Irene Pietsch

SCHOSCH 4

Mandamos Verlag

Wien

BERLIN

HAMBURG

LEIPZIG

KÜHLUNGSBORN

BARTH

Die Wollzeile in Wien. Es ist Mittag. Herr Grotschy und Herr Smaragd sitzen mal wieder beim Österreichisch – Ungarisch - Böhmischen „Plachuta“, der original K.u.K. Küche anbietet, wie nur noch wenige.

Herr Grotschy hat sich, ebenfalls wie immer, wenn er dort einkehrt, Brühe mit Markknochen und danach Gemüse der Saison und Beinfleisch bestellt. Herr Grotschy mag die Bodenständigkeit. Herr Smaragd auch, weswegen er heute von seiner Liebe für Tafelspitz abweicht und Schwammerl mit Klößen favorisiert.

Gerade kommen die beiden Kollegen auf einen Bekannten des Herrn Grotschy zu sprechen, mit dem sie vor einigen Jahren hier im Österreichisch - Ungarisch-Böhmischen „Plachuta“ gesessen haben. Der hatte es nach eigenen Angaben geschafft, unter Aufbietung einiger Überzeugungskünste mit den Ausweispapieren seines erwachsenen Sohnes zu reisen. Ob er, der Herr Grotschy inzwischen etwas dazu sagen könne, fragt Herr Smaragd.

„Na“, sagt Herr Grotschy, „das ist mir immer noch neu, aber verrückte Sachen gemacht hat er schon.“

„Wenn ich mich recht erinnere, hatte … eine nicht ganz unauffällige Nase“, sagt Herr Smaragd. Das Riechorgan an sich sei eines der prominentesten und am meisten in Verruf stehenden, behördlich anerkannten Wiedererkennungsmerkmale. Es stehe in Verdacht, radikal nationalistisches Gedanken- und Bemessungsgut, sowie seit Jahrhunderten Vorurteile zu befördern, weswegen die Anwendung von Nasenschablonen mit äußerster Vorsicht betrieben werden sollte.

Herr Grotschy nickt zu den Ausführungen von Herrn Smaragd und schält vorsichtig Mark aus einem Rinderknochen.

„Eine Schablone – nie und nimmer. Der Sohn war dem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Nur frühzeitig gealtert“, gibt er zu Protokoll.

„Eben“, sagt Herr Smaragd. Er zerteilt seinen Serviettenknödel und lässt ihn ein wenig ausdampfen, bevor er ein Stück auf die Gabel spießt.

„Die Nase wird am häufigsten Veränderungsoperationen unterzogen. Oft nur mit Modelliermassen aus der Werkstatt von Maskenbildnern oder Visagisten in sehr guten Kosmetiksalons, die aber organischen Verpflanzungen durch Operateure der Medizinischen Berufsevolution aus der Abteilung Ästhetik täuschend ähnlich sehen. Der Nachteil bei Hühnerfleisch als Ersatzteillager für schadhafte Stellen am menschlichen Körper, wie es früher üblicherweise verwendet wurde, ist der gelegentliche Nachwuchs von Federchen, die hin und wieder gerupft werden mussten.“

„Es ist ja tröstlich, dass nicht überall Ratten oder Schimpansen im Spiel sind, dennoch ist dieses Prozedere bei Brustimplantaten beinahe unvorstellbar!“

In den Augenwinkeln von Herrn Grotschy ist ein Aufblitzen von Amüsiertheit zu beobachten.

Herr Smaragd scheint seinen Gedankengang noch weiter zu entwickeln und bestellt sich eine Portion Apfelkren, obwohl der zu Serviettenknödel und Schwammerl nicht vorgesehen ist.

„An den Beinen hätt‘ ich es auch nicht gerne“, näselt Herr Grotschy über seinem Rindermarkknochen. „Federschmuck, als ob man auf dem Kriegspfad wäre!“

Herr Grotschy und Herr Smaragd werfen sich einen Blick zu, der besagt, dass beide sich gerade Ähnliches vorstellen, was zum Lachen wäre, wenn es sich nicht um die Darstellung von Inka- und anderen Priestern bei Opferriten handelte, was gut dazu passt, wie Herr Grotschy jetzt dem Rindermark mit einem chirurgischen Spezialinstrument, Gabel und auch Löffel zu Leibe rückt.

Herr Smaragd nimmt es zur Kenntnis, geht aber nicht weiter darauf ein, sondern vertieft seine allgemeinen Betrachtungen über Nasen, die er gedenkt, zum Exempel in der Musik- und Kunstgeschichte zu machen, wenn er und sein Kollege Grotschy entweder beim „Plachuta“, der – obwohl Österreichisch – Ungarisch - Böhmisch – nicht hundertprozentig auf Kaffee spezialisiert ist, aber doch wohl einen Fingerhut voll, einen Espressino, servieren könnte.

Eine vorwiegend runde Nase wurde in Anlehnung an Kartoffeln ‚Knolle‘ genannt. ‚Kumpen‘ war ein fleischiges Behältnis – ohne Präjudiz, aber mit deutlich abwertetem Unterton, was die Unkenntnis des Rufers in der Knollen- und Kumpenwüste deutlich werden lässt.

„Hühnergötter“, verehrter Herr Kollege Smaragd. „Sie haben sich nicht der Hühnergötter vergewissert, als Sie von den Variationen über eine Verwertung der Nase als Politikum und Sozialgut redeten. Hühnergötter gelten auf der ganzen Welt als Urgestein des Schutzes vor Krankheit in Haus und Hof. Von den Ozeanen in Millionen Jahren geformt, sind sie ein Labyrinth aus Tropfstein und Höhlen und werden besonders auch an der westöstlichen bis ostöstlichen Küste der Ostsee, dem Mare Balticum Deutschlands, kultisch verehrt. Auf manchen Mecklenburgischen Balkonen türmen sich Pyramiden von Hühnergöttern. Die Balkone und auch Loggien scheinen ausschließlich für sie gemacht. Wir in Wien haben da unsere Erfahrungen.“

„Das ist bisher in Ermangelung an Loggien nicht bis zu uns durchgedrungen.“

Herr Smaragd wirft einen Blick auf Herrn Grotschy und seine Handarbeit. Wie er bewerkstelligt, das Mark aus dem Rinderknochen zu operieren, ist lehrreich.

„Als der Kaffee und die Schokolade zu uns kamen“, sagt Herr Grotschy inmitten seiner Beschäftigung mit dem Markknochen, „konnten wir gar nicht umhin, uns auch mit Federkronen zu beschäftigen. Die haben’s uns ja nicht freiwillig den Kaffee und die Schokolade spendiert, die Fremdenlegionisten von unserer Konkurrenz diesseits und jenseits des Äquators…“

„Da gab es ja einige“, bestätigt Herr Smaragd.

„Ich spreche speziell die Engländer an. Der Henry Purcell hat unter anderem eine Oper über so einen Federkronen Fürsten geschrieben. Die Handlung hatte er nach Haiti verlegt. Man stell‘ sich vor, dass Haiti ein Kaiserreich war!“

„Wir kommen vom Hühnerfleisch ab.“

„Na. Aus unserer Erfahrung muss ich sagen – der Purcell ist ziemlich authentisch! Als ob er die Physik studiert hätte.“

Herr Grotschy macht eine operative Pause und blinzelt zu Herrn Smaragd herüber, als ob er argwöhnte, der Herr Smaragd hätte heimliche Verbindungen zu Haiti aufgenommen oder eine unbekannte Oper von Purcell entdeckt, die auf San Thomé spielt, da, wo heute die Karibik Kreuzfahrer vor Anker gehen, wenn sie sich von der Europaroute verabschieden, weil die Nord- und Ostsee zu stürmisch werden.

„Unsere Lippizaner tragen bei den Galas Federbüschel zur Erinnerung an die kaiserlichen Kaffee- und Schokoladenbohneneroberungen auf dem Kopf.“

„Ich dachte ‚Maestoso‘ reicht als Schmuck.“

Herr Grotschy fühlt sich unverstanden. Es entsteht eine kritische Pause, die Herr Smaragd mit einer weiterführenden Bemerkung beendet.

„Ich dachte entfernt“, sagt er und betrachtet den Serviettenknödel mit der herausgegabelten Ecke, verstreicht ein wenig Pilzsauce darüber und entscheidet sich dann doch, erst einmal weiterzusprechen. „Ich dachte entfernt, die Liebe zur Feder hätte etwas mit der östlichen Ausdehnung des K.u.K Reiches zu tun. Welch Autoren mit einem großen Herzen für die Monarchie! Allein der Josef Roth!“

Herrn Grotschys Augen glänzen.

„Denken Sie in etwa an den geographischen Raum der heutigen Ukraine?“, umgeht Herr Grotschy eine direkte Frage und ob der Herr Smaragd gar meine, Wien habe den Genuesern und Dogen Vorschub für die Eroberungen in Südamerika geleistet, sozusagen die Planken geliefert, die die Welt bedeuten und sich hinterher darauf zurückgezogen, es seien Bretter gewesen.

„Ich denke ohne Umschweife, dass sie in beinahe allen geographischen Räume unterwegs sind“, antwortet Herr Smaragd.

„Dann sind Ihnen Hühnergötter also doch vertraut?“

„Warum?“

„Sie sagten, Sie denken nicht nur an den geographischen Raum der heutigen Ukraine. Wollen Sie damit auf das Osmanische Reich anspielen?“

„Ich sagte weder ‚in etwa‘ noch ‚nicht nur‘ und anspielen will ich auf gar nichts. Ich könnte auch die Skythen rund um das Schwarze Meer nennen, die nichts mit dem Osmanischen Reich zu tun hatten, aber auch eine goldene Horde ihr eigen nannten.

„Die goldene Hürde?“

„Es wird Sie als Verteidiger Österreichs in allen Belangen hart ankommen“, kontert Herr Smaragd, „aber ich, der ich zwar von Haus aus den Schafen und damit auch Österreich zugeneigt bin, würde dennoch meinen, wir sagen besser ‚goldene Maske‘ statt ‚Goldenes Vlies‘. Sie ist ein Vorläufer der späteren Totenmasken, von denen die Frank Wedekinds wohl eine der bekanntesten ist.

„Darüber könnten wir streiten“, bietet Herr Grotschy an. „Das mit der flüchtigen Anmerkung zum Wedekind mag ich nicht durchgehen lassen. Auch Wien war von dessen revolutionärem Realismus nicht unberührt geblieben.“

„Vielleicht jedoch weniger unberührt als die Leipziger, die, wenn sie „reformiert“ oder „Reformation“ hören, sofort auf den Barrikaden sind“, stimmt Herr Smaragd zu, so dass sich die Gesichtszüge von Herrn Grotschy entspannen. „Selbst Richard Wagner hat da mitgemacht. Es ist einer seiner unangefochten besten Momente in seinem an besten Momenten reichen Leben gewesen.“