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Die Autorin

Foto: © privat

Jessica Shirvington hat eine Kaffeeimportfirma gegründet und geleitet und nebenbei zu schreiben begonnen. Nach ihrem ersten Roman »Erwacht« erscheint mit »Verlockt« nun der zweite Band ihrer Engel-Saga. Jessica Shirvington lebt mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Sydney. Neben ihrer Familie widmet sie sich nun ganz dem Schreiben.

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cbt ist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Deutsche Erstausgabe März 2012

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2012 für die deutschsprachige Ausgabe cbj Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Enticed« bei Hachette Australia, Sydney.

© 2011 by Jessica Shirvington

Published by arrangement with Jessica Shirvington

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Aus dem Amerikanischen von Sonja Häußler

Umschlaggestaltung und Umschlagmotiv: © bürosüd°, München

jb · Herstellung: AnG

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-06734-2
V003

www.cbt-jugendbuch.de

Für Mum und Dad,

weil ich durch sie immer jemanden hatte,

zu dem ich aufschauen konnte, und weil sie sowohl in meinem Leben als auch in meiner Arbeit ein steter Quell der Inspiration sind.

Danke, dass ihr immer da seid.

Ich liebe euch.

»Ich bin der Herr, und sonst keiner mehr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil. Ich bin der Herr, der dies alles tut.«

Jesaja 45,7

Prolog

»Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es freiwillig.«

Johannes 10, 18

Dem Engel war befohlen worden, seine Wahl zu treffen. Sie sollte seinem freien Willen unterliegen. Aber was sie von ihm forderten, hatte einen hohen Preis. Wahrscheinlich würde er niemals zurückkehren. Höchstwahrscheinlich würde er vernichtet werden. Oder noch schlimmer.

Und niemand würde jemals die Wahrheit erfahren.

»Du hast dich also entschieden«, sagte eine Stimme zu ihm.

In jedem Augenblick empfand ich das Gleiche wie er – die verschwommene Version der Zeit an diesem Ort, der im Jenseits liegen musste – aber sehen konnte ich nichts. Es war surreal; keine sichtbaren Personen – nur ihre Präsenz oder vielleicht ihre Auren.

Es ging nicht darum, was gesagt wurde. Als er seine Entscheidung traf, wussten sie es sofort. Wahrscheinlich wussten sie es noch vor ihm. Er konnte sie überall um sich herum spüren, die mächtigen Seraphim. Ihr grenzenloses Wissen verlieh ihnen eine überwältigende Präsenz, aber an diesem Tag fühlte sie sich bitter an.

»Wenn die erste deiner Aufgaben erfüllt ist, wirst du zur nächsten übergehen. Du darfst dich nicht zu erkennen geben und dich niemandem anschließen, vor allem keinen Verbannten, es sei denn, es dient der Erfüllung deiner Ziele.«

»Ich verstehe.«

»Du wirst drei Jahre warten, bis der Tag kommt, an dem du handeln musst. Er hat eine Aufgabe zu erfüllen. Und das wird nicht möglich sein ohne dein vorheriges Handeln.«

»Ich verstehe.«

Und das tat er – er verstand. Er hatte aus seinem freien Willen heraus die Entscheidung getroffen, trotz des Opfers, das er bringen musste. Denn er wusste, dass es nur von ihm verlangt wurde, weil er die perfekte Wahl war.

Er spürte das Universum um sich herum, die Freiheit uneingeschränkter Herrschaft über Raum und Reich, und fragte sich, wann er das je wieder fühlen würde – und ob überhaupt.

»Wähle einen Namen, der in die Zeit passt, wenn du dort bist. Geh jetzt.«

Und so geschah es. Sein Übergang führte ihn mitten durch Bilder von Zorn und aufgebrachten Menschenmassen. Zu seinem Schicksal. Zum Tod. Das Aufblitzen eines Kusses. Alles, was kommen wird.

Um mich herum lichtete sich der Nebel und meine Umgebung wurde sichtbar. Plötzlich war ich in meinem Atelier. Am Fenster stand eine Gestalt, die ich erkannte. Die, die ich für den Engel hielt, der mich gemacht hatte.

»Wie heißt du?«, fragte ich, noch immer erstaunt über die Art und Weise, wie meine Worte in diesen Träumen durch die Luft zu schweben schienen, als hätten sie ihre eigene, körperliche Präsenz.

»Das tut nichts zur Sache. Aber wenn du einen Namen brauchst, kannst du mich Lochmet nennen.«

»Was bedeutet das?«

»Krieger.«

Ich schluckte, plötzlich war ich nervös. Die Art, wie er das sagte – mit so viel Kraft und Selbstvertrauen –, ließ ihn so mächtig erscheinen.

»Warum hast du mir diesen Engel gezeigt? Ich begreife das nicht.«

»Noch nicht. Aber du wirst es verstehen. Es ist nur ein Schicksalsfaden einer einzigen Existenz, vor sehr langer Zeit.«

»Nein, bitte nicht … bitte sag es mir einfach.«

Er wandte sich mit gestrafften Schultern zu mir um und ich rang mit widerstreitenden Gefühlen. Einerseits fühlte ich mich zu ihm hingezogen, andererseits wollte ich mich verstecken. Ich war mir sicher, dass er das sehen konnte, dass er direkt in mich hineinschauen konnte, was mich nur noch verletzlicher machte.

»Wir alle können den Willen aufbringen zu tun, was getan werden muss – auch wenn uns das, was wir tun müssen, am meisten Angst einflößt. Denk immer daran.«

»Das war’s? Das erklärt überhaupt nichts. Wer war er? Ich dachte, es sei gegen die Engelgesetze, ins Exil auf die Erde zu gehen. Wie kommt es, dass die Seraphim es von diesem Engel verlangten?«

Er betrachtete mich einen weiteren zögerlichen, ausdruckslosen Moment lang, bevor sich sein Kopf zu einem Gemälde neben ihm neigte. Die Ansicht eines Sandstrands mit mitternachtsblauer See, die gegen Felsen brandete, schien ihn zu berühren. Er streckte den Arm aus und fuhr leicht mit den Fingern über die gewellte Struktur der mit Ölfarben bemalten Leinwand. Einen Moment lang war das Schweigen zwischen uns beinahe angenehm.

Aber dann schaute er mich wieder an und ich wusste: Er würde mir nicht mehr über den Engel erzählen, den er mir gezeigt hatte.

»Sei vorsichtig. Ein Verräter ist unter den Deinen«, sagte er.

»Wer ist es?«

Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder zum Fenster.

»Du musst deinen Weg gehen und deine Fußabdrücke als Beweis deiner Reise hinterlassen. Das kann ich dir nicht abnehmen … oder es ändern.«

Seine Stimme ließ zum ersten Mal einen Hauch von Gefühl erahnen – ein winziges, fast unmerkliches Beben.

»Aber du hast mir schon einmal geholfen«, begann ich. »Vor zwei Jahren, in diesem Klassenzimmer …« Selbst in meinem Traum spürte ich die schreckliche Erinnerung und den Kloß im Hals, der mich nicht weitersprechen ließ. »Es kann niemand anderes gewesen sein. Du hast die Lehrerin durch die Schule geschickt, damit sie mir hilft.«

Ich schluckte schwer und kämpfte darum, dass meine Gedanken nicht zu jenem Tag abschweiften, zu jenem Lehrer, der mich nach unten drückte, während ich mich unter seinem schweren Gewicht zur Wehr setzte.

»Du hast eingegriffen«, sagte ich, dann senkte ich den Kopf. »Danke.«

Sein Schweigen gab mir die Bestätigung, die ich gebraucht hatte. Ich schaute mich im Zimmer um, unsicher, was ich als Nächstes sagen sollte. Meine Gemälde umgaben mich, aber anders als zuvor waren jetzt auch diejenigen dabei, die ich nur geplant hatte. Die ich mir vorgestellt hatte. Irgendwie waren in diesem Raum die Gemälde meiner Vorstellung.

Ich schauderte.

Hinter mir hörte ich ein Brüllen. Ein tiefes Grollen, das so stark war, dass ich es durch meine Beine bis zu meinem Rückgrat spüren konnte.

»Mein Löwe«, flüsterte ich.

Ich drehte mich in traumartiger Zeitlupe um. Da war nichts. Ich wandte mich wieder meinem Engel zu. Er war weg. Regen spritzte durch den Riss im Fenster.

Ich stand da und wartete.

Und dann explodierte alles um mich herum in einem Lichtblitz aus Farben, die zu einem Nichts verpufften. Ich war nirgendwo, allein mit dem Regen, der mir mit jedem Tropfen überraschend kalt ins Gesicht stach.

Scherben aus Eis.

Kalt genug, um mich aufzuwecken.

Kapitel Eins

»In der Natur gibt es weder Belohnungen noch Strafen. Es gibt Folgen.«

Robert Green Ingersoll

Ich hielt den Dolch in meiner rechten Hand. Das Heft war schwer und raffiniert verziert, die Klinge war lang und dünn. Die scharfe Spitze hinterließ einen Abdruck auf der Spitze meines Zeigefingers – gerade genug, um zu pieksen und die Erinnerungen heraufzubeschwören. Entscheidungen waren getroffen worden und ich hatte die Folgen zu tragen. Auch wenn ich alles noch mal genauso machen würde, auch wenn ich jetzt wusste, dass ich eine Aufgabe hatte, die wichtiger war als alles andere – die Wahrheit war: Ich trauerte um das Leben, das ich zurückgelassen hatte. Langsam drehte ich das Heft und schaute zu, wie die Spitze des Dolches eine Pirouette auf meinem Finger drehte.

Mein Dolch – der Dolch, mit dem ich mich selbst getötet hatte.

Ich legte ihn neben mich, weil ich ihn nicht länger berühren wollte, konnte ihn aber nicht wegräumen. Ich wollte mich ausklinken. Mich auf die positiven Seiten konzentrieren. Zum Beispiel darauf, dass ich Anfang dieser Woche meine Tage bekommen hatte. Noch nie war ich so glücklich über einen eiligen Gang zum Drogeriemarkt gewesen.

Alles, woran ich je geglaubt hatte, war erschüttert. Es war noch immer demütigend, zu wissen, dass ich unter Phoenix’ Einfluss so naiv gewesen war. Ich hatte wirklich gedacht, ihm trauen zu können – so sehr, dass ich meine Jungfräulichkeit an ihn verloren und somit unabsichtlich eine Art emotionales Band zwischen uns erschaffen hatte. Eine Verbindung, die er ausnutzte, um meine ohnehin schon zerbrechliche Freundschaft mit Lincoln zu zerstören. Darüber hinaus war ich von einem Felsen gesprungen, wäre beinahe von einem Haufen durchgeknallter Psycho-Verbannter umgebracht worden und hatte entdeckt, dass Phoenix der Sohn der ersten Verbannten der Dunkelheit, Lilith, war und dass er mich mit einem Trick dazu gebracht hatte, eine Grigori zu werden. Und, na ja, Kondome waren da nicht meine erste Sorge gewesen.

Am schwierigsten war es, diese Erinnerungen – und Fragen – abzuschütteln, wenn ich allein war. Ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass sich Dad am wohlsten bei der Arbeit fühlte, weil er dort seinen eigenen Erinnerungen entfliehen konnte. Für mich stellte das ein Problem dar: Wenn ich allein war, konnte ich das hartnäckige Flüstern meiner Vergangenheit nicht abwehren.

Ich ging in mein Atelier und trug ein paar Schichten frischer Farbe auf – ich hatte mir erst kürzlich einen neuen Vorrat schillernder Farben zugelegt, und seit ich von der Schule nach Hause gekommen war, spielte ich damit herum. Da piepste mein Handy.

Bin vor der Tür, wo bist du?

Ich atmete aus und warf einen Blick in den Spiegel. Ich hatte mal wieder die Zeit vergessen. Jetzt war ich spät dran und sah beschissen aus. Mein langes, dunkles Haar war zu einem verfilzten Knoten verdreht, und die losen Strähnen, die mir ums Gesicht fielen, waren mit roter und grauer Farbe verschmiert. Ich hatte mir heute Morgen noch nicht einmal die Mühe gemacht, mich zu schminken. Grundierung brauchte ich zwar keine – die meisten davon waren ohnehin zu dunkel oder zu gelblich für meinen cremigen Teint –, aber Mascara war ein Muss für meine ansonsten glanzlosen haselnussbraunen Augen. Das Einzige, was ich jetzt noch in Ordnung bringen konnte, waren meine Klamotten.

Bin in 5 Minuten unten.

Ich rannte in mein Zimmer, zog mich auf dem Weg dorthin aus und schlüpfte in meine altbewährten Jeans, die einzige Option, wenn ich unter Zeitdruck stand, und in das erstbeste T-Shirt, das ich finden konnte – langweilig schwarz, aber sauber. Ich versuchte, mein Haar zu retten, scheiterte aber. Schließlich steckte ich es zu einer neuen Version des gleichen unordentlichen Knotens nach oben; vor meinen farbverschmierten Händen kapitulierte ich. Nach einem hektischen Versuch, wenigstens eine Schicht Mascara aufzutragen, schnappte ich mir meinen Dolch und ging zur Tür hinaus. Beim Gehen zog ich mir die Turnschuhe an.

Dass der Spiegel im Aufzug nicht in schallendes Gelächter ausbrach, war ein echtes Wunder.

Shit.

Als ich die Eingangstür des Wohngebäudes erreichte, hatte ich mein Aussehen total vergessen und konzentrierte mich unbewusst, aber vorhersehbar auf Lincoln. Krankhafte Vorfreude keimte in mir auf, durchflutete mich und wurde mit jedem Atemzug stärker.

Ja, ich war ihm vollkommen verfallen.

Schlimmer denn je, wenn das überhaupt möglich war.

Es gab eine Zeit, in der ich glaubte, Lincoln würde meine Liebe nicht erwidern, aber jetzt … Na ja, es ist komplizierter denn je, aber die Schwingungen – diese verrückten, unberechenbaren Vibes, die zwischen zwei Menschen den Funken überspringen lassen, zwei Menschen, die umeinander herumtanzen und sich gleichzeitig entgegenfiebern. Durch diese Schwingungen musste ich durch, strauchelnd, als würde ich mich durch ein Dickicht schlagen, wann immer wir uns nah waren.

»Hey. Ich weiß, dass es cool ist, zu spät zu kommen, aber könntest du wenigstens die akademische Viertelstunde einhalten?«, fragte Lincoln mit einem Lächeln in der Stimme. Ich spürte, wie seine Augen mich musterten, und rasch fiel mir wieder mein katastrophales Aussehen ein. Ich strich mir das Haar hinter die Ohren und er schenkte mir ein schräges Lächeln. Er kannte mich zu gut.

»Weißt du, wenn du so redest, merkt man dir dein Alter echt an«, witzelte ich, während ich meine Schlüsselkarte in die Tasche steckte.

Lincolns Augenbrauen schossen nach oben.

Na, bravo, Vi.

Noch nicht mal eine Minute zusammen, und schon hatte ich für betretenes Schweigen gesorgt. Der Altersunterschied zwischen uns spielte eine noch größere Rolle, seit ich herausgefunden hatte, dass er zwar aussah wie höchstens zweiundzwanzig, er in Wirklichkeit jedoch schon sechsundzwanzig war. Da ich erst siebzehn war, vergrößerte dies die Kluft zwischen uns auf stolze neun Jahre. Andererseits waren weder Lincoln noch ich auf die normalen Maßstäbe bezüglich der Lebenserwartung beschränkt, da wir Grigori waren. Wenn wir uns bis dahin nicht umbringen ließen, würden wir wahrscheinlich ein paar Hundert Jahre alt werden, wobei sich der Alterungsprozess umso mehr verlangsamen würde, je älter wir würden. Deshalb würde der Altersunterschied letztendlich nicht ins Gewicht fallen. Es waren die übrigen Rahmenbedingungen, die uns zu schaffen machten.

»Wohin gehen wir denn?«, fragte ich, begierig, das Thema zu wechseln.

»Griffin hat gerade angerufen. Er hat einen Tipp erhalten. Ein paar Blocks von hier entfernt wurden Verbannte gesichtet. Wenn wir uns gleich auf den Weg machen, sollten wir sie noch erwischen. Bist du bereit?«

Lincoln wollte, dass ich gut war. Er wollte, dass ich stark und kompetent war. Das gehörte zu den Dingen, die ich an ihm liebte. Er wollte nicht, dass ich mich versteckte und nicht in der Lage war, mich selbst zu verteidigen, doch gleichzeitig konnte ich die Besorgnis in seiner Stimme hören.

»Ja, lass uns gehen.« Ich sammelte mich wieder und versuchte, so sicher zu klingen, wie ich sein sollte.

Seit ich zu einer Grigori wurde, hat sich mein Leben total verändert. Ich bin jetzt eine Kriegerin. Das passt mir in vielerlei Hinsicht ganz gut. Es gefällt mir, stark zu sein, und es ist auch okay für mich, durch übernatürliche Kräfte zusätzliche Fähigkeiten zu besitzen. Ich hatte auf die harte Tour gelernt, dass verbannte Engel nichts unter Menschen verloren haben. Es gibt sehr gute Gründe dafür, dass wir durch Raum und Zeit getrennt waren. Außerdem sind Engel einfach nicht dafür gemacht, mit den emotionalen Besonderheiten zurechtzukommen, die ein körperliches Dasein mit sich bringt.

Menschen können von Geburt an fühlen, berühren, riechen, Liebe und Schmerz körperlich erfahren. Engel können das nicht. Sie können es nicht bewältigen, menschlich zu werden. Am Ende werden sie verrückt und die meisten von ihnen waren vorher schon rachsüchtige Monster.

Doch obwohl ich das alles wusste, sträubte sich ein Teil von mir noch immer gegen den Plan, sie zu töten. Rein technisch taten wir das zwar nicht, denn wir nahmen den Verbannten nur ihre körperliche Form, wenn wir sie in ihr eigenes Reich zurückschickten. Aber

Und als wäre das noch nicht genug: Seit der Annahme meiner Engelhälfte in der Wüste, bei der ich die Klinge in mein eigenes Abbild gerammt hatte, bin ich nicht in der Lage gewesen, meinen Dolch zu benutzen, auch wenn ich kaum ohne ihn irgendwohin gehe. Er steckt in einer Scheide und ist sorgfältig mit einer »Blendung« versehen, damit er von normalen Menschen nicht gesehen werden kann (der Gedanke daran, nicht mehr zu den normalen Menschen zu gehören, ist seltsam), und wann immer ich trainiere oder, wie jetzt, auf die Jagd gehe, nehme ich mir ganz fest vor, ihn zu benutzen, falls es die Situation verlangt.

»Sicher, dass alles okay ist? Ich kann auch Griffin anrufen und ihn bitten, mit ein paar von den anderen hinzugehen.«

»Und wer sollte mit ihm gehen? Magda kommt erst in ein paar Tagen zurück, und alle anderen, die infrage kommen würden, haben bereits zu tun.«

Lincoln senkte den Kopf. Beim Gehen stupste ich ihn an der Schulter. »Alles okay. Außerdem: Übung macht den Meister, nicht wahr?«

Er holte Luft, um sich zu sammeln, dann richtete er sich auf und fuhr sich mit der Hand durch sein golden schimmerndes braunes Haar. Er wusste, dass er es mir nicht mehr ausreden konnte, und irgendwann musste er sich ja darauf einlassen. Es würde keinem von uns helfen, wenn wir nicht zusammenarbeiteten.

»Klar«, sagte er mit einer Endgültigkeit, die mich zum Lächeln brachte. Damit ging er nahtlos zu einem motivierenden Vortrag über Taktik über, den ich mir aufmerksam anhörte. Ich war gerade erst dabei zu lernen, eine Grigori zu sein, eine Kriegerin, doch Lincoln war da schon viel weiter. Unter seiner freundlichen Fassade schlummerte ein mächtiger Krieger.

Kapitel Zwei

»Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen?«

Hiob 2,10

Die Straßen um die Brücke herum waren dunkel und unheimlich. Obdachlose scharten sich um die massiven Steinpfeiler, die sie als Stütze für ihre provisorischen Behausungen nutzten. Die Gegend war einigermaßen geschützt, und da sowieso jeder wusste, dass hier immer Obdachlose herumlungerten, konnten diese nachts in aller Ruhe ihre Einkaufswagen und Planen auspacken. Tagsüber verzogen sich die meisten von ihnen. Eine Tatsache, die Steph verblüffte. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, wie jemand sein Hab und Gut in einem einzigen Einkaufswagen unterbringen konnte. Das letzte Mal, als wir uns in diesen Teil der Stadt verlaufen hatten, spekulierte sie wie wild darüber, wo sie wohl die Einkaufswagen mit ihren Habseligkeiten tagsüber verbargen. Ich meine, da hat sie nicht ganz unrecht. Schließlich sieht man tagsüber nicht Dutzende Obdachlose herumlaufen, die einen Einkaufswagen vor sich herschieben. Und irgendwohin müssen sie schließlich gehen.

Gerade als wir in eine kleine Nebenstraße abbogen, verschwand der letzte Rest Tageslicht. Straßenlampen gab es hier keine. Der Abend war klar und es war kühl, aber das Fehlen von Licht verunsichert mich immer; außerdem bevorzugen natürlich sowohl die Verbannten des Lichts als auch die der Finsternis den Schutz der Dunkelheit für ihre Spielchen.

Ganz oben auf der To-do-Liste der Verbannten steht, sich über die Schmerzen der Menschen zu amüsieren. Sie haben die Fähigkeit, die Vorstellungskraft zu beeinflussen und was immer ihnen an Horrorfilmen gefällt in den Kopf eines Menschen zu setzen. Manche von ihnen tun das nur, um zu verhöhnen oder Angst einzujagen, andere setzen es als eine Art Strategie ein.

Laut Griffin haben sie diese Fähigkeit im Lauf der Zeit immer wieder dazu verwendet, Menschen komplett aus der Bahn zu werfen.

Offensichtlich kommen daher die Mythen von Vampiren, Werwölfen und anderen gruseligen Dingen, selbst die von Feen und Elfen. Wenn Verbannte spüren, dass ihre übernatürlichen Kräfte entdeckt wurden und sie nicht in der Lage sind, das Problem durch ihre bevorzugte Methode, das Töten, zu lösen, geben sie einfach vor, nicht menschlich zu sein, sondern irgendetwas anderes, alles Mögliche, nur nicht das, was sie wirklich sind.

Das macht Sinn. Ich habe gelernt, dass die Leute im Großen und Ganzen besser mit der virtuellen Realität von Vampiren und intergalaktischen Besuchern klarkommen als mit der verstörenden Aussicht auf ein biblisches Armageddon durch ehemalige Engel – ganz gleich ob des Lichts oder der Finsternis –, die jetzt, getrieben von Rache und Machthunger, als Verbannte unter uns leben. Ja, wir sind aus eigener Entscheidung naiv.

Ich schaute, soweit es mein Blick erlaubte, die schmale Straße entlang. Überall lagen Obdachlose auf flach gedrückten Pappkartons. Wer Glück hatte, war in einen zerrissenen Schlafsack gewickelt, der Rest hatte sich mit Stapeln alter Zeitungen zugedeckt. Ich suchte die dunklen Backsteinmauern ab, die auf beiden Straßenseiten mindestens fünf Stockwerke hoch verliefen. Der Schutz, den sie boten, machte diese Gegend unter anderem so beliebt.

Lincoln ging langsam neben mir her, seine Hand berührte kurz meinen Ellbogen – eine stumme Erinnerung daran, dass ich wachsam sein musste. Ich versuchte, mich rasch durch die Hitzewelle zu bewegen, die mich überkam, wann immer ich seine Berührung spürte.

Ich blieb stehen und er schaute mich an, eine Frage zeichnete sich auf seinen Gesichtszügen ab. Noch bevor ich mich zurückhalten konnte, lächelte ich in seine smaragdgrünen Augen.

»Ich glaube, ich kann sie spüren«, sagte ich.

Ich glaubte es nicht, ich wusste es. Ich hatte schon während der letzten paar Blocks den Geschmack von Apfel wahrgenommen und das Geräusch flatternder Vögel in den Bäumen konnte außer mir hier niemand hören. Das waren meine engelhaften Sinne. Die meisten Grigori hatten einen davon. Einige, wie Lincoln, hatten zwei. Ich Glückliche hatte gleich alle fünf und schien sie schärfer wahrzunehmen als jeder andere Grigori, dem ich je begegnet war. Großartig, wenn man besonders war und so weiter, aber wenn man fünf zusätzliche Sinne hat, kann das ziemlich überwältigend sein.

»Wie lange spürst du sie schon?«

Ich zögerte. Er merkte es. »Violet … wie lange schon?«

Ich hatte Angst, Lincoln würde mich verurteilen – als wäre die Tatsache, dass ich sie von so viel weiter weg spüren konnte, eine Form von übernatürlicher Arroganz, die mich ihm entfremdete. »Nicht lang. Vielleicht seit der letzten Straße«, sagte ich verlegen.

Lincoln schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Seit drei Straßen.«

Seine Mundwinkel kräuselten sich. Er musste sich zusammenreißen um nicht bis über beide Ohren zu grinsen. Ich war so eine Idiotin – er war stolz auf mich.

Ich verdrehte die Augen über seinen funkelnden Gesichtsausdruck. »Sie sind auf der Straße. Es sind zwei«, sagte ich.

Er nickte und konzentrierte sich wieder. »Ich kann sie riechen.« Sein wichtigster Engelsinn war Geruch, aber er konnte auch Dinge hören.

Ich nickte ebenfalls. Morgen und Abend, oder genauer gesagt, die Macht, die sie erschuf, flackerten vor meinen Augen, während Übelkeit erregend süßer Blumenduft die Gegend so stark einhüllte, dass er den schlechten Geruch der Straße überdeckte.

Er stellte sich mit einem kleinen Schritt vor mich und ich ließ ihn gewähren. Ich konnte sie zwar aus weiterer Entfernung wahrnehmen, aber Lincoln konnte sie besser einschätzen und viel schneller als ich den stärksten erkennen.

Sie tauchten aus der Dunkelheit auf, sahen aus wie Menschen, aber gleichzeitig auch nicht. Beide waren lässig gekleidet, aber der Arm des einen war von oben bis unten mit Blut verschmiert. Er sah aus wie ein Schlachthofmitarbeiter am Ende eines langen Tages. Ich hatte das schreckliche Gefühl zu wissen, was das bedeutete. Verbannte haben die Angewohnheit, die körperlichen Qualen ihrer Opfer zu genießen. Das veranlasste mich dazu, erneut meine Umgebung in Augenschein zu nehmen.

Während ich die beiden, die sich uns näherten, im Auge behielt, warf ich einen raschen Blick auf die schlafenden Menschen zu beiden Seiten der Straße. Warum hatte niemand etwas zu uns gesagt, warum hatte uns niemand davon abgehalten, ihr Territorium zu betreten, wo wir doch eindeutig nicht hierhergehörten? Ich betrachtete eine, dann zwei, dann drei der Gestalten, die unbeweglich in ihren Schlafsäcken steckten. Energie summte durch meinen Körper und ein grausames Surren breitete sich bis in mein Innerstes aus.

Ich hatte das schon einmal zugelassen – hatte der Energie erlaubt, sich meines Körpers zu bemächtigen, mich zu Boden zu zwingen, mich durch die Schmerzen anderer zu lähmen. Ich packte Lincoln am Arm. Er sah mich nicht an, aber ich hatte seine volle Aufmerksamkeit.

»Sie sind alle tot. Sie haben sie alle getötet«, sagte ich und war mir nur allzu bewusst, dass die Verbannten jede Sekunde näher kamen. Agenten des Todes.

»Linc, soll ich … du weißt schon?«, flüsterte ich zittrig. Er wusste, was ich vorschlug. Gleich nachdem ich eine Grigori geworden war, befand ich mich in der unangenehmen Situation, tödlich verwundet und gleichzeitig von Verbannten umgeben zu sein. Damals entdeckte ich, dass ich mehr konnte, als einem Verbannten die Kräfte zu entziehen oder ihn ins Engelreich zurückzuschicken. Normalerweise sind Grigori auf Körperkontakt mit einem Verbannten angewiesen, um ihn so lange außer Gefecht zu setzen, dass sie ihn zurückschicken können. Es stellte sich heraus, dass ich diesen Kontakt nicht brauchte und meine Kräfte sogar auf mehrere Verbannte gleichzeitig anwenden konnte.

»Nein. Du verströmst deine Kräfte in der ganzen Gegend hier. Ist alles okay?«, antwortete Lincoln rasch und leise. Sie kamen näher.

Die Sinneswahrnehmungen waren hart an der Grenze, aber ich hatte sie im Griff … gerade so.

»Alles in Ordnung. Ich könnte es probieren.«

»Konzentrier dich. Halt dich an den Plan«, flüsterte er zurück. Sein Tonfall ließ wenig Raum für Diskussionen.

Großartig. Der Plan. Der, bei dem ich bereitwillig den Dolch einsetze. Nur, dass ich nicht so bereitwillig bin.

Lincoln und Griffin hatten darauf bestanden, dass ich auf die gleiche Weise wie alle anderen Grigori in die Schlacht ziehe. Dass es nicht ausreichte, wenn ich mich darauf verließ, dass ich mit meinen Kräften überall wieder herauskomme. Theoretisch stimmte ich ihnen zu. Aber in diesem Augenblick, in dem ich mitten in der Kampfzone stand und zwei übereifrige, ausgesprochen durchgeknallte Verbannte auf uns zukamen, erschien mir das zu krass.

Die Verbannten blieben vor uns stehen und lächelten. Sie schätzten uns ab, wie es nur überirdische Wesen vermochten. Ein Flackern der Augen, bei dem nicht nur ihr Verteidigungsmechanismus sichtbar wurde, sondern gleichzeitig auch ihr Hunger. Verbannte, sowohl die des Lichts als auch die der Finsternis, hassen die Grigori, und es bereitet ihnen mehr Freude, uns zu töten als alle anderen. Wir stellen ihre größte – ihre einzige – Bedrohung dar. Wenn es den Verbannten gelänge, uns auszulöschen, dann gäbe es für alle anderen keine Hoffnung mehr.

»Ihr seid ein bisschen spät dran«, sagte der Kleinere der beiden, der mit dem blutigen Arm, als hätte er schon auf uns gewartet.

Lincoln war bereits auf gleicher Höhe mit ihm – nicht dass ich eine Vorwarnung gebraucht hätte, dass dies der Gefährlichere von beiden war.

»Wie schade. Wir hätten gern ein paar von ihnen vor euren Augen zerrissen. Ich bevorzuge es, ein Publikum zu haben. Aber wir haben uns gelangweilt.« Er lächelte. Perfekte weiße Zähne, volle rosafarbene Lippen. Wäre ich mir meiner Sinneswahrnehmungen nicht so sicher gewesen, hätte ich geschworen, dass es sich um einen sechzehnjährigen Sportler handelte. Die Sache ist – alle Verbannten sehen gesund und stark aus, alle stehen in der Blüte ihres Lebens.

»Ihr wusstet, dass wir kommen?«, fragte Lincoln und drehte seinen Körper ein wenig, um mich zu schützen.

Der Verbannte lachte. »Ich habe eine Botschaft für dich.«

»Und ich dachte, deine Tage als Bote wären vorbei.«

Der Verbannte, der aussah wie ein Sportler, leckte sich über die Lippen, er konnte sich kaum zusammenreißen. »Die Belohnung, dich und sie zu töten ist mir Motivation genug«, sagte er und warf mir einen Blick zu.

»So?«, sagte Lincoln, er zeigte keinerlei Besorgnis.

Das Lächeln des Verbannten wurde breiter, langsam sprach er weiter. »Nahilius trug mir auf, dir zu sagen, dass er sich das, was dein ist, holen wird.«

Lincoln wurde steif. Der Verbannte lachte laut.

»Triff deine Wahl«, knurrte Lincoln. Man konnte nicht leugnen, dass er lebensgefährlich war, wenn der Krieger in ihm zum Vorschein kam. Doch das waren sie auch.

»Wahl?« Der Sportler lachte. »Wie nett, dass du das anbietest. Ich denke, ich wähle Enthauptung für dich, und für sie … würde ich gern nach Lust und Laune etwas improvisieren. Er blickte mich an, sein Kumpel lachte. Dann sah ich es. So schnell, wie es gekommen war, war es auch wieder weg, aber es war definitiv da gewesen. Erkenntnis.

Er konnte mich wahrnehmen, konnte meine Macht spüren. Angesichts dessen, was er wahrnehmen konnte und was er wahrscheinlich über mich gehört hatte, hätte er eigentlich davonlaufen sollen. Stattdessen stürzte er sich in typischer Verbannten-Manier auf mich und genoss die Herausforderung.

Lincoln war bereit, er streckte den Arm aus und rammte seinen Unterarm gegen den Hals seines Gegners. Dadurch bremste er dessen Geschwindigkeit und lenkte seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung. Das war alles, was ich noch sehen konnte, bevor der andere, unheimliche Ex-Engel begann, in meine Richtung zu schlagen.

Wie kam es, dass sie alle so verdammt gut kämpfen konnten?

Verbannte schienen auf die Erde zu kommen, menschliche Form anzunehmen, und obwohl keiner von ihnen eine großartige Technik hatte, wussten sie alle, wie man zuschlug. Hart zuschlug. Aber das konnte ich dank vieler Trainingsstunden und etwas engelhafter Beihilfe zum Glück auch.

Wir tauschten Schlag um Schlag aus. Für ein Mädchen war ich nicht klein, doch für einen Mann war er groß, deshalb hatte er mir etwas voraus. Er erzielte ein paar gute Schläge auf mein Gesicht, aber er bevorzugte seine rechte Seite, deshalb hielt ich darauf zu und kam ihm so nahe, sodass er keinen Durchbruch gegen mich erreichen konnte. Allmählich bekam ich ihn in den Griff, eine Reihe von Tritten gegen seine Beine hatte ihn zittrig gemacht. Ich hatte zwar noch keinen Treffer an seinem Knie gelandet, aber er taumelte.

Zu meiner Rechten glommen Farben auf. Ich wusste, was das bedeutete, aber ich schaute weg. Lincoln hatte den Sportler im Schwitzkasten, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie er seinen Dolch in den Verbannten stieß und ihn zurück ins Engelreich schickte. Was ich nicht sah, war die Faust des großen Verbannten, die unterwegs zu meinem Ohr war. Der Schlag kam völlig unerwartet, aber diese Kerle hatten einfach keine Manieren, geschweige denn Kämpfermoral. Ich geriet aus dem Gleichgewicht und spürte, wie eine warme Flüssigkeit, die nur Blut sein konnte, an meinem Hals hinunterlief, während ich fiel. Mir war vollkommen bewusst, dass sich der Verbannte jetzt gleich auf mich stürzen würde.

Instinktiv wanderte meine Hand zu meinem Dolch, meine Finger umklammerten erbittert sein Heft. Das Spiel war eröffnet. Ich ging zu Boden, er warf sich auf mich, aber ich ließ mir Zeit. Wenn ich nicht gezögert hätte, hätte ich den Dolch herausziehen können. Ich hätte ihn zurückschicken können.

Stattdessen knallten meine Schultern auf die Straße, und ich wälzte mich rasch auf den Rücken, um ihm auszuweichen. Er prallte so heftig auf mich, dass ich das Gefühl hatte, der obere Teil meiner Wirbelsäule würde in die Straße gedrückt. Ich brüllte auf. Ich schlug ihm zweimal ins Gesicht, aber er war jetzt zu nah und nutzte seinen Vorteil aus. Er rammte mir das Knie in den Magen, er riss die geballte Faust nach hinten – und ich wusste, das würde jetzt gleich wehtun. Sehr wehtun.

Tat es aber nicht. Er bekam nie die Gelegenheit dazu.

Alles, was ich sah, war, dass Lincolns Dolch durch die Brust des Verbannten kam, dann sah ich den farbenprächtigen Nebel seiner Kraft. Und dann war der Verbannte fort.

Lincoln stand über mir, stark und zu allem bereit. Ich sah in seine Kämpferaugen, und sie brauchten einen Augenblick, bis sie sanft wurden.

Er streckte die Hand aus und half mir auf. Sie war warm und real, er zog mich zu sich und schlang seine Arme um mich, um mich zu stützen.

»Ich konnte es nicht.« Ich wollte es erklären und eine akzeptable Entschuldigung liefern. Ich enttäuschte ihn, indem ich mich nicht verbesserte. Dadurch brachte ich nicht nur mich selbst in Gefahr, sondern auch alle anderen.

Wir verließen den Ort des Geschehens. Die Körper der Verbannten waren verschwunden, aber wir waren noch immer umgeben vom Schlachtfeld der toten Obdachlosen, tote Menschen, auf die niemand Anspruch erheben, von denen kaum jemand merken würde, dass sie nicht mehr da waren. Es war so leicht für die Verbannten gewesen, sie zu quälen. Ich fühlte mich schlecht, als wir weggingen, so als wäre ich respektlos, aber wir hatten keine andere Wahl. Wir würden später der Polizei einen anonymen Tipp geben. Wir konnten es nicht riskieren, in Mordermittlungen verwickelt zu werden, die wir nie würden erklären können.

»Du warst großartig. Ich kann keine weiteren wahrnehmen«, sagte er und schaute sich um. »Du?« Er klang ungewöhnlich besorgt.

»Nein«, sagte ich und schaute zu Boden. »Weißt du, worüber sie gesprochen haben? Wer ist Nahilius?«

Lincoln zögerte. »Nur ein Unruhestifter. Niemand, über den du dir den Kopf zerbrechen solltest.«

»Oh«, sagte ich. Mein Blick ruhte auf ihm, während er wegschaute.

Lincoln legte den Arm fester um mich, stützte mich. »Es wird eben noch etwas Zeit brauchen. Was du durchgemacht hast … in der Wüste. Es ist okay, wenn du Zeit brauchst.«

»Du bist böse auf mich, das kann ich dir ansehen«, sagte ich. Die Schmerzen in meinem Ohr und meinem Nacken ließen mich zusammenzucken.

»Was ist die oberste Kampfregel, Violet?« Er sprach jetzt mit seiner Trainerstimme. Dieses Mal zuckte ich nicht vor Schmerz zusammen, sondern wegen der begangenen Dummheit, die ich gleich würde zugeben müssen.

»Lass deinen Gegner nie aus den Augen.«

»Genau.« Wir gingen weiter. Er brauchte nichts weiter zu sagen. Wir wussten beide, dass ich selbst damit klarkommen musste.

Als wir um die Ecke in eine belebtere Straße einbogen, zog er mich beschützend ein wenig näher zu sich. Ich liebte es, in seinen Armen zu sein, eingehüllt in seine Wärme, und ich wünschte, wir hätten die Chance, herauszufinden, was wir füreinander sein könnten.

»Wir müssen dich von hier wegbringen, damit ich dich heilen kann.«

Ein Betrunkener in zerfetztem Anzug torkelte gegen die Mauer neben der Straße, und als wir vorbeigingen, fiel ihm die fast leere Flasche aus der Hand, klirrte in den Rinnstein und brachte mich dazu, nach unten zu schauen. Ich blieb stehen. Ich spürte etwas. Nicht die Sinneswahrnehmungen, etwas anderes. Es war … schal. Ein nachklingender Schatten von irgendetwas

Ich bückte mich und hob die Flasche auf, um sie dem Obdachlosen zu reichen, aber das war nicht gut durchdacht, denn als ich mich wieder aufrichtete, packte mich ein heftiger Schwindel, gefolgt von einem heftigen Pochen vom Hals bis hinauf zu den Schläfen.

Ich schloss kurz die Augen und atmete langsam ein. Lincoln hielt mich fest.

»Sie haben das fallen gelassen«, sagte ich und hielt dem Obdachlosen die Flasche hin.

Der Mann blickte auf.

So viele Dinge passierten im Bruchteil einer Sekunde. Erstens: Die Anstrengung, die Hand auszustrecken, ließ den Mann das Gleichgewicht verlieren und seine obere Hälfte gesellte sich wieder zu seiner unteren Hälfte auf dem Boden. Zweitens: Ich schnappte nach Luft. Drittens: Lincoln schob mich hinter sich und zog mitten auf der belebten Straße seinen Dolch.

Dann … brach Onyx in schallendes Gelächter aus.