert.
Vgl. Hs, 116: »wirf mir dein Holzpüpchen zu!«
Dies verblüfft im Falle Goethes umso mehr, da ihm etwa in der Gestalt der Margarete im Kerker in der »Früheren Fassung« seines Faust eine der beeindruckendsten Schilderungen einer Traumatisierten gelang, die er aber später durch Bearbeitung entscheidend entschärfte (vgl. Fricke 2004, 9−28).
Tepe wirft besonders literaturpsychologischen Interpretationen die »Direktanwendung einer Theorie« vor, da bestimmte Motive des Textes nicht untersucht, sondern »mit der eigenen Hintergrundtheorie« verschmolzen, andere Deutungsmöglichkeiten ausgeblendet würden und der Text nur »in eine Stützungsinstanz für die eigene Theorie« verwandelt, also eine »aneignend-aktualisierende Umdeutung des Textes« (Tepe 2009, 255−257) vorgenommen werde. Tepes eigener hermeneutischer Ansatz, aus dem Text ebenso einen einzigen, in sich geschlossenen Sinn (eine Dämonengeschichte, was alle Brüche im Text durch diese Lizenznahme, alles sei eben übernatürlich, einebnet) herauszulesen, tappt jedoch in dieselbe Falle, das Unerklärliche wegzuerklären und dem Text so sein Beunruhigungspotential und letztlich auch seine Faszination zu nehmen.
Vgl. den Beitrag von Nicole Sütterlin über Dekonstruktion in diesem Band mit erstaunlichen Ähnlichkeiten.
So nach Hoffmanns Handschrift; III, 973.
Vgl. dazu den Beitrag von Hannes Fricke im vorliegenden Band.
Für eine Zusammenfassung dieser biologischen Teildisziplinen vgl. Eibl 2004a, 23–72.
Vgl. zur »entpflichteten Rede« Eibl 2004a, 340–346.
Vgl. etwa die biopoetische Analyse von Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werther in Eibl 1995, 121–125.
Vgl. die von Karl Eibl, Manfred Engel und Rüdiger Zymner unter diesem Begriffsnamen herausgegebene Reihe zur empirischen Anthropologie der Literatur.
Auf den für die literarische Epoche der Romantik typischen Konnex von Anthropologie und Ästhetik im Sinne einer ›Bioästhetik‹ macht etwa Schmitz-Emans 2004, 35, aufmerksam.
Vgl. zu einer solchen Gattungstheorie Zymner (2006).
Vgl. zur Theorie des making special Dissanayake (1999).
Zu Vers- und Reimbindung als Mittel zur Herstellung von Kohärenz vgl. Eibl 2004a, 254.
Vgl. zu dieser Funktion des making special Dissanayake 1999, 36.
Zur evolutionspsychologischen Bedeutung von literarischen Formen der Wiederholung vgl. Eibl 2009.
Vgl. zur kognitiven Dimension von Emotionen Winko 2003.
Für die sozialpolitische Dimension vgl. Jagose 2005.
Gender Studies, die sich auf frühere Texte beziehen, operieren mit anderen Modellen, z. B. dem one-sex-model; vgl. Laqueur 1992.
Diese Gender-Debatte ist dokumentiert in Feministische Studien 2/1993.
Das Motiv vom Mechaniker als Entsprechung zu einem Schöpfergott findet sich prominent in Mary Shelleys Roman Frankenstein or The Modern Prometheus (1818) und, analog zur männlichen Variante, in Villiers de L’Isle-Adams Roman L’Eve Future (1887); vgl. Korman [u. a.] 2006.
Cyborgs werden in den 1980er Jahren von Donna Haraway als Transgenderwesen einer posthumanen Gesellschaft konzipiert; vgl. Haraway 1995.
Vgl. Kosofsky 1985; eine der Grundlagenschriften für die späteren Queer Studies.
Neumann interpretiert Hoffmanns Novelle als »die Geburt des Subjekts aus der ambigen Welt der Familie« und weist auf dessen notwendige Zerrissenheit, also die scheiternde Harmonisierung hin; vgl. Neumann 2001.
McLuhan 1964, 9: »The medium is the message«, weil es das Medium ist, »that shapes and controls the scale and form of human association and action«.
Vgl. hierzu Stadler 1992; Bartels 1990; Koschorke 1996; Großklaus 1996; Steinecke 2010.
An dieser Stelle wird dezidiert nicht die übliche Übersetzung von espace perçu im Deutschen als ›wahrgenommener Raum‹ verwendet, da ›Wahrnehmung‹ im Deutschen ein umfassenderer Begriff ist, der eben auch die kognitive Imagination von Raum – in Form von Raumrepräsentationen – und anderes umfassen kann.
Siehe dazu in diesem Band den Beitrag von Tom Kindt. – In der Tat wurde im Zuge des literaturwissenschaftlichen Spatial Turn durch Katrin Dennerlein (2009) auch eine dezidierte Narratologie des Raums vorgelegt, die sich bei genauer Betrachtung allerdings als eine Rücknahme der Wende zum Raum entpuppt, insofern darin die Möglichkeit alternativer Raumformen (zur euklidisch-newtonschen ›Beinhaltungs‹-Vorstellung) im Sinne von Bachelards Raumpoetik zurückgewiesen wird.
Siehe dazu in diesem Band den Beitrag von Hannes Fricke.
Initiatorisch hierfür wirkte Franco Morettis (1997) Atlante del romanzo europeo. Im deutschsprachigen Bereich hat sich vor allem Barbara Piatti (2008) um die neue Literaturgeographie verdient gemacht und ihre Ergebnisse auch interaktiv zur Verfügung gestellt.
Pressemappe zu Andreas Dahns Verfilmung von Der Sandmann, 5 (www.sandmann-derfilm.de/?file=tl_files/sandmann/images/downloads/eta_hoffmanns_der_sandmann_pressemappe.pdf). [3. 5. 2016.]
Vgl. Bachmann-Medick 22004, 7, die von Bronislaw Malinowskis Argonauts als einem »literarisch-ethnographische[n] Text[ ]« spricht und »frappierende Ähnlichkeiten zur Beschreibungsrhetorik in Joseph Conrads Heart of Darkness« ausmacht. Siehe hierzu auch Clifford 2010. Kirschstein schließt sich dem grundsätzlich an, warnt aber davor, dass »poetogene Strukturen an ethnographischen Texten abzulesen, […] nicht gleich bedeuten muss, Ethnographie als Literatur zu beobachten« (Kirschstein 2014, 31).
Siehe hierzu Honold 1997, Scherpe 1997, Bachmann-Medick 22004, Assmann/Gaier/Trommsdorff 2004, Holdenried 2004, Schwab 2012 und Kirschstein 2014.
Zu denken wäre beispielsweise an Joseph von Eichendorffs Eine Meerfahrt (1835/36), Edgar Allan Poes Arthur Gordon Pym (1838) oder an Robert Müllers Roman Tropen (1915); hier fahren die Protagonisten in die Südsee oder zum Amazonas.
Eine ›kulturanthropologische Literaturwissenschaft‹ ist somit deutlich von der empirischen sozial- und kulturwissenschaftlichen universitären Disziplin ›Kulturanthropologie‹ unterschieden (vgl. hierzu Gerndt (2002) und Zimmermann (2005)).
»Der Ethnograph macht also (fast) das Gleiche wie der Literaturwissenschaftler: Er interpretiert; und was er interpretiert, ist ein Text, der nicht aus Buchstaben, sondern aus Verhalten besteht. Der Ethnograph (wie der Literaturwissenschaftler) muss interpretieren« (Borgards 2010, 209).
Taussig 1993, 10; vgl. hierzu insbesondere Kirschstein 2014, 26 f., aber auch Waldenfels 1999, 162 f.
In diesem ›beziehungsweise‹ ist bereits das ganze Dilemma der Erzählung enthalten, denn es bleibt bis zum Schluss offen, ob es sich bei Coppelius und Coppola um eine Figur handelt.
Zu einer analogen Konstellation kommt es später, wenn Nathanael die lebendige Clara als »lebloses, verdammtes Automat« (24/[25]) bezeichnet und die tote Puppe Olimpia als lebendige Frau betrachtet (27–32/[29−37]); auch hier wird das Vertraute (Clara) fremd (Automat) und das Fremde (Automat) vertraut (lebendig).
Lieb spricht weiter von einem »Paradefall misslingender Kommunikation« (ebd., 176). Mit der Adressatenverwechslung werden zudem zwei weitere Verwechslungen vorausgedeutet, nämlich die zwischen Coppelius und Coppola und die zwischen Clara und Olimpia; Lieb spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sich das »Verschreiben[ ] […] zu einem Ver-Sehen« verdoppelt (ebd.).
Dies lässt sich von vielen romantischen Texten behaupten, und so verwundert es nicht, dass David Wellbery 2012 einen Sammelband mit folgendem Titel herausgibt: Kultur-Schreiben als romantisches Projekt. Romantische Ethnographie im Spannungsfeld zwischen Imagination und Wissenschaft; vgl. hierzu auch Neumann 2003.
Vgl. zu Vertretern, Einflüssen und Kontexten Wieser 2012, Belliger/Krieger 2006.
Vgl. Kneer 2009, 31. Andererseits dienen sie auch zur Machtausübung, vgl. Peuker 2010, 329.
Lüdeke [o. J.], 6 f. Für die beiden letztgenannten Punkte müsste man zusätzlich Bruno Latours Buch Das Parlament der Dinge (2010) berücksichtigen, was auf dem zur Verfügung stehenden Raum nur in einer Schlusspassage angedeutet werden kann.
Vgl. zu beiden Theorien in diesem Band den Beitrag von Peter Brandes.
Vgl. zum Versuch, Literatur mit Latour als einen Bericht zu lesen, Binczek 2011.
Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, 4. Aufl., München 2003, S. 238.
Ebd., S. 501.
Roman Jakobson: »Linguistik und Poetik«, in: R. J.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921−1971, hrsg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1989, S. 83−121, hier S. 92.
Manfred Frank: »Was ist ein literarischer Text und was heißt es, ihn zu verstehen?«, in: M. F.: Das Sagbare und das Unsagbare. Studien zur deutsch-französischen Hermeneutik und Texttheorie, erw. Neuausg., Frankfurt a. M. 1990, S. 121−195.
Jakobson (s. Anm. 118) S. 94.
Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt a. M. 1984.
Wolfgang Thierse: »Das Ganze aber ist das, was Anfang, Mitte und Ende hat«, Problemgeschichtliche Beobachtungen zur Geschichte des Werkbegriffs, in: Weimarer Beiträge 36 (1990), S. 240–264.
Abb. 1: Bleistiftzeichnung Hoffmanns zum Sandmann, ca. 1815/16
E. T. A. HOFFMANN
Gewiss seid ihr alle voll Unruhe, dass ich so lange – lange nicht geschrieben. Mutter zürnt wohl, und Clara mag glauben, ich lebe hier in Saus und Braus und vergesse mein holdes Engelsbild, so tief mir in Herz und Sinn eingeprägt, ganz und gar. – Dem ist aber nicht so; täglich und stündlich gedenke ich eurer aller und in süßen Träumen geht meines holden Clärchens freundliche Gestalt vorüber und lächelt mich mit ihren hellen Augen so anmutig an, wie sie wohl pflegte, wenn ich zu euch hineintrat. – Ach wie vermochte ich denn euch zu schreiben, in der zerrissenen Stimmung des Geistes, die mir bisher alle Gedanken verstörte! – Etwas Entsetzliches ist in mein Leben getreten! – Dunkle Ahnungen eines grässlichen mir drohenden Geschicks breiten sich wie schwarze Wolkenschatten über mich aus, undurchdringlich jedem freundlichen Sonnenstrahl. – Nun soll ich dir sagen, was mir widerfuhr. Ich muss es, das sehe ich ein, aber nur es denkend, lacht es wie toll aus mir heraus. – Ach mein herzlieber Lothar! wie fange ich es denn an, dich nur einigermaßen empfinden zu lassen, dass das, was mir vor einigen Tagen geschah, denn wirklich mein Leben so feindlich zerstören konnte! Wärst du nur hier, so könntest du selbst schauen; aber jetzt hältst du mich gewiss für einen aberwitzigen Geisterseher. – Kurz und gut, das Entsetzliche, was mir geschah, dessen tödlichen Eindruck zu vermeiden ich mich vergebens bemühe, besteht in nichts anderm, als dass vor einigen Tagen, nämlich am 30. Oktober mittags um 12 Uhr, ein Wetterglashändler in meine Stube trat und mir seine Ware anbot. Ich kaufte nichts und drohte, ihn die Treppe herabzuwerfen, worauf er aber von selbst fortging. –
Du ahnest, dass nur ganz eigne, tief in mein Leben eingreifende Beziehungen diesem Vorfall Bedeutung geben [4] können, ja, dass wohl die Person jenes unglückseligen Krämers gar feindlich auf mich wirken muss. So ist es in der Tat. Mit aller Kraft fasse ich mich zusammen, um ruhig und geduldig dir aus meiner frühern Jugendzeit so viel zu erzählen, dass deinem regen Sinn alles klar und deutlich in leuchtenden Bildern aufgehen wird. Indem ich anfangen will, höre ich dich lachen und Clara sagen: das sind ja rechte Kindereien! – Lacht, ich bitte euch, lacht mich recht herzlich aus! – ich bitt euch sehr! – Aber Gott im Himmel! die Haare sträuben sich mir und es ist, als flehe ich euch an, mich auszulachen, in wahnsinniger Verzweiflung, wie Franz Moor den Daniel. – Nun fort zur Sache! –
Außer dem Mittagsessen sahen wir, ich und mein Geschwister, Tag über den Vater wenig. Er mochte mit seinem Dienst viel beschäftigt sein. Nach dem Abendessen, das alter Sitte gemäß schon um sieben Uhr aufgetragen wurde, gingen wir alle, die Mutter mit uns, in des Vaters Arbeitszimmer und setzten uns um einen runden Tisch. Der Vater rauchte Tabak und trank ein großes Glas Bier dazu. Oft erzählte er uns viele wunderbare Geschichten und geriet darüber so in Eifer, dass ihm die Pfeife immer ausging, die ich, ihm brennend Papier hinhaltend, wieder anzünden musste, welches mir denn ein Hauptspaß war. Oft gab er uns aber Bilderbücher in die Hände, saß stumm und starr in seinem Lehnstuhl und blies starke Dampfwolken von sich, dass wir alle wie im Nebel schwammen. An solchen Abenden war die Mutter sehr traurig und kaum schlug die Uhr neun, so sprach sie: »Nun Kinder! – zu Bette! zu Bette! der Sandmann kommt, ich merk es schon.« Wirklich hörte ich dann jedesmal Etwas schweren langsamen Tritts die Treppe heraufpoltern; das musste der Sandmann sein. Einmal war mir jenes dumpfe Treten und Poltern besonders graulich; ich frug die Mutter, indem sie uns fortführte: »Ei Mama! wer ist denn der böse Sandmann, der uns immer von Papa forttreibt? – wie sieht er denn aus?« »Es gibt keinen Sandmann, mein liebes Kind«, erwiderte die Mutter; »wenn ich [5] sage, der Sandmann kommt, so will das nur heißen, ihr seid schläfrig und könnt die Augen nicht offen behalten, als hätte man euch Sand hineingestreut.« – Der Mutter Antwort befriedigte mich nicht, ja in meinem kindischen Gemüt entfaltete sich deutlich der Gedanke, dass die Mutter den Sandmann nur verleugne, damit wir uns vor ihm nicht fürchten sollten, ich hörte ihn ja immer die Treppe heraufkommen. Voll Neugierde, Näheres von diesem Sandmann und seiner Beziehung auf uns Kinder zu erfahren, frug ich endlich die alte Frau, die meine jüngste Schwester wartete: was denn das für ein Mann sei, der Sandmann? »Ei Thanelchen«, erwiderte diese, »weißt du das noch nicht? Das ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, dass sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.« – Grässlich malte sich nun im Innern mir das Bild des grausamen Sandmanns aus; so wie es abends die Treppe heraufpolterte, zitterte ich vor Angst und Entsetzen. Nichts als den unter Tränen hergestotterten Ruf: der Sandmann! der Sandmann! konnte die Mutter aus mir herausbringen. Ich lief darauf in das Schlafzimmer, und wohl die ganze Nacht über quälte mich die fürchterliche Erscheinung des Sandmanns. – Schon alt genug war ich geworden, um einzusehen, dass das mit dem Sandmann und seinem Kindernest im Halbmonde, so wie es mir die Wartefrau erzählt hatte, wohl nicht ganz seine Richtigkeit haben könne; indessen blieb mir der Sandmann ein fürchterliches Gespenst, und Grauen – Entsetzen ergriff mich, wenn ich ihn nicht allein die Treppe heraufkommen, sondern auch meines Vaters Stubentür heftig aufreißen und hineintreten hörte. Manchmal blieb er lange weg, dann kam er öfter hintereinander. Jahre lang dauerte das, und nicht gewöhnen konnte ich mich an [6] den unheimlichen Spuk, nicht bleicher wurde in mir das Bild des grausigen Sandmanns. Sein Umgang mit dem Vater fing an meine Fantasie immer mehr und mehr zu beschäftigen: den Vater darum zu befragen hielt mich eine unüberwindliche Scheu zurück, aber selbst – selbst das Geheimnis zu erforschen, den fabelhaften Sandmann zu sehen, dazu keimte mit den Jahren immer mehr die Lust in mir empor. Der Sandmann hatte mich auf die Bahn des Wunderbaren, Abenteuerlichen gebracht, das so schon leicht im kindlichen Gemüt sich einnistet. Nichts war mir lieber, als schauerliche Geschichten von Kobolten, Hexen, Däumlingen usw. zu hören oder zu lesen; aber obenan stand immer der Sandmann, den ich in den seltsamsten, abscheulichsten Gestalten überall auf Tische, Schränke und Wände mit Kreide, Kohle hinzeichnete. Als ich zehn Jahre alt geworden, wies mich die Mutter aus der Kinderstube in ein Kämmerchen, das auf dem Korridor unfern von meines Vaters Zimmer lag. Noch immer mussten wir uns, wenn auf den Schlag neun Uhr sich jener Unbekannte im Hause hören ließ, schnell entfernen. In meinem Kämmerchen vernahm ich, wie er bei dem Vater hineintrat und bald darauf war es mir dann, als verbreite sich im Hause ein feiner seltsam riechender Dampf. Immer höher mit der Neugierde wuchs der Mut, auf irgendeine Weise des Sandmanns Bekanntschaft zu machen. Oft schlich ich schnell aus dem Kämmerchen auf den Korridor, wenn die Mutter vorübergegangen, aber nichts konnte ich erlauschen, denn immer war der Sandmann schon zur Türe hinein, wenn ich den Platz erreicht hatte, wo er mir sichtbar werden musste. Endlich von unwiderstehlichem Drange getrieben, beschloss ich, im Zimmer des Vaters selbst mich zu verbergen und den Sandmann zu erwarten.
An des Vaters Schweigen, an der Mutter Traurigkeit merkte ich eines Abends, dass der Sandmann kommen werde; ich schützte daher große Müdigkeit vor, verließ schon vor neun Uhr das Zimmer und verbarg mich dicht neben der Türe in einem Schlupfwinkel. Die Haustür [7] knarrte, durch den Flur ging es, langsamen, schweren, dröhnenden Schrittes nach der Treppe. Die Mutter eilte mit dem Geschwister mir vorüber. Leise – leise öffnete ich des Vaters Stubentür. Er saß, wie gewöhnlich, stumm und starr den Rücken der Türe zugekehrt, er bemerkte mich nicht, schnell war ich hinein und hinter der Gardine, die einem gleich neben der Türe stehenden offenen Schrank, worin meines Vaters Kleider hingen, vorgezogen war. – Näher – immer näher dröhnten die Tritte – es hustete und scharrte und brummte seltsam draußen. Das Herz bebte mir vor Angst und Erwartung. – Dicht, dicht vor der Türe ein scharfer Tritt – ein heftiger Schlag auf die Klinke, die Tür springt rasselnd auf! – Mit Gewalt mich ermannend gucke ich behutsam hervor. Der Sandmann steht mitten in der Stube vor meinem Vater, der helle Schein der Lichter brennt ihm ins Gesicht! – Der Sandmann, der fürchterliche Sandmann ist der alte Advokat Coppelius, der manchmal bei uns zu Mittage isst! –
Aber die grässlichste Gestalt hätte mir nicht tieferes Entsetzen erregen können, als eben dieser Coppelius. – Denke dir einen großen breitschultrigen Mann mit einem unförmlich dicken Kopf, erdgelbem Gesicht, buschigten grauen Augenbrauen, unter denen ein paar grünliche Katzenaugen stechend hervorfunkeln, großer, starker über die Oberlippe gezogener Nase. Das schiefe Maul verzieht sich oft zum hämischen Lachen; dann werden auf den Backen ein paar dunkelrote Flecke sichtbar und ein seltsam zischender Ton fährt durch die zusammengekniffenen Zähne. Coppelius erschien immer in einem altmodisch zugeschnittenen aschgrauen Rocke, ebensolcher Weste und gleichen Beinkleidern, aber dazu schwarze Strümpfe und Schuhe mit kleinen Steinschnallen. Die kleine Perücke reichte kaum bis über den Kopfwirbel heraus, die Kleblocken standen hoch über den großen roten Ohren und ein breiter verschlossener Haarbeutel starrte von dem Nacken weg, so dass man die silberne Schnalle sah, die die gefältelte Halsbinde schloss. Die ganze Figur war überhaupt [8] widrig und abscheulich; aber vor allem waren uns Kindern seine großen knotigten, haarigten Fäuste zuwider, sodass wir, was er damit berührte, nicht mehr mochten. Das hatte er bemerkt, und nun war es seine Freude, irgendein Stückchen Kuchen, oder eine süße Frucht, die uns die gute Mutter heimlich auf den Teller gelegt, unter diesem, oder jenem Vorwande zu berühren, dass wir, helle Tränen in den Augen, die Näscherei, der wir uns erfreuen sollten, nicht mehr genießen mochten vor Ekel und Abscheu. Ebenso machte er es, wenn uns an Feiertagen der Vater ein klein Gläschen süßen Weins eingeschenkt hatte. Dann fuhr er schnell mit der Faust herüber, oder brachte wohl gar das Glas an die blauen Lippen und lachte recht teuflisch, wenn wir unsern Ärger nur leise schluchzend äußern durften. Er pflegte uns nur immer die kleinen Bestien zu nennen; wir durften, war er zugegen, keinen Laut von uns geben und verwünschten den hässlichen, feindlichen Mann, der uns recht mit Bedacht und Absicht auch die kleinste Freude verdarb. Die Mutter schien ebenso, wie wir, den widerwärtigen Coppelius zu hassen; denn so wie er sich zeigte, war ihr Frohsinn, ihr heiteres unbefangenes Wesen umgewandelt in traurigen, düstern Ernst. Der Vater betrug sich gegen ihn, als sei er ein höheres Wesen, dessen Unarten man dulden und das man auf jede Weise bei guter Laune erhalten müsse. Er durfte nur leise andeuten und Lieblingsgerichte wurden gekocht und seltene Weine kredenzt.
Als ich nun diesen Coppelius sah, ging es grausig und entsetzlich in meiner Seele auf, dass ja niemand anders, als er, der Sandmann sein könne, aber der Sandmann war mir nicht mehr jener Popanz aus dem Ammenmärchen, der dem Eulennest im Halbmonde Kinderaugen zur Atzung holt – Nein! – ein hässlicher gespenstischer Unhold, der überall, wo er einschreitet, Jammer – Not – zeitliches, ewiges Verderben bringt.
Ich war festgezaubert. Auf die Gefahr entdeckt, und, wie ich deutlich dachte, hart gestraft zu werden, blieb ich [9] stehen, den Kopf lauschend durch die Gardine hervorgestreckt. Mein Vater empfing den Coppelius feierlich. »Auf! – zum Werk«, rief dieser mit heiserer, schnarrender Stimme und warf den Rock ab. Der Vater zog still und finster seinen Schlafrock aus und beide kleideten sich in lange schwarze Kittel. Wo sie die hernahmen, hatte ich übersehen. Der Vater öffnete die Flügeltür eines Wandschranks; aber, ich sah, dass das, was ich so lange dafür gehalten, kein Wandschrank, sondern vielmehr eine schwarze Höhlung war, in der ein kleiner Herd stand. Coppelius trat hinzu und eine blaue Flamme knisterte auf dem Herde empor. Allerlei seltsames Geräte stand umher. Ach Gott! – wie sich nun mein alter Vater zum Feuer herabbückte, da sah er ganz anders aus. Ein grässlicher krampfhafter Schmerz schien seine sanften ehrlichen Züge zum hässlichen widerwärtigen Teufelsbilde verzogen zu haben. Er sah dem Coppelius ähnlich. Dieser schwang die glutrote Zange und holte damit hell blinkende Massen aus dem dicken Qualm, die er dann emsig hämmerte. Mir war es als würden Menschengesichter ringsumher sichtbar, aber ohne Augen – scheußliche, tiefe schwarze Höhlen statt ihrer. »Augen her, Augen her!« rief Coppelius mit dumpfer dröhnender Stimme. Ich kreischte auf von wildem Entsetzen gewaltig erfasst und stürzte aus meinem Versteck heraus auf den Boden. Da ergriff mich Coppelius, »kleine Bestie! – kleine Bestie!« meckerte er zähnefletschend! – riss mich auf und warf mich auf den Herd, dass die Flamme mein Haar zu sengen begann: »Nun haben wir Augen – Augen – ein schön Paar Kinderaugen.« So flüsterte Coppelius, und griff mit den Fäusten glutrote Körner aus der Flamme, die er mir in die Augen streuen wollte. Da hob mein Vater flehend die Hände empor und rief: »Meister! Meister! lass meinem Nathanael die Augen – lass sie ihm!« Coppelius lachte gellend auf und rief: »Mag denn der Junge die Augen behalten und sein Pensum flennen in der Welt; aber nun wollen wir doch den Mechanismus der Hände und der Füße recht observieren.« Und damit fasste er mich [10]
Was soll ich dich ermüden, mein herzlieber Lothar! was soll ich so weitläuftig Einzelnes hererzählen, da noch so vieles zu sagen übrig bleibt? Genug! – ich war bei der Lauscherei entdeckt, und von Coppelius gemisshandelt worden. Angst und Schrecken hatten mir ein hitziges Fieber zugezogen, an dem ich mehrere Wochen krank lag. »Ist der Sandmann noch da?« – Das war mein erstes gesundes Wort und das Zeichen meiner Genesung, meiner Rettung. – Nur noch den schrecklichsten Moment meiner Jugendjahre darf ich dir erzählen; dann wirst du überzeugt sein, dass es nicht meiner Augen Blödigkeit ist, wenn mir nun alles farblos erscheint, sondern, dass ein dunkles Verhängnis wirklich einen trüben Wolkenschleier über mein Leben gehängt hat, den ich vielleicht nur sterbend zerreiße. –
Ein Jahr mochte vergangen sein, als wir der alten unveränderten Sitte gemäß abends an dem runden Tische saßen. Der Vater war sehr heiter und erzählte viel Ergötzliches von den Reisen, die er in seiner Jugend gemacht. Da hörten wir, als es neune schlug, plötzlich die Haustür in den Angeln knarren und langsame eisenschwere Schritte dröhnten durch den Hausflur die Treppe herauf. »Das ist [11] Coppelius«, sagte meine Mutter erblassend. »Ja! – es ist Coppelius«, wiederholte der Vater mit matter gebrochener Stimme. Die Tränen stürzten der Mutter aus den Augen. »Aber Vater, Vater!« rief sie, »muss es denn so sein?« »Zum letzten Male!« erwiderte dieser, »zum letzten Male kommt er zu mir, ich verspreche es dir. Geh nur, geh mit den Kindern! – Geht – geht zu Bette! Gute Nacht!«
Die Explosion hatte die Nachbarn geweckt, der Vorfall wurde ruchbar und kam vor die Obrigkeit, welche den Coppelius zur Verantwortung vorfordern wollte. Der war aber spurlos vom Orte verschwunden.
Ich bin entschlossen es mit ihm aufzunehmen und des Vaters Tod zu rächen, mag es denn nun gehen wie es will.