Teil I: Theoretische Kabbala
Teil II: Praktische Kabbala
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Textgrundlage dieser Ausgabe ist das zweibändige Werk Erich Bischoffs Die Elemente der Kabbalah. Erster Teil: Theoretische Kabbalah. Das Buch Jezirah. Sohar-Auszüge. Spätere Kabbalah. Übersetzungen, Erläuterungen und Abhandlungen. Zweiter Teil: Praktische Kabbalah. Magische Wissenschaft. Magische Künste. Nebst einem Schlußwort: Der »Sohar« und das »Blutritual«. Zweite Auflage. Berlin: Hermann Barsdorsdorf Verlag 1920. Der Text wurde auf neue Rechtschreibung umgestellt und orthografisch behutsam überarbeitet.
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© 2014 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
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Umschlaggestaltung: dyadesign, Düsseldorf, www.dya.de
ISBN 978-3-7306-9077-2
V002
www.anacondaverlag.de
Teil I: Theoretische Kabbala
Vorwort
Einleitung
Erste Abteilung: Abhandlungen
A. Die Grundgedanken der Kabbala
1.Der Urgrund
2.Das Weltall
3.Die zehn »Sephiroth«
4.Der »himmlische Mensch«
B. Ein Kapitel über Kabbala, Judentum, Christentum
Zweite Abteilung: Texte
A. Das Buch Jezirah
B. Auszüge aus dem Sohar
C. Aus Isaak Lurjas Buch von der Seelenwanderung
Dritte Abteilung: Anmerkungen
Schlusswort
Teil II: Praktische Kabbala
Vorwort
Einleitung
Erste Abteilung: Der Sinn der praktischen Kabbala
Überblick
A. Magische Wissenschaften
I.Gottes-, Engel- und Dämonennamen
1. Der Name
2. Die Gottesnamen
3. Engelnamen
4. Dämonennamen
5. Der böse Blick
II.Die magischen Wissenschaften der Seinsdeutung
1. Astrologie
2. Magische Quadrate
3. Traumdeutung
4. Physiognomik, Gedankenlesen und Chiromantie
5. Sonstiges
B. Magische Künste
I.Die Einwirkungen der Suggestion
II.Magie und Gebet
Zweite Abteilung: Elemente der Praxis
A. Magische Wissenschaften
I.Gottesnamen
1. Der »Schem ha-mephorasch«
2. Der 12-buchstabige Gottesname
3. Der 42-buchstabige Gottesname
4. Der 72-buchstabige Gottesname
5. Der »Name der 72 Namen«
6. Das Tetragrammaton
II.Astrologie
1. Planeten und Stunden
2. Planeten und Tage
3. Planeten und Monate
4. Planeten und Jahre
III.Magische Quadrate
IV. Traumdeutung
B. Magische Künste
I.Schutz und Trutz
1. Beschwörende Worte und Handlungen
2. Amulette
II.Heilmittel
Schlusswort: Der »Sohar« und das »Blutritual«
Anhang
Anmerkungen
Seit vor zehn Jahren mein illustrierter Katechismus »Die Kabbala. Einführung in die jüdische Mystik und Geheimwissenschaft« (Leipzig, Th. Griebens Verlag) in allen Lagern der Kritik anerkennende, zum Teil geradezu begeisterte Aufnahme1 gefunden, bin ich immer wieder von Berufenen und Unberufenen mündlich und schriftlich gedrängt worden, das ebenso dunkle und schwierige wie interessante und schätzereiche Gebiet der Kabbala weiter zu erschließen, indem ich wenigstens die wichtigsten Stücke der hebräischen und aramäischen Originale derart übersetzte und erläuterte, dass auch Nichtfachleute sich hinreichend unterrichten könnten. Es fehlte mir jedoch nicht nur an Zeit und Stimmung, das gesammelte reiche Material in diesem Sinne zu bearbeiten, sondern auch an einem Verleger, dem ich Interesse, Wagemut und Fähigkeit für ein solches Unternehmen zutrauen zu dürfen meinte. Da führte eine Fügung den Herrn Verleger dieses Buches mit mir zusammen, und auf einer Zusammenkunft in Wittenberg kam im Oktober vorigen Jahres unser gemeinsamer Entschluss zustande, in zwei Bänden das Wichtigste aus der theoretischen und der praktischen Kabbala übersetzt und gemeinverständlich erläutert weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Der erste Band liegt hier dem Leser vor.
Dass das Buch »Sohar«, dieser »Universalkodex der Kabbalisten«, hierbei in erster Linie zu berücksichtigen sei, war von vornherein ebenso klar wie andererseits die Untunlichkeit, innerhalb des Rahmens dieser Schrift den ganzen Sohar wortgetreu zu übersetzen. Dieser umfasst außer dem eigentlichen »Sohar« auch noch drei vermutlich ältere und drei jüngere Zusatzstücke (»Siphra di-zeniutha« oder »das Buch des Mysteriums«, »Idra rabba« oder »die große Versammlung«, »Idra suta« oder »die kleine Versammlung«, ferner »Raaja mehemna« oder »der treue Hirt« [Mose], »Tikkune Sohar« oder »Supplemente zum Sohar« und »Sohar chadasch’« oder den »neuen Sohar«) – alles in allem über 1800 eng bedruckte Blattseiten rabbinischen Textes. Auf diesen ist der ungemein weitschichtige und an Umfang wie Bedeutung im einzelnen höchst verschiedenartige Stoff in einer meist so schwer verständlichen Sprache behandelt, dass die fast zu jeder Zeile nötigen Erläuterungen selbst bei größter Einschränkung die Textübersetzung (welche mindestens 5000 deutsche Seiten erforderte) gewiss um das Dreifache übersteigen würden. Ob sich für ein so weitschichtiges Werk (selbst bei Lieferungsform) genügend Interessenten fänden, war zudem vorläufig gar nicht abzusehen. – Es gab daher, um auf dem hier verfügbaren Raum einerseits eine wirklich quellenmäßige Kenntnis, andererseits ein zureichendes Verständnis des Gebotenen zu vermitteln, nur einen praktischen Weg: 1. Systematisch geordnete Auszüge aller hauptsächlicheren Lehren des Sohar in sinngemäßer Übersetzung, die tunlichst schon selbst vieles erläutert, statt durch übergroße Wörtlichkeit noch mehr Erläuterungen nötig zu machen oder aber den Leser im Dunkeln zu lassen; 2. den Übersetzungen vorangehende Gesamtübersichten der wichtigsten behandelten Punkte; 3. Einzelanmerkungen. Nur so war der gewaltige Stoff – für mich wenigstens – einer einigermaßen gemeinverständlichen Behandlung fähig. Um aber zu beweisen, wie spröde eine Gesamtübersetzung sein würde, habe ich aus einigen der vermutlich ältesten Teile des soharitischen Werkes, nämlich aus »Idra rabba« und »Idra suta« sowie aus dem Anfang des »eigentlichen« Sohar je ein längeres Stück im Zusammenhang übersetzt und nur mit den allernötigsten Erläuterungen versehen. – Dass ich bei den oftmals ungemein schwierigen Übertragungen mit Dank die Pionierarbeiten eines Franck, Jellinek, Joel, Ph. Bloch, Ginsberg usw. (des alten Knorr v. Rosenroth nicht zu vergessen)2 benutzt habe, bedarf wohl keines weiteren Wortes, zumal bei einem Werk, das noch weit schwerer zu popularisieren als zu übersetzen ist.
Beim »Buch Jezirah« erschien mir ein wesentlich anderes Verfahren geboten, nicht nur, weil sein verhältnismäßig geringer Umfang eine Gesamtübersetzung gestattet, sondern auch, weil eine leidlich klare Disposition dem Text von Paragraph zu Paragraph zu folgen erlaubt. Diese Schrift (die zwar vor der spezifisch kabbalistischen Literatur (vorm 13. Jahrh.) schon vorhanden und ursprünglich wohl als zahlen- und buchstabensymbolische Kosmologie gedacht war, aber schon die meisten kabbalistischen Gedanken im Keim enthält und alsdann ganz kabbalistisch aufgefasst und gedeutet wurde) ist als Vorstufe zur eigentlichen Kabbala von großer Wichtigkeit und erforderte deshalb eine besonders sorgfältige Wiedergabe. Voraussetzung einer solchen war ein Grundtext, der als möglichst frei von späteren Einschiebseln (zumal solchen, die jüngere kabbalistische Lehren einschmuggeln möchten) zu betrachten war. Einen solchen bietet im Allgemeinen die auch von Goldschmidt3 in erster Linie berücksichtigte alte Mantuaner Rezension. Dass ich weder Goldschmidts vielfach mangelhafte und flüchtige Übersetzung noch seine (durch vorgefasste Meinungen, z. B. über das sehr hohe Alter unseres Jezirahbuches, und durch einen übertriebenen Rationalismus ungünstig beeinflussten) dürftigen Anmerkungen als Vorbild benutzte, wird schließlich diesem meinem Buch ebenso zugute gekommen sein wie die völlige Außerachtlassung der alten Meyerschen Ausgabe3.
Wie viel Opfer an Selbstverleugnung mir zuweilen der populäre Zweck des vorliegenden Werkes auferlegte – ich rechne dazu nicht zuletzt die durch den Zeilenguss bedingte Notwendigkeit einer mangelhaften Transkription der hebräischen Wörter und Buchstaben – werden die am besten zu beurteilen vermögen, denen ich das Ganze viel lieber in rein wissenschaftlicher Form geboten hätte, welche – so seltsam dies auch klingen mag – für mich in diesem Fall eine leichtere, aber gewiss keine dankbarere Aufgabe gewesen wäre.
Immerhin glaube ich mein Buch so gestaltet zu haben, dass jeder gebildete, aufmerksame und ausdauernde Leser einen zuverlässigen Einblick in die Hauptprobleme der klassischen »theoretischen Kabbala« erhält. Vielleicht vermag dann mancher einsichtige Laie jene unbelehrbaren Gelehrten zu beschämen, die heute noch in seltsamer Unwissenheit von »kabbalistischen Torheiten« reden4, obwohl die alten Kabbalisten oftmals auf einer einzigen Blattseite mehr Tiefsinn, Scharfsinn und religiösen Ernst kundtun als mancher moderne Theologe (gleichviel welcher Konfession), mancher Philosoph oder Theosoph von holzpapierner Modeberühmtheit. Mir wenigstens ist von jeher alte Mystik lieber gewesen als superkluger Modernismus.
Diesem ersten, die theoretische Kabbala behandelnden Teil wird der zweite über die »praktische Kabbala« in kürzester Frist folgen. Dieser Schrift werde ich alsdann eine seit mehr als neun Jahren vorbereitete Darstellung der verschiedenen Lehren von der Präexistenz (dem vorgeburtlichen Dasein) und der Seelenwanderung folgen lassen, worauf ich noch Verschiedenes aus der christlichen Mystik herauszubringen hoffe. Einiges, was ich gegenwärtig nur kurz behandeln konnte, gedenke ich in jenen Büchern weiter auszuführen.
Der Verfasser
»Kabbala« bedeutet »Überlieferung«, Tradition5. Diese Überlieferung geht nachweislich6 zurück auf uralt-orientalische Gedanken, die uns zuerst vor vier bis fünf Jahrtausenden »an Wasserflüssen Babylons« in astraler Einkleidung entgegentreten, in der jüdischen Geisteswerkstatt aber – und das gilt auch von der älteren Kabbala7 – durchweg monotheistisch umgestaltet, ausgebaut und auf feste religionsphilosophische Grundlage mit theologischer Beweisstützung gestellt sind.
Weit über die Sternenwelt hinaus, alle Schalen und Hüllen der Materie abstreifend, erhebt sich hier der kühne Schwung des Denkens zu den reinsten Höhen des Urseins, um von hier alles Dasein abzuleiten und auf dieser über Raum, Zeit und Welt erhabenen Ewigkeitszinne alles Sinnens und Seins höchstes und tiefstes Wesen zu erfassen. Zu diesem Aufschwung in die höchsten Regionen des Denkens reicht allerdings der klappernde Mechanismus der Alltagslogik nicht zu. Unser gewöhnliches »diskursives« Denken vermag von jenen höchsten Dingen bestenfalls nur zu sagen, was sie nicht seien, wie dies z. B. auch Kant lehrt, wenn er das Wesen des »Dinges an sich« als über unser Denken hinausliegend bezeichnet, als eine Denknotwendigkeit, die wir aber nur als eine Grenzbestimmung für die uns mögliche Vernunfterkenntnis erfassen können. Weiter hinaus bedarf es eben einer ganz anderen Erkenntnisart, der reinen Anschauung oder Intuition, die das ewige Wesen alles Seins, das »reine Sein« oder »das Absolute« unmittelbar erfasst. Das ist die dem Alltagsverstand ewig unerreichbare Erkenntnis der Mystik, in welcher der endliche, aber (wie unsere deutschen Mystiker sagen) »vergottete« Geist kraft seiner Gottebenbildlichkeit das Ewige, Unendliche zu erfassen, in die »Tiefen der Gottheit« einzudringen vermag.
Die »unaussprechlichen Worte«, wie Sankt Paulus sagt (2. Kor. 12, 4), in menschliche Rede zu fassen und ihren geistigen Inhalt dem Gefüge des üblichen Denkens einzupassen, ist freilich ungemein schwierig und nur bis zu einer gewissen Grenze möglich8. Daher einerseits die von den Fachgelehrten so oft kopfschüttelnd festgestellte »mystische Umbiegung« des Denkens der größten und folgerichtigsten Philosophen, sobald sie zur Erörterung jener höchsten Probleme kommen9, daher andererseits die Notwendigkeit der bildlichen Rede, um solche Höhengedanken wenigstens einigermaßen dem üblichen Denken nahezubringen, sie zu »versinnbildlichen« – eine Not, aus der auch die Kabbala eine Tugend zu machen sucht. Ja, diese Bilderrede voll mannigfaltigster und tiefsinnigster Beziehung ist hier (neben anderen, geradezu modern anmutenden Ausführungen) vielfach – zumal im »Mysterienbuch« und den beiden »Idra’s« – derart üppig entwickelt, dass es eingehendsten Studiums und großer Mühe bedarf, um den dahinter verborgenen metaphysischen Ideengehalt herauszuschälen und annähernd in eine unserem Denken üblichere Form zu bringen – was ich in den Erläuterungen nach Kräften versucht habe.
Rechtfertigt sich die Anwendung der Bilderrede in der Kabbala zum Teil einfach aus der Natur der zu vermittelnden metaphysischen Ideen, so findet das für unsere Begriffe oft lästige, anscheinende Übermaß kabbalistischer »Bilderei« seine Erklärung in dem ganz besonderen, letzten Endes tief sittlich-religiösen Zwecke, der damit verfolgt wird: bloße müßige Neugier durch die Schwierigkeiten solcher Rätselrede abzuschrecken und denkschwache Köpfe oder moralisch unreife sowie religiös ungefestigte Gemüter von unbefugter Beschäftigung mit jenen erhabensten Dingen fernzuhalten, da sonst unfähige Gehirne und unfertige Charaktere leicht Schaden nehmen könnten10. Ich für meinen Teil glaubte einer solchen Gefahr anlässlich des vorliegenden Buches durch besonnene Auswahl des zu übersetzenden Stoffes und durch korrekte Erläuterungen angemessen vorzubeugen.
Auch so wird der wirklich eindringende Leser noch manche Schwierigkeiten zu überwinden haben, aber für dieses Bemühen, wie ich hoffe, sich belohnt sehen. Denn so unleugbar es einerseits ist, dass die Beschäftigung mit mystischen Spekulationen einem, der unreinen Herzens und aus unlauteren Beweggründen an sie herantritt, zum sittlichen, geistigen, ja sogar physischen Verderben werden kann – selbst einige Kabbalisten mussten dies erfahren –, so gewiss ist es auf der anderen Seite, dass jede Mystik den, der sich reinen Herzens, aus lauteren Absichten und mit sittlichem Ernst in ihre Tiefen versenkt, nicht nur vielfach weiser, sondern vor allem auch sittlich-reiner und glücklicher zu machen vermag.
Sogar der in mancher Hinsicht stark ausgearteten Kabbala der Schule Isaak Lurjas erkennt Ph. Bloch11 einen gewaltigen wohltätigen Einfluss auf die ins dumpfe Ghetto gebannte jüdische Volksseele zu: »Sie hat eine neue Quelle des Mutes, der Kraft, zu dulden und zu tragen, den Gequälten und Verjagten eröffnet, als im 17. und 18. Jahrhundert wiederum schwere Stürme und Verfolgungen über zahlreiche Gemeinden hereinbrachen … Sie hat den Glauben gehoben, die Nerven gestählt, den Blick unverwandt an den Himmel geheftet, an welchem die Hoffnungssterne dem trostbedürftigen Auge nimmer entschwanden. Sie war es, welche … die Gewissen schärfte und das Pflichtbewusstsein stärkte.« – Ähnliches gilt nicht nur von dem Einfluss der älteren Kabbala, sondern jeder echten Mystik überhaupt für jeden – gleichviel welcher sonstigen Richtung Angehörigen –, der sich ernst mit ihr beschäftigt, besonders auch in unseren Tagen, wo die starke Hinwendung zu allerhand mystischen Pfaden jedenfalls ein bedeutsames Anzeichen dafür ist, dass zahlreiche, auf diese Weise Gott und Erlösung suchende Seelen zu ihrem eigenen Heil an den Idolen unserer Zeit irre geworden sind und sich endlich auf ihre durstende, hungernde und frierende Seele besinnen.
Es ist immerhin schon etwas gewonnen, wenn einem die Erkenntnis aufdämmert, dass es außer der modernen Götzentrinität Mammon, Maschine und Materialismus auch noch andere herrschende Gewalten im Welt- und Menschenleben gibt, dass Augenweide, Ohrenschmaus, Gaumen- und Sinnenkitzel, Prunk, Schönheit und Ehren nicht den einzig erstrebenswerten Inhalt des Daseins bieten und dass es für den Geist des Menschen schließlich noch wichtigere Gegenstände geben kann als lediglich das Denken an Geschäft, Gesellschaftsfragen, Prozesse, Sport und Spiel. – Materiell »geordnete Verhältnisse« streben die meisten Leute an; geordnete Verhältnisse in ihrem höheren Innenleben zu schaffen, daran denken die wenigsten mit dauerndem Ernst! Selbst wer wirklich – nicht bloß vor anderen renommierend – noch kurz vor seinem Lebensende an keine seelische Fortdauer nach dem Tode glauben sollte, dürfte in jenen letzten Augenblicken, wenn alles andere von ihm abfällt und ihm nur noch seine Seele bleibt, schwerlich Stolz darüber empfinden, diesen seinen dauerhaftesten Besitz nicht vollkommener ausgebildet zu haben. Noch mehr wird der vor der Hohlheit und Verwahrlosung seines Inneren dann erschrecken, der an die sittliche Lebensaufgabe innerer Selbstvervollkommnung und an eine Fortdauer der Seele nach dem Tode glauben gelernt hat oder wenigstens einer von beiden Tatsachen zustimmt. Im tiefsten Seelengrunde schlummert doch bei jedem die Anerkennung eines ethischen Sinnes unseres Daseins und einer sittlichen Lebensaufgabe, und in der heutigen starken Zuflucht zu allerlei Mystik – die ja im letzten Grunde eine ist – liegt, zumeist unbewusst, das Sehnen nach einer Vertiefung der Lebensauffassung, einer Veredelung und sittlichen Bereicherung des Lebensinhalts und einer Vervollkommnung der Frieden und Innenglück suchenden Seele.
Und die Mystik befriedigt dieses Sehnen, ohne darum den Menschen asketisch aus der Welt zu verbannen. Sie führt ihn in alle Höhen und Tiefen, ordnet sein Einzelsein in die großen Zusammenhänge alles Seins ein und erklärt ihm die Unvollkommenheiten unseres Daseins und den Weg zur Vervollkommnung unter fortwährendem Anreiz zu dieser klar erkannten Pflicht, um so ihre Jünger immer mehr aus der Tiefe empor zum Frieden und zum Licht zu führen.
Sie macht es ihnen – zumal auf dem kabbalistischen Pfade – keineswegs leicht, sondern fordert eine starke Energie des Denkens und des Wollens. Ist der Forschende in den Sinn ihrer Lehren mühsam Schritt für Schritt eingedrungen, so muss er sich mit ihnen weiter auf Schritt und Tritt prüfend auseinandersetzen, um schließlich zu einem eigenen Standpunkt zu gelangen, auf dem er seine selbst erarbeitete Anschauung in fortwährender Selbsttätigkeit ausbauen und sich zugleich mit ihr vervollkommnen kann und soll. Daher teilte man schon in der talmudischen Mystik dem Lernbeflissenen nur die Grundlinien mit12, um ihn zu eigenem Weiterforschen in ernster Selbstzucht zu veranlassen. Es ist dies überhaupt alte und altbewährte Lehrmethode, die dem Lernenden lediglich die Hand reicht, damit er sich erstarkend emporrecke und zum Meister heranwachse13. Daher wird keine unfehlbare Lehre aufgestellt14, sondern dieser oder jener Beweisgang vorgetragen, den es zu verstehen und mit dem es sich auseinanderzusetzen gilt, um vielleicht durch bessere Einsicht noch weiter zu kommen.
Dies alles schärft nicht nur den Verstand, klärt nicht allein die Einsicht in das große Getriebe alles Seins, sondern stählt vor allem auch die sittliche Energie des Willens, der, so geübt, den hohen Anforderungen des Aufrufs zu einem reinen, innerlich reichen Leben voll Wahrheit und Licht ganz anders gerecht zu werden vermag, als wenn ihm nur rationalistische Morallehren zu tunlichster Anempfindung eingedrillt oder zum Aussuchen vorgelegt worden wären! Zudem weiß der Kabbala-Kundige, dass jeder gute Gedanke und ebenso jede gute Tat geistige Wirklichkeiten zeugt, die an ihrem Teil in dem großen Zusammenhang des Universums weiterwirken, weit über ihre unmittelbar sichtbaren Folgen hinaus, so dass also der sittlich-religiös Denkende und Handelnde nicht nur sich selbst vervollkommnet, sondern zugleich ständig mit allen ebenso Gerichteten und Tätigen an der Erlösung dieser unvollkommenen unteren Welt und ihrer Emporhebung in die reinen Höhenregionen wirksam ist. –
Dass sowohl durch die Ethik wie durch die gesamte Lehre der Kabbala laut oder leise ein religiöser Grundton klingt, wird nur dem nicht zusagen, der nicht weiß, was Religion wirklich ist. Alles Denken und Wissen, das vom letzten Urgrund ausgehend zu ihm zurückführt, ist Theosophie, und Theosophie ist wesentlich religiös. Alles Religiöse wiederum ist im Wesenskern immer wahr, weil es sich bezieht auf den Urgrund alles Denkens und Seins überhaupt – mit einem Worte: auf Gott!
»Kabbalistischer Baum« aus einer Sohar-Handschrift.
Es gibt eine Unzahl kabbalistischer Schriften, verschieden nach den Namen, der geistigen Reife, den Zwecken und der Darstellungsart ihrer Verfasser. Deswegen von verschiedenartigen kabbalistischen Systemen sprechen zu wollen, erscheint gewagt; denn die großen Hauptgedanken sind bei allen im Wesentlichen dieselben, die Abweichungen voneinander dagegen in Einzelheiten wohl vorhanden, aber mehr solche der Form und der Gedankenverbindung, so dass im Allgemeinen durchaus nichts im Wege steht, ein Gesamtbild von den Hauptlehren der Kabbala zu entwerfen oder wenigstens einen Durchblick durch diese zu geben, wie ich es im 3. Teil meiner Kabbala von 1903 getan habe.15 Zumal in Schriften wie der genannten und der vorliegenden, die jedem Leser, der sich für diese Fragen interessiert, verständlich sein sollen, wäre eine solche Scheidung in verschiedene »Lehrtropen« und Anschauungs-Nuancen geradezu töricht, weil zwecklos langweilend. Ich gestehe, den Blick lediglich auf die Hauptsachen gerichtet, nur einen wirklich erheblichen Unterschied in den kabbalistischen Lehrmeinungen zu, der zugleich (im Allgemeinen) die ältere von der jüngeren Kabbala unterscheidet: die ältere Lehrform (vor allem im Sohar) lehrt eine rein geistige Urschöpfung16, d. h. die Setzung eines großen Weltplanes und der diesen bewirkenden Kräfte durch die absolute Gottheit; die andere Lehrform nimmt mehr oder minder bestimmt eine Emanation an, d. h. ein zeitloses und aus der Natur des Absoluten selbst mit Notwendigkeit folgendes und sich vollziehendes Ausströmen aller Potenzen der geistigen und materiellen Welt. Dieser Unterschied indessen ist zwar theologisch7 von Wichtigkeit, weniger aber für eine Darstellung des hauptsächlichen Inhaltes der hervorstechendsten kabbalistischen Lehren; ich habe ihn daher auch in meinem früheren Buch nicht betont, zumal da dort schon der knappe Raum Beschränkung auf das Wissenswerteste gebot.
Die gegenwärtige Abhandlung unterscheidet sich von jener summarischen Darstellung des »Was« der kabbalistischen Lehren durch ihre ganz andere Aufgabe und darum durch das »Wie« ihrer Gedankenführung: sie will die wichtigsten Grundgedanken der Kabbala nicht einfach aufzählen, sondern sie verstehen lehren, indem sie die Gedankengänge weiter ausführt, auf welchen man zu ihnen kommen kann, und ihre Zusammenhänge kenntlich macht. Ich möchte dem Leser eine erste Anleitung dazu geben, sich in die kabbalistische Gedankenwelt hineinzudenken, »einzufühlen« (wie man heute gern sagt); denn ohne eine solche Anleitung dürften trotz der versuchten systematischen Gruppierung die »Auszüge« der zweiten Abteilung dieses Buches17 nicht genügend verständlich sein, und da »orientalisch umzudenken«18 nicht einmal die Mehrzahl unserer »Religionsgeschichtler« versteht, war es bei der bewusst populären Art dieser meiner Schrift geradezu notwendig, die orientalische Denkart dem Leser sozusagen in die unsere zu übersetzen. Dies möchte ich nun, so gut ich kann, versuchen.
Wenn auch über das begriffliche Denken hinaus nur die Intuition, die übersinnliche und überbegriffliche reine Anschauung reifer Auserwählter bis zu den letzten Geheimnissen empor zu gelangen vermag, so ist unser Geist doch imstande, bis an die äußersten Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit vordringend, eben an dem Vorhandensein dieser Grenzen zu erkennen, dass dahinter noch etwas Begrenzendes liegen muss, obgleich wir uns davon nur negative (Grenz- und Beziehungs-)Begriffe bilden können. So ist es ja auch keinem Mathematiker möglich, sich das unendlich Große oder das unendlich Kleine vorzustellen oder wirklich durchzudenken; dennoch sieht er sich vor die Denknotwendigkeit gestellt, es als wirklich existierend anzunehmen, und mittels dieses niemals erkennbaren, nicht beweisbaren und dennoch mit Notwendigkeit als real anzunehmenden unendlich Kleinen und unendlich Großen hat die Mathematik in der Infinitesimalrechnung die Möglichkeit gefunden, Naturgesetze usw. zu entdecken und zu analysieren, die über die Grenzen jeder Sinnenerfahrung und alles darauf beruhenden Denkens liegen. Ohne den Vorhang lüften zu können, hinter dem das Unerkennbare liegt, vermag er doch so viel von ihm zu wissen, dass er damit alles Nötige zu erklären imstande ist, so dass dieses Unerkennbare einen lebendigen, Erkenntnis spendenden Faktor in seinen Berechnungen bildet! – Kein Physiker oder Chemiker kann uns die Atome, Ionen, Elektronen und Moleküle zeigen, wohl aber ihr tatsächliches Vorhandensein aus ihren Wirkungen und aus dem Umstand beweisen, dass ohne ihre Annahme eine wissenschaftlich zureichende Erklärung der materiellen Dinge und Vorgänge unmöglich wäre. – Auch der Astronom vermag niemals den dunklen von zwei Doppelsternen zu erkennen und sein Vorhandensein anderen zu zeigen; und doch erkennt er ihn in seinen Wirkungen und weiß, dass der Unerkennbare da sein muss! – In ähnlicher Weise ist (um auf Philosophisches zu kommen) sich Kant z. B. völlig klar bewusst, dass das »Ding an sich« niemals ein Gegenstand unserer gemeinen oder wissenschaftlichen Erfahrung sein könne, sondern unbedingt über deren Grenzen hinausliege; aber nicht im Mindesten zweifelt er deshalb an dem Vorhandensein dieser (der Welt der Erscheinungen zugrunde liegenden) »Dinge an sich« und weiß sogar wenigstens negativ (erklärend, was sie nicht sind) eine ganze Anzahl von Bestimmungen über sie aufzustellen. – Aus dem Vorstehenden ist ersichtlich, dass immerhin die Möglichkeit besteht, noch über die Erfahrungsbegriffe hinaus gewisse zuverlässige Erkenntnisse zu gewinnen19, wie Rückert so schön sagt (Weisheit des Brahmanen XI 13):
»Du kannst die Grenze nicht
des Denkens überschreiten,
Doch stehend an der Grenz’ hinüberschaun
vom weiten;
Und wie dein Auge sieht, was es nicht
kann ergreifen,
So kann dein höhrer Sinn
ins Undenkbare schweifen.«
Das ist ganz kabbalistisch gedacht. –
Durch den berühmten Religionsphilosophen Maimonides (1133–1204) war den jüdischen Denkern Kenntnis von den ins Arabische übersetzten Lehren des großen griechischen Meisters Aristoteles (384–322 v. Chr.) geworden. Dieser hatte in sorgsamer Denkarbeit dargelegt, dass alles Sein in der Welt – materielles wie geistiges – eine große Stufenfolge bildet, an deren unterem Ende der Stoff schlechthin, das Materielle steht, sodann durch zahllose immer reinere Formen hindurch am obersten Ende die reine Form, der absolute göttliche Geist, welcher sowohl die Ursache aller Ursachen, also das »erste Bewegende«, wie auch das reine Denken ist, in welchem Denken und Sein (genauer: Denken, Denkender und Gedachtes) schlechthin zusammenfällt. Alles bewegend und doch selbst in ewiger Ruhe verharrend und in dieser ewigen Ruhe sich selbst als die absolute Wahrheit wissend, keines Handelns bedürfend, sondern nur sich selbst genießend, ist diese Gottheit das Höchste, was sich denken lässt und was notwendig als Urgrund alles Seins, Handelns und Denkens gedacht werden muss.
Den Denkweg von unten nach oben, vom Fürsichsein des Einzelnen über das Ansichsein, Dasein und Sein bis zu dem absoluten (zwar notwendigen, sonst aber völlig unerkennbaren) reinen Sein, dem »Bruder des Nichtseins«, hat ja von den Neueren Hegel eingeschlagen, um alsdann, von dieser Ätherhöhe abwärts schreitend, aus dem höchsten, absoluten Sein die ganze Weite, Breite und Tiefe der geistigen und materiellen Welt zu entwickeln. Diesen Weg von oben nach unten verfolgen u. a. auch die Kabbalisten, und es ist gewiss interessant zu bemerken, dass die große dialektische Zauberformel, mit der Hegel seine gesamte Weltentwicklung zuwege bringt (Thesis, Antithesis, Synthesis = Gesetztes, Gegensatz, Ausgleich = Position, Negation, Vermittlung), unter der Bezeichnung »Waage« (rechte Schale, linke Schale, Waagezunge) bereits im Buch Jezirah (III 1) und dann allenthalben in der Kabbala (vgl. »Sohar-Auszüge« VI) als dialektisch-methodisches Entwicklungsprinzip sich wirksam erweist. Diese Vorgänger eines Hegel (so viele Jahrhunderte vor seiner Geburt!) scheinen mir denn doch sehr viel mehr als bloße phantastische Faselanten und Fabulanten zu sein!
Philo, das Haupt der jüdisch-alexandrinischen Schule (zur Zeit Christi), bei dem wir viele Keime späterer kabbalistischer Anschauungen vorfinden, geht minder systematisch vor als Aristoteles. Ähnlich wie die Neuplatoniker setzt er das Göttliche oder Absolute vielmehr ohne Weiteres als Denk- und Seinsnotwendigkeit, als dass er sich um den Beweis seines Vorhandenseins müht. Das tut im Grunde auch die ältere Kabbala (z. B. der Sohar) nicht; sie hat dies auch umso weniger nötig, als ja durch die jüdische Philosophie bereits seit Jahrhunderten zuvor der Begriff eines einzigen, höchsten und ewigen Gottes, des mit Notwendigkeit seienden und zu denkenden Urgrundes aller Dinge, bereits fest ausgebildet war. So sehen wir diese Kabbalisten vornehmlich bemüht, jenen höchsten Begriff (trotz aller Bilderrede) möglichst rein zu fassen und dialektisch zu entwickeln. Ihnen fällt dieses höchste Seiende (ebenso wie vielen Späteren) zusammen mit dem unendlichen Sein, dem »En soph«, das bei ihr nicht nur als Urgrund und Uridee, sondern zugleich als Urwille (razon ha-kodesch) erscheint, worüber weiter unten mehr.
Bei philosophisch noch tiefer bohrenden Kabbalisten ist die »erste Ursache« noch genauer vom »Urwillen« unterschieden, ähnlich wie bei Hegel das bestimmungslose »reine Sein« vom »Sein«. Da vom »reinen Sein« größtenteils nur gesagt werden kann, was es nicht sei, nennen die Kabbalisten es manchmal geradezu »En« (Nichtseiendes), weil in ihm noch alles unerkennbar verborgen liegt (mitunter auch »En soph«, hier aber in der Bedeutung des Begrenzungs- d. h. Bestimmungslosen); dann heißt »die erste Wirkung« oder der Urwille bei ihnen zum Zwecke der Unterscheidung »Or En soph«, das »Licht des Bestimmungslosen«, das Urphänomen! – Außer den rein negativen Bestimmungen (unbegrenzt, unendlich, unverursacht, unzeitlich, immateriell, unbeweglich usw.) kann aber von dem Urgrund (dem Ursein, der Uridee, ersten Ursache) wenigstens das positiv ausgesagt werden, dass er die absolute Weisheit ist, in welcher (wie bei der absoluten Gottheit des Aristoteles) Denken, Denkendes und Gedachtes völlig eins ist, in welcher daher schon die ganze Weltentwicklung20 als absoluter Gedanke, aber noch völlig »unkündlich« (wie Jakob Böhme sagen würde), tief verborgen liegt. Sie bleibt, trotzdem sie der Urgrund von allem ist, doch ewig unveränderliche absolute Einheit, auch wenn die Vielheit, Veränderung, Bewegung usw. im Universum in ihr die urewige, allerletzte, absolute Ursache hat.
Direkt aus dieser ersten Ursache aber kann die Welt nicht entstehen. Denn bei jener findet ja gar kein Unterschied zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Denkendem und Gedachtem, Ursache und Wirkung statt. Sie muss erst aus sich das »Moment« des Werdens heraussetzen, den ebenfalls rein geistigen, einfachen und unendlichen Urwillen (Or En Soph), durch den erst alles Weitere entsteht und geordnet wird, in dem erst der Weltplan zur Tatsache wird, zur ersten Wirkung, welche die weiteren wirkt.20
Mir scheint diese schwierige metaphysische Unterscheidung zwischen dem Urgrund (als erster Ursache) und dem Urwillen (»En soph« als erster Wirkung) aus verschiedenen Gründen erfolgt zu sein. Nimmt man, wie sonst gewöhnlich in der Kabbala, das »En soph« als Absolutes, als Urprinzip, so muss man in dieses eine Anzahl von Momenten hineindenken, die sich zum Teil widersprechen! Es muss da einerseits als ewig in sich selbst ruhend, als unbewegt und unveränderlich gedacht werden, andererseits aber auch wieder das Prinzip der Entwicklung, Bewegung, Veränderung und Gestaltung sein, zugleich also das reine Sein und das Ur-Werden darstellen, die logische Möglichkeit und die Keimzelle aller aktiven Wirklichkeit bilden, kurz als Urgrund, Uridee und Urwille zugleich gefasst werden, was bei genauerer Zergliederung dieser Begriffe seine großen Denkschwierigkeiten hat. Dem hilft jene Unterscheidung zwischen Urgrund und Urwillen einigermaßen ab. – Den Hauptgrund für die Unterscheidung glaube ich aber darin zu finden, dass es dadurch leichter wird, die in der kabbalistischen Ethik so streng festgehaltene menschliche Willensfreiheit21 metaphysisch zu begründen und ihre Vereinbarkeit mit dem göttlichen Weltplan, der göttlichen Vorsehung und der göttlichen Allwissenheit zu erweisen.22 Im Allgemeinen ist jedoch (wie oben bemerkt) in der Kabbala das En Soph Urgrund, Uridee und Urwille zugleich.
Das »En Soph« ist (auch wenn man es noch genauer von der »ersten Ursache« unterscheidet, gleich dieser) absolut einfach, unendlich, jeder Besonderung und Bestimmtheit bar. Wie kann da aus ihm das Universum mit seiner Vielheit endlicher, zusammengesetzter, besonderter und bestimmter Erscheinungen hervorgehen? Wie ist das erstens überhaupt möglich, und zweitens, wie geschieht das? Auf die erste Frage antwortet
von der »Zusammenziehung« des Absoluten, von seiner Selbstkonzentration oder Selbsteinschränkung, man könnte wohl auch sagen: von seinem »Konkretwerden«! Der metaphysische Begriff lässt sich nur annähernd in bildlichem Ausdruck wiedergeben. Die Bedeutung des sprachlichen Stammes »z-m-m« ist die des Sichzusammenziehens und dadurch zugleich eines Zunehmens an Dichte (also eines Kompakt- oder »Konkret«-Werdens) sowie zugleich einer Abnahme an Volumen; das Unendliche kommt also zur endlichen, bestimmten, fasslichen Erscheinung! Uns Modernen liegt als verdeutlichendes Beispiel wohl am nächsten die Kant-Laplace’sche Theorie von der Entstehung des Sonnensystems durch eine Kontraktion und Verdichtung des Urnebels, woraus sich ein Zentralkörper bildet, der dann die anderen Weltkörper aus sich heraussetzt. Ja, wir könnten auch daran denken, dass bereits fast zweitausend Jahre vor den Kabbala-Schriftstellern, nämlich im 6. Jh. v. Chr., der Grieche Anaximenes von Milet die Erde, das Wasser usw. durch »Verdickung« der »Urluft« entstehen ließ! – Die Kabbalisten, die jenes übersinnliche Geschehen auch durch ein sinnenfälliges Beispiel wiedergeben möchten, wählen das Bild: Gott (ursprünglich das ganze All ausfüllend) habe sich gewissermaßen zusammengezogen, um für die Welt einen leeren Raum zu schaffen, in dem sie nun geschaffen werden konnte, weil in diesem Raum ein Abglanz seines Lichts noch zurückgeblieben war. Der biblische Begriff des außerweltlichen Gottes, der die Welt aus dem Nichts schafft, ist hier ebenso wirksam wie das innere Widerstreben der Kabbalisten gegen einen rein physischen Emanationsgedanken, als sei die Welt sozusagen direkt durch eine notwendige Veränderung der göttlichen Urmaterie entstanden oder wenigstens zum Teil aus dieser geflossen. – Wie bereits oben15 erwähnt, findet sich der Gedanke des »Zimzum« schon im Midrasch, so dass er auch den älteren Kabbalisten nicht unbekannt war; doch gingen sie, als Gegner der Emanationstheorie, auf ihn wohl deshalb nicht ein, weil jener in dem leeren Raum zurückgebliebene göttliche »Lichtstoff« immerhin Anlass zu einer Emanationsanschauung bieten konnte.
Den Übergang vom Absoluten zum rein Materiellen stellt die Kabbala bekanntlich24 im Bild von vier Stufen oder untereinander stehenden »Welten« dar: 1. Aziluth (Gesamtheit der dem Absoluten am nächsten stehenden Weltprinzipien, vornehmlich der zehn Sephiroth, vgl. nächsten Abschnitt 3); 2. Beriah (Welt der Urschöpfung, enthaltend die zehn Urformen der zu schaffenden oder geschaffenen Dinge, also schon Prinzipien des Individuellen, und zugleich die Thora [heilige Lehre] als eine Art speziellen Weltgrundriss); 3. Jezirah (Welt der Formung, enthaltend die übersinnlichen Vorbilder der materiellen Welt, auch die Engel und die künftigen Menschenseelen; zuweilen werden auch die sieben Planeten-Sphären hierzu gerechnet); 4. Asijjah (Welt der materiellen Ausgestaltung, enthaltend die Dämonen und alle materiellen Wesen und Dinge). – Bei den einzelnen so entstehenden oder entstandenen Prinzipien, Formen und Dingen und auch in deren allgemeiner Gruppierung wird außerdem vielfach noch eine männliche und weibliche Seite (»Vater und Mutter«) unterschieden. (Vgl. meine Kabbala § 120!)
Als Moderne könnten wir versucht sein, diese vier Stufen mit denen der Hegel’schen Dialektik (s. o.) zu vergleichen: Aziluth (als dem absoluten, reinen Sein des »En soph« am nächsten) = Sein, Beriah = Dasein, Jezirah = Ansichsein, Asijjah = Fürsichsein. Diese Parallele kann wenigstens dazu dienen, zu zeigen, dass der kabbalistischen Abstufung vom Absoluten zum Materiellen eine selbst modern-philosophisch begründbare Systematik innewohnt. Wichtiger ist wohl, dass sich diese vierfache metaphysische Abstufung auch bei den Neuplatonikern findet, z. B. bei Plotin im 3. Jh. n. Chr. Hier lässt das Absolute (Ur-Eine, Göttliche) aus sich, als sein Abbild, 1. die Weltintelligenz oder Vernunft hervorgehen, welche die höchsten Ideen in sich schließt; aus dieser strömt 2. die (schöpferische) Weltseele, welche 3. mittels der aus ihr hervorgehenden Einzelideen die Formung des Weltalls zustande bringt; neben den Einzelideen gehören hierher auch die einzelnen Seelen, die kraft ihres Ursprunges die Ideen bis hinauf zum Absoluten zu schauen vermögen; darunter steht 4. die materielle, die Sinnenwelt. Das ist immerhin etwas Ähnliches wie die vier kabbalistischen »Welten«! –
Was das »Männliche und Weibliche« anlangt, so habe ich schon in meinem »Babylonisch-Astralen« (S. 81, 100, 155) darauf hingewiesen, dass hier uralt-orientalische (astrale) Gedankengänge zugrunde liegen, und in meiner Schrift »Im Reiche der Gnosis« (vgl. daselbst S. 7f. und S. 27) ist einerseits auf die doppelten (mannweiblichen) Emanationen des babylonischen Ea sowie auf die mystische Paarung der Prinzipien »Vater und Mutter« (Gott und Weisheit) bei dem jüdischen Alexandriner Philo aufmerksam gemacht, von der ganz ähnlich geredet wird wie etwa in der Idras des Sohar von dem Akt zwischen »König« und »Matrone«! (Vgl. hinten »Sohar-Auszüge« XIV, 2.) Durch Vermittlung des Midrasch und der jüdischen Religionsphilosophie waren jene Gedanken den Kabbalisten ganz geläufig. Jedenfalls ist so viel klar, dass auch in den zunächst sonderbar anmutenden kabbalistischen Ausführungen über die männliche und weibliche Seite dieses oder jenes Begriffes altes orientalisches Gedankengut vorliegt, das ja auch in der christlichen Gnosis eine große Rolle gespielt hat; jede Kirchengeschichte gibt Bericht über die paarweise erfolgende Emanation (die »Syzygien«) der »Äonen« aus dem göttlichen »Urgrunde« (Bythos) bei diesen Gnostikern. Modern gedacht, lässt sich die »männliche« und »weibliche« Seite vielfach auffassen als positives und negatives Moment, zu dem dann das »Sohn«-Prinzip die ausgleichende Vermittlung bildet, wie schon bei Philo (»Im Reiche der Gnosis« S. 6f.).
Die Lehre vom Zimzum begründet nur die metaphysische Möglichkeit eines Hervorgehens oder Hervorgebrachtwerdens der übersinnlichen und sinnlichen Welt aus dem Absoluten. Die vier Stufenwelten oder Weltstufen geben lediglich eine Gruppierung (ein Schema) des als schon entwickelt betrachteten Allseins vom Absoluten aus bis herab zum Konkreten, Materiellen.
Das Wie dieser Entwicklung liegt in der Lehre von den zehn »Sephiroth«. Mit ihnen beginnt sozusagen das metaphysische Sein zum metaphysischen Geschehen zu werden, das bisher als gleichförmig betrachtete Absolute in zeitliche oder richtiger vorzeitlich-übersinnliche Ereignisse überzugehen. Eine Darstellung dieser Selbstbewegung des (oder im) Absoluten ist durch den Umstand erschwert, dass unsere durch die Anschauungsformen des Raumes und der Zeit bestimmte Vorstellungskraft dieses übersinnliche, »intelligible« Geschehen nur im Bild von zeitlich aufeinanderfolgenden Vorgängen vor- und darzustellen vermag, während es eigentlich ein über allen Raum und alle Zeit erhabenes vor- und überphysisches, also metaphysisches, raum- und zeitloses, ewiges Geschehen ist, das nur von der intelligiblen, reinen, übersinnlichen Anschauung (Intuition) mit einem Blick umfasst werden kann. Suchen wir es aber unserem diskursiv verfahrenden Verstand zu verdeutlichen, so müssen wir die Form einer Art von Erzählung25 verwenden. Von den jüdischen Religionsphilosophen und (mindestens) den älteren Kabbalisten wird dieser Umstand jedoch nicht als störend empfunden, weil nach ihrer Meinung die Weltschöpfung zu einer bestimmten Zeit von vornherein im urewigen Weltplan gelegen hat.
Das Absolute ist, wie wir oben sahen, zugleich Urgrund, Uridee und Urwille. Im Urwillen liegt sozusagen die Spannung zwischen dem reinen Denken der Uridee und dem reinen Sein des Urgrundes. Ist in der Uridee bereits der ganze Plan des Alls (der Welt) und im Ursein der Urgrund aller Wirklichkeit gegeben, so liegt im Urwillen das Moment des Werdens, welches den Weltplan zur Weltwirklichkeit, die Idee zur Realität macht. Erst im Urwillen beginnt das Absolute aus seiner dunklen »Gestaltlosigkeit«, d. h. Unerkennbarkeit hervorzutreten als »Licht des Unendlichen« oder Absoluten (»Or En Soph«) und dann aus sich heraus das ganze All als eine Welt voll Licht und Glanz (Sohar = Glanz!) zu entwickeln oder zu schaffen.
Dies geschieht zunächst26 in den zehn Sephiroth. Über deren komplizierte Namens- und Begriffsgeschichte vgl. Anm. 36 in der dritten Abteilung dieses Buches, die ich hier zu lesen bitte. Im Sohar wird, wie auch aus den »Auszügen« (in der Zweiten Abteilung, B) zu ersehen ist, daran festgehalten, dass die Sephiroth geschaffene und eventuell von Gott zerstörbare Wesenheiten sind. Immerhin aber entsprechen sie den Attributen (Eigenschaften), unter denen sich das Absolute oder die Gottheit offenbart, und werden daher (vgl. »Auszüge«, B I, 2) zuweilen mit diesen parallel gesetzt als sozusagen »geschaffene Attribute«, Urkräfte, gottgesetzte Urpotenzen von zugleich intellektueller, physischer und moralischer Wirksamkeit, metaphysisch-dynamische Bereiche (Sphären), die sich aus einander entwickeln und zugleich einander (und in ihrer Gesamtheit gewissermaßen die Gottheit wie ein Lichtkleid) einhüllen – andererseits auch wieder den Leitungen eines Gewässers vergleichbar, Fassungen und Kanäle, durch die das Absolute seine Wirkungen sich nach unten zu schaffend und erhaltend äußern lässt, und durch die hinwiederum sich der »vergottete« Geist des Menschen hinauf zur Gottheit in Gedanken und Gebet erheben kann (vgl. Zweite Abteilung, B I, 2). Auch einem vom Himmel nach der Endlichkeit zu wachsenden Baum (vgl. »Kabbala« § 111) werden sie verglichen. – Die einzelnen »Sephiroth« sind nichts Substanzielles; nur in ihrer Beziehung auf das Absolute oder Gott dürfen sie betrachtet werden. Unter sich bilden sie eine Harmonie, von der göttlichen Kraft durchwaltet.
In dieser Gesamtheit betrachtet, werden sie zuweilen »der himmlische Mensch« (auch der »Urmensch«, Adam kadmon, vgl. nächsten Abschnitt 4), die »höchste Welt« (oder »Aziluth«, vgl. vorigen Abschnitt 2), ja sogar in überkühnem Bild die »Gestalt Gottes« genannt.
Ihre Gruppierung als »kabbalistischer Baum« (vgl. Abbildung in »Kabbala«, S. 61) ist folgende:
»Kether« = Krone (auch »Rum ma’alah« = höchste Höhe) genannt, die Ur-Sephirah, aus der die anderen hervorgehen
»Chochmah« = Weisheit (theoretische Vernunft)
»Binah« = Verstand, Einsicht (praktische Vernunft)
(»Da’ath« = Erkenntnis, Wissen, als Vermittlung zwischen »Chochmah« und »Binah« zuweilen eingefügt, s. u.)
»Gedullah« = Größe (öfter noch »Chesed« = Gnade, Liebe, Langmut genannt)
»Geburah« = Stärke, Härte (oder »Din« = strenges Recht)
»Tiphereth« = Herrlichkeit (Vermittlung zwischen »Chesed« und »Geburah«)
»Nezach« = Sieg, Festigkeit, Dauer, Konsistenz
»Hod« = Ruhm, Glorie, Pracht, Resistenz
»Jesod’« = Grund, Fundament (Vermittlung zwischen »Nezach« und »Hod«)
»Malkuth« = Herrschaft, Reich.
Die Sephira »Kether« nimmt unter allen übrigen eine bevorzugte Stellung ein. Sie umfasst gewissermaßen alle anderen, die erst aus ihr wieder hervorgebracht sind – ähnlich wie die erste aristotelische Kategorie »Wesen« der Inbegriff der übrigen neun Kategorien ist. Als erstes und einziges Bindeglied zwischen dem Absoluten (»En soph«) und den höchsten Sephiroth hat sie noch so viel Ähnlichkeit mit dem Absoluten, dass sie meist mit diesem zusammengedacht wird – als das erste diskursiv Erkennbare – und sich dadurch über den Komplex der anderen Sephiroth so sehr heraushebt, dass man sie oftmals gar nicht zu diesen zu rechnen wagt. Es wird dann, um die Zehnzahl wieder vollzumachen und zugleich ein Vermittlungsglied zwischen »Chochmah« und »Binah« zu haben, die Hilfssephirah »Da’ath« eingeschoben. – Wegen ihrer eben geschilderten bevorzugten Stellung unter den Sephiroth wird die Sephirah »Kether« in der Bilderrede der »Idras« des Sohar (vgl. Zweite Abteilung, B XIV 1 und 2) mit ganz ähnlichen Bezeichnungen ausgestattet wie das »En soph« oder Absolute. Wie dieses »der Alte der Alten«, »der Verborgene der Verborgenen«, »der Höchste der Hohen« heißt, so erhält »Kether« die Beinamen »der Alte, dessen Name geheiligt sei« (der Alte, Gebenedeite), »das weiße Haupt«, »das klare, hellglänzende Licht« (als erster Abkömmling des »Or En soph« oder unendlichen Lichtes), die »höchste und geheimnisvolle Weisheit«. Ja, an einzelnen Stellen scheinen die obengenannten Namen des »En soph« auch auf »Kether« bezogen. Schon hier sei erwähnt, dass der »Langgesichtige« (oder »Langmütige«) der Idras (Zweite Abteilung, B XIV 1) sich in der Regel auf »Kether« (zuweilen mit Chochmah und Binah zusammen gedacht) bezieht, der »Kurzgesichtige« (»Kurzmütige«) dagegen meist auf die Gesamtheit der anderen Sephiroth (ohne oder mit Chochmah-Binah).