1 Grundlagen der Schlafmedizin und Schlafforschung

1.1 Phänomenologie des Schlafes

Die Themen Schlafen und insbesondere Träumen haben die Menschen beschäftigt seit sie begonnen haben, über sich und das Leben zu reflektieren. Immerhin verbringen wir ca. 3.000 Stunden pro Jahr bzw. etwa rund 24 Jahre unseres gesamten Lebens im Schlaf. Auf den Nutzen des Schlafes für neuronale Netze hat bereits 1899 De Manacéine hingewiesen. Er schrieb: „dreams...have direct salutary influence insofar as they serve to exercise regions of the brain which in the waking state remain unemployed.“

Ein Meilenstein in der Schlafforschung war 1953 die vergleichende Beschreibung des sogenannten REM-(rapid eye movement) Schlafes mit schnellen horizontalen Augenbewegungen und des NONREM-Schlafes mit langsam rollenden Augenbewegungen durch Aserinsky und Kleitman (1953). Vier Jahre später lieferten Dement und Kleitman (1957) die erste Beschreibung von Träumen nach der Weckung aus dem REM-Schlaf. Durch die kontinuierliche Ableitung des Elektroenzephalogramms (EEG), Elektrookulogramms (EOG) und Elektromyogramms (EMG) mit Oberflächenelektroden während der Nacht konnte man fünf unterschiedliche, wiederkehrende Biosignalmuster klassifizieren (Rechtschaffen & Kales, 1968).

Eine normale nächtliche Schlafperiode von 6–8 h zeigt in einer solchen Aufzeichnung zyklische, ultradiane (s. a. Glossar) Biosignalmusterabläufe (= Schlafzyklen) mit einer Länge von etwa 90 min (s. Abb. 1.1).

Abb. 1.1: Polysomnogramm mit vier Schlafzyklen
REM: Rapid-Eye-Movement-Schlaf; NONREM I–IV: NON-Rapid-Eye-Movement-Schlaf Stadium I–IV

Abb. 1.2: Darstellung der Elektrodenlage für die Schlaf-EEG-Ableitung. Die beiden EEG-Ableitungen (Zeitkonstante 0,3 s, Tiefpass 70 Hz) C3 und C4 sind jeweils gegen das gegenüberliegende Mastoid (A2, A1) verschaltet. Die EOG-Elektroden (Zeitkonstante 0,3 s, Tiefpass 70 Hz) sind jeweils einen Zentimeter oberhalb bzw. unterhalb des äußeren Augenwinkels geklebt. Da das Auge ein elektrischer Dipol (vordere Augenabschnitte sind elektrisch positiver im Vergleich zur Netzhaut) ist, können Augenbewegungen mit diesen Elektroden aufgezeichnet werden. Das Oberflächen-EMG der Mm. mentalis oder submentalis (Zeitkonstante 0,01 s, Tiefpass möglichst hoch) dient der Beurteilung des Muskeltonus im Schlaf

1.2 Methodik der Schlafableitung

Um die Physiologie des Schlafes zu verstehen, ist es notwendig, sich mit den Grundlagen der EEG-Ableitung vertraut zu machen. Das EEG wird mittels Elektroden von der Kopfhaut abgeleitet und spiegelt die summierten exzitatorischen bzw. inhibitorischen postsynaptischen Potentiale neokortikaler Neurone wieder. Die für die Schlafstadieneinteilung wichtigsten EEG-Frequenzen sind zum einen die okzipital am besten ableitbare Alphaaktivität und die frontal am besten erfassbaren Deltawellen und K-Komplexe. Um diese Frequenzen mit möglichst wenig Aufwand zu erfassen, werden gemäß dem Manual von Rechtschaffen und Kales (1968) nur zwei zentrale unipolare EEG-Elektroden geklebt, die noch durch zwei unipolare EOG-Ableitungen und ein Oberflächen-EMG des M. submentalis bzw. mentalis ergänzt werden (s. Abb. 1.2).

Für die Auswertung des Schlaf-EEG ist prinzipiell eine Ableitung von den Positionen C3 oder C4 (C = Central) ausreichend. Es werden aber beide Positionen (C3 und C4) geklebt, um im Falle der Ablösung einer der beiden EEG-Elektroden ohne Wecken des Probanden noch ein Schlaf-EEG auswerten zu können. Bei der Auswertung der Graphoelemente betrachtet man die Amplitude, also die Auslenkung eines Signals von „unten“ (= Negativierung) nach „oben“ (= Positivierung), die man auch als einen Zyklus auffassen kann und die mit der Einheit Mikrovolt (μV) bezeichnet wird (s. Abb. 1.3). Die Häufigkeit dieser Auslenkungen (Zyklen) pro Sekunde nennt man Frequenz, die mit der Einheit Hertz (Hz) bezeichnet wird.

Abb. 1.3: Beurteilung der Graphoelemente nach den Kriterien der Auslenkung von „unten“ nach „oben“ (Amplitude), sowie der Häufigkeit der Auslenkungen (Zyklen) pro Sekunde (Frequenz). Im Falle der Abb. 13 Zyklen pro Sekunde entspricht einer Frequenz von 13 Hertz (Hz). Dieses Graphoelement nennt man Schlafspindel und es findet sich in Schlafstadium II

Zur Bestimmung eines Schlafstadiums werden die Amplitude und Frequenz der aufgezeichneten Graphoelemente pro 30 s bei einem Papiervorschub von 10 mm/s erfasst. Diese 30 Sekundeneinheit bei einem Papiervorschub von 10 mm/s wird als Epoche bezeichnet. Eine normale 7-stündige Nacht besteht demnach aus 7 x 60 x 2 Epochen = 840 Seiten.

Mit Hilfe der Amplitude und Frequenz werden diese 840 Seiten den Schlafstadien wie folgt zugeordnet:

Dem Schlafstadium NONREM I ordnet man ein niedergespanntes EEG (50–70 μV) mit einer Dominanz von Theta-Wellen (4–7 Hz) zu (s. Abb. 1.4). Vereinzelt können auch Vertex-Wellen mit einer Amplitude von 200 μV auftreten. Im EOG finden sich langsam pendelnde Augenbewegungen und der Muskeltonus sinkt leicht ab.

Das NONREM-Schlafstadium II wird durch das Auftreten hoher langsamer, biphasischer Wellen, sogenannter K-Komplexe (initial negativ, 1–2Hz, ≤ 200 μV) und Beta-Spindeln, sogenannten Schlaf-Spindeln (12–14 Hz, Dauer 1–2 s) charakterisiert (s. Abb. 1.5). In diesem Schlafstadium treten typischerweise keine Augenbewegungen auf.

Im NONREM-Schlafstadium III findet sich eine zunehmende Frequenzverlangsamung und Amplitudenzunahme (s. Abb. 1.6). Anforderung an das Schlafstadium III ist, dass in der betreffenden Ableitung pro Epoche mindestens 20 % aber weniger als 50 % Delta-Aktivität (≤ 3 Hz, ≥ 75 μV) vorhanden ist. Typischerweise finden sich keine Augenbewegungen und der Muskeltonus nimmt ab.

Abb. 1.4: NONREM-Stadium I. EEG: Theta (3–7 Hz ~ 50–70 μV). Dieses Schlafstadium umfasst etwa 2–5 % der Gesamtschlafzeit

Abb. 1.5: NONREM-Stadium II. EEG: Spindeln (12–14 Hz) und K-Komplexe (1 Hz ~ 200 μV). Dieses Schlafstadium umfasst etwa ~ 40–50 % der Gesamtschlafzeit

Abb. 1.6: NONREM-Stadium III. EEG: Delta-Wellen (0,5–2 Hz > 75 μV). Dieses Schlafstadium umfasst etwa 3–8 % der Gesamtschlafzeit

Abb. 1.7: NONREM-Stadium IV. EEG: Delta-Wellen (0,5–2 Hz > 75 μV). Dieses Schlafstadium umfasst etwa ~ 10–15 % der Gesamtschlafzeit

Die Anforderung an NONREM-Schlafstadium IV ist, das in der betreffenden Epoche mindestens 50 % Deltaaktivität (≤ 3 Hz, ≥ 75 μV) vorhanden ist (s. Abb. 1.7).

Abb. 1.8: Stadium REM. EEG: 8–5Hz, ~ 50 μV mit gruppierten Sägezahnwellen (~2 Hz, ~40 μV). Über dem EEG-Streifen finden sich die typischen Rapid-Eye-Movements (= REM). Dieses Schlafstadium umfasst etwa 20–25 % der Gesamtschlafzeit

Das Schlafstadium REM ist nach den in diesem Stadium auftretenden salvenartigen konjugierten horizontalen Augenbewegungen (rapid eye movements = REMs) benannt (s. Abb. 1.8). Im EEG imponiert ein niedrigamplitudiges Frequenzband aus dem Alpha- und Theta-Band, vereinzelt können gruppierte Sägezahnwellen (~2 Hz, um 40–50 μV) auftreten. Typisch für den REM-Schlaf ist weiterhin eine Skelettmuskelatonie.

In einer normalen nächtlichen Schlafperiode von 6–8 h treten diese Schlafstadien in einem Zeitfenster von etwa 90 min in der Regel 4-mal pro Nacht auf und können in zeitlicher Abfolge graphisch in Form eines treppenartigen Linienverlaufs als Hypnogramm dargestellt werden (s. Abb. 1.1). Abschließend sei an dieser Stelle angemerkt, dass insbesondere die Änderung der Schlaftiefe im NONREM-Schlaf ein kontinuierlicher Prozess ist, und dass mit Hilfe dieses Auswerteschemas versucht wird, nur näherungsweise die Qualität und Quantität der unterschiedlichen neuronalen Funktionszustände im Schlaf zu erfassen. Die EEG-Rohdatenauswertung erfolgt heutzutage computergestützt, wobei die neuesten Auswertesysteme sehr zuverlässige und hoch mit der visuellen Auswertung korrelierende Ergebnisse liefern (Anderer, Gruber & Parapatics, 2005).

1.3 Funktionen des Schlafes

Ruhe und Aktivitätszyklen haben sich früh in der Evolution entwickelt. Die Rotation der Erde mit dem daraus resultierenden Tag-Nacht-Rhythmus ist als grundlegend prägender Rhythmusgeber anzusehen. So wurde bereits 1729 von De Mairan erforscht, dass sich Blätter von Pflanzen in Abhängigkeit von der Tageszeit heben und senken und diese rhythmische Aktivität unter Dunkelbedingungen beibehalten (Du Fay, 1729). Aber auch Einzeller wie die Geißelalge Gonyaulax polyedra richtet ihren „Aktivitätsrhythmus“ entsprechend nach dem Tag-Nacht-Rhythmus aus. Die Geißelalgen steigen etwa eine Stunde vor dem Sonnenaufgang langsam an die Wasseroberfläche, um mit Hilfe der Sonnenstrahlung Photosynthese zu betreiben. Noch vor Sonnenuntergang sinken sie wieder in die Tiefe. In der Dunkelheit produzieren die Einzeller mit Hilfe des Luziferasesystems biochemisch Licht (Dunlap & Hastings, 1981). Durch Repressormoleküle wird tagsüber die Translation von mRNA für die nächtliche Akkumulation von Luziferin unterdrückt. Dieses Verhaltensprogramm verläuft auch im Labor unter konstanter Dunkelheit rhythmisch weiter. Diese Ausführungen legen nahe, dass sich grundsätzlich Ruhe- und Aktivitätszyklen schon früh in der Evolution als Anpassung an Licht- und Temperaturschwankungen entwickelt haben, um eine ökonomisch bedarfsgesteuerte metabolische Aktivität zu ermöglichen. Für die frühe Entwicklung von zirkadianen Anpassungen in der Evolution spricht auch, dass sich bei Pflanzen, Pilzen, Insekten und Säugern Ähnlichkeiten in der Regulation der zirkadianen Rhythmik finden (Übersicht s. Devlin, 2002). Auch beim Menschen entwickeln sich schon etwa 20 Wochen nach der Befruchtung erste periodische Ruhe-Aktivitäts-Zyklen, wobei sich im Laufe der Schwangerschaft zunächst ein fötaler REM-Zyklus von 20–57 min ausbilden soll (Sterman, 1967; Sterman & Hoppenbrouwers, 1971).

Das sich nach der Geburt entwickelnde elektrophysiologisch messbare NONREM-REM-Schlafmuster könnte folglich ein Korrelat der Anpassung komplexer neuronaler Strukturen an die durch die Erdrotation entstandene zirkadiane Rhythmik sein (s. unter Abschnitt 5.1, sowie Staedt & Stoppe, 2001, 2004).

Diesbezüglich entspricht der sich erst nach der Geburt entwickelnde NONREM-Schlaf aus physiologischer Sicht einer Energie einsparenden Ruhephase. Es kommt zu einer Abnahme der Körpertemperatur, der Herz- und Atemfrequenz und des Metabolismus, des Muskeltonus und zu einer Verlangsamung und Synchronisation des EEGs. Im REM-Schlaf hingegen findet sich eine gegenläufige Tendenz mit Zunahme der Körpertemperatur, des Metabolismus und Blutflusses sowie der neuronalen Aktivität, die dem Muster des Wach-EEG ähnelt.

So weisen auch viele Spezies im NONREM-Schlaf eine Abnahme und im REM-Schlaf eine Erhöhung der Körpertemperatur auf. Beim Menschen lassen sich diese Beziehungen nicht so eindeutig nachweisen. Allerdings führt auch beim Menschen körperliche Aktivität (Erwärmung) zu einer Zunahme des langsamwelligen NONREM-Schlafes, während die Auftretenswahrscheinlichkeit des REM-Schlafes im Schlaf mit sinkender Körperkerntemperatur wächst.

Die Erhöhung der „Betriebstemperatur“ des ZNS in den etwa alle 90 min auftretenden REM-Phasen könnte mittels einer schnelleren Verarbeitungs-/Reaktionsmöglichkeit auf externe Reize (Arousal) aus dem Schlaf heraus einen wichtigen Selektionsvorteil bedeutet haben. Dazu passend findet sich auch im REM-Schlaf eine erhöhte Reagibilität auf externe Reize. So verbessert die Darbietung eines akustischen Signals während der schnellen Augenbewegungen im REM-Schlaf – welches zuvor auch in der Lernphase appliziert wurde – die Testleistung gegenüber Kontrollgruppen.

1.3.1 NONREM- und REM-Schlaf und neuronale Netze

Im Laufe der Evolution sind mit dem Wachstum des ZNS größere neokortikale Vernetzungen entstanden. Neben der Regulation des Energiehaushaltes wurde die Speicherung und der Erhalt der Abrufbarkeit von Informationen immer wichtiger (s. Abb. 1.9).

Abb. 1.9: Schlaf-EEG, ein Korrelat komplexer neuronaler Netze?

Informationen können durch Bahnung synaptischer Übertragungsprozesse in neuronalen Netzen gespeichert werden. Dafür, dass die so gespeicherte Information wieder durch neuronale Übertragung dynamisch stabilisiert werden muss, spricht, dass Winterschlaf haltende Säugetiere zum Teil ihren Winterschlaf phasenweise unterbrechen, um zu schlafen. Beispielsweise verfällt das arktische Eichhörnchen (s. Abb. 1.10) in einen tiefen Winterschlaf, bei dem die Körpertemperatur auf 2–5° C abfällt und keine Aktivität der Nervenzellen mittels EEG ableitbar ist (Daan, Barnes & Strijkstra, 1991). Das bedeutet, dass die kortikalen Neuronen in dieser Phase des Winterschlafes auch nicht „arbeiten“.

Alle 1–3 Wochen erwärmt sich der kleine Säuger wieder auf 32–36° C, um dann für 12–18 h zu schlafen. Man könnte daher postulieren, dass im Winterschlaf nicht genutzte synaptische Übertragungsfähigkeit ihre spezielle, durch Bahnung „geübte“ Leistungscharakteristik nach einem gewissen Zeitraum verliert (s. Cirelli, 2005).

Stellt man sich nun vor, dass die Verarbeitung sensorischer Inputs – insbesondere des visuellen Systems und die Aufrechterhaltung sensomotorischer Funktionen – zu überlagerter Aktivierung neuronaler Schaltkreise führt, so wird der Bedarf für zwischenzeitliche nutzungsunabhängige Aktivierung von neuronalen Schaltkreisen verständlich (s. Abb. 1.11). Denn nur so kann es durch eine passagere nicht unmittelbar sensorisch getriggerte synaptische/dendritsche Aktivität zur Bereitstellung von mRNA für synaptisches Wachstum kommen, um die bestehende synaptische Verbindungsdichte im Neokortex aufrecht erhalten zu können. Andernfalls wird durch „Nichtbenutzung“ die synaptische Verbindungsdichte/Plastizität reduziert. Diese Anpassungsleistung scheint bei genetisch blinden Spezies nicht vorhanden bzw. nicht notwendig zu sein.

Abb. 1.10: Arktisches Eichhörnchen

Im Schlaf kann durch Abkoppelung, insbesondere des visuellen Inputs, die neuronale Plastizität erhalten und neue/alte Information gespeichert bzw. wieder aufgerufen werden. Somit ergibt sich durch Reduktion des sensorischen Inputs im Schlaf die Möglichkeit, neu gelernte sowie alte, in dynamischen Interaktionszuständen von Nervenzellen repräsentierte Gedächtnisinhalte zu bearbeiten bzw. wieder abzurufen, damit sie behalten bzw. nicht „vergessen“ werden.

Abb. 1.11: Durch Abschalten des visuellen Inputs wird die Konsolidierung der erlebnisabhängigen kortikalen Plastizität ermöglicht (siehe dazu Frank et al., 2006).

Verglichen mit dem Wachzustand könnte demnach der Schlaf ein Zustand der Entkopplung von Neuronenverbänden sein. Zu dieser Überlegung passend findet sich im Schlaf eine verstärkte Gehirnproteinsynthese sowie eine Modulation der synaptischen Konnektivität (Cirelli, 2005) und es kommt speziell im Slow-wave-Schlaf nach Lernepisoden zu einer verstärkten hippocampalen Aktivität, die sozusagen einer „Offline-Bearbeitung“ von neuronal repräsentierten Gedächtnisinhalten entspricht (Peigneux et al., 2004).

Der hohe postnatale REM-Schlafanteil bei Säugern, der mit zunehmender Reifung auch beim Menschen von etwa 8 h bei Neugeborenen auf ca. 1,5 h im Erwachsenenalter abnimmt, deutet daraufhin, dass dem REM-Schlaf eine Funktion bei Reifung bzw. Entwicklung neuronaler Netzwerke zukommt. Die chaotischen, in ihrer Frequenz fluktuierenden Aktivierungen im REM-Schlaf begünstigen synaptisches und axonales Wachstum.

Für den entwicklungsfördernden Einfluss des REM-Schlafes spricht auch das Auftreten von Verhaltensauffälligkeiten und eine Reduktion des zerebralen Gewichts nach postnataler pharmakologischer REM-Schlafsuppression bei Ratten. Die vielfältigen neuronalen Aktivierungen im REM-Schlaf könnten neben der Reifung des „phylogenetischen neuronalen Gedächtnisses“ auch für das Abgleichen und die Entwicklung komplexer assoziativer Verknüpfungen förderlich sein. Da REM-Schlaf im Gegensatz zum NONREM-Schlaf bei der Konsolidierung nicht-deklarativer Gedächtnisinhalte eine maßgebliche Rolle spielt, könnten assoziative sensomotorische Repräsentationen gebahnt werden (Erläuterung s. Kasten).

Organisation des Gedächtnisses

Die heute gebräuchliche Einteilung des Gedächtnisses ordnet einzelne Systeme bestimmten Hirnregionen zu. Nach Schacter (1987) wird als explizites Gedächtnis das bewusste Wiedererinnern von kürzlich präsentiertem Material bezeichnet. Für das deklarative Gedächtnis führte Tulving (1972, 1985) eine dichotome Unterteilung ein. Er unterscheidet ein episodisches Gedächtnis für autobiographische Erinnerung von Ereignissen (z. B. mein letzter Urlaub in der Karibik), die Erinnerung an einzelne raum-zeitlich spezifizierbare Vorgänge, und ein semantisches Gedächtnis für Faktenwissen (H2O = Wasser), allgemeines Weltwissen (Sprache, Regeln, Konzepte), oder anders ausgedrückt den „eingeköchelten Fond“ der einzelnen willentlich erinnerbaren Lernakte. Das episodische Gedächtnis ordnen wir dem Hippocampus/Schläfenlappen zu, wobei dorsolaterale präfrontale kortikale Areale sicherlich in die willentliche Suche nach Gedächtnisinhalten eingebunden sind.

Davon abzugrenzen ist das non-deklarative (implizite) Gedächtnis, etwa das Lernen von Bewegungsabläufen wie z. B. beim Skaten. Wir üben den Bewegungsablauf und das Fallen bewusst und irgendwie geht es nach einer gewissen Zeit wie von selbst. Das notwendige motorische Aktivationsmuster wurde mit der Zeit in die extrapyramidalmotorischen Schaltkreise des Striatums integriert und wir können dann explizit nicht genau beschreiben, wie der komplexe motorische Ablauf vom Abstoßen des einen Fußes sich über den Körper bis in die Arme und dann zum anderen Fuß fortsetzt. Zum non-deklarativen Gedächtnis gehört auch das Priming, bei dem durch wiederholte Konfrontation mit Reizmaterial (z. B. Reklame) eine Leistungsverbesserung bzw. ein ungewolltes Wiedererinnern erfolgt. So werden Sie vielleicht beim Anblick einer roten Schirmmütze oder nur eines Bildausschnittes eines roten Rennwagens an einen bestimmten Rennfahrer denken. Sie haben diese Verknüpfung nicht willentlich gelernt und können es auch nicht erklären, aber Sie können sicher davon ausgehen, dass in der Werbebranche sehr viele Menschen sehr bewusst und geplant Priming-Prozesse bei uns Konsumenten in Gang setzen.

Dass das Üben komplexer sensorischer und motorischer Assoziationen im REM-Schlaf hilfreich für spätere komplexe Anforderungen sein kann, ist gut am Beispiel des aktiven Musizierens nachvollziehbar. Beim Üben mit einem Instrument werden Tonfolgen nämlich doppelt, sensomotorisch (z. B. Griffmusterabfolge der Finger) und auditorisch gespeichert, um später beim Musizieren wieder zusammengeführt zu werden. Auch die assoziative Leistung des Träumens scheint sich erst entwickeln zu müssen. So finden sich ausgestaltete Träume nicht vor dem 7.–8. Lebensjahr. Entgegen der immer noch vorherrschenden Überzeugung ist die Gleichsetzung von REM-Schlafund Träumen nicht zutreffend. Cavallero et al. (1992) und Occhionero, Cicogna und Natale (1998) fanden im ersten und zweiten NONREM-Zyklus auch über 60 % Traumberichte, die sich gegenüber der REM-Phase lediglich in der Länge unterschieden. Dazu passend wurde in positronenemissionstomographischen (PET) Untersuchungen auch im NONREM-Schlaf eine Zunahme der Durchblutung im visuellen Kortex beschrieben (Übersicht Staedt, 2000a).

Im Gegensatz zum REM-Schlaf tritt NONREM-Schlaf erst verstärkt gegen Ende der Schwangerschaft auf und nimmt deutlich in den ersten 8 Lebensmonaten parallel mit der kortikalen Differenzierung zu.

Im NONREM-Schlaf kommt es zu einer sensorischen Abkopplung des Kortex mit rhythmischen Aktivitätssalven kortikaler Neurone. Diese in den Depolarisationsphasen auftretenden rhythmischen Aktivierungen könnten die Responsitivität und das dendritische Wachstum kortikaler Neurone beeinflussen und spiegeln möglicherweise Konsolidierungsprozesse überarbeiteter sensorischer Ereignisse wieder. Für die Konsolidierung deklarativer Gedächtnisinhalte sprechen auch erhöhte Aktivitäten hippocampaler CA3/CA1-Neurone im NONREM-Schlaf. Deren tendenziell synchronisierte Entladungsmuster könnten gerade durch das „playback“ zu neokortikalen Strukturen während der NONREM-Schlafphasen einen wichtigen Teil bei der Langzeitkonsolidierung von Gedächtnisinhalten spielen (Übersicht Walker & Stickgold, 2006).

Interessanterweise lassen sich erste nach Schlafentzug auftretende neuropsychologische Defizite den präfrontalen kortikalen Strukturen zuordnen, in denen sich im NONREM-Schlaf die ausgeprägtesten Synchronisierungen finden (Übersicht s. Horne, 1993). Gerade für das Arbeitsfeld der Psychiatrie und Psychotherapie sind potentielle NONREM-Schlaf-bedingte Funktionsstörungen des präfrontalen Kortex (PFC) von großer Bedeutung. Der dorsolaterale präfrontale Kortex ist eng mit der Funktion des Arbeitsgedächtnisses verknüpft, d. h. der Fähigkeit, wichtige Wahrnehmungsinhalte im Bewusstsein zu halten und sie planerisch zu bearbeiten. Störungen können Schwierigkeiten bei der Objektwahrnehmung, der situativen Einschätzung und bei der Entwicklung von Zielvorstellungen hervorrufen.

Funktionelles Korrelat einer NONREM-Schlafstörung auf neuronaler Ebene könnte aber auch eine nicht ausreichende, dynamische nutzungsunabhängige Stabilisierung neuronaler Vernetzung sowie bei länger bestehender Schlafstörung auch eine nicht ausreichende/fehlerhafte Stabilisierung von Altgedächtnisinhalten sein. Einfacher formuliert kann sich der Neokortex bei gestörtem NONREM-Schlaf nicht auf sich selbst konzentrieren und „seine Aufgaben“ machen, ohne ständig durch andere äußere Reize abgelenkt zu werden. Die daraus potentiell resultierende nicht ausreichende/fehlerhafte dynamische Stabilisation von Gedächtnis würde dann fehlerhafte/störanfällige Verschaltungen (Gedächtnisinhalte) begünstigen, die sich möglicherweise auf der Verhaltensebene in wahnhaftem Verhalten, Halluzinationen, Gedächtnisstörungen oder Störungen der Affektivität manifestieren könnten. Zu diesen Überlegungen passend sind in der älteren Literatur auch das Auftreten von Halluzinationen und wahnhaftem Erleben nach Schlafentzug beschrieben (Mullaney et al., 1983; Tyler, 1955). Ebenso finden sich Schlafstörungen bei Beginn und im Verlauf der meisten psychiatrischen Erkrankungen. Insbesondere Schizophrenien, affektive Erkrankungen und Demenzen, in deren Erkrankungsverlauf solche Symptome auftreten können, weisen auch Reduktionen des im NONREM-Stadium III und IV auftretenden „slow-wavesleep“ auf.

Slow-wave-sleep-Synchronisierungen scheinen für Regenerationsprozesse auf neuronaler Ebene unverzichtbar zu sein. Für diese Sichtweise spricht auch, dass mit dem ersten Auftreten des NONREM-Stadiums II der Eingangswiderstand für akustische Signale ansteigt und korrelierend mit der Reduktion der langsamwelligen (0,75–4,5 Hz) EEG-Frequenz im Laufe der zweiten Nachthälfte (verstärktes Auftreten von REM-Schlaf) auch die Responsivität auf akustische Signale zunimmt (Borbely et al., 1981; Ferrrara et al., 1999).

Die Reduktion oder Störung des NONREM-Schlafes kann auch klinisch-psychiatrische Relevanz erlangen. So soll die Reduktion von Arousalvorgängen im NONREM-Schlaf in Beziehung zum schnellen Ansprechen einer Antidepressivabehandlung bei Patienten mit Major Depression stehen (Staedt et al., 1998a). Eine verminderte Slow-wave-sleep-Dichte soll bei depressiven Patienten die Rückfallrate erhöhen und bei schizophrenen Patienten einen eher ungünstigeren Krankheitsverlauf begünstigen.

Im Gegensatz dazu erscheint eine Reduktion des REM-Schlafes zumindest nach Abschluss der zerebralen Reifung nicht zwingend kortikale Funktionen zu beeinträchtigen. So zeigen Patienten unter Behandlung mit bestimmten Antidepressiva (MAO-Hemmer) längerfristige ausprägte Reduktionen des REM-Schlafes, die zwar im Langzeitverlauf in gewissem Umfang wieder kompensiert werden (Landolt & de Boer, 2001), aber keinen negativen Einfluss auf die Befindlichkeit und die Gedächtnisfunktionen haben. Auch führt die REM-Suppression nicht zu einer Störung der homöostatischen Regulation des NONREM-Schlafes (Landolt et al., 2001). Abschließend sei erwähnt, dass die Quantität und Qualität des NONREM-Schlafes in erster Linie in Beziehung zur Länge der Wachphase steht, während der REM-Schlaf hingegen zirkadian getriggert wird.

1.3.2 Zusammenfassung

Abschließend kann man die Hypothese aufstellen, dass die NONREM-REM-Zyklik ursprünglich der Energieeinsparung und Temperaturregulation diente. Diese Funktion trat mit der Entwicklung komplexer neuronaler Netze in den Hintergrund und andere Anpassungsleistungen wurden zum Erhalt der synaptischen Plastizität und zum Abspeichern von Gedächtnisinhalten notwendig. In diesem Zusammenhang sind der NONREM- und der REM-Schlaf an der Konsolidierung von Gedächtnisinhalten beteiligt, wobei dem NONREM-Schlaf hier eine wichtige Rolle bei der Speicherung von deklarativen Gedächtnisinhalten zukommt. Die im Zusammenhang mit Schlafstörungen bei depressiven Patienten vermehrt auftretenden Suizidgedanken lassen mutmaßen, dass möglicherweise durch relativen NONREM-Schlafentzug frontale kortikale, an der Impulskontrolle beteiligte Areale negativ beeinflusst werden. REM-Schlafentzug scheint hieran nicht beteiligt zu sein, da selektiver Schlafentzug in der zweiten Nachthälfe in der Regel zu einer Stimmungsverbesserung führt.

Die Ausführungen unterstreichen die Bedeutung von Schlafstörungen für das Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie, zumal Schlafprobleme mittlerweile ein häufiges gesellschaftliches Phänomen darstellen. Eine repräsentative deutsche Studie zeigte kürzlich, dass Schlafprobleme der dritthäufigste Anlass für den Hausarztbesuch sind. 26 % dieser Patienten erfüllten dabei die Kriterien einer Schlafstörung (Ein- und/oder Durchschlafprobleme) (Wittchen et al., 2001). In Anbetracht der hohen Prävalenz sollten Schlafstörungen auch in der Therapie psychiatrischer Erkrankungen entsprechend berücksichtigt werden, da sie in der Regel zu Beginn der Erkrankungen auftreten und ihren Verlauf maßgeblich modulieren können.

1.3.3 Schlafstörungen und Suizidalität

In der Literatur gibt es Hinweise, dass Schlafstörungen häufiger bei psychiatrischen Patienten mit suizidalem Verhalten auftreten (Agargun et al., 1998). Hierbei kann es sich sowohl um Insomnien, Hypersomnien (Agargun et al., 1997), Alpträume (Agargun et al., 1998) als auch nächtliche Panikattacken handeln (Agargun & Kara, 1998). Besonders stark scheinen die insomnischen Beschwerden bei suizidalen, depressiven Patienten ausgeprägt zu sein (Fawcett et al., 1990; Barraclough & Pallis, 1975). Aber auch ein zuviel an Schlaf – eine Hypersomnie – (z. B. häufig bei Bipolar-II-Patienten) kann mit vermehrten Suizidgedanken einhergehen (Agargun, Kara & Solmaz, 1997). In der Literatur finden sich zunehmend Hinweise auf Veränderungen im Schlaf-EEG von suizidalen Patienten. So fanden Dahl et al. (1990) in einer Schlaf-EEG Untersuchung bei depressiven Jugendlichen mit Suizidalität im Vergleich zur Gruppe ohne Suizidalität eine signifikant verlängerte Einschlaflatenz. Depressive Patienten mit Suizidversuchen in der Vorgeschichte weisen gegenüber nicht-suizidalen Patienten eine signifikant erhöhte REM-Dauer und REM-Aktivität im zweiten REM-Zyklus auf und zeigten zusätzlich noch einen Trend zur Reduktion der Slow-wave-Aktivität im vierten NONREM-Zyklus (Sabo et al., 1991).

Angesichts einer Suizidversuchsrate von ca. 10 % im Jugendalter (Evans et al., 2005) sei abschließend daran erinnert, dass Schlafstörungen im Jugendalter besonderer Aufmerksamkeit bedürfen, da sie auf ein erhöhtes Suizidversuchsrisiko hinweisen können (Xianchen & Buysse, 2006).

1.4 Epidemiologie von Schlafstörungen

Epidemiologische Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass 15–35 % der Bevölkerung in den westlichen Industrieländern unter leicht bis schwer ausgeprägten Insomnien leiden (Weyerer & Dilling, 1991). In der Altersgruppe der über 65-Jährigen nimmt die Zahl der Schlafgestörten noch mehr zu. So berichten 36 % in dieser Altersgruppe über Einschlafstörungen und bis zu 29 % über Durchschlafstörungen (Foley et al., 1995). In einer neueren repräsentativen Untersuchung aus Deutschland wurden ca. 20.000 Patientenfragebögen zum Schlaf aus 539 teilnehmenden Arztpraxen ausgewertet (Wittchen et al., 2001). Es zeigte sich, dass Schlafstörungen der dritthäufigste Grund für die hausärztliche Konsultation waren. Bei 26 % der Patienten waren die Kriterien einer Schlafstörung (Ein- und/oder Durchschlafprobleme) erfüllt, wobei 50 % dieser Patienten fast tägliche Schlafprobleme angaben. Aber auch bei Patienten im Allgemeinkrankenhaus sollen sich gemäß einer neueren brasilianischen Untersuchung bei über 50 % der Patienten Schlafstörungen finden, die häufig mit Depressivität bis hin zur Suizidalität einhergehen können (Rocha et al., 2005).

Ausgeprägte Tagesmüdigkeit bei subjektiv ungestörtem Schlaf (Hypersomnie) findet sich gemäß epidemiologischer Untersuchungen in einer geringeren Größenordnung zwischen 3–8 % (Breslau et al., 1996; Ohayon et al., 1997; Ohayon & Zulley, 1999). Aber auch hier wird über eine Zunahme der Tagesschläfrigkeit auf etwa 20 % in der Gruppe der über 65-Jährigen berichtet (Whitney et al., 1998).

Tab. 1.1: Nicht-organische und organische Schlafstörungen (ICD-10 Klassifikation nach Dilling, Mombour & Schmidt, 1993)

Nicht-organische Schlafstörungen

F 51.0 Nicht-organische Insomnie

F 51.1 Nicht-organische Hypersomnie

F 51.2 Nicht-organische Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus

F 51.3 Somnambulismus

F 51.4 Pavor nocturnus

F 51.5 Albträume

F 51.8 Andere nicht-organische Schlafstörungen

F 51.9 Nicht näher bezeichnete nicht-organische Schlafstörungen

Organische Schlafstörungen

G 25.8 Episodische Bewegungsstörungen und nächtliche Myoklonien (RLS)

G 47.0 Organisch bedingte Insomnie

G 47.1 Krankhaft gesteigertes Schlafbedürfnis

G 47.2 Nicht-psychogene Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus

G 47.3 Schlafapnoe

G 47.4 Narkolepsie und Kataplexie

G 47.8 Kleine-Levin-Syndrom

G 47.9 Andere organische Schlafstörungen

1.4.1 Klassifikation der Schlafstörungen

Die Klassifikation der Schlafstörungen unterscheidet in Insomnien, Hypersomnien und Schlaf-Wach-Rhythmusstörungen, die unter dem Oberbegriff Dyssomnien zusammengefasst werden. Davon abgegrenzt werden die Parasomnien, bei denen im Schlaf autonome oder motorische Störungen auftreten. In der ICD-10 erfolgt die diagnostische Zuordnung von Schlafstörungen bei den psychiatrischen/organischen Krankheitsbildern in Form von Einzeldiagnosen (s. Tab. 1.1). Nicht-organische Schlafstörungen sind der Untergruppe „Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren“ zugeordnet (Dilling, Mombour & Schmidt, 1993).

Im Klassifikationssystem der American Psychiatric Association (APA, 1996; DSM IV) gibt es ausdifferenzierte diagnostische Kriterien, wobei im DSM IV bei den Kriterien der primären Insomnie auch der Begriff „non restorative sleep“, d. h. der nicht erholsame Schlaf auftaucht. Diese Formulierung führt uns vor Augen, dass eine exakte Definition, wie viel Schlaf notwendig ist, nicht gegeben werden kann. Mit dem Terminus nicht-erholsamer Schlaf kann aber sehr gut allgemeinverständlich die grundlegende Problematik aller Dyssomnien beschrieben werden. Verwirrend ist im DSM IV (APA, 1996) die Subsummierung der Schlafapnoe und des Restless-legs-Syn-drom unter die Kategorie „Primäre Schlafstörungen“ (s. Tab. 1.2).

Tab. 1.2: Klassifikation der Dyssomnien und Parasomnien nach DSM IV (APA, 1996)

Primäre Schlafstörungen

I Dyssomnien

307.42 Primäre Insomnie

307.44 Primäre Hypersomnie

307.47 Narkolepsie

780.59 Atmungsbezogene Schlafstörungen

307.45 Schlafstörungen mit Störungen des zirkadianen Rhythmus

307.47 Nicht näher bezeichnete Schlafstörungen

307.47 Nicht näher bezeichnete Dyssomnie (z. B. RLS)

Substanzinduzierte Schlafstörung

291.8 Alkoholinduzierte Schlafstörung

292.89 Schlafstörung bei Sedativa-, Hypnotika- oder multiplen Substanzgebrauch

II Parasomnien

307.47 Schlafwandeln, Pavor Nocturnus, Somniloquie, Bruxismus, REM-Schlafverhaltensstörung

307.6 Enuresis

III Schlafstörungen in Zusammenhang mit psychiatrischen/körperlichen Erkrankungen

307.42 Insomnie in Zusammenhang mit einer anderen psychischen Störung

307.44 Hypersomnie in Zusammenhang mit einer anderen psychischen Störung

Schlafstörungen aufgrund eines medizinischen Krankheitsfaktors (z. B. Demenz, Ulkus etc.)

780.52 Insomnie

780.54 Hypersomnie

780.59 Parasomnie

1.5 Indikationsstellung zur schlafmedizinischen Untersuchung

Zunächst einmal sollte jeder Patient, der länger als einen Monat andauernd unter Schlafstörungen leidet, die sowohl die Leistungsfähigkeit als auch das Wohlbefinden am Tage beeinträchtigen, eingehend hausärztlich untersucht werden. Hierbei sollten neben der Klärung möglicher Verursachung durch organische Erkrankungen oder Medikamente auch psychische (s. Abschnitte 2.4.1–2.4.4) und soziale Gründe ausgeschlossen werden. Durch sorgfältige Befragung kann auch ein Restless-legs-Syndrom (= RLS; s. Abschnitt 2.3.2) als Auslöser der Schlafstörung klinisch diagnostiziert werden. Bei Patienten mit ungeklärter exzessiver Tagesschläfrigkeit ist im Vorfeld auch der Missbrauch sedierender Psychopharmaka oder Drogen, sowie ein Schlafapnoe-Syndrom (s. Abschnitt 3.2.1) mit einem ambulanten Screeninggerät auszuschließen. Bei ungeklärter Hypersomnie und bei anhaltender therapieresistenter Insomnie ist eine polysomnographische Untersuchung notwendig und sinnvoll. Im Fall einer Hypersomnie kann festgestellt werden, ob die Tagesmüdigkeit Folge eines gestörten Schlafs ist oder ob es sich um ein pathologisch erhöhtes Schlafbedürfnis (im Sinne einer Narkolepsie oder idiopatischen Hypersomnie, s. Abschnitte 3.2.3 und 3.2.4) handelt. Bei langandauernden ausgeprägten Ein- und Durchschlafstörungen können polysomnographisch organische Ursachen, z. B. schlafbezogene Atemdysregulationen, die vorher vom Umfeld nicht beobachtet wurden, periodische Beinbewegungen oder andere ursächliche Faktoren diagnostiziert werden. Eine besondere Bedeutung hat die Schlafpolygraphie auch für die psychophysiologische Insomnie, die meist mit Überschätzung der Schlafstörung und mit konditioniertem Fehlverhalten einhergeht. Die Objektivierung des Schlafes, die dann häufig in der ersten Nacht mit einem paradoxen „first night effect“ einhergeht, aufgrund dessen die Patienten unerwartet besser als zu Hause schlafen, kann überzeugend hilfreich in die Therapie mit einbezogen werden. In diese Richtung weisen auch Untersuchungen von Jacobs et al. (1988). Die Untersucher konnten bei 128 im Schlaflabor untersuchten Patienten mit chronischer Insomnie immerhin in 49 % der Fälle den initialen klinischen Eindruck widerlegen oder jedenfalls nicht bestätigen. Die Ausführungen legen nahe, zumindest chronisch schlafgestörte Patienten einer schlafpolygraphischen Untersuchung zuzuführen. Für die Suche nach einem für betroffene Patienten nahegelegenen Schlaflabor empfiehlt sich die Homepage der DGSM (Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin; www.dgsm.de). Dort sind die Adressen aller akkreditierten Schlaflabore zu finden.

2 Insomnien

2.1 Vorübergehende Insomnie

Vorübergehende Schlafstörungen z. B. für einen Zeitraum von einigen Tagen bis hin zu 1–3 Wochen sind häufig. Viele Menschen reagieren z. B. auf starken Stress, anstehende aufregende Ereignisse oder im Verlauf von körperlichen Erkrankungen mit Ein- und Durchschlafstörungen.

In der Regel werden Psychotherapeuten nicht mit solchen passageren Insomnien konfrontiert. Ist der Auslösemechanismus eindeutig explorierbar (z. B. anstehende Prüfung oder geplante große Reise), so kann nach schlafhygiener Beratung (s. Abschnitt 6.1.3) bei stark ausgepägter Einschlafstörung auch ein Hypnotikum mit kurzer Halbwertszeit gegeben werden (s. dazu auch die Tabellen im Anhang unter 8.2). Bei aktiver Teilnahme am Straßenverkehr ist die Verordnung von Zolpidem zu empfehlen, da letztere Substanz sich im Gegensatz zu Zopiclon und Lormetazepam in Fahrsimulatoruntersuchungen 9–11 h nach der Einnahme nicht von Placebo im Einfluss auf die Fahrtauglichkeit unterschied (Staner et al., 2005). Wichtig ist aber, dass mit dem Patienten gleich zu Beginn die Dauer der Verschreibung des Benzodiazepinpräparates (maximal 4–6 Wochen) erörtert wird, um der Entwicklung einer chronischen Insomnie vorbeugen zu können (s. Abschnitt 2.2). Zusätzlich empfiehlt es sich, z. B. mit dem folgenden, vom Patienten auszufüllenden Fragenbogen zur Schlafhygiene (Abb. 2.1) den Schlaf potentiell verschlechternde Faktoren zu erfassen und in der Behandlung zu berücksichtigen.

2.2 Chronische Insomnie

Die häufigste Form der chronischen Insomnie ist die sogenannte psychophysiologische Insomnie. Die Betroffen klagen über Ein- und Durchschlafstörungen, die zeitlich koinzidierend mit einem belastenden Lebensereignis erstmals auftraten und nach Wegfall des auslösenden Ereignisses persistierten. Häufig finden sich aber auch in dieser Patientengruppe fortgesetzte Traumatisierungen, Verluste und Erkrankungen (Healey et al., 1981). Charakteristische Merkmale sind:

Es ist zu beachten, dass sich im Endeffekt eine durch andere Ursachen ausgelöste Schlafstörung in ihrer Symptomatologie ähnlich präsentieren kann. Aus diesem Grunde ist es sinnvoll, strukturiert die Anamnese und die klinisch/laborchemischen Untersuchungen zu erheben, die beispielhaft in Tab. 2.1 aufgeführt sind. Im Rahmen der Basisdiagnostik sind dann zunächst die unter Abschnitt 2.3 und 2.4 aufgeführten Differentialdiagnosen auszuschließen.

Schlafhygieneprotokoll

Trifft zu

trifft teilweise zu

trifft nicht zu

Bemerkung

1. Schlafen Sie tagsüber (mehr als zweimal die Woche)?

2. Haben Sie unregelmäßige Aufsteh- und Zubettgehzeiten?

3. Verbringen Sie teilweise sehr viel Zeit im Bett?

4. Konsumieren Sie regelmäßig abends Kaffee oder schwarzen Tee?

5. Konsumieren Sie regelmäßig abends Alkohol?

6. Konsumieren Sie regelmäßig abends Zigaretten?

7. Konsumieren Sie regelmäßig abends Drogen?

8. Haben Sie häufiger noch kurz vor dem Schlafengehen (ca. 4 Stunden zuvor) verstärkte körperliche Aktivitäten?

9. Haben Sie häufig abends seelisch aufwühlende Aktivitäten?

10. Schauen Sie häufig fern im Bett und nehmen dort gegebenenfalls auch Mahlzeiten zu sich?

11. Lagern Sie in Ihrem Schlafzimmer Dinge, die Sie möglicherweise noch an unerledigte Arbeiten (z.B. Akten, Reparatur, Bügeln, Stopfen) erinnern?

12. Beschäftigen Sie sich häufig gedanklich im Bett mit Problemen?

Prüfen Sie bitte, ob Sie alle 12 Fragen beantwortet haben.

Abb. 2.1: Schlafhygieneprotokoll

2.2.1 Pathophysiologie der Insomnie

Um die Pathophysiologie der Insomnie besser verstehen zu können, ist es notwendig, sich mit der Physiologie der Entstehung des NONREM-Schlafs auseinanderzusetzen. Während der Wachphasen werden die sensorisch eingehenden Signale direkt über den Thalamus in Bereiche der Großhirnrinde weitergeleitet. Im EEG können wir zeitgleich eine sogenannte Desynchronisation (Alpha- und Beta-Frequenzen) beobachten (s. Abb. 2.2 a). Dabei passieren diese einlaufenden Informationen alle die Nuclei reticulares thalami. Die Kerngebiete liegen als Zellschicht kappenförmig auf beiden Seiten des Thalamus. Die Nuclei reticularis thalamii erhalten von den durchziehenden Faserbündeln erregende Signale und wirken im Gegenzug dämpfend auf die durchlaufenden Informationen. Wenn der sensorische Input z. B. durch Augenlidschluss vermindert wird, werden die dadurch vermindert in die Nuclei reticularis thalamii einlaufenden nicht-synchronisierten Signale durch hemmende Rückkopplungen in gruppierte Entladungen umgewandelt, die dann im EEG bei Augenlidschluss als typischer Alpha-Rhythmus zu sehen sind (s. Abb. 2.2 b). Mit zunehmender NONREM-Schlaftiefe I→IV nimmt auch die Aktivität des aufsteigenden aktivierenden retikuären System (ARAS) ab, und der zum ARAS gehörende Nucleus basalis Meynert hemmt in Folge seiner Aktivitätsabnahme die Nuclei reticularis thalamii weniger. Dadurch sind die Nuclei reticularis thalamii während der Schlafphase „gleichsam von der Leine gelassen“ und gehen in einen Oszillatormodus über und zwingen dieses Aktivitätsmuster den thalamo-kortikalen Bahnen auf. In der Folge treten deshalb abwechselnd kaum Signale und dann kurzzeitig viele Signale als Bursts mit einer Frequenz von 7–14 Hz auf. Bestimmte Frequenzmuster (12–14 Hz) tauchen gruppiert auf und werden als sogenannte Schlafspindeln bezeichnet (s. Abb. 2.2 c). Auch die langsamen 1–2 Hz-Wellen im Tiefschlaf werden durch das thalamokortikale Wechselspiel erzeugt (s. Abb. 2.2 d). Lediglich die ganz langsamen Frequenzen um 1 Hz werden von den Nervenzellen der Großhirnrinde selbst erzeugt (Übersicht s. Steriade & Timofeev, 2003). Zusammenfassend bedeutet das, dass das ARAS während des ungestörten NONREM-Schlafes mit zunehmender Schlaftiefe inaktiver und die Nuclei reticularis thalami aktiver werden und hemmend auf sensorische Information einwirken, die über den Thalamus (Grenzposten zur Großhirnrinde) zur Großhirnrinde weitergeleitet werden möchten. Oder anders ausgedrückt, ab NONREM-Stadium II wird die Großhirnrinde zunehmend vor von „außen hereinkommenden Botschaften“ geschützt, um nach „Abarbeiten des Schlafdruckes“ in der zweiten Nachthälfte wieder linear zunehmend auf externe Botschaften reagieren zu können (Ferrara et al., 1999). Bei chronisch schlafgestörten Menschen kommt es nun nicht zu einer ausreichenden Aktivitätsabnahme des ARAS, genauer gesagt des zum ARAS gehörenden Nucleus basalis Meynert, der durch seine Aktivitätsabnahme maßgeblich für das Entstehen des NONREM-Schlaf-EEG-Musters verantwortlich ist. In der Folge kann auch im NONREM-Schlaf sensorische Information ungehindert durch den Thalamus in die Großhirnrinde kommen, und es treten im Schlaf zunehmend ganz kurze EEG-Beschleunigungen auf und der Schlaf wird gestört (s. Abb. 2.2 e).

Tab. 2.1: Basisdiagnostik der Schlafstörung

1. Körperliche Anamnese / Diagnostik

  • frühere und jetzige körperliche Erkrankungen
  • Medikamente, Drogen: Alkohol, Nikotin, Haschisch
  • Labor, z. B. TSH, T3, T4
  • EEG/EKG/ggf. Bildgebung bei imperativem Einschlafen

2. Psychiatrische Anamnese

  • Jetzige bzw. frühere Erkrankungen, Familienanamnese

3. Schlafanamnese

  • 2 Wo. Schlaftagebuch (Schlaffragebögen sind auf der Website der DGSM herunterladbar)
  • Tagesbefindlichkeit (Depressionsselbstauskunftbögen)
  • DS-Skala (v. Zerssen, 1976)
  • GDS-Skala bei über 65-Jährigen (Sheikh & Yesavage, 1986)
  • Besondere Ereignisse/äußere Faktoren
  • Eigen-/Fremdanamnese: RLS/Atempausen/Schnarchen
  • Vorgeschichte der Schlafstörungen

4. Screening

  • V. a. chron. therapiefraktäre Insomnie/Hypersomnie
  1. V. a. Schlafapnoe
  2. V. a. Restless-Legs-Syndrom
  3. V. a. chronische Insomnie

Abb. 2.2a: In der Wachphase hemmt das ARAS die Nuclei reticulares thalami. Dadurch kann senorische Information (Sehen, Hören, Fühlen) ungehindert in die Großhirn gelangen und wir sehen ein desynchronisiertes EEG mit Alpha- und Beta-Frequenzen. (ARAS: aufsteigendes retikuläres Aktivierungssytem; Nuclei reticulares thalmi: Ncl. ret. thal.; Thalamo-kortikale Relayneurone: thal. kortikale Relayneurone)

Abb. 2.2b: Wenn wir nun in der Wachphase die Augen schließen, vermindert sich die in den Thalamus einströmende Information und die in die Ncl. ret. thal. einlaufenden, nicht synchronisierten Informationen werden durch hemmende Rückkopplungen in gruppierte Entladungen umgewandelt, die dann im EEG bei Augenlidschluss als typischer Alpha-Rhythmus zu sehen sind (Abk. s. Abb. 2.2a)

Abb. 2.2c: Mit zunehmender NONREM-Schlaftiefe nimmt die hemmende Aktivität des ARAS auf die Ncl. ret. thal. ab. Dadurch geht deren Aktivität in einen oszillierenden Aktivitätsmodus über. Das bedeutet, es treten deshalb abwechselnd kaum und dann kurzzeitig gehäuft viele Signale mit einer Frequenz von 7–14 Hertz auf (Abk. s. Abb. 2.2a)

Abb. 2.2d: Im Tiefschlaf hemmen die Ncl. ret. thal. fast völlig die senorische Information, die über den Thalamus zur Großhirnrinde gelangen möchte. Daraus resuliert eine langsame Delta-Aktivität (Abk. s. Abb. 2.2a)

Abb. 2.2e: Bei chronisch schlafgestörten Menschen wird der Thalamus nicht ausreichend durch die Ncl. ret. thal. gehemmt. Deshalb kann sensorische Information auch im Tiefschlaf ungehindert durch den Thalamus in die Großhirn kommen. Im EEG bilden sie sich kurze EEG-Beschleunigungen ab (Abk. s. Abb. 2.2a)

Wie entsteht nun bei chronisch schlafgestörten Patienten die zur Entwicklung einer Insomnie notwendige Überaktivierung des ARAS? Hier ist anzunehmen, dass zumindest zum Zeitpunkt des ersten Auftretens der Insomniesymptomatik eine Überaktivierung der Amygdala, einer Region, die innerhalb von ca. 200 ms erlebte Episoden emotional bewertet und den Grundemotionen zuordnet (Übersicht s. LeDoux, 1992), aufgetreten ist. Denn bei entsprechender emotionaler Aktivierung der Amygdala durch „sensorischen Stress“ feuert deren zentrales Kerngebiet und aktiviert unter anderem auch den Nucleus basalis Meynert, der, wie oben beschrieben, ganz wesentlich in die Schlaf-Wach-Regulation eingebunden ist. Aber auch andere Gebiete, wie der Locus coeruleus (noradrenerges Kerngebiet) und das sympathische Nervensystem, die Vigilanz, Puls und Blutdruck regulieren, werden aktiviert (Davis, 1992; Sanford et al., 1995, 1998; s. auch Abb. 2.3).

Abb. 2.3: Verbindungen des zentralen Kerns der Amygdala. Das zentrale Kerngebiet der Amygdala (straffierte Kerne im Gehirnschnitt) steht in direkter Verbindung mit verschiedenen anderen Regionen des Gehirns. Straffiert gezeichnet sind die Gebiete, die physiologisch an der schlafhemmenden Übererregung beteiligt sind. Unter anderem auch der Nucleus basalis Meynert [modifiziert nach Davis, M (1992) The role of the amygdala in fear-potentiated startle: implications for animal models of anxiety. Trends Pharmacol Sci 13(1): 35–41]

(s. Abb. 2.4)