Ein heißer Tag im Juli 1986. Beim Renovieren einer Berliner Altbauwohnung stürzt ein Mann von der Leiter und bleibt bewegungslos liegen. Seine Rettung ist ein Wunder – wie das Abenteuer, das folgt. Mit dem Unfall, der dem Aufbruch zweier Menschen in die gemeinsame Zukunft ein Ende gesetzt hat, beginnt etwas Neues: die Erforschung eines unbekannten Kontinents, des eigenen Lebens. Die belebte Gegend um das Haus in Charlottenburg verändert sich rasant. Ein Neonazi schießt auf den serbischen Kioskbesitzer an der Ecke und verschanzt sich in der Umgebung. Frauen, die für eine iranische Widerstands­gruppe arbeiten, Roma-Flüchtlinge aus dem zerfallenden Jugoslawien, russische Mafiosi gehen in den benachbarten Lokalen ein und aus. Der Widerstreit von Anteilnahme und Abgrenzung, erzwungener Langsamkeit und sensibler Zeitgenossenschaft grundiert die Geschichte einer großen Liebe, die Ulrike Edschmid dicht und lakonisch erzählt. Jahrzehntelang bleibt die Wohnung im Eckhaus Beobachtungsstation und Zufluchtsort, ausgesetzt und geschützt zugleich. Draußen wird das Leben nicht nur schneller, sondern lauter, roher, gewalttätiger. Dann leert sich das Haus. Am Ende bleibt das Paar – und der lebenslange Versuch, standzuhalten.

Ulrike Edschmid, 1940 in Berlin geboren, aufgewachsen in der Rhön, studierte Literaturwissenschaft sowie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und arbeitete eine Zeitlang als Lehrerin in Frankfurt. Bei Suhrkamp erschienen u. a.
Frau mit Waffe
(st 3307),
Nach dem Gewitter
(st 3481),
Die Liebhaber meiner Mutter
(Broschur, 2016) und
Das Verschwinden des Philip S.
(st 4542). 2013 erhielt sie den Grimmelshausen-Preis und den Preis der SWR-Bestenliste für ihr Lebenswerk, 2014 den Cotta-Literaturpreis. Ulrike Edschmid lebt als freie Autorin in Berlin

SV

Ulrike Edschmid

Ein Mann, der fällt

Roman

Suhrkamp Verlag

Ein Mann, der fällt

»Falling man ist nicht Ikarus, sondern der Mensch, der auf die Erde verurteilt ist zu fallen und dort zu leben – auf die Erde mit ihren Schrecknissen und Schönheiten – herausgeworfen aus dem Traumschiff, in dem die Engel weiterziehen.«

Max Beckmann zu seinem Bild Abstürzender aus dem Jahr 1950

Sein altes Fahrrad lehnt noch an der Hauswand. Ich steige die Treppe hinauf. Erst jetzt bemerke ich, dass der Aufzug nicht funktioniert. An der Wohnung immer noch der Aufkleber mit dem Datum der letzten Ungezieferbekämpfung. Daneben eine Benachrichtigung vom Polizeirevier. Herausgebrochenes Türholz. Ich gehe durch den vorderen Flur in das große Durchgangszimmer. Mein gestreifter Overall liegt dort, wo ich ihn vor zwei Tagen ausgezogen hatte. Im hinteren Flur kann ich mich nicht mehr auf den Beinen halten. Lange bleibe ich auf dem Boden sitzen. Dann raffe ich mich wieder auf, sammle vom Notarzt zurückgelassene Spritzen, Schläuche und Plastikverpackungen ein. Von der Wand in der Kammer, vom Türrahmen, von der Tür wische ich den dunkelroten Abdruck seiner Hände weg. Die Hände irren auf der Wand umher, als suchten sie etwas. Einen Halt. Ich schrubbe das angetrocknete Blut vom Boden, lehne die umgekippte Leiter gegen die Wand, rolle die zwei Teile seines zerschnittenen Ledergürtels zusammen. Seinen am Rücken aufgetrennten Arbeitsanzug kann ich nicht wegwerfen und nicht behalten. Ich kann ihn nicht in die Waschmaschine stecken und wieder zunähen. Am Abend lege ich das Bündel unter einen Baum und bedecke es mit Zweigen.

1

Die Wohnung ist eine verlassene Baustelle. Die Wände aufgeschlitzt, Stromkabel liegen herum. Überall Mörtel. Teppichfliesen, auf die Parkettböden geklebt. Mehrere Schichten Tapete. Leeres Bad mit Betonboden. Ganz hinten die Küche, ohne Herd, ohne Heizung. Wenn der Koch im spanischen Restaurant zwei Stockwerke tiefer seinen Ofen anwirft, zieht der Geruch von Knoblauch und Meeresfrüchten zum offenen Fenster herein. Eines der sechs Zimmer ist rot gestrichen, auch die Decke. Eine Schiebetür mit Jugendstilscheiben – zugenagelt. Die Klinken an den Zwischentüren abmontiert. An anderen Türen aufgebrochene Vorhängeschlösser. Waschbecken in den Zimmern. Ein heruntergekommenes Wohnheim, ein aufgegebener Unterschlupf für Menschen, die eine Schlafstelle gesucht haben und eine Arbeit ohne Papiere. Eine Küchenschabe hat die Ungezieferbekämpfung überlebt. Sie kommt aus dem roten Zimmer, eilt über den Flur, durchquert das Durchgangszimmer, wendet sich nach links zur offenen Balkontür und verschwindet.

Das Haus steht an einer Kreuzung. Ein Eckhaus. Der Verkehr rollt über eine breite Straße an den beiden vorderen, nach Norden gelegenen Räumen vorbei. Die anderen Zimmer ziehen sich mit Blick nach Osten in die Nebenstraße hinein. Gegenüber eine mächtige Eiche, die alles überragt, auch die Spitzen der beiden jungen Ahornbäume. Eigentlich ist die Wohnung für uns zu groß. Aber sie ist die erste seit drei Jahren, für die vom Vormieter kein Abstand verlangt wurde. Der letzte hatte dreißigtausend Mark für eine in die Mitte eines Durchgangszimmers eingebaute Wendeltreppe aus Eichenholz gefordert. Auf den Stufen standen Zinnkrüge. Die Treppe endete an der Decke, und der oberste Krug berührte die Stuckrosette.

Die Vermieterin, eine alte Griechin, die seit mehr als einem halben Jahrhundert in Berlin lebt, trägt an ihrem angewinkelten linken Arm eine aus der Mode gekommene Handtasche, wie man sie von der englischen Königin kennt. Im Zweiten Weltkrieg hatte sie ein Gelübde getan. Wenn Gott ihr Haus vor den Bomben verschone, würde sie im Parterre eine orthodoxe Kapelle einrichten. Zum Gottesdienst schreitet sie jetzt mit anderen Griechen durch eine schmale Tür am Ende des Eckhauses. Dann hört man Stimmen, Melodien, fremd und demütig. Ab und zu rattert eine S-Bahn durch den Gesang über die nahe Brücke. Ihrem Sohn, schmächtig, klein und krank, hat sie die Aufsicht über das Haus aufgebürdet. In der dritten Etage teilt er Bad und Küche mit fünf anderen Mietern. Sonntags geht er im kurzen schwarzen Mantel, auf einen Stock gestützt, zu seiner Mutter zum Essen und nimmt Beanstandungen entgegen, die er den Mietern während der Woche hinterherschreit, wenn er sie auf der Treppe oder auf der Straße zu Gesicht bekommt.

Wir nehmen ein Kofferradio mit in die Wohnung. Weil wir nicht wissen, wo wir anfangen sollen, zerren wir an den Teppichfliesen. Darunter gerissenes Tafelparkett. Um nicht den Mut zu verlieren, beginnen wir mit den kleinsten Räumen. Ich streiche die Speisekammer, und er verputzt eine Wand in der Kammer zum Hof. Dann reißen wir Tapeten ab. Unter den Tapeten Zeitungen mit Bildern und Namen aus unserer Kindheit. Adenauer, Währungsreform, Einführung der neuen deutschen Mark, Eisenhower, amerikanische Soldaten, Luftbrücke und die Rosinenbomber. Wir haben nur eine Leiter. Ich löse die Tapeten unten ab, er oben. Ich halte die Leiter fest, wenn sie schwankt, eine alte Holzleiter, auf der er rittlings steht. Sie ist so hoch, dass er bis an die Decke kommt. Wenn er sie zwischen die Schenkel nimmt, kann er sie mit kleinen Sprüngen hin- und herbewegen. Wir sitzen nebeneinander an eine rohe Wand gelehnt und stellen uns frisch gestrichene weiße Räume vor. Das jetzt noch rote Zimmer soll sein Arbeitszimmer werden. Der halbrunde Raum an der Ecke könnte meine Nähwerkstatt sein. Er ist so groß, dass ich die Stoffe, die ich verarbeite, auf dem Boden ausbreiten kann. Dann würde sich ein kleineres Gästezimmer anschließen. Im riesigen Durchgangszimmer könnte ein langer Esstisch stehen. Danach käme mein Arbeitszimmer. Im anschließenden Raum würden wir schlafen. Wir ziehen unsere staubigen Overalls aus und lieben uns in leeren Zimmerfluchten.

2

Am Morgen des 27. Juli 1986 bringt er mich zum Flughafen und stellt das Auto vor seiner Haustür ab. Er geht nach oben in sein Zimmer und wechselt die Kleider. Er zieht den verwaschenen Arbeitsanzug an, darüber den schmalen Ledergürtel, den er nachts, wenn er zu mir ins Bett kommt, zu einer Schnecke zusammenrollt. Dann steigt er aufs Fahrrad und lässt sich durch das sonntägliche Schweigen in der Lietzenburger Straße treiben. Später erinnert er sich an den warmen Wind. Es sei so ruhig in der Stadt gewesen, sagt er, als ob die Zeit stillgestanden hätte. Während er wie immer, zwei Stufen auf einmal, die Treppe in die neue Wohnung hinaufspringt, warte ich in der Abfertigungshalle auf meinen Flug. Die Maschine hat Verspätung. Technische Probleme. Wie immer bin ich unruhig, suche nach Gründen umzukehren. Aber ich tue es nicht und bewege mich in der Schlange vorwärts, wie alle anderen, zu meinem Sitz.

Am frühen Abend ist er mit einem Fliesenleger verabredet, der nicht kommt, weil er Wittgenstein liest. Über dem ersten Satz des Tractatus logico-philosophicus, »Die Welt ist alles, was der Fall ist«, habe er, so wird der Fliesenleger sagen, die Zeit vergessen. Er kann nicht ahnen, dass sein Nicht-Erscheinen dem Wort »Fall« seine ursprüngliche Bedeutung zurückgeben wird. Fall, Sturz, Absturz.

Während er auf den Fliesenleger wartet, verputzt er Leitungsschlitze. Wenn ihm der Rücken wehtut, legt er sich auf den Boden, macht das Kofferradio an und hört Musik. Dann trägt er die Leiter in die kleine Kammer mit dem Fenster zum Hof. Er stellt einen Eimer mit Mörtel und einen zweiten Eimer mit Wasser auf den obersten Tritt. Er will eine abgerundete Ecke an der Decke ausbessern und arbeitet, die Hände über dem Kopf, mit zwei Kellen. Eine, um den Mörtel aufzutragen, eine andere, um ihn glattzustreichen. Er steht ganz oben auf der Leiter. Es ist etwas in diesem kleinsten Raum der großen Wohnung, das er durch besondere Sorgfalt vertreiben will. Später wird er es das Unheimliche nennen oder die bösen Geister. Den ganzen Tag hat er nichts gegessen und wenig getrunken. Er will fertig werden, um Zeit für seine Tochter zu haben, die für ein paar Tage nach Berlin kommen wird.

Er arbeitet lange an der kleinen Ecke. In die Kammer zum Hof wollen wir ausweichen, wenn die Sonne während der größten Hitze im August schon morgens über die Kronen der Ahornbäume hinweg auf die nach Osten gelegenen Fenster des Schlafzimmers prallt. Nicht das Große fordert ihn heraus, sondern das Kleine. Eine winzige Ecke, die niemandem auffällt, deren Verlauf aber seine handwerklichen Fähigkeiten und sein ästhetisches Empfinden auf die Probe stellt. Er versucht, den Mörtel an der Stelle so zu glätten und auszustreichen, dass die Wand in einer feingezogenen Linie in die Decke übergeht. Hin und wieder, wenn er sich zur Tür dreht, geraten zwei oder drei von den Vormietern hinterlassene Aufkleber mit grünen Totenköpfen und den Wörtern »The End« in sein Blickfeld, die er längst hatte entfernen wollen.

Es geschieht am frühen Abend, in der Stunde zwischen sechs und sieben. Es ist längst geschehen, als ich von Frankfurt aus vergeblich seine Telefonnummer wähle und mir dann einen alten Film im Fernsehen anschaue. Ich sehe, wie sich Gérard Philipe, zerrissen zwischen drei Geliebten, aus dem Fenster stürzt. Am Ende schieben ihn die drei Frauen einträchtig im Rollstuhl und zupfen eine Decke über seinen Knien zurecht.

Der Anruf kommt am frühen Morgen. Es sei ihm vorgekommen, sagt der Arzt später, als hätte ich schon gewusst, was er mir habe mitteilen müssen. Ich sitze wieder im Flugzeug. Bilder der letzten Wochen, der letzten drei Jahre, in denen wir miteinander gegangen sind, überstürzen sich. Sie gehören bereits einem nicht mehr erreichbaren Leben an. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn laufen. Er läuft mit fliegender Jacke, weitausholenden Schritten, die Hände in den Hosentaschen. Er läuft mir entgegen. Später versuche ich den Gedanken niederzuhalten, wie es in der Mitte unseres Lebens weitergegangen wäre, wenn ich meiner Angst vor dem Fliegen nachgegeben hätte oder wenn der Fliesenleger gekommen wäre.

3

Er liegt unter einem Laken, schweißbedeckt. Die Hitze steht im Krankenzimmer. Schnittwunden an der Stirn und an den Lippen. Sein ausgestreckter Leib scheint unversehrt. Meine Hände gleiten über seinen Bauch, seine Beine, seine Füße. Sein Körper ist stumm. Er spürt ihn nur bis zur Brust. Dann nicht mehr. Nur seine Arme können mich umfassen, ziehen mich an seine Seite. Ich streife meine Sandalen und mein schwarzes Samtkleid ab und lege mich zu ihm.

Er sei gefallen, sagt er, wie der Abstürzende in dem Bild von Max Beckmann. Kopfüber. In den Sekunden davor habe er sich mit dem Blick und den Händen nach oben auf der vorletzten Stufe der Leiter nach links gedreht. Als die Leiter unter seinen Füßen ins Kippen geriet, sei er zunächst überrascht gewesen, als ob ihn jemand umgestoßen hätte. Beim Sturz dicht an der Wand entlang der Schrecken, das Entsetzen. In den Händen das Maurerwerkzeug. Dann der Aufprall, ein Dröhnen, ein Krachen, das auch aus seinem Körper kam. Die Kellen zerschneiden ihm das Gesicht, die Lippen. Danach die Stille in seinem Inneren und der Gedanke, dass er sterben wird. Bewusstlosigkeit, die er wie ein Eintauchen ins Wasser empfindet. Dann taucht er wieder auf. Benommenheit. Er liegt in einer Blutlache, im Wasser, in nassem Mörtel. Der Versuch aufzustehen. Aber es geht nicht. Er spürt seine Beine nicht mehr. Er fasst mit den Händen an die Hüften, aber er spürt die Hüften nicht. Das Gefühl, an einen tauben Fischleib gefesselt zu sein. Sein Oberkörper, sagt er, wippte auf und ab wie ein kraftloses Pferdchen vor einem schwer beladenen Wagen.

Er weiß nicht mehr, wie lange er bewusstlos war, Minuten oder Bruchteile von Sekunden. Er weiß nur, dass er, als er wieder zu sich kam, den Entschluss fasste, um Hilfe zu rufen. Es sei nicht von selbst gekommen, kein Reflex. Um Hilfe zu rufen, sagt er, war etwas, was er noch nie zuvor getan hatte. Aus allen Situationen hatte er sich bislang alleine befreien können. Diesmal war es unmöglich. Diese Erkenntnis aber, sagt er, habe keine Panik ausgelöst. Sie sei das Ergebnis einer blitzschnellen Bilanz gewesen. Die Entscheidung wegzukommen, zu leben.

Der erste Hilferuf wie der halb erstickte Schrei eines Neugeborenen. Ganz schwach, dann immer entschiedener. Er hörte sich selbst rufen und war erstaunt über das Wort »Hilfe«. Er begriff, wie allein er war. Aber es war das Wort »Hilfe«, sagt er, das ihn erlöste aus dem Alleinsein. Er versucht, sich vorwärtszuziehen über den Holzfußboden voller winziger Nägel, mit denen die Teppichfliesen befestigt waren. Er bleibt hängen. Die Nägel reißen ihm die Haut an den Händen auf. Mit der Kraft seiner Finger zieht er sich über die Türschwelle. Wenn er nicht mehr weiterkann, ruft er wieder um Hilfe. Das Fenster in der Kammer steht offen. Er darf sich nicht zu weit entfernen. Irgendwann antwortet ihm ein Mann aus dem Hinterhof, und er beschreibt ihm, wo er ist: Vorderhaus, zweite Etage rechts. Bei den Schlägen gegen die Eingangstür hatte er es aus der Kammer geschafft. Dann splittert Holz. Er liegt auf dem Bauch und sieht die schwarzen Stiefel der Feuerwehrleute auf sich zukommen.

Sein erster Gedanke ist »Querschnittslähmung«. Er fühlt sich wie ein zersprungenes Gefäß. Und doch hat er die Vorstellung, sagt er, dass die Scherben aus einem vorausgegangenen Ganzen wiederzufinden sind und zusammengefügt werden können. Jetzt aber, im Augenblick der Rettung, packt ihn die Angst, dass der letzte Rest von Ordnung in seinem Körper für immer verloren gehen könnte. Vorsichtig schneidet der Arzt seinen schmalen Ledergürtel und den Arbeitsanzug am Rücken auf. Er wird auf eine Vakuumtrage gelegt, emporgehoben und aus der Wohnung getragen. Alles dreht sich um ihn herum. Sein zerschnittenes Gesicht ist mit einem Tuch bedeckt. Im Treppenhaus öffnen sich die Türen. Er ist tot, denken die Nachbarn.

Die Schnitte im Gesicht werden genäht und abschwellende Mittel gespritzt. Das Zwerchfell ein stählernes Gewölbe. Die Rippen von Eisenspangen umschlossen. Blasenkatheter durch die Bauchdecke. Beine wie auf dem Streckbett. Nur an schäumendes Wasser kann er denken, an Regen, an Fließen. Dann Röntgen, Schädel, Thorax, die gesamte Wirbelsäule. Es ist schon dunkel, als er noch einmal über das Klinikgelände geschoben wird. Zwischen Schwindel und Ohnmacht hält er sich an der schnarrend tonlosen Stimme des Pflegers fest und spürt den Nachtwind. Auch die weiteren Untersuchungen ergeben keinen Befund, zeigen keinen Bruch. Manchmal hat er das Gefühl, er könne einen Zeh bewegen. Eine Täuschung, sagt der Arzt. Die motorischen Funktionen des unteren Körperabschnitts seien vom Willen nicht mehr beeinflussbar.

Ich streiche mit meinem Atem an seiner Wirbelsäule entlang. Er spürt ihn an seinem Hals, nicht mehr auf der Höhe seiner Brust, nicht an seinem Rücken, nicht an den Lenden.

4

Contusio spinalis. Stauchung des Rückenmarks. Querschnittslähmung ab dem sechsten Halswirbel, inkomplett. Die Hoffnung liegt in den wenigen unverletzten Nervenbahnen, sagt der Arzt und ordnet die Verlegung in eine andere Klinik an. Ich folge dem Krankenwagen vom Westend über die Stadtautobahn, Hubertusallee, Clayallee, weiter bis Zehlendorf. Kurz bevor Westberlin im Süden endet, biegt der Krankenwagen auf das Klinikgelände ein, fährt bis an die Rückseite der von Wiesen und Bäumen umgebenen Anlage, wo ich ihn hinter einem lang gestreckten flachen Gebäude aus den Augen verliere. Ich parke das Auto neben einem Basketballplatz. Vor einem der beiden Auffangkörbe ein junger Mann im Rollstuhl. Er lässt, bevor er zu werfen versucht, den Ball einmal oder zweimal auf dem Beton auf und ab tanzen, vielleicht um sich einzuspielen oder Maß zu nehmen für den Wurf. Als er schließlich die Arme hebt, findet er im Rollstuhl keinen Halt. Er schwankt so sehr, dass er den Korb verfehlt und der Ball über das Spielfeld rollt.

Auf einer Trage schiebt man ihn auf die Station. Als »Neuer« wird er begutachtet und eingeschätzt. Rollstühle umkreisen ihn. In den Kurven quietschen die Räder auf dem Linoleum. Sein Zimmer ist groß und hell. Ein Mann in seinem Alter hat es gerade verlassen. Von einem Virus ab der Taille gelähmt, heißt es, sei er von einer Reise aus Afrika zurückgekehrt. Jetzt fährt der Mann im Rollstuhl den Gang entlang Richtung Ausgang, eine Reisetasche auf dem Schoß.

Das Bett wird frisch überzogen. Als man ihn von der Trage hinüberhebt, dreht sich alles. Ich lege mich zu ihm, ohne mich zu bewegen, und halte ihn fest. Dann ist es still um uns. Nur der Ball schlägt, jetzt etwas entfernt, hin und wieder auf dem Beton auf. Als es Nacht wird, fahre ich nach Hause. Das Licht der Straßenlaterne fällt in mein Zimmer. Ich starre vom Bett aus auf die Tür. Sie öffnet sich nicht, er streift nicht im Laufen seine Schuhe ab, lässt die Kleider nicht auf den Boden fallen und kommt nicht eilig auf mich zu. Er wird es nie mehr tun.

5

Bevor es geschehen ist, bin ich immer spät aufgestanden, erst wenn es in meinem Zimmer bereits hell war und sich das Leben mit Geräuschen bemerkbar machte. Jetzt werde ich im Morgengrauen wach, fliehe den Halbschlaf. Ich öffne die Augen, um der Erinnerung nicht ausgeliefert zu sein, wenn sie hinter geschlossenen Lidern aufsteigt. Ich will das Leben in die Hand nehmen, in Ordnung bringen, anpacken, tun, was getan werden muss. Manchmal kann ich in diesen Morgenstunden mit ihm telefonieren, nur seine Stimme hören, deren Klang das Geschehene zudeckt, mich mit ihm beraten wie zuvor, über die Wandfarbe, über den Lack, glänzend oder matt, und über die Stellen, wo Steckdosen verlegt werden sollen. Ich stelle ihn mir in dem großen Zimmer vor, in das bereits die erste Sonne scheint. Von meinem Bett aus kann ich auf einen Baum schauen. Er sieht die Wiese, über die ich in einigen Stunden kommen werde.

Der Beginn unseres gemeinsamen Lebens liegt unter Schutt, Dreck und abgerissenen Tapeten. Ich ziehe den gestreiften Overall an, verabrede mich mit dem Fliesenleger, der das Bad in Augenschein nimmt. Auf der Straße treffe ich einen Freund wieder, der vor dem Militärdienst aus Syrien geflohen ist. Er übernimmt die Bauleitung und wird Stromkabel verlegen. Er treibt einen arbeitslosen russischen Kameramann auf, der Fenster und Türen streichen soll. Ein ehemaliger Baurestaurator, der aus Ostberlin über die Grenze gekommen ist, wird an den Wänden weitermachen, wo wir aufgehört haben. Von dem Taxifahrer, der gegenüber auf derselben Etage mit wechselnden Untermietern lebt, bekomme ich die Adresse eines Künstlers, der Parkettböden abschleift. Ich beantrage zwei Telefonanschlüsse, einen für ihn und einen für mich.

Die adlige alte Dame aus der dritten Etage rechts ist gestorben. Weil der Aufzug nicht fuhr, hatte sie das Haus in der letzten Zeit ihres Lebens nicht mehr verlassen können. Jetzt werden die sechs Zimmer, in denen sie vor Jahren allein zurückgeblieben war, ausgeräumt, das ovale Messingschild mit ihrem Namen abmontiert. Die Möbel stehen am Straßenrand. An den Tischen und Stühlen hatte sie sich in ihrer immer unsicherer werdenden Welt festgehalten. Wenn sie über mir von der Küche durchs Esszimmer ging, vorbei am Herrenzimmer, dem Salon und dem ehemaligen Arbeitszimmer ihres Mannes bis nach vorne zur Tür, um zu öffnen, konnte ich sie hören; ein kleines Mahagonischränkchen, das zum Schluss noch auf dem Haufen gelandet war, trage ich zurück ins Haus und nehme es mit nach oben.